Verabredung mit dem Tod - Astrid Plötner - E-Book

Verabredung mit dem Tod E-Book

Astrid Plötner

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Beschreibung

Der Tahiri mal wieder! So jung Achmed Tahiri auch ist, die Liste seiner Straftaten ist lang. Schon als Jugendlicher steht er als Mitglied einer gewaltbereiten Bande vor Gericht. Er sitzt eine Jugendstrafe ab. Bekommt in der Autowerkstatt seines Bruders einen Ausbildungsplatz und damit die Chance auf ein geregeltes Leben. Er nutzt sie nicht. Verlegt sich aufs Dealen. Wird ein zweites Mal bestraft. Und schon kurz nach seiner Haftentlassung bekommt das Team von Maike Graf erneut mit ihm zu tun. Doch anders als die Kriminalhauptkommissarin vermutet hätte …

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Inhalte

Titelangaben

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Info

Astrid Plötner
Verabredung mit dem Tod
Hellweg-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Unna und den anderen Ruhrgebietsstädten.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2024
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: © Mario Carta, Dortmund
Kapuzenmann:Adobe Stockphotos, artem
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-270-6
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-260-7
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Astrid Plötner wuchs am Rande des Ruhrpotts im westfälischen Unna auf, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Sie arbeitet seit einigen Jahren als freie Autorin, hat zahlreiche Kurzkrimis in Anthologien und einige Romane veröffentlicht. Zwei Mal, in den Jahren 2013 und 2014, wurde sie für den Agatha-Christie-Preis nominiert.
»Verabredung mit dem Tod« ist der sechste Kriminalroman der Autorin mit dem Kommissaren-Team Maike Graf und Max Teubner, die im westfälischen Unna ermitteln. Astrid Plötner ist Mitglied der Autorenvereinigung Syndikat e.V.
Weitere Informationen unter: www.astrid-ploetner.de
Kapitel 1
Vor etwa acht Jahren
An manchen Tagen wünschte Jakob sich, er wäre tot. Heute war wohl so ein Tag. Er hatte die schlimmste Schulstunde erlebt, die man sich vorstellen konnte. Alles war schiefgelaufen und er hatte sich vor der Klasse blamiert. Nur mit Mühe hatte er die Tränen zurückgehalten. Jetzt fing es auch noch zu regnen an. Er begann zu laufen und kam ins Schwitzen. Der Schulrucksack drückte unangenehm auf seinem Rücken. Allein der Laptop, den er jeden Tag zur Schule schleppen musste, wog fast zwei Kilo. Dazu kamen die fetten Bücher für Geschichte und Erdkunde und der andere Kram, den er für die Schulstunden in der sechsten Klasse brauchte. Obendrauf heute noch die Sporttasche. Früh morgens, wenn es vom Busbahnhof bis nach Königsborn bergab ging, war es um diese Jahreszeit selbst mit Winterjacke arschkalt, da machte ihm der Weg nichts aus. Aber jetzt, wo er sich beeilen musste, um den Bus nicht zu verpassen, lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter.
Scheißnovember. Scheißtag. Scheißleben.
Während er zwischen anderen Schülermassen die Hammer Straße hinaufeilte, dachte er an seinen Geschichtslehrer Heimbach, der ihn vor der Klasse zur Sau gemacht hatte. Dieser Blödarsch!
Hast du dich denn gar nicht auf das Referat vorbereitet, Jakob? Witzig! Total witzig! Die letzten Nachmittage hatte er bis spät abends an seinem Teil des Vortrags gesessen und versucht, den ganzen Mist auswendig zu lernen. Die Expansion Roms zum Großreich. Wozu musste man sich diesen Dreck ins Gehirn pflastern? Jakob hatte nicht vor, in seiner Zukunft irgendwas mit Geschichte zu machen. Der dämliche Heimbach konnte sich das Imperium Romanum sonst wo hinschieben.
Wieso hatte Björn ihn heute Morgen bloß hängengelassen? Er hatte versprochen, nach seinem Zahnarzttermin zur dritten Stunde in der Schule zu sein. Am Ende der großen Pause hatte er ihn angeschrieben, dass er doch nicht komme, er habe ultraschlimme Schmerzen. Deshalb musste Jakob das Referat in der Geschichtsstunde allein halten. Das hatte ihn so aus der Bahn geworfen, dass er seinen Teil auch nicht mehr auf die Kette bekommen hatte. Irgendwie war sein Hirn plötzlich wie leer gefegt gewesen. Er hatte gestottert und war rot angelaufen. Verdammter Mist.
Jakob hatte gerade den Kreisverkehr passiert und kämpfte sich die letzte Steigung Richtung Busbahnhof hoch, als er hinter sich laute Stimmen hörte. Gekicher, Gegröle, blöde Sprüche. Er sah sich gehetzt um. Oh nein! Die Asi-Bande hatte ihm noch gefehlt. Er beschleunigte seine Schritte und blieb dicht bei einer Gruppe Mädchen, die bestimmt schon in die Oberstufe gingen. Irgendwie musste es ihm gelingen, seinen Bus zu erwischen, bevor die Asis ihn …
»Hey, Jakob! So lonely? Wo ist ’n dein Kumpel?«, rief eine helle Stimme hinter ihm.
Scheiße! Das war ein Mädchen aus der Bande. Jakob umrundete die Oberstufenschülerinnen vor ihm und begann zu laufen. Der Schulrucksack wippte auf seinem Rücken schwer hin und her. Er keuchte. Nach einigen Metern war er nass geschwitzt. Endlich erreichte er die letzte Kurve vor der Bahnunterführung, danach war es nicht mehr weit bis zum Busbahnhof.
»Mach doch mal low gas, Junge!«
Achmeds Stimme hörte sich verdammt nah an. Trampelnde Schritte. Die Bande lief ihm hinterher. Jakob sah sich gehetzt um, kam ins Stolpern, konnte sich noch fangen. Die beiden Mädchen der Gang lachten. Er rannte über die Straße, gleich kam die Abbiegung zur Unterführung. Das musste er einfach schaffen. Im selben Moment spürte er eine Hand am Griff seines Schulrucksacks. Er wurde zurückgerissen und Achmed stand rechts neben ihm. Auf der linken Seite tauchte Kevin, der Anführer auf. Die Mädchen und ein weiterer Junge drängten sich dicht hinter ihn. Jakob schaute sich panisch um. Warum half ihn niemand? Die Oberstufenschülerinnen gingen bereits zur Unterführung. Andere Passanten beachteten ihn nicht. Er wollte um Hilfe schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Die Bande schubste ihn in Richtung der Bahngleise auf einen Parkplatz. Plötzlich war er allein mit den fünf Asis, die so um die 15, 16 Jahre alt waren und ihn alle um mindestens einen Kopf überragten.
Der Parkplatz wurde von Bäumen und Büschen sowohl von der Straße als auch zu den Gleisen abgegrenzt. Es standen nur wenige Autos darauf. Achmed schubste ihn vorwärts, bis sie die parkenden Fahrzeuge hinter sich gelassen hatten. Eine S-Bahn fuhr mit lautem Getöse vorbei. Sie erreichten eine Nische, in der ein alter Container aufgestellt war. Dorthin wurde Jakob getrieben, bis er mit dem Rücken gegen kaltes Metall knallte.
»Sein Rucksack is krass schwer«, behauptete Achmed. »Hilf dem Intelligenzallergiker mal, Chantal, und nimm ihm das Teil ab!«
Das blonde Mädchen kam auf ihn zu und ließ ihre Finger mit den schwarzlackierten Nägeln über seine Wange gleiten. Dann trat sie ihm mit voller Wucht vors Schienbein. Jakob schrie vor Schmerz laut auf. Wieso half ihm niemand?
»Jetzt hast du ihm wehgetan, Chantal«, meinte Achmed mit falscher Freundlichkeit. »Nimm ihm endlisch den Rucksack ab.«
»Klaro!« Das Weib himmelte ihren Freund an und trat erneut zu.
Jakob krümmte sich vor Schmerz. Der Schulrucksack wurde ihm vom Rücken gerissen, Chantal öffnete ihn und kippte den Inhalt auf den staubigen Schotter. Da er sein Etui nur fahrig verstaut hatte, purzelten Stifte, Radierer, Anspitzer und Geodreieck auf den Boden.
Achmed zog den Laptop aus dem separaten Fach. »Der bringt bestimmt ’nen Hunni«, stellte er zufrieden fest und klemmte ihn sich unter den Arm.
Chantal trat erneut zu, diesmal in die Kniekehle. Jakob sackte zusammen und fiel hin. Ein weiterer Tritt traf ihn in die Seite. »Los! Jetzt rück die Kohle raus! Wir wollen ’nen Turn machen.« Als er den Kopf schüttelte und schwieg, holte sie mit dem Fuß aus und trat mit voller Kraft in seinen Bauch. Dann ging sie neben ihm in die Hocke und zerrte den Ärmel seiner Jacke hoch. »Sieh an, ’ne krasse Watch.« Sie öffnete den Verschluss und zog das Band von seinem Arm.
»Bitte nicht!«, keuchte Jakob. »Die ist von meinem Opa!« Er war so stolz gewesen, als er die Uhr zu seinem 11. Geburtstag im März bekommen hatte. Es war Opa Peters letztes Geschenk, bevor er im Sommer an einem Herzanfall gestorben war.
»Die ist von seinem Opa!«, sagte Chantal mit gespieltem Bedauern und schleuderte das Band um ihren Zeigefinger.
»Lass den Scheiß!«, blaffte Kevin und schnappte sich die Uhr. »Wenn er die von so ’nem alten Sack gekriegt hat, ist sie bestimmt wertvoll.« Er ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. »Wo ist dein Handy?«
»Ich hab keins!«, flüsterte Jakob. »Das habt ihr mir letztes Mal abgenommen. Das nächste bekomme ich erst zu Weihnachten.«
»Der arme Kleine.« Chantal kicherte.
»Durchsucht seine Jacken- und Hosentaschen. Vielleicht hat er noch Kohle bei sich.« Kevin starrte den Jungen an, dessen Namen Jakob nicht kannte. »Na los, jetzt zeig mal, was du draufhast!«
»Gerne!« Der blasse Typ beugte sich über ihn. Mit festem Griff packte er ihn an den Handgelenken und zerrte ihn auf die Füße. »Wäre besser, du rückst dein Zeug raus. Sonst gibt es auf die Fresse.«
Jakob schüttelte den Kopf. Sofort bog der andere ihm die Arme auf den Rücken, hielt sie mit einer Hand zusammen, während er ihm die Taschen durchsuchte. Jakob zitterte, seine Knie wurden weich und er atmete auf, als der Junge ihn losließ. Nur um ihn ruckartig rumzureißen und ihn mit einem gezielten Stoß zu Boden zu zwingen. Ihm liefen Tränen an den Wangen herab. Er konnte sie nicht unterdrücken. Er hatte Angst. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Todesangst.
Ein überhebliches Grinsen lag auf dem Gesicht des blassen Jungen. Wortlos beugte er sich über Jakob, zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und durchsuchte die Innentasche. Er zog einen Zwanzigeuroschein heraus, grinste noch breiter und reichte Kevin das Geld. Danach boxte er Jakob nochmals mehrfach in die Seite und stand auf. »Von dem Zwanziger können wir uns Energy und Kippen holen.«
»Gute Idee!«, rief Chantal. »Netto oder Rewe?«
»Netto ist näher, außerdem wollen sie beim Rewe immer ’nen Ausweis«, meinte Achmed.
»Beim Netto auch«, erwiderte Chantal. »Kevin ist der Babo!«
»Netto ist näher, hab isch gesagt, Schlampe!« Er warf seiner Freundin einen bösen Blick zu, griff nach Jakobs Sportbeutel und zog den Reißverschluss auf. Hastig kippte er das Sportzeug in den Staub, verstaute den Laptop in der Tasche und hängte sich den Riemen über die Schulter. »Was is? Wollt ihr auf die Bullen warten?«
Jakob blieb rücklings liegen und hielt die Luft an. Bloß nicht noch einmal die Aufmerksamkeit erregen.
»Dann eben Netto«, murrte Chantal. Sie blickte Jakob an. In ihren Augen blitzte Wut auf, die wohl gegen Achmed gerichtet war, die sie aber an Jakob auslassen würde. Im selben Moment trat sie ihn mit voller Wucht in die Seite. »Verwöhnte Yuppie-Brut! Kriegst alles in den Arsch geschoben, kleiner Bastard! Erbärmlicher Feigling!«
Jakob wälzte sich herum und krümmte sich vor Schmerz. Der nächste Tritt traf ihn in den Rücken. Wieso ließ die blöde Kuh ihn nicht einfach in Ruhe? Er schluchzte.
»Lass gut sein, Chantal«, sagte das andere Mädchen, das sich bislang aus allem herausgehalten hatte. »Achmed ist mit Kevin schon an der Straße.«
Schritte entfernten sich. Jakob hob vorsichtig den Kopf. Die beiden Mädchen und der blasse Junge liefen hinter ihren Freunden her. Die Dunkelhaarige sah sich noch mal um und hob bedauernd die Schultern. Jakob rieb sich die Tränen aus den Augen. Mühsam rappelte er sich auf. Seine Jeans und seine Winterjacke waren völlig verdreckt. So gut es ging, klopfte er sich den Staub von der Kleidung. Sein ganzer Körper schmerzte, jede Bewegung tat höllisch weh. Er bückte sich, sammelte seine Bücher, Hefte und den Taschenrechner ein, schmiss Stifte, Radierer, Anspitzer und Geodreieck ins Etui. Danach packte er alles in den Schulrucksack, obendrauf stopfte er das Sportzeug. Die Schnürsenkel der Turnschuhe band er um den Tragegriff. Dann zog er den Reißverschluss der Jacke zu und setzte den Schulrucksack auf den Rücken. Gut, dass er sein neues Handy nach dem Sport in der letzten Stunde in eine Socke gestopft hatte. Da hatten es die Asis nicht gefunden.
Langsam humpelte er vom Parkplatz und auf die Unterführung zu. Eine Straßenmusikantin spielte auf einem Akkordeon und lächelte ihn freundlich an. Jakob konnte nicht lächeln. Er hinkte weiter, vorbei an der Rückseite des Rathauses und am Haupteingang des Bahnhofs und erreichte endlich den Busbahnhof. Auf den nächsten Bus würde er noch etwas warten müssen. Er setzte sich auf eine Bank und verschränkte die Arme vor der Brust. Nach einer Weile spürte er sein Smartphone am Bein vibrieren. Bestimmt seine Mutter, die sich Sorgen machte. Jakob bückte sich und zog das Telefon aus der Socke. Ein verpasster Anruf, tatsächlich von seiner Mutter. Ehe er ihr antworten konnte, hörte er die Stimme von Chantal.
»Hey, der kleine Loser hat doch ein Handy!«
Jakob sprang auf. Die Asi-Bande erreichte gerade den Busbahnhof. In den Händen hielten sie Energydrinks und brennende Zigaretten. Wie dumm er gewesen war. Er wusste doch, dass die Gang ihren Treffpunkt auf einer der Bänke am Busbahnhof hatte. Hier passten sie oft ihre Opfer ab.
Chantal begann zu laufen. Im selben Moment sah Jakob, dass sein Bus kam. Er rannte auf den Halteplatz zu. Die Türen öffneten sich. Eine Frau mit Kinderwagen stieg aus, dahinter stand eine ältere Dame mit Stock. Chantal hatte ihn fast erreicht. Jakob stopfte das Handy in die linke Jackentasche, zerrte seine Fahrkarte aus der rechten. Endlich war die Alte raus. Er sprang in den Bus, zeigte dem Fahrer seine Karte und setzte sich auf einen der mittleren Plätze.
Chantal schlug wütend mit der flachen Hand an die Fensterscheibe. Jakob konnte sich ein erleichtertes Grinsen nicht verkneifen. Die Türen des Busses gingen mit einem Zischen zu. Mutig hob er seine kleine Hand an die Scheibe und zeigte der Asi-Göre den Mittelfinger.
Kapitel 2
Etwa acht Jahre später, Montag, 6. Mai, 7.55 Uhr
Kriminalhauptkommissarin Maike Graf lenkte ihren roten Renault Clio in eine freie Lücke auf den Parkplatz vor dem Polizeipräsidium Dortmund. In naher Zukunft würde sie sich nach einem neuen Wagen umsehen müssen. Sie fuhr den Clio jetzt schon mehr als zehn Jahre, und mit einer Laufleistung von über 150.000 Kilometern kamen sicherlich bald größere Reparaturen auf sie zu. Maike seufzte, stieg aus und knallte die Tür zu. Ein lauer Wind wirbelte ihre langen braunen Haare durcheinander, die sie ausnahmsweise offen trug. Zielstrebig steuerte sie hinter dem Glasvorbau den Fahrstuhl an und verließ ihn im zweiten Stock wieder. Erinnerungen an die Zeit vor über acht Jahren, als sie hier gearbeitet hatte, wollten sich auf sie stürzen wie ein hungriger Löwe. Maike war damals gerne Ermittlerin im Kriminalkommissariat 11 gewesen, aber heute schmerzte der Rückblick darauf. Plötzlich fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, herzukommen. Noch konnte sie umkehren. Zögernd blieb sie vor einer Bürotür stehen, zog ihren braunen Lederblazer zurecht, der ihr ein wenig um die schlanke Figur schlabberte. Sie hatte in den letzten Monaten vier Kilo an Gewicht verloren, da sie an chronischer Appetitlosigkeit litt. Sie atmete tief ein, klopfte endlich und betrat den Raum sofort.
Der rotgelockte Kopf des Mannes hinter dem Schreibtisch ruckte hoch. Sein mürrischer Gesichtsausdruck ließ sie erneut an ihrem Vorhaben zweifeln. »Können Sie nicht warten, bis Sie hereingebeten werden?«, blaffte er.
Maike schoss das Blut ins Gesicht. »Guten Morgen, Herr Marschewski. Soll ich wieder hinausgehen?«
Er winkte ab. »Nun setzen Sie sich schon! Ich bin gleich so weit.« Er vertiefte sich in Papiere, während sie ihm gegenüber Platz nahm, und ließ sie warten. Endlich blickte er auf. »Sie treibt es also zu einer Veränderung. Vermutlich, weil Ihre Kollegen in Unna es nicht mehr mit Ihnen aushalten?«
Maike fühlte sich, als habe er sie geschlagen. Am liebsten hätte sie sofort kehrtgemacht. Was hatte sie bloß zu der irren Annahme gebracht, von Marschewski so etwas wie Verständnis oder Entgegenkommen erwarten zu können? »Ich verstehe mich mit meinen Kollegen nach wie vor sehr gut«, sagte sie leise. Das war nicht ganz die Wahrheit, denn tatsächlich hatte das Arbeitsklima nach ihrer beruflichen Auszeit arg gelitten. Besonders Kollege Sören Reinders verhielt sich ihr gegenüber sehr distanziert und machte keinen Hehl daraus, dass er auf eine Zusammenarbeit mit ihr keinen großen Wert mehr legte. Aber das konnte Marschewski nicht wissen, oder? Sie hatte sich um einen Job im KK11 beworben und nun sollte er seine Fragen stellen. »Da Sie meine Bewerbung berücksichtigt haben, wäre es schön, wenn wir mit dem Vorstellungsgespräch beginnen könnten.«
Mark-Oliver Marschewski starrte sie aus seinen grünen Augen überrascht an. Seine Brauen rutschten hoch, die Stirn legte sich in Falten. »Ich bin selbst kein Freund von unsinnigem Drumherum-Geschwafel. Kommen wir also sofort zum Punkt: Ich habe nach Erhalt Ihres Bewerbungsschreibens mit Ihrem Dienststellenleiter telefoniert, um mich nach Ihrem aktuellen … sagen wir psychischen Zustand zu erkundigen. Man sieht Ihr Verhalten auch über ein Jahr nach der Geschichte mit dem Hübner als sehr bedenklich an.«
Maike schluckte. Was sollte das? Sie stieß die Luft aus, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir gegenüber hat er nichts dergleichen erwähnt. Ich kann mein Privatleben sehr gut vom Beruf trennen.«
Marschewski rollte seinen Stuhl nach hinten und stand auf. Er wandte sich von ihr ab und blickte einen Moment aus dem Fenster, wo man in der Ferne die grellgelben Flutlichtmasten des Signal-Iduna-Parks sah. Nach einer gefühlten Unendlichkeit des Schweigens drehte er sich wieder um. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Frau Graf, aber befinden Sie sich noch in psychologischer Betreuung?«
Maike konnte nur mit Mühe die Beherrschung bewahren. Das Blut schoss ihr erneut in den Kopf und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Es war ein Fehler gewesen, sich für einen Job im KK11 zu bewerben. Marschewski war und blieb ein Arschloch. »Nein. Das halte ich nicht mehr für nötig. Die Psychologin steht mir bei Bedarf zur Verfügung. Aber ich kann Ihnen versichern, dass meine Arbeit nicht unter meinen Privatleben leidet«, versuchte sie deutlicher zu werden.
Der Leiter des KK11 setzte sich, legte die Unterarme auf der aufgeräumten Schreibtischplatte ab und faltete die Hände. »Das hoffe ich sehr! Ich verstehe, dass die Geschichte mit dem Hübner Ihnen nahegegangen ist. Aber wenn Sie ins KK11 wechseln wollen, dann darf es kein Lippenbekenntnis sein, wenn Sie beteuern, Privates von Beruflichem trennen zu können. Unser Job ist kein Kindergarten. Entweder Sie haben sich im Griff oder Sie sollten in Erwägung ziehen, sich mit einem reinen Bürojob zufriedenzugeben. Vielleicht interessieren Sie sich für die Kriminalaktenhaltung?«
Maike lachte abschätzig. Sie zwang sich, sitzen zu bleiben, obwohl sie am liebsten aus dem Büro gestürmt wäre. Zweimal hatte er nun die Geschichte mit dem Hübner erwähnt. Als handele es sich um einen fiktiven Roman, den man mal eben ins Bücherregal zurückstellen könnte. Sie räusperte sich. »Die Kriminalaktenhaltung ist sicherlich kein Ziel, das ich mit einer Veränderung in meinem Job erreichen möchte. Wenn Sie so ein schlechtes Bild von mir haben, warum haben Sie mich dann überhaupt eingeladen?«
Er ließ die Daumen umeinanderkreisen und starrte sie regungslos an, ohne auf ihre Frage zu antworten. »Ich habe auch mit Kollegen von Ihnen in Unna gesprochen. Sie sind der Meinung, dass Sie nicht mehr so effizient und konzentriert arbeiten wie früher. Vielleicht hilft es Ihnen tatsächlich, wenn Sie vor andere Herausforderungen gestellt werden.«
»Herausforderungen in der Kriminalaktenhaltung?« Maikes Stimme war unbewusst lauter geworden. »Das ist hoffentlich nicht Ihr Ernst!«
»Fakt ist, Sie hatten ein schlimmes Erlebnis zu verarbeiten und ich möchte nicht riskieren, dass Ihre Arbeit hier ebenfalls darunter leiden würde.« Auch seine Stimme schwoll etwas an. »Ich formuliere es mal mit einfachen, verständlichen Worten: So wie ich es sehe, haben Sie das traumatische Erlebnis mit dem Hübner noch nicht verarbeitet. Sie sind nicht mehr so teamfähig wie früher, Sie nehmen keine Hilfe in Anspruch, Ihre Kollegen machen sich Sorgen. Ich frage mich, ob Sie in Ihrem Zustand für die Polizeiarbeit überhaupt noch tragbar sind.«
Maike sprang auf und stützte ihre Hände auf den Schreibtisch. Sie funkelte Marschewski mit wütendem Blick an. »Wenn Sie sich so eine schlechte Meinung von mir gemacht haben, warum haben Sie mich herbestellt? Um mich zu erniedrigen? Es war ein Fehler, herzukommen. Vielen Dank für nichts!« Sie drehte sich um und wollte aus dem Büro stürmen. Ihr Herz klopfte wild. Dieses verdammte empathielose Arschloch!
»Sie bleiben hier und setzen sich!«
Maike hatte die Türklinke bereits in der Hand. Kurz überlegte sie, seinen unangemessenen Kommandoton zu ignorieren, zögerte aber. Sie drehte sich langsam um und brachte ihre Gefühle mühsam unter Kontrolle. »Was noch?«, zischte sie und blieb vor seinem Schreibtisch stehen. Das gab ihr die Genugtuung, auf ihn hinabblicken zu können.
»Setzen Sie sich!«, brummte er leise. »Die Geschichte mit dem Hübner ist über ein Jahr her. Bei den damaligen Ermittlungen haben Sie sich nicht mit Ruhm bekleckert. Ihr eigenmächtiges Handeln hat Sie unnötig in Gefahr gebracht und gegen sämtliche Dienstvorschriften verstoßen. Ich frage mich, ob das bei Ihnen ein gängiges Verhalten ist.«
Maike atmete tief durch. Sie durchschaute einfach nicht, warum Marschewski dieses Gespräch überhaupt mit ihr führte. Ein gewöhnliches Bewerbungsgespräch sah anders aus. Sie versuchte ruhig zu bleiben. Vielleicht fand sie ja noch heraus, in welche Richtung er dachte. »Durch meinen Alleingang ist es immerhin gelungen, die Täter zu fassen, die für die Geschichte mit dem Hübner verantwortlich sind.« Sie nutzte bewusst seine Worte und betonte dabei jede einzelne Silbe, um ihm zu zeigen, was sie davon hielt.
Marschewski seufzte. »Jetzt setzen Sie sich doch. BITTE!« Er wartete, bis sie endlich seiner Aufforderung nachgekommen war. »Ich habe Ihre Personalakte gelesen. Sie sind immer eine gute Ermittlerin gewesen. Hübner hat Sie damals in den höchsten Tönen gelobt. Dass Sie sich in den letzten Monaten haben hängenlassen, ist allerdings ein Fakt, den ich nicht außer Acht lassen kann und nicht außer Acht lassen werde.«
»Indem Sie mir vorschlagen, mich mit der Kriminalaktenhaltung zu beschäftigen? Herzlichen Dank, aber darauf kann ich gut verzichten.« Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, dabei starrte sie Marschewski herausfordernd an.
»Es muss nicht zwangsläufig eine Bürotätigkeit sein. Nach meinem intensiven Gespräch mit Ihrem Dienststellenleiter bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass er ernsthaft über Ihre derzeitige Einsatzfähigkeit besorgt ist. Dennoch ist er überzeugt, dass Sie es schaffen können, die Vergangenheit zu bewältigen. Sie arbeiten jetzt acht Jahre in Unna. Vielleicht täte Ihnen Abwechslung im Job tatsächlich gut. Ich müsste mir Ihre Arbeitsweise natürlich genau anschauen und gucken, ob es passt. Aber einen Versuch wäre es mir wert. Sie könnten am Ersten des nächsten Monats hierher wechseln.«
Maike starrte Marschewski überrascht an. Mit dieser Wendung des Gesprächs hatte sie nicht mehr gerechnet. Inzwischen wusste sie nicht einmal mehr, ob sie den Job in seiner Abteilung überhaupt noch haben wollte. Sie hatte völlig vergessen, wie oft sie sich schon über sein manchmal polterndes Verhalten geärgert hatte. Sie kannte sich mit Kapitaldelikten aus, ja, hatte vor vielen Jahren bereits erfolgreich im KK11 Dortmund gearbeitet. Aber damals war Jochen Hübner der Leiter gewesen, mit ihm war sie später sogar eine Liaison eingegangen. Aber diesen Choleriker als Chef? Wie gut, dass er ihr sein Wesen gerade eben in Erinnerung gebracht hatte. »Es tut mir leid, Herr Marschewski, dass ich umsonst Ihre Zeit in Anspruch genommen habe. Aber ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher.« Sie stand auf. »Ich habe mich in Unna eigentlich immer sehr wohlgefühlt. Vielleicht sollte ich doch lieber darauf setzen, dass sich diese gute Atmosphäre in unserem Team wieder einstellen kann.« Unwillkürlich fragte sie sich, wen genau er eben mit Ihren Kollegen gemeint hatte. Ob Max Teubner und Sören Reinders ihr in den Rücken gefallen waren? Das traute sie den beiden nicht zu.
Marschewski wollte zu einer Antwort ansetzen, als sein Telefon klingelte. »Einen Moment!«, bat er daher nur und nahm das Gespräch entgegen. Er lauschte eine Weile. »In Ordnung. Wir kommen.« Er legte den Hörer auf, erhob sich seufzend und blickte sie an. »Ein Tapetenwechsel ist manchmal eine gute Chance, mit der Vergangenheit abzuschließen. Wagen Sie den Neuanfang ruhig! Nennen Sie es eine Fügung, denn Sie können mich jetzt begleiten. An der Ortsgrenze zu Unna an der S-Bahn-Haltestelle Wickede ist ein Toter gefunden worden. Das möchte ich mir mit Ihnen gemeinsam anschauen. Sie sind gewiss mit dem Wagen hier und können mich mitnehmen.« Er zerrte einen grauen Blouson von einem Garderobenständer, der dabei fast umkippte, fluchte und schob Maike aus dem Büro, das er hinter sich verschloss.
Sie folgte ihm wortlos die Stufen des Treppenhauses hinunter. Als die gläserne Eingangstür hinter ihnen zuschlug, überließ er ihr den Vortritt bis hin zu ihrem Auto. Maike schnallte sich an und startete den Motor. »Ich setze Sie gerne an der Haltestelle ab, aber meine Entscheidung, ob ich in Zukunft für das KK11 arbeiten möchte, ist noch nicht gefallen.«
Endlich ließ Marschewski den Gurt einrasten. Er lehnte sich zurück, soweit ihm das in dem recht kleinen Wagen möglich war. »Seien Sie nicht bockig! Schauen wir uns den Toten am Bahnsteig gemeinsam an! Sie haben doch früher auch erfolgsorientiert an Mordfällen mitgearbeitet. Außerdem befindet sich der Fundort dicht an der Grenze zu Unna. Ist also fast Ihre Zuständigkeit!«
Maike schwieg und konzentrierte sich auf den Verkehr. Sie fühlte sich völlig verunsichert und war erleichtert, dass Marschewski nicht weiter auf das Gespräch in seinem Büro einging. Stattdessen machte er Konversation. »Immer wenn ich hier langfahre, muss ich an einen Großeinsatz denken, den wir hier im November hatten. Da war eine Demonstration angekündigt.« Er schüttelte den Kopf. »Klimaaktivisten wollten durch eine Blockade dieser wichtigen Kreuzung den Ausbau des Radschnellwegs Ruhr durchsetzen.«
Maike erinnerte sich und ging auf das Thema ein. »Ja, das kam damals durchs Radio. Der Moderator hat sich über das Großaufgebot der Beamten ziemlich lustig gemacht, weil keiner der Aktivisten erschien. Die hatten die Aktion im Netz abgesagt, aber vergessen, die Polizei zu informieren.«
»Genau. Und wir standen hier mit zig Fahrzeugen, weil wir irgendwie den Verkehrsfluss sichern wollten. Eigentlich bin ich für solche Aktionen ja gar nicht zuständig, aber die Personalknappheit hat mich dazu genötigt. An dem Tag fand auch noch die Messe Jagd und Hund statt, es war Hanse-Markt und verkaufsoffener Sonntag. Daher waren die Straßen voll.« Damit schlief das Gespräch auch schon wieder ein. Bald erreichten sie die unendliche Baustelle an der Autobahn, die von zwei auf drei Spuren verbreitert werden sollte, und kamen nur langsam voran. Sie fuhr an der Ausfahrt Holzwickede ab und lenkte den Wagen kurz darauf am Flughafen vorbei. Eine lange Umgehungsstraße führte sie Richtung Dortmund-Wickede. Zehn Minuten später parkte sie in der Nähe der S-Bahnhaltestelle am Altwickeder Hellweg. Da ihre Neugier auf den Totenfund geweckt war, schnallte sie sich doch ab und stieg aus. Dann ging sie neben Marschewski auf den Bahnsteig, den die Kollegen inzwischen zum Teil abgesperrt hatten. Maike beugte sich unter das Absperrband hinweg und folgte Marschewski bis zu einem Backsteinmauerwerk. In früheren Jahren war es als Schrankenwärterhäuschen genutzt worden, hatte heute jedoch keinerlei Funktion mehr, stand allerdings unter Denkmalschutz. Marschewski sprach kurz mit einem der Kollegen und kam anschließend auf sie zu.
»Der Tote liegt hinter dem Backsteinhaus an der Böschung. Ein S-Bahn-Fahrer hat ihn entdeckt, der seine Notdurft dort verrichten wollte. Nun kommen Sie schon!« Er drückte ihr Überzieher für die Schuhe in die Hand und streifte sich selbst welche über seine schwarzen Sneakers. Dann ging er zielstrebig an dem Häuschen vorbei und kletterte die Böschung hinab.
Maike tat es ihm gleich und folgte ihm. Der Tote lag verdeckt unter einem Busch, der recht dicht hinter dem höher gelegenen Bahnwärterhaus wuchs. Schleifspuren ließen vermuten, dass der Täter ihn dorthin gezogen hatte, um ein schnelles Auffinden der Leiche zu verhindern. Man sah Beine in verwaschenen Jeans und Füße in weißen Joggingschuhen der Marke Nike, schätzungsweise Größe 43. Der Mann lag auf dem Rücken. Als Maikes Blick zu seinem Kopf wanderte, bekam sie einen Schreck. Und das lag nicht nur am Eintrittsloch des Schusses, der ihn wie bei einer Hinrichtung mitten in die Stirn getroffen hatte. Sie erkannte den Toten, der inzwischen höchstens 25 Jahre alt gewesen sein dürfte. Sie hatte gegen ihn ermittelt. Wegen seines großkotzigen Auftretens und seines auffälligen Narzissmus war er ihr unsympathisch gewesen. Soweit sie sich erinnerte, handelte es sich um einen ihrer ersten Fälle, den sie nach ihrem Wechsel vom PP Dortmund in der Dienststelle Unna bearbeitet hatte. Damals war Achmed Tahiri etwa 17 Jahre alt gewesen.
Kapitel 3
Montag, 6. Mai, 16.35 Uhr
Die Strecke von Unna in das Dorf Fröndenberg-Frömern galt als anspruchsvoll für Fahrer, die gerne einen Tick zu schnell fuhren. Kriminalhauptkommissar Max Teubner wohnte selbst in Fröndenberg-Langschede und befuhr die Landstraßen im Umkreis häufig. Es gab ein ständiges Auf und Ab an Geschwindigkeitsbegrenzungen. Im Dorf Kessebüren wurde man durch gepflasterte Straßenerhebungen auf 30 Kilometer pro Stunde gedrosselt. Teubner trat vor dem zweiten Buckel, der besonders schmal und hoch aus der Fahrbahn stach, mit Wucht auf die Bremse. Sein Kollege Sören Reinders wurde in den Sicherheitsgurt gepresst.
»Kannst du nicht langsamer fahren?«, murrte er. »Wir sind nicht auf der Flucht und auf dieser Strecke stehen ständig mobile Blitzer.«
»Okay.« Doch nach der letzten Erhebung gab er wieder Gas. Sie ließen das Dorf hinter sich und nach einer steilen Kurve taten sich Felder auf, die Kessebüren und Frömern miteinander verbanden. »Ist schon seltsam, dass Maike heute nicht in der Dienststelle aufgetaucht ist und sich nicht gemeldet hat. Ich habe da ein ganz komisches Bauchgefühl. Meinst du, sie ist auf der Suche nach einem anderen Job?«
Reinders zuckte lapidar mit den Schultern. »Das ist mir so was von egal. Oder nein, wenn ich ehrlich bin, wäre es wohl für uns alle das Beste. Fakt ist: So geht es nicht weiter mit ihr.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Versteh mich nicht falsch. Ich schätze sie sehr. Als Kollegin und als Mensch. Aber seit über einem Jahr sitzt sie jetzt in ihrer Bubble. Sie lässt niemanden an sich ran und Hilfe nimmt sie auch nicht an. Dabei ist sie zeitweise unausstehlich.«
»Sie hat einiges mitgemacht, Sören. Das darf man nicht vergessen. Sie wollte mit dem Hübner zusammenziehen und dann …«
»Ja, ja. Aber irgendwann muss man wieder nach vorn schauen. Keine Ahnung, wieso ihr das nicht gelingen will. Die zieht uns doch alle mit runter. Seit Monaten.«
Max Teubner musste erneut auf 30 abbremsen. Als Eingangstor zu Frömern erreichten sie den im Umfeld bekannten Hof Sümmermann, ein historischer Backsteinbau mit zahlreichen Hofläden im Innenhof. »Ja, du hast ja Recht. Aber ich würde Maike so gerne helfen. Wir waren doch immer ein gutes Team. Ich würde sie sehr vermissen.«
»Mein Mitgefühl hält sich in Grenzen. Für Maike wäre ein Jobwechsel sicherlich nicht die schlechteste Option. Vielleicht hat sie sich in Dortmund beworben. Im KK11 hat sie immerhin früher schon gearbeitet.«
»Du meinst, weil Marschewski uns angerufen und über sie ausgefragt hat?« Teubner hatte sich schon den Kopf darüber zerbrochen, was der Grund dafür gewesen sein mochte. »Nein, ich denke nicht, dass Maike nach Dortmund zurückgehen würde.«
»Abwarten.« Sören Reinders schob sich einen Kaugummi in den Mund. Seit über einem Jahr versuchte er sich das Rauchen abzugewöhnen, was ihm immer besser gelang.
Teubner bog fast am Ende des Dorfes nach links in die verzweigte Straße Kesseborn ab und hielt kurz darauf vor einem Einfamilienhaus mit kleinem Vorgarten, in dem noch zahlreiche Tulpen in bunten Farben blühten. Er verließ den Dienstwagen schweigend. Ihm gefiel der Gedanke nicht, wie Reinders über Maike dachte. Ja, ihre Arbeit hatte gelitten in den letzten Monaten, aber dennoch …
»Ich klingele bei den Kirchners.« Sören Reinders fuhr mit der Hand über seinen raspelkurzen Haarschnitt, den er sich vor einer Woche selbst rasiert hatte. Er sei es leid, ständig mit Florian Silbereisen verglichen zu werden. Das sei mit dem Stoppelschnitt jetzt Geschichte. In der Tat sah er völlig anders aus. Nicht mehr Typ Schlagersänger, eher Typ Türsteher.
Max Teubner trat neben Reinders und fixierte die mit Bronze beschlagene Tür des weiß verputzten Hauses. Endlich öffnete sie sich und eine sportlich wirkende Frau, die er auf Mitte 40 schätzte, stand in engen Jeans, weißen Sneakers und blauem Kapuzensweater vor ihnen. Ihr aschblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie blickte die Beamten fragend an. Teubner hielt ihr seinen Dienstausweis entgegen. »Kerstin Kirchner?« Als sie nickte, fuhr er fort: »Bei uns hat sich eine Zeugin gemeldet, die in der vergangenen Nacht aus einem Fenster beobachtet hat, wie der auf Sie zugelassene weiße Smart mit überhöhter Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen ist und mehrere parkende Autos touchiert hat. Darunter auch den VW Golf der Zeugin. Der Fahrer habe kurz angehalten, aber anstatt auszusteigen, sei er mit quietschenden Reifen losgerast und an der nächsten Ampelkreuzung über Rot gefahren.«
Die Brauen der Kirchner schnellten in die Höhe, ihre braunen Augen blickten überrascht. »Das … das muss ein Irrtum sein.«
Reinders sah in sein Notizbuch. »Sie fahren doch einen elektrobetriebenen weißen Smart mit dem Kennzeichen UN-KK …«
»Ja, ja, aber heute Nacht … ich habe im Bett gelegen und geschlafen. Da können Sie meinen Mann fragen.« Sie schob die Spitzen ihrer Finger in die knallengen Taschen ihrer Jeans.
»Wer hat denn noch Zugang zu dem Smart? Haben Sie Kinder?«, fragte nun Teubner.
Kerstin Kirchner nickte kurz und schüttelte sofort den Kopf. »Meine Tochter besitzt keinen Führerschein. Die fährt immer mit meinem Mann zur Arbeit, und wenn sie andere Arbeitszeiten hat, nimmt sie sein Pedelec. Mein Sohn hat in der Nacht geschlafen. David studiert in Bochum Medizin und muss morgens früh raus, weil der Weg zur Uni mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine halbe Ewigkeit dauert. Ein eigenes Auto kann er sich nicht leisten, und den Smart fahre normalerweise ich, um nach Unna zu kommen.«
Reinders schob sein Notizbuch in die Jackentasche. »Dann zeigen Sie uns bitte mal das Fahrzeug. Wenn kein Kratzer dran ist, muss sich die Zeugin wohl geirrt haben.«
»Das geht nicht«, meinte Kerstin Kirchner knapp.
»Warum nicht?« Teubner sah sie erstaunt an.
»Der Wagen muss in der Nacht gestohlen worden sein. Er steht sonst immer vor der Garage.« Jetzt zwängte sie ihre Fingerspitzen in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. Eine feine Röte durchzog ihr Gesicht.
»Ein Elektroauto lässt sich nicht so ohne Weiteres stehlen, Frau Kirchner«, erklärte Reinders. »Vielleicht war Ihr Ehemann damit unterwegs oder doch der Sohn? Sind die beiden zu Hause? Dann können wir sie befragen.«
»Nein, mein Mann fährt den Smart nie.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Der Wagen ist ihm zu klein. Er müsste aber gleich hier sein. Montags hat er keine Abendsprechstunde.«
»Er ist Arzt?«
»Orthopäde. Er hat eine Praxis in Unna. Da sollen unsere Kinder in den nächsten Jahren einsteigen.«
Sören Reinders spuckte sein Kaugummi in ein Silberpapier, das er in seiner Jackentasche verschwinden ließ. »Tja, ist gleich 17 Uhr, da muss er ja bald kommen. In der Zwischenzeit zeigen Sie uns bitte Ihre Garage.«
Kerstin Kirchner verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wüsste nicht, wozu das gut sein sollte. Da parkt immer der Mercedes meines Mannes und der ist, wie gesagt, noch nicht zu Hause.«
»Davon würden wir uns gerne selbst überzeugen.« Teubner wies auf das Garagentor. »Bitte aufmachen!«
Einen Moment verharrte die Kirchner stumm vor den Beamten, endlich drehte sie sich seufzend um und griff in einer Schale, die auf einer Kommode stand, nach einem dicken Schlüsselbund. Sie schob einen Keil zwischen die Haustür und ging zur Garage. Wortlos öffnete sie das Tor und tat überrascht, als dort ein weißer Smart zum Vorschein kam. »Das verstehe ich nicht, der steht sonst nie da drin, denn die Ladesäule ist ja draußen.« Sie deutete neben die Einfahrt, wo die Ladestation aus dem Boden ragte.
Teubner zeigte auf den rechten Scheinwerfer, der zersplittert war. Die vordere Karosserie, aus einem Teil gefertigt, wies zahlreiche Dellen auf. »Da hat unsere Zeugin sich doch nicht geirrt.«
Ehe Kerstin Kirchner sich dazu äußern konnte, fuhr ein SUV in die Einfahrt und hielt knapp hinter der Garage. Fahrer- und Beifahrertür öffneten sich fast gleichzeitig und zwei Männer stiegen aus. Der Fahrer, ein drahtiger Typ Anfang 50 mit Stoppelschnitt und eckiger Brille, kam energisch auf sie zu. »Was ist hier los?«, zischte er mit Blick auf den Schaden. »Wieso ist das Auto kaputt?« Er blickte Kerstin Kirchner böse an, die automatisch einen Schritt zurückging.
»Ich habe keine Ahnung, Tobias. Ehrlich nicht.«
»Und was wollen Sie?«, blaffte Kirchner und drehte sich zu Teubner und Reinders.
Max Teubner zog erneut seinen Dienstausweis aus der Tasche und stellte sie vor. »Eine Zeugin hat sich am Vormittag bei uns gemeldet und einen Schaden angezeigt, der von einem weißen Smart verursacht worden ist, der laut Kennzeichen auf Ihre Frau zugelassen ist. Der Fahrer oder die Fahrerin hat anschließend Fahrerflucht begangen.«
Die graublauen Augen des Hausherrn funkelten wütend. Langsam drehte er sich zu seinem Sohn, der nur ratlos die Achseln zuckte.
»Keine Ahnung, Papa, ich habe geschlafen.« David Kirchners Oberkörper sah nach regelmäßigem Hanteltraining aus. Eine breite Boxernase, die sein Gesicht dominierte, ähnelte der seines Vaters. Seine aschblonden Haare, die er von der Mutter geerbt hatte, waren seitlich gescheitelt und kurz geschnitten. Insgesamt hatte er weiche Gesichtszüge, die auf einen freundlichen Charakter deuteten.
»Dafür gibt es vermutlich keine Zeugen«, erkannte Reinders.
David Kirchner schüttelte den Kopf. »Ich habe ein eigenes Zimmer.«
Reinders zückte erneut sein Notizbuch. »Wir benötigen Ihre Mobilfunknummern, damit wir überprüfen können, wo Ihre Handys zur fraglichen Zeit eingeloggt waren.« Er blickte demonstrativ zuerst den Sohn der Familie an.
Das Gesicht des jungen Mannes lief knallrot an. »Ich … äh, ich weiß wirklich nicht, was das soll. Ich fahre nur selten mit dem Smart. Und in der Dunkelheit kann Ihre Zeugin sich auch geirrt haben, was das Kennzeichen angeht. Richtig?«
»Falls Sie nichts zu befürchten haben«, mischte Teubner sich ein, »geben Sie meinem Kollegen doch bitte Ihre Telefonnummer. Wenn Ihr Handy in Frömern eingeloggt war, sind Sie erst mal aus dem Schneider.«
»So ein Quatsch. Von uns war niemand in der Nacht unterwegs. Schon gar nicht in Unna-Massen. Richtig?« Tobias Kirchner blickte seinen Sohn und seine Frau mit stechenden Augen an und seine Gesichtszüge entspannten sich deutlich, als beide nickten.
»Bin gespannt, ob die Lackspuren an den geschädigten Fahrzeugen zu Ihrem Auto passen. Aber vielleicht entlastet Sie ja schon die Auswertung der Handydaten.« Sören Reinders tippte mit dem Kuli auf das Blatt seines Notizbuches, während er Kerstin Kirchner anblickte. »Ihre Nummer zuerst!« Sie diktierte sie vom Display ihres Smartphones und Reinders schrieb, danach blickte er David Kirchner an. »Jetzt Sie!«
Der Sohn der Familie schob seine Hände in die Jackentaschen. »Brauchen Sie dafür nicht einen richterlichen Beschluss?«
»Gib deine Nummer raus, David«, zischte Tobias Kirchner, »oder hast du was mit dem Unfall zu tun?« Er trat drohend auf seinen Sohn zu.
David Kirchner blickte gehetzt von einem zum anderen. Plötzlich drehte er sich rasant um und rannte über die Ausfahrt auf die Straße.
Teubner, der den Unfallschaden mit Fotos dokumentiert hatte und neben der Ladesäule stand, setzte ihm sofort nach. Kirchner lief Richtung Waldstück, das nach Fröndenberg führte. Max Teubners körperliche Kondition war gut. Er hielt sich mit Rudertraining und regelmäßigem Joggen in Form. Aber auch der junge Kirchner zeigte sich überaus sportlich. Die Straße verlief leicht bergauf. Teubner holte nur knapp auf. Autos schossen aus beiden Richtungen an ihnen vorbei. Teubner fragte sich bereits, wo Sören Reinders mit dem Wagen blieb, als David Kirchner in eine Pfütze trat und wegrutschte. Er kam ins Straucheln und es gelang ihm nur mit Mühe, sich zu fangen. Ehe er wieder Fahrt aufnehmen konnte, erwischte Teubner ihn an der Kapuze seiner Jacke. »Schluss jetzt!«, keuchte er. »Und nun brav zurück zu Mama und Papa.« Er packte den jungen Mann am Arm, im selben Moment hielt endlich der Dienstwagen am Straßenrand. Teubner schob David Kirchner auf den Rücksitz und setzte sich neben ihn.
»Warum haben Sie den Unfall nicht einfach gemeldet, Herr Kirchner?« Reinders sah ihn im Rückspiegel an.
»Sie kennen meinen Vater nicht.« Der junge Mann senkte den Blick. »Der rastet komplett aus.«
»Was ist denn genau passiert?«, erkundigte sich Teubner. »Wieso waren sie so spät noch unterwegs?«
David Kirchner seufzte ergeben. »Ich musste mit ’nem Kommilitonen für ’ne Klausur lernen. Ich studiere Medizin. Da geht es um ein Thema, das mein Vater mir zig Male zu erklären versucht hat, aber der ist immer so ungeduldig, wenn man etwas nicht sofort kapiert. Mein Freund und ich haben völlig die Zeit vergessen. Auf dem Heimweg war ich in Gedanken noch ganz im Thema. Deshalb habe ich am Massener Hellweg die Katze zu spät gesehen, die über die Fahrbahn gelaufen ist. Ich habe das Lenkrad verrissen und bin an den Autos entlanggeschrammt.«
Reinders setzte den Blinker und gab Gas. »Ist ja schön und gut und kann alles passieren. Sie hätten nur die Polizei zu rufen brauchen. Für so was ist man doch versichert.«
»Sie kennen meinen Vater nicht«, wiederholte David Kirchner.
»Der kriegt sich schon wieder ein.« Doch Teubner musste kurz darauf mit Entsetzen sehen, wie Tobias Kirchner auf den Dienstwagen zustürmte, als sie vor seinem Haus ankamen.
Ehe die Beamten reagieren konnten, riss der Orthopäde die Hintertür des Wagens auf und beugte sich zu seinem Sohn. »Was hast du angestellt?«, brüllte er mit hochrotem Kopf.
»Ich habe nicht aufgepasst«, murmelte David Kirchner.
Vater Kirchner zerrte seinen Sohn aus dem Auto und hielt ihn am Arm gepackt. »Das wirst du ALLES selbst bezahlen! Jeden Cent!«
Teubner sprang aus dem Wagen. »Jetzt beruhigen Sie sich mal.«
Tobias Kirchner schnaufte, drehte sich um und verschwand wortlos im Haus. Kerstin Kirchner legte tröstend die Hand auf die Schulter ihres Sohnes. »Papa kriegt sich wieder ein.«
»Wir brauchen die schriftliche Aussage Ihres Sohnes.« Reinders wandte sich an David Kirchner. »Wenn es Ihnen recht ist, machen wir einen Termin in der Dienststelle Unna. Wir können das aber auch sofort erledigen, falls Sie einverstanden sind.«
Kerstin Kirchner deutete zum Haus. »Mein Sohn kann Ihre Fragen in unserem Wohnzimmer beantworten. Mein Mann wird sich in sein Büro zurückgezogen haben.«
Kapitel 4
Montag, 6. Mai, 17.45 Uhr
Maike Graf hatte sich von Mark-Oliver Marschewski überreden lassen, der Ermittlungskommission um den ermordeten Achmed Tahiri zuzuarbeiten. Sie hatte jedoch dabei sehr deutlich betont, dass sie diese Aufgabe nicht als Einstieg in einen Job im KK11 sah. Die Entscheidung, nach Dortmund zu wechseln, würde sie vertagen, bis die Ermittlungen abgeschlossen waren. Jetzt saß sie in ihrem Büro in der Dienststelle Unna und las in der alten Akte. Je tiefer sie in den Fall eintauchte, desto besser erinnerte sie sich. Sie sah den damals 17-jährigen Albaner noch vor sich, wie er neben seinem Vater breitbeinig im Besucherstuhl gesessen und seine gesamte Haltung eine bemerkenswerte Großspurigkeit ausgestrahlt hatte.
»Was soll isch gemacht haben? Isch klau kleinen Jungs keine Handys!« Seine aufgerissenen Augen drohten ihm dabei fast aus dem Gesicht zu springen. »Isch hab den Jungen nie gesehen. Ährlisch! Isch schwör.«
Familie Tahiri war der Kriminalpolizei damals nicht unbekannt gewesen. Achmeds Brüder machten sich als Autoknacker und Geldeintreiber einen Namen, während er in einer Art Jugendbande sein Unwesen trieb und jüngeren Schülern Wertgegenstände abzockte. Dabei hielt Vater Tahiri seine Hand schützend über die Familie, ohne sich jemals selbst die Finger zu beschmutzen. Aber dann brachte endlich eines der geschädigten Kinder den Mut auf, zur Polizei zu gehen.
Maike dachte an den zierlichen, damals 12-jährigen Björn König, wie er schüchtern erzählte, dass Achmed ihn unter Androhung von Schlägen dazu gezwungen hatte, ihm seine Playstation zu geben, ihm immer wieder Geld abgezockt hatte und schließlich sein Handy. Dieses Smartphone bimmelte bei Achmeds Befragung in seinem Rucksack. Da hatte sie ihn des Diebstahls überführen können.
»Und jetzt ist er tot!«, murmelte Maike. »Regelrecht hingerichtet mit einem Kopfschuss.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. Es erschien ihr recht unwahrscheinlich, dass dieser alte Fall etwas mit seiner Ermordung zu tun haben könnte. Ganz außer Acht lassen wollte sie die damaligen Ereignisse dennoch nicht.
Sie blätterte in der Akte und erinnerte sich, dass die Ermittlungen weitere Opfer ans Tageslicht gebracht hatten. Mit Geduld und viel Aufwand war es der Polizei gelungen, einige von ihnen ebenfalls dazu zu bewegen, Anzeige gegen Achmed und die anderen Mitglieder der Jugendgang zu erstatten. Letztendlich saßen beim Prozess fünf Bandenmitglieder auf der Anklagebank, zwei Mädchen und drei Jungs. An die jeweiligen Strafmaße erinnerte sich Maike nicht mehr im Detail. Achmed Tahiri hatte als Wiederholungstäter, der zuvor schon mehrfach wegen Diebstahldelikten aufgefallen war, jedenfalls in einer Jugendstrafanstalt einsitzen müssen.
Sie seufzte und blickte auf die Uhr. Gleich sechs. Sie hätte sich gerne noch mit Max Teubner über den Fall unterhalten. Denn schon vor acht Jahren hatte sie sich mit ihm das Büro geteilt und er würde sich bestimmt an die Jugendbande erinnern. Da er jedoch mit Reinders einen Außeneinsatz hatte und Maike nicht wusste, ob er überhaupt in die Dienststelle zurückkehren würde, musste das bis morgen warten. Maike hatte am Abend noch etwas vor, das ihr bereits den ganzen Tag schwer im Magen lag, und das wollte sie nicht länger aufschieben. Sie stand auf, zog ihren braunen Lederblazer von der Stuhllehne und verließ mit eiligen Schritten das Polizeigebäude.
Für Anfang Mai war es heute recht frisch draußen. Maike fröstelte. Regen war zum Glück bisher ausgeblieben, aber die Sonne vermochte nicht die dicke graue Wolkendecke zu durchdringen. Sie setzte sich hinter das Steuer ihres Renault Clios. Zum zweiten Mal an diesem Tag lenkte sie den Wagen Richtung Westen. Bis auf einen kleinen Stau auf der A1 kam sie gut durch den Verkehr und fuhr bald in den größten Vorort Herdeckes mit dem Namen Ende, der gänzlich im Ardeygebirge lag. Am Rande dieses bewaldeten Höhenzugs hatte Jochen im vornehmen Villenort Ahlenberg gewohnt. Maike seufzte und wischte sich über die Augen. Die Gedanken an ihn schmerzten, auch nach einem Jahr.
Sie erreichte ihr Ziel in einer knappen Dreiviertelstunde. Der Friedhof Kirchende glich einem beschaulichen kleinen Park. Auf vielen Gräbern begannen Sträucher zu blühen. Bunte Tulpen, Hornveilchen, Maiglöckchen sowie die ersten Eisbegonien schmückten die Ruhestätten. Das Grab, an dem sie stehen blieb, stach aus den anderen heraus. Schwarzer Granit rahmte schneeweißen Kies ein, darin eingelassen eine ebenfalls schwarze Marmorplatte, auf der ein frisches Gesteck mit weißen Rosen und ein großer Lilienstrauß lagen. Die Rosen als Zeichen der Reinheit und Unschuld hatte gewiss Chiara abgelegt, die Lilien als Symbol für Wiedergeburt, Erneuerung der Seele und Zeichen des Mitgefühls kamen sicherlich von seinen Eltern. In die Mitte der Grabplatte war sein Name mit goldener Schrift eingraviert:
Jochen Hübner
Maike blickte auf den winzigen Blumenstrauß, den sie heute früh besorgt hatte. Sie wusste, dass Jochen eine Vorliebe für Veilchen hatte. Die blauen zarten Blüten stünden für Unschuld, Bescheidenheit, Verschwiegenheit und vor allem für Treue, hatte er so oft gesagt. Zwischen den opulenten Lilien und dem ausladenden Rosengesteck ging der kleine Strauß eindeutig unter. Maike löste das Gebinde und verstreute die Blüten über die Grabplatte. Heute jährte sich sein Todestag zum ersten Mal. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Immer wieder stellte sie sich die Frage, ob sie seinen Tod nicht hätte verhindern können.
Kennengelernt hatte sie Jochen während ihrer polizeilichen Laufbahn im Polizeipräsidium in Dortmund vor etwa zehn Jahren. Sie verstanden sich auf Anhieb und kamen sich im Laufe der gemeinsamen Ermittlungen im Kriminalkommissariat 11 auch privat näher. Schon ein Jahr später gingen sie das Wagnis ein und zogen zusammen, besser gesagt Maike zog in die Villa von Jochen nach Herdecke-Ahlenberg. Das ging aber nicht lange gut, denn er machte ihr einen Heiratsantrag. Maike sah sich unwillkürlich als Heimchen am Herd, das zu Hause die Kinder hütete und den Haushalt schmiss. In völliger Kurzschlusspanik lehnte sie den Antrag ab, zog bei ihm aus und ließ sich in die Dienststelle Unna versetzen. Wie oft hatte sie diesen Entschluss danach bereut?
Die Tränen liefen ihr in Strömen über die Wangen. Sie war so dumm gewesen. Aber Jochen gab nicht auf. Er suchte nach wie vor bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Nähe. Bei jedem Mordfall, der in Unna und der näheren Umgebung geschah, bezog er sie in die Ermittlungen mit ein. Mit der Zeit wurde ihre Beziehung erneut privater, und vor über einem Jahr, kurz vor diesem schrecklichen Tag, beschlossen sie, einen neuen Versuch zu wagen und zusammenzuziehen. Das passende Haus glaubten sie in Unna-Königsborn gefunden zu haben, als sie bei einem Spaziergang einen Schuss hörten. Jochen versuchte den mutmaßlichen Täter zu stellen und wurde angeschossen. Danach Not-OP und künstliches Koma, aus dem er nie mehr erwachte. Da sich sein Zustand über Wochen weiter verschlechterte, beschlossen seine Eltern und seine Schwester Chiara vor genau einem Jahr, die Geräte abschalten zu lassen. Maike hatte sich nicht einmal mehr von ihm verabschieden können, denn man hatte mit ihr vorher nicht darüber gesprochen. Sie war entsetzt gewesen, dass man sie übergangen hatte, und hatte sich ab da von Jochens Familie zurückgezogen.
Maike schluchzte leise. Sie erinnerte sich an die Beerdigung, bei der sie die Nähe von Familie Hübner kaum ausgehalten hatte. Jochens Schwester Chiara versuchte mehrfach, ihre Trauer mit Maike zu teilen. Aber Maike konnte das nicht zulassen. Sie war zu verletzt und in ihrer Trauer gefangen, setzte sich nach der Beisetzung sofort in ihr Auto und flüchtete regelrecht vor den Hübners. Chiara rief noch einige Male an, aber Maike drückte das Gespräch weg. Seitdem hatte sie von Familie Hübner nichts mehr gehört.
Und heute, an seinem Todestag, da kam Maike extra am Abend zum Grab, in der Hoffnung, niemandem aus der Familie über den Weg zu laufen. Sie wollte allein sein mit ihrer Trauer, mit ihrem Frust und mit ihren Schuldgefühlen. Plötzlich ließ der feste Druck einer Hand auf ihrer Schulter sie zusammenzucken. Panisch fuhr sie herum und blickte in das Gesicht eines Mannes, den sie auf Ende 40 schätzte.
»Entschuldige«, sagte er lapidar und steckte seine Hände tief die Taschen seiner verblichenen Jeans, die von einem mit Nieten besetzten Gürtel gehalten wurde. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Die Veilchen würden ihm gefallen.«
Maike musterte den Typ stumm. Hatte sich ein Junkie auf den Friedhof verirrt? Oder vielleicht der Sänger einer Punkband? Der Kerl war blass mit dunklen Ringen unter den braunen Augen. Die Haare wirkten dunkel gefärbt und waren zu einem Zopf zusammengebunden. In den Ohrläppchen steckten kleine Brillanten oder wohl eher Imitate. Der Ausschnitt seines weißen T-Shirts ließ den Rand eines Tattoos frei. Darüber trug er eine schwarze Lederjacke, deren Ärmel er hochgeschoben hatte, sodass am linken Arm ein weiteres Tattoo sichtbar war, das dem Flügel eines großen Vogels glich. Seine Füße steckten in groben dunklen Springerstiefeln.
»Du musst seine Freundin sein. Er hat von dir gesprochen.«
Maike zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Sagt wer?«
»Oh, sorry. Ich bin Mike. Ich war ein guter Freund von Jochen, wir kannten uns von früher.« Er stierte auf das Grab und verlor sich in seinen Gedanken.
Maike beobachtete ihn einen Moment. Zweifel hegten sich in ihr, so abgerissen, wie der Kerl aussah. Den Vornamen konnte jeder von der Grabplatte ablesen. Fragte sich nur, was er von ihr wollte? Der Friedhof war wenig besucht, vielleicht handelte es sich tatsächlich um einen Junkie und er brauchte Geld für den nächsten Schuss. Sollte er ihr nur näherkommen! Sie würde sich zu wehren wissen! Fakt war, der Typ störte sie hier. Maike hätte gerne ein inneres Zwiegespräch mit Jochen geführt, ihm erzählt, was sie belastete, was sie besser machen wollte, bekäme sie noch eine Chance. Aber Mike, oder wie auch immer er in Wirklichkeit hieß, stand stur vor der Marmorplatte und starrte in die Luft. Maike räusperte sich. »Mike«, begann sie, »würden Sie mir noch einen Moment allein hier am Grab gewähren?«
»Er hätte sich bestimmt gefreut, wenn wir beide uns gut verstehen würden. Früher oder später hätte er dich mir vorstellt.« Er grinste. »Er hat oft von dir geschwärmt. Er muss dich sehr geliebt haben.«
»Seltsam, dass ich mich nicht erinnere, dass er je Ihren Namen genannt hat. So ein Vorname wäre mir wohl im Gedächtnis geblieben. Klingt ja fast so wie meiner.«