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Das große Finale der Mondlicht-Chroniken! Louisa hat das Mondlicht schon einmal gerettet, doch nun steht sie vor ihrer schwersten Prüfung. Verrat, dunkle Schatten und ein Geheimnis, das bis in ihre eigene Familie reicht, stellen alles in Frage, woran sie geglaubt hat. Gemeinsam mit ihren Freunden muss sie den letzten Splittern des Mondlichts folgen, in die Zwischenwelt reisen und sich einer Wahrheit stellen, die ihr Schicksal für immer verändern wird. Band 3 der epischen Fantasy-Reihe voller Magie, Freundschaft und Mut, packend bis zur letzten Seite.
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Seitenzahl: 281
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jugendroman/Fantasy
Jugend-Fantasyroman ab 12 Jahren
Magischer Jugendroman für Leser*innen ab 12 Jahren
Prolog – Der Kreis, der atmet
Kapitel 1 – Wenn das Licht leise wird
Kapitel 2 – Der Faden im Regen
Kapitel 3 – Der Morgen, der nicht wartet
Kapitel 4 – Der Name im Spiegel
Kapitel 5 – Die Schwelle aus Glas
Kapitel 6 – Jenseits des Tores
Kapitel 7 – Stimmen aus der Kante
Kapitel 8 – Die Stadt aus Glas
Kapitel 9 – Das Herz aus Schichten
Kapitel 10 – Wenn der Schatten Hände bekommt
Kapitel 11 – Der, den man zuerst erkennt
Kapitel 12 – Wahrheiten, die stehen bleiben
Kapitel 13 – Wo die Stadt den Atem anhält
Kapitel 14 – Die Schuppe aus Licht
Kapitel 15 – Die Melodie der drei Schlüssel
Kapitel 16 – Das Ohr des Nordrands
Kapitel 17 – Stimmen, die keine Fragen brauchen
Kapitel 18 – Wenn die Schatten den Atem holen
Kapitel 19 – Das Herz, das trägt
Kapitel 20 – Der Weg ohne Echo
Kapitel 21 – Die Senke, die trägt
Kapitel 22 – Das Tal der Spiegellosen
Kapitel 23 – Die Risslinie
Kapitel 24 – Risse im Alltag
Kapitel 25 – Kampf im Unsichtbaren
Kapitel 26 – Der Ruf im Schatten
Kapitel 27 – Nach dem Sturm
Kapitel 28 – Das Viertel der verlorenen Stimmen
Kapitel 29 – Das Spiel der Schattenkinder
Kapitel 30 – Die Botschaft im Sturm
Kapitel 31 – Die Spur im Staub
Kapitel 32 – Am Tor der Werkshalle
Kapitel 33 – Flüstern im Regal
Kapitel 34 – Zuflucht im Verborgenen
Kapitel 35 – Die Brücke im Nebel
Kapitel 36 – Die Spur im Stein
Kapitel 37 – Die Treppe ins Verborgene
Kapitel 38 – Die Verbündeten im Dunkel
Kapitel 39 – Der Kreis der Schatten
Kapitel 40 – Spiegelaugen
Kapitel 41 – Der Eid vor dem Kreis
Kapitel 42 – Das Flüstern der Tür
Kapitel 43 – Das Zwischenland
Kapitel 44 – Der wahre Name
Kapitel 45 – Das Erwachen der Stadt
Kapitel 46 – Das erste Türblatt
Kapitel 47 – Das Vergessen
Kapitel 48 – Die Wahrheit
Kapitel 49 – Das Herz der Schatten
Kapitel 50 – Der Erste
Kapitel 51 – Die Rückkehr der Namen
Kapitel 52 – Der Abgrund
Kapitel 53 – Das Wiedersehen
Kapitel 54 – Rückkehr ins Licht
Kapitel 55 – Stimmen der Nacht
Epilog – Mondlicht
Was bisher geschah
Glossar der Mondlichtchroniken
Über die Autorin
Es war eine dieser Nächte, in denen der Mond nicht nur schien, sondern zu hören war.
Nicht mit den Ohren – mit dem Herzen.
Sein Licht lag wie ein leiser Gesang über dem Wald, und jeder Baum schien zuzuhören.
Elyra stand am Rand der alten Lichtung, die die Wächter nur „den Kreis“ nannten. Der Boden war dort so glatt, als hätte ihn jemand über Jahrhunderte mit Licht poliert. In der Mitte ragte ein niedriger Stein empor, von feinen Linien durchzogen, die manchmal flimmerten wie Atemzüge.
„Es beginnt“, sagte sie. Ihre Stimme störte die Nacht nicht. Sie passte zu ihr.
Der Wind fuhr durch die Blätter, und das leise Rascheln antwortete: Wir wissen es.
Seit Wochen hatte der Wald anders geatmet. Erst zögerlich, dann schneller. Das Mondlicht flackerte an Nächten, in denen es nie flackerte. Pfade, die seit Jahren still waren, öffneten sich wie Augen. Und tiefer, jenseits der Wurzeln, rührte sich etwas, das die Alten nur mit Geschichten benannt hatten.
Elyra legte die Hand auf den Stein. Der flimmerte unter ihrer Berührung auf, und für einen Herzschlag sah sie Bilder: Wasser, das wie Glas war; eine Brücke aus Nebel; ein Kind, das kein Kind mehr war; zwei Zeichen, die wie Zwillinge leuchteten – eins hell, eins schimmernd, fast wie Schatten, aber nicht kalt.
„Louisa“, flüsterte Elyra. Nicht als Frage. Als Antwort.
Die Wächter waren nicht viele. Manche hatten die Wälder schon verlassen, weil sie dachten, dass alte Geschichten nur das waren: Geschichten. Andere waren geblieben – nicht aus Mut, sondern weil sie spürten, dass mit manchen Geschichten die Wurzeln selbst verknüpft sind.
Ein Schritt löste sich aus dem Dunkel. Siran trat in den Kreis, groß, ruhig, die Augen wie tiefe Seen im Winter. Er senkte den Blick zu Elyra und nickte, als hätten sie schon alles gesagt.
„Die Sucher waren gestern an der Nordgrenze“, sagte er. „Zwei nur, vorsichtig. Sie prüfen uns.“
„Sie prüfen sie“, erwiderte Elyra und hob den Kopf zum Mond. „Das Zeichen ruft. Und die, die im Schatten lauschen, hören lauter als alle.“
Siran schwieg einen Moment, dann blickte er in den Wald, der wie ein zu großes Zimmer wirkte, das doch Heimat war. „Glaubst du, sie ist bereit?“
Elyra antwortete nicht gleich. Bereit. Es war ein Wort, das in alten Liedern leicht klang und in wirklichen Nächten schwer.
„Bereit ist, wer geht, obwohl er stehen bleiben könnte“, sagte sie schließlich. „Und sie geht.“
Der Stein unter ihrer Hand vibrierte, als würde er zustimmen.
Aus der Ferne kam ein Laut, der keiner war – kein Tier, kein Ruf, eher ein Kältehauch, der nicht in die Nacht passte. Siran trat einen Schritt vor, und sein Amulett glomm wie eine kleine, entschlossene Sternschnuppe.
„Sie sind wieder da“, murmelte er.
„Lass sie hören, was wir sagen, wenn wir nichts sagen“, erwiderte Elyra leise und strich mit der Fingerspitze eine der Linien auf dem Stein nach. Das Flimmern wurde klarer, der Kreis wurde heller, doch sein Licht schmerzte nicht. Es fühlte sich an wie eine Hand, die man hält.
Aus den Bäumen traten Gestalten. Nicht hastig, nicht laut – Schatten, die Form angenommen hatten, als hätte sie jemand vergessen, ganz dunkel zu malen. Sie blieben am Rand stehen, dort, wo die Wurzeln in den Boden griffen. Drei. Heute waren es drei.
„Wächterin,“ sagte die erste Gestalt. Ihre Stimme war glatt wie Eis an einem Morgen, an dem man lieber drinnen bleibt. „Der Mond ist hell heute.“
„Weil Kinder lesen wollen“, erwiderte Elyra mild. „Und weil manche Geschichten nicht im Dunkeln enden.“
„Manche schon.“ Ein zweiter Schatten trat halb aus der Dunkelheit. Wo sein Gesicht hätte sein sollen, war nur Glanz – wie nasses Leder. „Du weißt, warum wir hier sind.“
Siran hob das Amulett, aber Elyra legte ihm kurz die Hand auf den Arm. „Ich weiß, warum ihr überall seid,“ sagte sie freundlich. „Ihr seid müde vom Warten.“
Der dritte Schatten schwieg. Er war groß und schmal, und um seine Ränder flirrte die Luft, als stünde er in unsichtbarem Wind. Schließlich hob er die Hand, und etwas Kaltes strich über die Lichtung, ohne sie zu berühren.
„Das zweite Zeichen hat die Welt berührt,“ sagte er. „Der Schlüssel ist aufgewacht. Der Kreis wird sich schließen – mit oder ohne euch.“
Elyra lächelte. Kein fröhliches Lächeln. Ein wissendes. „Der Kreis hat nie uns gehört,“ erwiderte sie. „Er gehört dem, der atmet. Und dem, der nicht aufgibt.“
Der Stein antwortete mit einem leisen Ton, kaum hörbar. Siran nahm die Hand von seinem Amulett. Der Wald lauschte.
„Ihr habt eure Worte gesprochen,“ fuhr Elyra fort. „Hier sind meine: Es gibt sechs Zeichen, die den Morgen kennen, und sechs, die die Nacht erinnern. Es gibt Wege, die nur offen sind, wenn man sie nicht erzwingt. Und es gibt einen Schlüssel, der nicht die Tür öffnet, sondern die Hand, die sie hält. Ihr wollt Macht. Sie will verstehen.“
„Verstehen ist eine Form der Macht,“ zischte der erste Schatten.
„Vielleicht,“ sagte Elyra. „Aber Macht ist nicht immer eine Form des Verstehens.“
Ein leises Kichern, weit, weit hinten, als hätte der Wald kurz Spaß an einem Witz, den niemand ganz begriff.
Der dritte Schatten trat einen Schritt vor. Der Rand des Kreises blieb, wo er war – die Schatten kamen nicht weiter. Es war, als läge um die Lichtung ein unsichtbarer Ring. Nicht hart. Entschlossen.
„Hüterin,“ sagte die dunkle Stimme. „Wir werden holen, was uns zusteht.“
„Ihr werdet holen, was ihr greifen könnt,“ entgegnete Elyra. „Und ihr werdet lernen, dass manche Hände Licht tragen, das man nicht nimmt, ohne die Nacht zu verlieren.“
Einen Herzschlag lang war alles still. Dann keine Schritte, kein Rascheln – nur Abwesenheit. Die Schatten waren fort, wie weggeatmet.
Siran löste die Schultern. „Sie werden nicht mehr im Verborgenen gehen.“
„Nein,“ sagte Elyra. „Und wir auch nicht.“
Sie kniete sich, legte beide Hände auf den Stein. Die Linien darauf fluteten warmes Leuchten in ihre Handflächen. Bilder kehrten zurück, klarer: ein Spiegel, der nicht Spiegel war; ein See, der nicht Wasser war; ein Stab, der Muster webte; ein Mädchen mit Augen, die das „Jetzt“ und das „Bald“ zugleich sahen.
Und mit den Bildern kam ein Satz, alt wie die Bäume und neu wie heute:
Wenn das zweite Zeichen den Atem findet, wählt das Licht nicht zwischen Sieg und Niederlage, sondern zwischen Ehrlichkeit und Angst.
Elyra stand auf. „Wir rufen sie nicht,“ sagte sie, mehr zu sich als zu Siran. „Wir lassen sie kommen. Nicht aus Pflicht. Aus Wahl.“
Siran nickte. Sein Blick war in die Bäume gerichtet, als sähe er etwas, das noch unterwegs war. „Sie hat Freunde,“ sagte er. „Und sie hat Zweifel. Beides ist gut.“
„Beides ist wahr,“ erwiderte Elyra.
Über der Lichtung zog eine feine Wolke vor dem Mond her, und für einen Moment wurde es dunkler. Kein böses Dunkel. Eher, als würde jemand seine Hand schützend vor eine Kerze halten, damit sie nicht ausgeht.
Ganz weit entfernt – so weit, dass es beinahe Einbildung sein konnte – leuchtete etwas auf. Ein flüchtiges, klares Aufblitzen, wie wenn Metall das Mondlicht fängt. Elyra hob den Kopf, als hätte ihr jemand den Namen gesagt, den sie seit Wochen im Herzen trug.
„Louisa,“ flüsterte sie noch einmal. Diesmal hörte die Nacht den Namen. Und der Stein unter ihren Füßen antwortete mit einem letzten, hellen Atemzug.
Der Wald hielt den Atem an.
Nicht aus Angst.
Aus Erwartung.
Denn manche Geschichten beginnen dreimal:
wenn der Mond das erste Geheimnis flüstert,
wenn das Zeichen die zweite Wahrheit schreibt,
und wenn ein Herz – klein und groß zugleich – sagt: Ich gehe.
Die Wolke zog weiter. Der Mond stand frei. Die Linien auf dem Stein wurden still.
Und irgendwo, diesseits und jenseits der Pfade, machte sich ein Mädchen auf den Weg.
Nicht, weil jemand es befahl.
Sondern weil es Zeit war.
Der Regen hing dünn über Berlin, als hätte jemand einen grauen Schal zwischen die Häuser gespannt. Louisa stand am Fenster und betrachtete, wie Tropfen am Glas Furchen zogen. Hinter ihr lag ein Stapel Schulhefte, ein offener Atlas, ein Stift mit angeknabberter Kappe. Alles sah aus wie immer. Es fühlte sich nicht wie immer an.
Das Amulett auf ihrer Haut war warm. Nicht heiß, nicht bedrohlich. Warm wie eine Hand, die sagt: Ich bin da.
„Louisa?“ Die Stimme ihrer Mutter kam von unten. „Frühstück!“
„Gleich!“ Louisa strich den Vorhang ein Stück zurück. Auf der anderen Straßenseite stand der alte Kastanienbaum, nass und glänzend. Für einen Moment glaubte sie, zwischen den Zweigen etwas zu sehen – eine Bewegung, zu leicht für einen Vogel, zu zielstrebig für Wind. Als sie genauer hinsah, war da nur der Regen.
Sie legte die Finger auf das Amulett. Ein einziger Puls ging hindurch, kaum spürbar. Danach: Stille. Nicht die Stille, die wehtut. Die Stille vor einem Wort.
In der Küche roch es nach Toast. Ihre Mutter stellte eine Tasse Kakao hin und musterte sie, wie Mütter das tun, wenn sie mehr hören als das, was gesagt wird.
„Alles gut? Du siehst blass aus.“
„Nur schlecht geschlafen“, sagte Louisa und setzte sich. „Mathearbeit heute.“
„Du schaffst das.“ Ihre Mutter lächelte. „Und… wenn du reden willst—“
„Mache ich“, versprach Louisa. Beide wussten, dass das nicht ganz stimmte. Es gab Dinge, die man nicht in Küchentische sprechen konnte, selbst wenn sie robust und aus Holz waren.
Als sie die Haustür hinter sich zuzog, hatte der Regen fast aufgehört. Das Kopfsteinpflaster glitzerte, und Busse zogen feuchte Streifen in die Luft. Louisa steckte die Hände in die Jackentaschen, das Amulett lag schwer und ruhig an seinem Platz. Ein paar Wochen waren seit dem Spiegelsee vergangen. Seit Elyra. Seit der Nacht, in der die Schatten offen gesprochen hatten. In dieser Zeit war nichts passiert.
Und doch war alles passiert. Nur nicht draußen.
„Da bist du ja!“ Mia sprang neben ihr her wie ein Gedanke, der zu laut geworden war. „Hast du gelernt?“
„So halb.“
„Ich auch so halb.“ Mia sah sie von der Seite an. „Du wirkst… anders.“
„Anders wie…?“
„Wie jemand, der eine Antwort im Kopf hat und darauf wartet, dass die Frage nachkommt.“
Louisa blinzelte. „Das ist sehr philosophisch für acht Uhr morgens.“
Mia grinste und stieß sie leicht mit der Schulter an. „Du weißt, was ich meine. Seit ein paar Tagen bist du… still.“
„Ich höre zu“, sagte Louisa. „Dem, was nicht laut ist.“
Mia nickte, als hätte sie genau damit gerechnet. „Ist es wieder da?“
„Nicht wieder. Es war nie wirklich weg.“
Sie gingen durch das Schultor. Kinder lachten, irgendjemand rief nach einem Fußball, jemand anders erklärte lautstark, dass lateinische Vokabeln ein Verbrechen seien. Louisa ließ den Lärm an sich vorbeiziehen wie Wellen an Steinen. Manchmal war es, als stünde sie an einem Rand, den sonst niemand sah.
Die Mathearbeit war erträglich. Zahlen waren wie Pfade: Wenn man sie verstand, hörten sie auf, einen zu jagen. Nach der zweiten Stunde trat Louisa ans Fenster des Flurs, der auf den Hof hinausging. In den Pfützen spiegelte sich der Himmel. Für einen Herzschlag war der Spiegel nicht der Himmel.
Sie zuckte zurück. Das Amulett vibrierte, einmal, kurz. Dann war der Hof wieder nur Hof.
„Louisa?“ Herr Feldmann stand neben ihr – zu groß, zu dünn, Hemd zu eng am Kragen. „Alles in Ordnung? Sie sind ein bisschen… abwesend.“
„Ich bin da“, sagte sie, und diesmal stimmte es.
In der Pause kauerten sie und Mia auf der niedrigen Mauer neben der Turnhalle und teilten einen Apfel, der mehr nach Wasser schmeckte als nach Apfel.
„Ich hatte gestern Nacht diesen Traum“, begann Mia vorsichtig. „Ich stand im Park. Alles war still. Dann hat jemand meinen Namen gesagt, aber nicht laut. Ich hab mich umgedreht, und da war… nichts. Und genau da bin ich aufgewacht.“
„Das war kein Traum“, sagte Louisa.
Mia schob die Kapuze tiefer ins Gesicht. „Dachte ich mir.“
„Elyra?“
„Nein. Irgendwas anderes. Nichts Gefährliches. Eher wie… eine Einladung.“
Louisa nickte. Das Amulett schimmerte unter dem Stoff, kaum sichtbar. Sie dachte an den Kreis im Wald, an Elyras Hand auf dem Stein, an die Schatten, die versprochen hatten, zu kommen. Es fühlte sich nicht so an, als würden sie heute kommen. Es fühlte sich so an, als hätte jemand die Tür leise geöffnet und gewartet, ob man es merkt.
Die letzte Stunde zog sich, als hätte die Uhr beschlossen, ein nasses Seil zu werden. Als die Klingel endlich durch den Tag schnitt, packte Louisa langsam ein. Ihre Finger tanzten eine Sekunde zu lange über dem Stift. Das Amulett war warm. Nicht warnend. Erwartend.
Auf dem Heimweg blieb sie an der Ampel stehen, obwohl kein Auto kam. Eine Tüte wehte über die Straße, verknotet wie ein kleiner Geist. Am Rand des Parks – nicht ihrem Park, ein anderer, kleiner – stand ein Gittertor, halb verborgen vom Efeu. Louisa kannte es. Und sie kannte es nicht.
Mia folgte ihrem Blick. „Siehst du das?“
„Das Tor?“
„Nein. Das, was dahinter atmet.“
Louisa zog die Luft ein. Manchmal war Mut nur ein anderes Wort für Gehen. „Komm.“
Sie schlüpften durch die offene Seite, wo ein Pfosten fehlte. Eine alte Allee lag dahinter, so schmal, dass die Bäume sich fast an den Händen hielten. Der Lärm der Straße blieb zurück, als hätten die Stämme Ohren, die den Krach nicht mochten.
Nach zwanzig Schritten wusste Louisa, dass sie richtig gegangen waren. Nicht weil etwas geschah. Weil nichts geschah, das hier nicht hingehörte. Der Wind sprach in einer Sprache, die sie nicht kannte und doch verstand. Ihr Amulett antwortete mit einem leichten Pochen.
„Das ist nicht der große Wald“, sagte Mia unnötig leise.
„Nein. Aber er gehört zu ihm.“
Die Allee öffnete sich zu einem runden Platz. In der Mitte: ein Brunnen, alt, mit einem Rand aus Stein, auf dem Moos wie vergessener Samt lag. Wasser stand darin, klar und unbewegt. Es roch nach nassem Stein und nach Geschichten, die niemand aufschreibt.
„Schon wieder ein Brunnen“, murmelte Mia. „Immer diese Brunnen.“
„Vielleicht sind Brunnen nur Türen, die sich daran erinnern, wie man nach oben öffnet“, sagte Louisa und wunderte sich, woher dieser Satz kam.
Sie beugte sich vor. In der glatten Fläche sah sie den Himmel, einen Vogel, der zu schnell war, ihr eigenes Gesicht. Und dann, für einen flimmernden, hauchdünnen Moment, sah sie nicht sich. Sie sah Elyra.
„Ely—“ Der Name war kaum draußen, da beruhigte sich das Wasser und wurde wieder Wasser.
Mia kniff die Augen zusammen. „Hast du—“
„Ja.“
„Und?“
„Sie hat nichts gesagt.“ Louisa legte die Finger auf den Rand. Kälte kroch in ihre Haut, angenehm, scharf. Das Amulett an ihrem Hals antwortete. Ein Licht, so klein, dass man es mit einem Blinzeln verlieren konnte, zuckte durch die Tiefe des Brunnens.
„Wenn ich jetzt ‚Bitte nicht reinspringen‘ sage, klingt das altklug, oder?“ Mia wich einen halben Schritt zurück.
„Ich springe nicht.“ Louisa lächelte dünn. „Ich bitte.“
Sie legte die flache Hand auf das Wasser. Kein Strudel, keine gleißende Säule aus Licht, keine dramatische Musik im Kopf. Nur ein Ton. Er war so leise, dass man ihn nur hörte, wenn man aufhörte, hören zu wollen. Der Ton war rund. Er passte. Er sagte: Ich habe dich nicht vergessen.
Eine Bewegung am Rand. Louisa fuhr herum. Ein Mann stand da, vielleicht dreißig, vielleicht älter, Mantel zu lang, Haare zu glatt. Er sah nicht aus wie jemand aus einem Märchen. Er sah aus wie jemand, der im falschen Kapitel aufgewacht war.
„Schöner Ort“, sagte er freundlich. Seine Augen lächelten nicht. „Versteckt. Als wollte jemand, dass man ihn nur findet, wenn man nicht sucht.“
Mia trat neben Louisa, ein bisschen zu dicht, so wie man automatisch den Abstand zu jemandem misst, dem man noch keinen Namen gegeben hat. „Kennen wir Sie?“
„Noch nicht.“ Er zog die Schultern hoch, als wäre es kalt. „Ich bin… ein Leser. Ich mag Geschichten. Besonders solche, die eine Weile so tun, als wären sie zu Ende.“
„Wir haben Unterricht“, sagte Mia und machte nicht die geringste Anstalt, zu gehen.
Der Mann nickte. „Es wird regnen. Heute Abend. Die Luft verrät es.“ Er sah Louisa an. Nicht aufdringlich. Aber zu lange. „Manchmal ist Regen nur ein anderes Licht.“
Louisa atmete langsam aus. Das Amulett blieb warm. Kein Alarm. Eher eine Hand im Rücken, die sagt: Steh, wie du stehst. „Wenn Sie etwas sagen wollen, sagen Sie es.“
„In Ordnung.“ Der Mann warf einen Blick zum Brunnen, als lausche er auf denselben Ton. „Jemand hat Ihnen ein Wort dagelassen. Ich soll Sie erinnern, falls Sie es überhört haben.“ Er schwieg, einen Herzschlag zu lang. „Nordrand.“
Es war nur ein Wort. Es fiel in Louisas Bauch wie ein Stein in ruhiges Wasser und zog Kreise, die man nicht sah, aber spürte.
„Welcher Nordrand?“ fragte Mia.
„Der, der für Sie der richtige ist“, sagte der Mann, als wäre das eine Hilfe. „Heute Nacht. Wenn der Regen aufhört, bevor er richtig angefangen hat.“
„Wer sind Sie?“ Louisa spürte keinen Druck, keine Kälte, kein Zerren am Zeichen. Aber sie spürte eine Entscheidung, die sich näherte wie ein Zug, den man schon weit vor dem Bahnhof hört.
„Jemand, der nicht gerne im Mittelpunkt steht.“ Er lächelte, diesmal auch mit den Augen, aber das Lächeln kam nicht ganz an. „Und jemand, der Ihnen ungern den Rücken zudreht.“ Er neigte den Kopf, als verabschiede er sich vor einem Theaterstück, das gleich weiterginge, und ging denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Bäume ließen ihn durch, als hätten sie ihm einen Sitzplatz freigehalten.
Mia stieß die Luft aus. „Das war… seltsam, selbst für uns.“
„Ja.“
„Wir gehen nicht, oder?“
„Doch.“ Louisa sah zum Wasser. Es war klar. Es war still. Es zeigte nur den Himmel. „Aber erst nach Hause.“
Sie verließen den kleinen Park durch das verborgene Tor, das plötzlich nicht mehr verborgen war, sondern einfach nur alt. Die Straße nahm sie wieder auf, Autos sprühten träge Spuren, jemand lachte zu laut in ein Handy. Louisa fühlte sich, als hätte jemand eine Seite umgeblättert, ohne zu fragen.
Am Abend saß sie auf ihrem Bett. Der Regen hatte angefangen, zögerlich, als müsste er sich an die Stadt erinnern. Das Zimmer war ein Sammelsurium aus Dingen, die zu ihr gehörten: ein Skizzenblock mit halben Bildern, ein Glas mit Stiften, ein Foto von ihr und Mia, auf dem sie beide schrien, weil das Meer im April zu kalt war. Auf dem Schreibtisch lag das Amulett, aufgerollt wie ein geparktes Licht.
Sie nahm es in die Hand. Der Ton vom Brunnen war wieder da, nicht lauter, aber näher. Nordrand, dachte sie, und das Wort passte, als hätte es einen Platz in ihr, den sie nicht selbst gebaut hatte.
Sie schrieb einen Zettel: Bin mit Mia. Spätestens um zehn zurück. Handy an. Sie legte ihn auf den Tisch, dort, wo ihre Mutter ihn sehen würde, ohne dass er nach Geheimnis aussah.
Draußen gab der Regen mehr Mühe. Die Tropfen wurden größer, dann wieder kleiner. Louisa zog die Jacke an, steckte das Amulett unter den Pulli, nahm die Taschenlampe, die sie selten brauchte und heute brauchte. Auf dem Weg zur Tür blieb sie stehen und kehrte zum Fenster zurück. Zwischen den Lichtern der Stadt war der Himmel nicht schwarz, sondern ein weiches Grau, das nie ganz Nacht sein wollte.
„Nur schauen“, sagte sie halblaut.
Eine WhatsApp von Mia: Ich bin unten. Und ich habe Kekse. Falls der Nordrand schlecht gelaunt ist.
Louisa lächelte, steckte das Handy ein und schlüpfte in die Schuhe. An der Wohnungstür hielt sie kurz inne und strich mit dem Daumen über die Klinke, als könnte man einer Tür sagen: Mach dir keine Sorgen. Wir kennen den Weg.
Unten im Hausflur roch es nach nasser Wolle und nach dem alten Holz, das schon immer da gewesen war. Mia stand unter dem Vordach, Kapuze tief, eine Tüte in der Hand.
„Bereit?“
„Bereit ist, wer geht, obwohl er stehen bleiben könnte“, sagte Louisa und hörte Elyras Stimme unter ihrer.
„Und wer Kekse hat“, ergänzte Mia. „Rein praktisch.“
Sie lachten leise, nicht um Mut zu machen, sondern weil Lachen manchmal die Form ist, in der Mut bequemer sitzt.
Sie gingen los. Der Nordrand, den sie meinten, lag am Ende des großen Parks, dort, wo die Bäume aufhörten, Höfe begannen und der Wind merkwürdig roch, als würde er etwas mitbringen, das er nicht hergeben wollte. Der Regen stolperte, hörte auf, setzte wieder ein, als hätte er eine Entscheidung zu treffen.
Am Eingang zum Park blieb Louisa stehen. Das Amulett vibrierte, zweimal, kurz, wie ein doppelter Herzschlag. Vor ihnen lag der Weg, dunkel, aber nicht feindlich. Rechts die alten Linden, links das Gras, das sich im Wind wiegte, als wollte es nicht nass werden.
„Wenn jetzt jemand aus dem Gebüsch springt“, flüsterte Mia, „werfe ich mit Keksen.“
„Ein Plan, so gut wie jeder andere.“
Sie gingen tiefer hinein. Geräusche wurden leiser, Farben dunkler. Aus der Ferne klang ein Fahrrad wie ein zu großer Käfer. Der Nordrand war in Sicht, eine schmale Stelle, an der ein Zaun wieder Zaun sein wollte und es nicht schaffte. Dahinter: Schatten. Nicht die Schatten. Normale.
Louisa hob die Hand, und Mia blieb stehen. Das Amulett glühte jetzt sacht durch den Stoff, genug, dass man es sehen konnte, wenn man hinsehen wollte. Der Regen hielt inne. Einfach so. Man hätte es einen Zufall nennen können. Oder ein Zeichen.
„Jetzt?“ flüsterte Mia.
„Jetzt“, sagte Louisa.
Sie trat vor, bis ihre Schuhe den nassen Rand berührten, an dem der Park aufhörte und etwas anderes begann. Sie legte die Finger an das Amulett, und in dem Moment, in dem sie sich fragte, ob sie laut reden musste, war die Antwort schon da, im Kopf, im Bauch, im Regen, der nicht fiel.
Ich bin hier.
Kein Lichtstoß, keine Wächterin, die aus Nebel tritt, kein Feind, der seine Zähne zeigt. Stattdessen: ein Atemzug. Nicht ihrer. Ein anderer. Der Wald atmete sie an, und irgendwo, wo der Weg im Dunkeln eine Kurve machte, glomm eine Linie auf. Nur kurz. Als würde jemand von hinten eine Tür öffnen, spaltbreit, damit man den Lichtstreifen am Boden sieht.
„Hast du—“
„Ja.“
„Dann los.“
Louisa griff Mias Hand. Nicht, weil sie Angst hatte. Weil es richtig war. Sie setzten den Fuß über den Rand. Der Regen setzte wieder ein, als hätte er gewartet, bis sie drüben waren, um zu sagen: Na gut. Dann eben jetzt.
Der Weg nahm sie auf. Das Amulett war warm. Vor ihnen flackerte die Linie ein zweites Mal, länger. Und obwohl alles still war, wusste Louisa, dass die Geschichte sich bewegt hatte.
Nicht weil jemand es befahl.
Sondern weil es Zeit war.
Der Weg war schmal und weich, als hätte der Regen ihn leiser gemacht. Links schoben sich die Stämme näher, rechts raschelte das Gras, obwohl der Wind gerade aufgehört hatte. Louisa spürte Mias Hand fest in ihrer, und das Amulett lag warm auf der Haut, als wüsste es, wohin.
Die Linie vor ihnen glomm wieder auf. Kein Strahl, kein Scheinwerfer – eher wie Kreide, die jemand über dunkles Holz gezogen hatte. Sie erschien, erlosch, erschien weiter vorn erneut, immer gerade so lange, dass man nicht stehen blieb.
„Wenn das jemand mit Absicht macht,“ flüsterte Mia, „dann ist das eine sehr höfliche Absicht.“
„Oder eine, die will, dass wir uns nicht umdrehen,“ sagte Louisa. Sie sprach leise, nicht aus Angst, sondern weil die Nacht so dicht war, dass große Worte darin nicht passten.
Sie folgten dem Faden aus Licht bis zu einer Stelle, an der der Weg eine Biegung machte. Dahinter lag eine Senke, kaum mehr als eine Mulde, in der sich der Regen sammelte. In der Mitte stand ein Pfosten aus Stein, so hoch wie Louisas Hüfte, mit einer glatten Oberseite, auf der Wassertropfen standen wie kleine Linsen.
„Ein Pfadstein,“ murmelte Louisa, ohne zu wissen, woher sie das Wort hatte.
Mia beugte sich vor. „Sieht eher aus wie ein vergessener Blumenkübel. Was macht man damit?“
„Hören.“
Louisa legte die Fingerspitzen auf den Stein. Nicht ins Wasser, nicht auf die Kante – mitten drauf. Das Amulett antwortete sofort, ein kurzer Puls, dann ein zweiter, als würde jemand zweimal klopfen. Unter ihrer Hand vibrierte der Stein, kaum merklich, aber spürbar wie das Summen eines fernen Busses.
Bilder kamen nicht, keine Stimmen. Nur ein Muster – ein Kreis, der keiner war; Linien, die sich berührten, ohne zu schneiden. Es fühlte sich an wie ein Netz, das kein Gefangennahmen wollte, sondern Tragen.
„Siehst du was?“ Mia lehnte die Wange auf ihren Arm, als wolle sie lauschen.
„Ich sehe nichts,“ sagte Louisa. „Aber ich weiß, wohin.“
Sie drehte sich nach links. Dort, wo der Wald dichter wurde und die Luft nach nasser Rinde roch, führte ein kaum sichtbarer Trampelpfad in die Bäume. Kein Lichtstreifen zeigte ihn. Er war einfach da, jetzt, da man ihn brauchte.
„Du zuerst,“ sagte Mia. „Ich bin die mit den Keksen. Ich decke den Rückzug.“
„Wir ziehen nicht zurück.“
„Ich weiß.“ Mia grinste kurz, und der Ausdruck blieb ihr im Gesicht, auch als das Dunkel sie schluckte.
Der Pfad führte bergab, dann wieder ein Stück hinauf. Zweige strichen über ihre Ärmel, und zweimal duckten sie sich unter umgestürzten Stämmen hindurch, die wie schlafende Tiere dalagen. Der Regen tappte in den Blättern über ihnen, mal da, mal nicht, als hätte er sich das Schleichen abgesehen.
Nach einigen Minuten weitete sich der Wald. Zwischen zwei großen Buchen tat sich ein Raum auf, kein Platz, keine Lichtung – eher eine Pause. In der Mitte stand eine Bank aus Stein, schmal, leicht schief. Ein altes Seil lag daneben, brüchig und grün vor Moos. Und über allem, als hätte jemand es vergessen, hing ein Windspiel aus dünnen Metallstäben, so filigran, dass jeder Tropfen daran zögerte.
„Das ist kein Zufall,“ sagte Mia. „Das ist Deko.“
Louisa trat näher. Das Windspiel bewegte sich nicht. Trotzdem klingelte etwas, ganz leise, wie ein Ton, der sich nicht traut. Sie hob den Blick und sah, dass die Stäbe Zeichen trugen – keine Schrift, sondern kleine Kerben, Muster wie auf dem Stein am See, nur feiner.
Sie hob die Hand, hielt inne. „Darf man das anfassen?“
„Wenn es eine Falle ist,“ flüsterte Mia, „ist es die hübscheste Falle, die ich je gesehen habe.“
„Das hilft nicht.“
Louisa berührte das unterste Stäbchen. Der Ton wurde klarer, doch nicht lauter. Er war voll, rund, freundlich. Das Amulett an ihrer Brust antwortete mit einem eigenen Ton, einen Herzschlag versetzt, so dass beide zusammen ein kurzer Zweiklang wurden.
„Elyra?“ fragte Louisa in die Luft hinein, nicht hoffend, nur fragend.
Keine Gestalt aus Nebel trat hervor. Kein Stab entzündete sich. Stattdessen lösten sich vom Windspiel zwei kleine Lichtpunkte, als hätte jemand die Kerben freigelassen. Sie schwebten nicht – sie fielen langsam und blieben einen Fingerbreit über der Bank stehen.
„Feuerfliegen aus Metall,“ murmelte Mia. „Ich habe offiziell keine Kategorien mehr.“
„Das sind Hinweise.“ Louisa spürte es. Keine Worte, aber Richtung. Sie setzte sich auf die Bank. Das eine Licht blieb vor ihr, das andere glitt nach rechts, zu einer Stelle im Boden, die nichts Besonderes hatte. Sie war nur Boden. Bis Louisa genauer hinsah.
„Da ist ein Muster,“ sagte sie. „Unter dem Moos.“
Mia kniete sich hin, steckte die Hände in die Jackentaschen, zog dann eine alte Bahnkarte hervor, deren Kante sie als Spachtel benutzte. „Wusstest du, dass dieser Moment kommen würde?“
„Ich trage immer Dinge, die man nicht braucht, bis man sie braucht.“
Gemeinsam schoben sie das Moos beiseite. Darunter lag eine runde Steinplatte, kaum größer als ein Tablett, eingelassen in den Boden. Rillen zogen sich über sie, kreuzten sich, wichen einander aus. In der Mitte lag eine kleine Vertiefung, rund wie eine Daumenmulde.
Louisa legte die Hand auf die Mulde. Etwas klickte, aber nicht mechanisch – eher wie ein Ton, der zufällig genau der richtige ist. Das zweite Licht flackerte, entzündete sich nicht, sondern sickerte in die Platte, wurde zu einem flachen Schimmer, der die Rillen entlangleuchtete wie Wasser in winzigen Kanälen.
„Wenn jetzt ein Geheimgang aufgeht, sag ich natürlich,“ murmelte Mia.
„Es geht nichts auf.“ Louisa spürte es. „Es geht an.“
Der Schimmer verband sich, bis das Muster vollständig leuchtete. Und dann wurde es ruhig. Nicht tot – ruhig, wie ein Auge, das geöffnet ist und nicht blinzelt.
Aus der Stille heraus erklang eine Stimme. Nicht aus der Luft, nicht aus dem Boden – aus dem Muster selbst. Es war keine Stimme mit Farbe, nicht warm, nicht kalt. Sie sprach, wie Steine sprechen würden, wenn sie Geduld hätten.
„Trägerin. Nordrand ist keine Richtung. Nordrand ist eine Entscheidung.“
Louisa schluckte. Ihr Hals war trocken, obwohl der Regen hierher seinen Weg gefunden hatte.
„Du bist gegangen,“ sagte die Stimme. „Also hör.“
Beim Wort „hör“ veränderte sich das Muster. Linien zogen sich zurück, andere traten hervor. Es war, als würde jemand den gleichen Satz mit anderen Buchstaben schreiben. Diesmal ergab es kein Netz, sondern eine Karte. Kein Maßstab, keine Namen – nur Kurven, Punkte, ein kleiner Halbkreis, der wie ein See aussah. Aus dem Halbkreis führte eine dünne Linie zu einem Zeichen, das Louisa kannte: zwei gebogene Striche, die sich fast berührten. Wie ein Mund, der gleich lächelt.
„Das ist der Spiegelsee,“ flüsterte sie. „Oder ein anderer See, der Spiegel kann.“
„Und das da?“ Mia tippte auf die beiden Striche.
„Ein Tor, das sich nicht öffnet. Noch nicht.“ Es war kein Wissen. Es war das Gegenteil: das Fehlen eines besseren Wissens, das sich richtig anfühlte.
Die Stimme verstummte nicht. Sie wartete, als wüsste sie, dass Fragen jetzt schwerer werden.
„Du trägst zwei Zeichen,“ sagte sie dann. „Du bist nicht die Erste. Du bist die Erste, die es so trägt.“
„Was heißt so?“ fragte Mia das Muster, als wäre Höflichkeit ansteckend.
„Nicht übereinander. Nicht gegeneinander. Neben-einander.“ Das Wort brach leicht, als hätte die Stimme Mühe mit Trennstrichen.
Louisa legte unwillkürlich die Hand auf ihre Haut, dort, wo das zweite, zarte Zeichen aufgetaucht war, kaum sichtbar im Alltag, deutlich in Momenten wie diesem. „Was muss ich tun?“
„Nicht sammeln. Binden.“
„Wen?“
„Drei Dinge, die keins sind: den Atem, der nicht dir gehört; die Linie, die nicht gerade ist; und den Namen, der zweimal gesprochen wird.“
Mia verzog das Gesicht. „Wir sind wieder im Rätselfeld.“
„Es ist kein Rätsel,“ sagte Louisa langsam. „Es ist eine Aufgabe, die sich noch nicht in Sätze traut.“
Die Karte auf der Platte flackerte und brannte sich, ohne zu brennen, in ihr Gedächtnis. Der Halbkreis. Die dünne Linie. Das Zeichen, das fast lächelte. Dann wurde der Schimmer still und sank in den Stein zurück, als hätte er nie existiert. Nur die Vertiefung blieb spürbar warm unter ihrer Hand.
Mia setzte sich neben sie auf die Bank. Das Windspiel klimperte einen einzigen Ton, dann wieder Stille. „Also,“ sagte sie, „wer sagt’s deiner Mutter?“
„Ich,“ erwiderte Louisa. „Und ich sage die Wahrheit.“
Mia hob eine Augenbraue. „Die Wahrheit?“
„Die richtige Wahrheit.“ Louisa stand auf. „Wir gehen heute nicht durch Tore. Wir gehen morgen.“
Mia sah sie an, überrascht und erleichtert zugleich. „Du willst warten? Du?“
„Ja.“ Louisa fühlte sich plötzlich schwer und leicht zugleich. „Nordrand war eine Entscheidung. Ich habe mich entschieden, nicht rennen, sondern gehen zu wollen. Mit Plan. Mit Proviant. Mit einem Zettel mehr als gestern.“
„Mit Keksen,“ ergänzte Mia. „Viele.“
Louisa lachte. Der Ton passte hierher. „Viele.“
Sie deckten die Steinplatte wieder mit Moos zu. Nicht, um sie zu verstecken – um sie zu schützen. Das Windspiel berührten sie nicht noch einmal. Der Pfad nahm sie auf, als wüsste er, dass man sich bedankt hatte.
