Venedig abseits der Pfade - Wolfgang Salomon - E-Book

Venedig abseits der Pfade E-Book

Wolfgang Salomon

4,4
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Abseits der ausgetretenen Touristenpfade entführt uns Wolfgang Salomon in die viel bereiste Lagunenstadt und zeigt uns die Stadt Venedig und ihre liebenswerten Kleinigkeiten, wie sie sonst in keinem Führer zu finden sind. In mehreren Rundgängen, bebildert mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotografien führt er uns durch eine Stadt, wie sie selbst Venedig-Kennern neu und unbekannt ist. Wolfgang Salomon zeigt uns Venedig von einer neuen, stillen Seite. Er führt uns dorthin, wo die Gondeln Trauer trugen, wandelt auf der Klosterinsel San Lazzaro degli Armeni auf den Spuren Lord Byrons und besucht die "Rückseite" der Stadt der Paläste und Kanäle. Er spricht mit dem Hüter der jüdischen Totenstadt des Lido, wandert durch eine verlassene Geisterstadt am Rande der Lagune und bringt uns zu dem mystischen Petrus-Stuhl in der Basilika San Pietro. Seine Spaziergänge würzt er mit zahlreichen Kultur- und Lokaltipps sowie typischen Rezepten der Lagunenküche.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 149

Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
12
2
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Salomon

Venedig abseits der Pfade

WOLFGANG SALOMON

Venedig

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reisedurch die Lagunenstadt

Spezieller Dank an Dr. Wolfgang Straub und die vielen fleißigen Hände vom Braumüller Verlag, die an diesem Buch beteiligt waren.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2014

© 2014 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Fotos: Wolfgang Salomon

Stadtpläne: nach openstreetmap.org

Karte S. 8–9: wikicommons / Stadt Venedig und der Lido aus der Vogelschau, 1649 / 1650, aus: Württembergische Landesbibliothek, HB V 15 fol 538r

Lektorat: Wolfgang Straub

ISBN Printausgabe: 978-3-99100-005-1

ISBN E-Book: 978-3-99100-103-4

Für Michaela, die mich in dieser Stadtgeheiratet hat, und für Lottchen,deren erste Reise dorthin noch bevorsteht

„Buon giorno bell’anima“

Graffiti in San Pietro di Castello

Inhalt

Das Kleine im Großen, abseits der Pfade

Zum Geleit

Wo die Gondeln Trauer trugen

San Nicolò dei Mendicoli

Im Rosengarten auf den Spuren Lord Byrons

San Lazzaro degli Armeni

Die „Rückseite“ der Stadt

Castello

Genuss zwischen Ebbe und Flut

Die Insel der Glasbläser

Der geheimnisvolle Petrus-Thron

San Pietro di Castello

Der „romantische Narr“ und sein Schöpfer Hugo Pratt

Corto Maltese

Zwischen Riesenhunden, Kreuzritterfriedhöfen und Geisterstädten

Lido di Venezia

Hüter der jüdischen Totenstadt

Aldo Izzo

Vom Fass zum alten Krug

Eine Institution zieht um

Venedig-Tipps

Gabriel Bucelinus, Karte Venedigs von 1649 / 50

Das Kleine im Großen, abseits der Pfade: Zum Geleit

Venedig: jene Stadt, deren Winkel und Gassen bis ins Letzte von Tausenden Venedig-Kundigen ergangen und vermessen wurden. Venedig: fälschlicherweise als eine sterbende Stadt tituliert, die sich seit Jahrhunderten immer wieder neu erfindet, erfinden muss. Venedig: Eldorado der Touristen, die täglich zu Tausenden die Stadt bevölkern, denen man aber ganz leicht aus dem Weg gehen kann, ist man der Massen einmal überdrüssig. Venedig: über das schon Goethe sagte, dass bereits alles über diese Stadt geschrieben sei. Dabei kann es für einen bekennenden Venedig-Fan doch nie genügend Bücher über „seine“ Stadt geben, mit denen man sich die Wartezeit bis zu seinem nächsten Besuch vertreiben kann. Venedig, wo mittlerweile acqua alta ebenso zum Tagesablauf gehört, wie der morgendliche nero in der Bar um die Ecke.

Es geht in diesem Buch weder darum, Sie an die üblichen Orte der Stadt zu führen, noch darum, Venedig neu zu erfinden. Vielmehr will ich Sie mitnehmen auf ein paar Spaziergänge durch die Stadt, auf die Inseln der Lagune und über den Lido (den Hausstrand und das Sommerdomizil der Venezianer), wo sich Venedig aus einer anderen Perspektive erschließt. Manchmal auf vertrauten Pfaden, manchmal auf weniger vertrauten. Es sind Momentaufnahmen und zufällige Begegnungen, die ich in meinem Reisetagebuch festhielt und die mich bewegten.

Unzählige Dinge fordern hier auf Schritt und Tritt die Aufmerksamkeit, sodass der Besucher oft achtlos an vielem vorbeiwandert, ohne etwas von den Geschichten zu erahnen, die hier jedes Haus, jede Gasse und jeder Campo erzählen kann.

Es sind oft die Kleinigkeiten und die alltäglichen Dinge des Lebens, die den Reiz dieser Stadt ausmachen. Hat man erst einmal die Stadt und das Umland erkundet, seine ersten Venedig-Besuche absolviert und die bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt (selbst dazu bedarf es einiger Besuche), macht sich der Venedig-Kundige meist auf, in Venedig und seinem Umland neue Wege zu entdecken und die Stadt aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

Zeit spielt hier vor allem eine Rolle. Die sollte man sich nehmen, um das wahre Tempo Venedigs, in dem sich diese einzigartige Ansammlung von Palästen, Kirchen, Gassen, Campi und Kanälen bewegt, zu erspüren.

Gelingt es einem erst einmal, die Geschwindigkeit zu drosseln und in die „Langsamkeit des Seins“ zu verfallen, dann erschließen sich dem Reisenden Kleinigkeiten und Details. An Venedig-Büchern mangelt es ja bekanntlich nicht. Ebenso wenig wie an mitteilsamen Venezianern, die oft gut über die historischen Ereignisse, die jede Gasse und jedes Gebäude ihrer Stadt erzählen kann, informiert sind. Sie sind auch bereit, dieses Wissen weiterzugeben, hat man erst den Schlüssel zu ihrem Herzen gefunden.

Es gibt unzählige Geschichten zu jedem der romantischen und weniger romantischen Orte der Lagune. Auf den nun nachfolgenden Seiten erzähle ich meine Geschichten, die ich mit diesen Orten verbinde und die ich dort erlebt habe. Sie werden sehen, es sind nicht immer nur die prachtvollen Plätze und Gebäude, die einen Besuch lohnen. Vor einigen Jahren hatte ich das unverschämte Glück, einen Sommer lang in Venedig in einem 600 Jahre alten Palazzo wohnen zu können (in dem, so sagte man, noch die Seele der kürzlich verstorbenen Vorbewohnerin herumgeisterte), und konnte dabei das – nicht immer rosige und angenehme – Alltagsleben der Venezianer oftmals hautnah miterleben. Durch diesen längeren Aufenthalt war es mir möglich, die Stadt und ihre Einwohner aus einer völlig neuen Perspektive kennenzulernen. Eine Sichtweise, die meinen Blick auf die Stadt nachhaltig geprägt hat.

Es ist ein Blick, der sich meist lieber dem Kleinen als dem Großen zuwendet. Die meisten, die Venedig zum ersten Mal besuchen, sind auf der Suche nach den schönsten Campi, den höchsten Campanili und den größten Palazzi. Die allseits bekannten geschichtsträchtigen Prachtbauten wie der Palazzo Ducale oder der mit einer Außenrundtreppe versehene Palazzo Contarini del Bovolo sind in jedem Reiseführer zu finden. An diesen großteils zentral gelegenen Bauten führt sowieso kein Weg vorbei, wenn man die Sestieri dieser Märchenstadt durchstreift.

Aber nur die wenigsten Venedig-Besucher wissen etwa, wo sich der kleinste Palast Venedigs befindet. Und das, obwohl ihn täglich zigtausend Touristenaugenpaare unbewusst streifen, wenn sie, auf den steinernen Stufen der Kirche Santa Maria della Salute sitzend, das Treiben auf dem Canal Grande beobachten. Der aus dem Ende des 15. Jahrhunderts stammende Palazzo Contarini-Fasan – demselben Geschlecht wie der erwähnte Palazzo Contarini del Bovolo zuzurechnen – liegt direkt vis-à-vis der Vaporettostation „Salute“. Eingezwängt zwischen dem links befindlichen Palazzo Manolesso Ferro, zu dem eine Brücke im zweiten Geschoß führt, und dem zur Rechten angeschmiegten Palazzo Contarini (ohne Fasan! Der Beiname beruft sich auf die Jagdleidenschaft eines einstigen Besitzers) besticht der Minipalast vor allem durch seine orientalisch angehauchte Fassade, die – mit Abstrichen – jener des berühmten Ca’d’Oro gleicht.

Bekannt ist dieser nur einen Saal breite „Palazetto“ auch dafür, dass ein einstiger Besitzer, ein Herr namens Moro, hier seine Gattin Desdemona meuchelte. Shakespeare verhalf den beiden in seinem Othello zu internationaler Bekanntheit, der Rest ist Geschichte. Der Palazzo wird daher auch gerne „Palazzo Desdemona“ genannt.

Dem Betrachter mit palazzogeschulten Augen – und welcher Venedig-Fan wäre das nicht? – fällt sofort auf, dass das Gebäude keinen Zugang vom Wasser hat. Ins Auge stechen auch die steinernen Balkonbrüstungen, die mit radförmigen Mustern durchzogen sind – eine Form, die in Venedig kein zweites Mal mehr zu finden ist.

Auf der Höhe des zweiten Geschoßes erblickt man an der Fassade das verwitterte, ungewöhnlich großformatige steinerne Wappen der Familie Contarini – ein einst mächtiges venezianisches Adelsgeschlecht, das seinen Wohlstand regen Handelsbeziehungen zum afrikanischen Kontinent verdankte und acht Dogen hervorbrachte. Viel mehr weiß man über die Historie des kleinsten Palasts der Lagunenstadt nicht. Aber gerade das regt die Fantasie der Venezianer bis heute an.

Also verlassen wir den untertags von stetigen Bootsströmen, Traghetti und Gondole frequentierten Platz vor der Kirche Santa Maria della Salute ausgeruht und gehen auf Entdeckungsreise, um ein Venedig abseits der Pfade zu erkunden, den Blick auf das „Kleine“ gerichtet. Den Geruch des feuchten Mauerwerks und des stetig in kleinen Wellen gegen die Steinstufen klatschenden Lagunenwassers in der Nase. Das sanfte Quietschen der Bootsanlegestelle in der Strömung und das der hölzernen Poller, an denen sich die festgezurrten schwarzen Rümpfe der Gondole reiben, im Ohr.

1 Fondamenta Zattere

2 Ponte Cristo

3 San Nicolò dei Mendicoli

4 Molino Stucky

Wo die GondelnTrauer trugen

San Nicolò dei Mendicoli

Durch das Mendicoli-Viertel

Die Kirche San Nicolò dei Mendicoli liegt im äußersten Westen des Sestiere Dorsoduro und ist den meisten, wenn auch unbewusst, als Filmkulisse für Nicolas Roegs Okkult-Thriller Wenn die Gondeln Trauer tragen (OT: Don’t Look Now) bekannt. Obwohl dieser aus dem Jahre 1973 stammende Film mittlerweile zum kulturellen Allgemeingut gehört und für viele zu den besten Venedig-Filmen zählt, ist man auf dem kleinen Campo, der im Film eine zentrale Rolle spielt, in der für Tagestouristen weniger interessanten, auf den ersten Blick fast schon tristen Arbeitergegend meist für sich. Die wenigsten steuern diese ruhige Ecke Venedigs gezielt an, die meisten dürften zufällig hierhergelangen.

Ich nähere mich der Kirche des heiligen Nikolaus der Bettler über die Fondamenta Zattere. Gegenüber, am anderen Ufer des Canale della Giudecca, sticht der Backsteinkomplex des Molino Stucky ins Auge – eine ehemalige Nudelfabrik, die bis vor einigen Jahren leer stand und dann zum Luxushotel umgebaut wurde.

Der 1883 von dem deutschen Architekten Ernst Wullekopf entworfene Industriebau, dessen Äußeres an die Speichersilos in Hamburg erinnert, diente – ein Jahr vor dem Beginn der Dreharbeiten zu Roegs Film – als stimmige Kulisse für den Thriller The Child – Die Stadt wird zum Alptraum von Aldo Lado.

Von den Zattere kommend, wo man erst vor Kurzem bauliche Maßnahmen ergriff, um das häufig auftretende acqua alta in den Griff zu bekommen, hüpfe ich von einer trockenen Stelle zur nächsten, da das Wasser der Lagune von den Windböen über den Kai gepeitscht wird und der breite Gehweg sich immer mehr mit Wasser füllt.

Land unter an den Zattere

Das Kreischen der Möwen und das Stampfen der vorbeifahrenden Schiffe und Boote im Giudecca-Kanal bricht sich an den Wänden der Palazzi. Nachdem ich am Ende des Kais rechts zum Campo San Basegio eingebogen bin, verlieren sich die Geräusche des regen Schiffsverkehrs zwischen den Häusern in den schmalen Gässchen. Den ebenfalls über die Ufer tretenden Rio di San Sebastiano überquere ich an der zweiten Brücke nach links. Der lauschige Campo drio el Cimitero, wo bei Schönwetter die Kinder des Viertels ihre Fußballmatches mit dem Eifer der Erwachsenen zelebrieren, liegt verlassen im Regen vor mir.

Das malerische Plätzchen birgt eine für Venedig typische Zisterne, auf der sich eine Taube und ein paar Spatzen lautstark um einige vom Regen aufgeweichte Essensreste streiten.

Die empfehlenswerte Osteria Pane Vino e San Daniele, deren Gastgarten sich auf dem Campo dell’Angelo Raffaele gleich daneben befindet, ist gerade dabei, ihre Pforten zu öffnen. Die verführerischen Küchendüfte, die über den Platz wehen, werden bald die hungrigen Gäste aus dem umliegenden Viertel in Scharen anziehen.

Ich überquere den Rio dei Carmini über die Ponte del Cristo, wo sich direkt an der Fondamenta Briati ein entzückender, in die Mauer eingelassener Holzaltar aus dem 15. Jahrhundert mit einer polychromatischen Statue des Gekreuzigten befindet. Die Inschriften der zur linken und rechten Seite des Altars eingelassenen Steintafeln sind schon stark verwittert und nur mehr schwer zu entziffern.

Die Fondamenta Briati wurde nach Giuseppe Briati benannt, einem von seinen Bewunderern geliebten und von seiner Konkurrenz geschmähten Bleikristall-Hersteller des 18. Jahrhunderts, der hier seine Fabrik hatte. Briati erhielt seine dreijährige Ausbildung zum Meister in Böhmen, und nach seiner Rückkehr nach Venedig war es ihm sogar möglich, 1730 seinen eigenen Glasofen auf Murano zu betreiben.

Campo drio el Cimitero

Der hölzerne Altar auf der Fondamenta Briati

Aufgrund seines künstlerischen Geschicks war er sehr bald ein gefragter Mann, und seine aus Bleikristall hergestellten Artefakte, Szenerien und Minigärten, für die er berühmt war, machten ihn alsbald in Venedig zu einem berühmten Mann und riefen natürlich etliche Neider auf den Plan.

Bei den konservativen Glaskünstlern von Murano war er aber so verhasst, dass er verprügelt und mit vorgehaltenen Waffen und unter Todesandrohung von ihrer Insel verjagt wurde. Er erhielt vom Stadtrat die Erlaubnis, seine Fabrik in Dorsoduro fortzuführen. Von der einstigen Manufaktur ist heute leider nichts mehr zu sehen.

Entlang der Fondamenta Barbarigo biegt man nach rechts in die schmale Calle Riello ein, um sich über den Campiello Tron schließlich San Nicolò dei Mendicoli zu nähern. Das stetige Tropfen des Regens vermischt sich mit den ruhigen Passagen der einschmeichelnden Hosianna-Mantra-Scheibe von Popol Vuhs in meinem Ohr, die für den heutigen Spaziergang den idealen Soundtrack abgibt. Das glockenklare Piano spielt seine einlullende Melodie, die wie eben von den Dächern herabtropfender Regen klingt.

Eine Kirche für die Bettler

Als ich San Nicolò erreiche, sind die Gehwege mit einer halben Hand hohen Wasserschicht überzogen, die aus den übergehenden Kanälen die Stadt gerade wieder einmal ein wenig überschwemmt. Noch kein richtiges acqua alta!

Von einigen Fenstern aus den oberen Stockwerken hängen an Nylonschnüren befestigte, prall gefüllte Mistsäcke, die im Laufe des Tages von der städtischen Müllabfuhr abgeholt werden. Während das stetig vorbeiströmende Wasser des Kanals smaragdgrün schimmert, verwandelt sich die kräftige Farbe des Lagunenwassers, sobald es über die gemauerten und mit ausgetretenen Steinplatten belegten Gehwege dringt, in ein diffuses Grau, das meine Schuhe umspült. Unangenehme, kalte Feuchtigkeit beginne ich mittlerweile zwischen den Zehen zu spüren.

Meine, wie ich meinte, „venedigtauglichen“ Schuhe sind doch nicht so wasserdicht, wie vom Hersteller angegeben. Conclusio: beim nächsten Kauf von „Venedig-Schuhen“ unbedingt nur allerbeste Qualität erwerben, denn wasserdichtes Schuhwerk ist im Spätherbst und Winter hier unerlässlich.

Ich stehe auf der kleinen Brücke, die den Kanal vor der Fondamenta Tron überspannt, und betrachte den heimeligen Kirchenvorplatz, auf den sich Ortsfremde nur selten verirren. Bei meinen fast schon zum Ritual gewordenen Besuchen in dieser Gegend sitze ich selbst an warmen und sonnigen Tagen meist mutterseelenallein vor oder in der halbdunklen Kirche, um wieder etwas Kraft zu tanken, bevor ich mich auf den Weg zu weiteren Erkundigungen durch Gassen und Höfe der Umgebung mache.

Der kleine, adrett angeordnete Platz mit seinen Bäumchen, seiner kleinen Löwenstatue, dem mit der Jahreszahl 1876 versehenen Gedenkstein und den Bänken ist anscheinend dem stetig steigenden Wasserspiegel nicht mehr zu trotzen in der Lage, mir trommelt das Regenwasser auf die Mütze und es rinnt in Bächen über die Schultern meiner Segeljacke. So beschließe ich, heute meine kleine „Krafttankpause“ ins Innere der Kirche zu verlegen. San Nicolò stammt aus dem 12. Jahrhundert, sie stellt einen über die Jahrhunderte angesammelten Mischmasch aus architektonischen Stilen und Werken aus den verschiedenste Epochen dar – gerade das macht ihren eigenwilligen Charme aus. Der Namenspatron war nicht nur ein griechischer Bischof aus dem 3. Jahrhundert, der dafür bekannt war, Münzen in Schuhe Bedürftiger abzulegen – daher das Vorbild für unseren Nikolo –, sondern er galt und gilt nach wie vor als Schutzpatron der Seemänner und Fischer. Das an den Heiligennamen (Nikolo bedeutet im Griechischen in etwa „Sieger des Volkes“) angehängte „dei Mendicoli“ weist auf die Bettler hin, denen er so selbstlos gegeben haben soll.

Campo San Nicolò dei Mendicoli

Auf der Insel von San Nicolò dei Mendicoli befanden sich bereits im 7. Jahrhundert erste Ansiedlungen, es ist eines der ältesten bewohnten Gebiete der Lagune. Hier zeigt sich, dass Venedig einst eine bunte Ansammlung unabhängiger Gemeinden, jede mit ihrem eigenen Charakter, war. Später bestand das Mendicoli-Viertel großteils aus armen Fischern, Schmugglern und zwielichtigen Gestalten, die hier in den Gassen in großer Zahl anzutreffen waren. Die zwar armen, aber umso stolzeren Bewohner erhielten nicht nur einen eigenen Namen – „Nicolotti“, ähnlich den Bewohnern rund um das Arsenal, den sogenannten „Arsenalotti“ –, sie verfügten auch über das Privileg, gemeinsam mit der Nachbargemeinde Sant’Angelo ihren eigenen proletarischen Dogen zu wählen („Doge dei Nicolotti“), der ein nicht zu unterschätzendes Gegengewicht zu den adligen Mitgliedern des venezianischen Rates darstellte. Der alljährliche Bruderkuss mit dem eigentlichen Dogen war einer der Höhepunkte für die „ihren“ Dogen begleitenden Bewohner des Viertels. Der Gedenkstein aus dem Jahre 1876 auf dem Kirchenvorplatz zeugt noch heute von der Danksagung der Republik an die „Nicolotti“ und ihren Dogen.

Auch waren die „Nicolotti“ für ihre uns heute etwas bizarr anmutenden Mannschaftskampfspiele bekannt. Nicht weit entfernt befindet sich die Ponte dei Pugni („Brücke der Fäuste“), wo sich die Männer der benachbarten Viertel – die „Nicolotti“ trugen schwarze, die Einwohner Castellos rote Kappen – als eine aus Menschenleibern geformte Pyramide zu den abenteuerlichsten Formationen auftürmten und sich im Rahmen festlicher Anlässe gegenseitig mit den Fäusten von der Brücke prügelten, bis nur mehr ein Gewinner auf selbiger stand. Eine Abbildung dieses derben Spektakels befindet sich übrigens im Museo Correr an der Piazza San Marco.

Die Ponte dei Pugni, einst Schauplatz dieser Kämpfe, verbindet den Campo San Barnaba mit dem anschließenden Campo Santa Margherita und zählte noch bis vor einigen Jahren zu den ganz wenigen Brücken Venedigs, die von keinem Geländer begrenzt war.

In die Mauern des hoch aufragenden, aus orangen Ziegeln gefertigten Campanile von San Nicolò sind einige mysteriöse Steinplatten aus weißem Sandstein eingelassen. Die von Regen, Sonne und Abgasen verwitterten Konturen der darauf abgebildeten Symbole, Tiere oder Figuren sind zum Teil schon ihres Antlitzes beraubt. Erst nach längerer Betrachtung erschließen sich die Zusammenhänge.

In unmittelbarer Nachbarschaft hat sich vor einigen Jahren die Universität für Architektur in den Fabrikationshallen einer ehemaligen Seidenspinnerei eingemietet. Dadurch erhielt der Kirchenvorplatz eine neue Charakteristik. Denn vor dem Bau einer Verbindungsbrücke war von hier aus ein Weiterkommen nicht möglich. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit war das Gelände der Fabrik umzäunt und nur für die hier angestellten Arbeiter durch ein verschließbares Tor erreichbar.

Durch den Bau der Fabrik wollte man ursprünglich die erdrückende Armut im Viertel eindämmen und Arbeitsplätze schaffen. Seit der Schließung der Fabrik in den 60er-Jahren lag dieses Gelände jahrelang brach, bis es nach langwierigen Sanierungsarbeiten der heutigen Nutzung zugeführt werden konnte.

Eine Schiffssirene eines wolkenkratzerhohen Kreuzfahrtschiffs schallt über den nahen Giudecca-Kanal. Das Echo bricht sich auf dem Kirchenplatz mehrfach, bevor es in den umliegenden Gassen verhallt. Nur das beständige Platschen des Regens, der jetzt von hämmernden Tropfen zu feinem Nieselregen mutierte, ist zu hören.

Ich schüttle mir den Regen von der Kleidung, so gut es eben geht, nehme die Kopfhörer ab und betrachte die drei verwitterten Heiligenfiguren, die das Seitenportal umgeben, durch das man die Kirche betreten kann.