Verdorbene LustTräume | Erotischer Roman - Joona Lund - E-Book

Verdorbene LustTräume | Erotischer Roman E-Book

Joona Lund

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Beschreibung

Dieses E-Book entspricht 196 Taschenbuchseiten ... In der Abgeschiedenheit von Lappland teilen die Geschwister Jan und Inku ein verruchtes Geheimnis: Sie begehren einander. Jan hält in seinem Tagebuch jeden seiner intimen Wünsche fest und ahnt anfangs nicht, dass Inku ebenso empfindet wie er. Wohl wissend, dass sie ihren Gefühlen nicht nachgeben dürfen, beginnen sie ein verlockendes Spiel, indem sie sich gegenseitig aus Jans Tagebuch vorlesen. Versunken in dieser sündigen Traumwelt ist ihnen bewusst, dass niemand von ihren Gelüsten erfahren darf. Wie weit wird die Leidenschaft zwischen den beiden gehen? Hat ihr verbotenes Verlangen eine Zukunft? Diese Ausgabe ist vollständig, unzensiert und enthält keine gekürzten erotischen Szenen.

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Seitenzahl: 281

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Impressum:

Verdorbene LustTräume | Erotischer Roman

von Joona Lund

 

Joona Lund ist eine finnische Journalistin, die vor allem über gesellschaftliche Probleme recherchiert und schreibt.2008 las Joona von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, welches das Inzesttabu weiterhin als strafrechtlich relevant bestätigt und eine junge Familie damit ins Unglück gestürzt hat. Sie erinnerte sich an ein Interview, das sie vor Jahren in Lappland auf einem abgeschiedenen Bauernhof geführt hatte: Damals war ihr das Verhalten des jungen Mannes und seiner jüngeren Schwester aufgefallen, das sich von dem ihrer Mitschüler gravierend unterschied. Sie recherchierte und stieß auf eine Geschwisterliebe, die beinahe tragisch ausgegangen wäre. Mit ihrem Roman „Finnische Träume“ veröffentlichte Joona die Geschichte einer innigen Liebe, die sich trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse zunehmend verdichtet. Sie wollte aufzeigen, dass das Urteil des Gerichts auf wackeligen Beinen stand und verschiedene zivilisierte Länder das anders bewerten.

 

Lektorat: Nicola Heubach

 

 

Originalausgabe

© 2024 by blue panther books, Hamburg

 

All rights reserved

 

Cover: © lightfieldstudios @ 123RF.com

Umschlaggestaltung: MT Design

 

ISBN 9783756172139

www.blue-panther-books.de

Die Reportage

Hätte Lia geahnt, auf was sie sich da einließ, hätte sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, den Auftrag zu übernehmen. Bereits beim ersten Zusammentreffen war der Journalistin der intensive Blickkontakt der Geschwister aufgefallen, ihre schicksalhafte Verbindung hatte sie aber erst begriffen, als es für eine Umkehr zu spät gewesen war.

Es war Lias Idee gewesen, einen Bericht über Schüler zu bringen, die im Preisausschreiben über politische oder wirtschaftliche Themen in Schülerzeitungen gesiegt hatten, und diesen mit Reportagen über ihre Herstellung zu ergänzen. Lia hatte nicht damit gerechnet, dass der Chefredakteur ausgerechnet ihr die Realisierung aufs Auge drücken würde, da er doch wusste, dass sie Schulen nicht ausstehen konnte. Sie gestand sich ein, am Auftrag nicht ganz unschuldig gewesen zu sein: Dem Chef war ihr Ausspruch auf einer Betriebsfeier hinterbracht worden, ihr seien Schulen stets ein Gräuel gewesen, schon als Kind sei ihr vom Schulmief schlecht geworden und der Widerwille habe sich im Laufe der Jahre eher verstärkt. Lias Vorschlag, die Berichte über die Schülerzeitungen dem Benjamin in der Redaktion zu übertragen, schmetterte der Chefredakteur ab und begründete das mit der abstrusen These, es wäre nicht wichtig, ob jemand ein Thema liebe oder hasse, sondern ob er sich damit auseinandergesetzt hätte und das träfe nun mal auf sie zu.

»Du machst die Story, Lia, und damit Punktum! Und wenn du schon mal dort bist, kannst du gleich auch eine Reportage für den Hörfunk machen. Lass einfach das Aufnahmegerät mitlaufen!«

Sie schnitt eine Grimasse. Der Alte wusste, wie viel Arbeit im Tonschnitt steckte und welche Mühe es bereitete, Jugendliche dazu zu bringen, vernünftige Sätze ins Mikrofon zu sprechen.

»Du kannst mit Jugendlichen umgehen und du weißt, dass wir sparen müssen. Die Werbeeinnahmen sind eingebrochen, wir müssen fürs Radio produzieren.« Allen Einwänden zuvorkommend, setzte er hinzu: »Du wirst schon was Brauchbares bringen, ich spüre es im Urin.«

Wieder einer seiner abgedroschenen Sprüche, die sie nicht ausstehen konnte. In letzter Zeit war es zum Normalfall geworden, Redakteure auch für den zum Unternehmen gehörenden Hörfunk einzuspannen. Lustlos trat sie die Reise in den Norden an, überzeugt, eine Geschichte abzunudeln, die maximal Schüler, Eltern und Lehrer interessierte.

Was den Hörfunk betraf, fand sie nach den ersten zwei Schulen ihre Befürchtung bestätigt: Der Chef hatte ihr eine langweilige Reportage aufs Auge gedrückt, denn die Jungredakteure, wie sie sich stolz nannten, hatten zwar gut beobachtet, auch alles leidlich zu Papier gebracht, aber vor dem Mikro war ihnen nichts Konkretes zu entlocken – ihre Antworten kamen, als fragte ein Lehrer ihr spärliches Wissen ab. Die Interviewten waren nicht in der Lage gewesen, Funktion und Wesen einer Schülerzeitung in wenigen Sätzen zu charakterisieren, es war ein Herumstottern. Selbst provozierende Fragen hatten sie nicht aus der Reserve gelockt, eher noch verklemmter und verstockter gemacht. Lia stand praktisch mit leeren Händen da.

Den letzten Preisträger – nach einem Blick auf die Karte schien er am Ende der Welt zu leben, nämlich am östlichen Rand Lapplands, nicht weit von der russischen Grenze entfernt – hatte sie sich bis zum Schluss aufgehoben. In der Gegend war sie noch nie gewesen. Sie fuhr die halbe Nacht mit dem Zug, übernachtete in einem drittklassigen Hotel, nahm ein viertklassiges Frühstück zu sich – was ihre Stimmung nicht gerade hob – fuhr Stunden mit dem Bus, bis sie endlich die Gemeinde erreichte, in der die Schule des zweiten Siegers lag.

Lia war angemeldet und hoffte, man ließ ihr wie in den anderen Schulen freie Hand, denn sie wollte die Sache möglichst rasch hinter sich bringen. Noch hatte sie keine Zeit gefunden, den Aufsatz von Jan, so hieß der Schüler, zu lesen. Im Bus stellte sie überrascht fest, dass er eine Menge Informationen verarbeitet hatte, die weit über den Lehrstoff der Schule hinausgingen. Sie war von der einfühlsamen Ausdrucksweise, mit der er die Landflucht beschrieb, beeindruckt: Sie sah die Bauern, die in der Küche zum x-ten Mal diskutierten, ob sie ihren Hof aufgeben oder ausharren sollten, direkt vor sich. Lia war neugierig geworden, schraubte ihre Erwartungen aber wieder herab, zu oft war sie enttäuscht worden.

Die Straße folgte dem längsten Fluss Lapplands, oder war es der längste Finnlands? Zu Hause wollte sie nachschauen, machte sich eine Notiz. In den Dörfern mit verstreut liegenden Häusern stiegen selten Passagiere aus oder zu, Touristen verirrten sich in dieser Jahreszeit kaum hierher.

Der Ort am Fluss wirkte wie ausgestorben. In den drei Geschäften hielten sich mehr Verkäuferinnen als Kunden auf. Im Zentrum, wenn man es so nennen konnte, trennten Gärten, in denen Schnittlauch, Petersilie und mickrige Johannisbeersträucher wuchsen, die Häuser voneinander. Dichte Naturzäune zwischen den Gebäuden betonten die Distanz zum Nachbarn. Es war kein richtiges Dorf, mehr eine lockere Ansammlung verstreuter Häuser und Höfe wie in jenem Märchen, in dem das Kind eines Riesen mit Menschenhäusern spielt und die Häuser willkürlich abstellt. Aus den Trampelpfaden waren irgendwann Straßen entstanden. Natürlich war Lia geläufig, dass die Besiedlung im Norden dünn war, aber es war eben ein Unterschied, wenn man mit eigenen Augen sah, wie wenig Leute hier lebten. Sie hatte sich nicht vorgestellt, dass die Höfe so abgeschieden zwischen den sanft ansteigenden fast baumlosen Anhöhen lagen.

Viele Kinder, erklärte die Direktorin, fuhren eine Stunde oder länger mit dem Schulbus. Der Hof von Jans Eltern wäre der letzte im Tal. Morgens sammelte der Bus die Schüler ein und brachte sie am Nachmittag wieder nach Hause. »Wollen Eltern einige Bekannte oder Jugendliche ihre Freunde treffen, bedeutet das weite Wege, denn manche wohnen im anderen Tal.«

Wie bei den anderen Preisträgern wollte Lia Jan in der Schule erleben, seine Freunde befragen und die Atmosphäre einfangen. Sie rechnete damit, den letzten Bus zu erreichen. Die Lehrerin berichtete, Jan hätte schon als Kind gern geschrieben, später wären Aufsätze von ihm vorgelesen worden; er hätte an Wettbewerben teilgenommen und zweimal Preise gewonnen. Die Schülerzeitung ging auf seine Initiative zurück und würde, wenn er abschloss, über kurz oder lang eingehen. Er wäre der Motor, ohne den nichts funktionierte; es steckte viel mehr Arbeit dahinter, als ein Außenstehender meinte. Wegen der Entfernungen müssten sie alles hier in der Schule besprechen und fertigstellen. Die Lehrerin führte die Journalistin in die Klasse.

»Das ist Lia, ihr wisst Bescheid. Sie wird Jan und allen, die bei der Zeitung mitmachen, Fragen stellen. Jan, sei bitte so freundlich und führe die Reporterin in den Werkraum, die anderen warten dort.«

Ruhig, als machte er so etwas jeden Tag, erhob sich Jan, hielt die Tür auf. Der mittelgroße, dunkelblonde junge Mann machte einen in sich ruhenden Eindruck, wirkte im Vergleich zu den beiden anderen Preisträgern, die aufgeregt herumgestottert hatten, sehr gelassen. Lia ahnte, die Tonaufnahmen mit ihm könnten etwas hergeben. Im Werkraum warteten drei aufgeregte Jungen und ein Mädchen. Kaum hatte sich Jan hinzugesellt, übertrug sich seine Ruhe auf die Gruppe. Lia wusste, Jungen haben, wenn sie vor anderen berichten sollen, häufiger Hemmungen als Mädchen.

Als sie Jan das Mikrofon hinhielt, wurde er nicht wie die anderen vor Aufregung abwechselnd blass und rot, sondern antwortete auf ihre Fragen über Themenwahl und Umsetzung, über das Verhältnis zur Schulleitung und zu den Lehrern oder wie das monatlich erscheinende Blättchen bei den Mitschülern ankomme, gefasst. Er gab Fragen an Mitschüler weiter und bezog sie so geschickt ein. »Ich glaube«, sagte er etwa, »Ero, du kannst das besser beantworten.«

Der einen halben Kopf größere Junge akzeptierte die Anweisung ohne Zögern, man spürte, Jan war der Kopf. Die Jugendlichen zwischen fünfzehn und achtzehn schauten, ehe sie antworteten, zu ihm und er nickte ihnen aufmunternd zu, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Die Situation unterschied sich grundlegend von den anderen Schulen, wo Eifersüchteleien und das Bestreben, sich zu profilieren, die Teamarbeit behindert hatten.

Lia spürte jenes Kribbeln im Bauch, das sich meldete, wenn sie merkte, dass sich eine Story weit besser verkaufte als erhofft. Häufig lag das nicht am Inhalt, sondern an den die Geschichte tragenden Hauptfiguren. Oft bekam ein langweiliges Thema durch die handelnden Personen den besonderen Drall, ihr schwante, mit der Rückreise würde es heute nichts werden. Wie zur Bestätigung schlug der Jüngste im Team vor, Lia sollte mit Jan und Inku zu deren Hof fahren. Er warf Jan einen fragenden Blick zu und dieser nickte bedächtig.

»Dann können Sie sich ein besseres Bild von uns hier machen.«

Das bedeutete, hierzubleiben. Lehnte sie aber ab, brachte sie sich um die Chance, eine gute Geschichte einzufangen. »Klingt nicht übel. Und wie komme ich ins Hotel zurück?«

Das wäre kein Problem, meinte Jan, auf dem Hof wäre Platz genug, sie könnte im Schulbus mitfahren und bei ihnen übernachten. Jetzt hätte sie noch Zeit, sich in der Schule umzusehen und Sachen für die Nacht aus dem Hotel zu holen. Die Umsicht des Jungen verblüffte sie, es hörte sich an, als wäre er gewohnt, in der Welt herumzureisen.

In der großen Pause schlenderte sie über den weitläufigen Schulhof. Der allgemeine Geräuschpegel unterschied sich nicht von anderen Schulen. Ihr Augenmerk richtete sich auf Jan. Ihr fiel sein wiederholter Blickkontakt zu einem jüngeren Mädchen auf, das nicht in der Zeitungsgruppe gewesen war.

Lia fragte eine Schülerin, wer das wäre.

»Das ist Inku, seine Schwester, sieht doch ein Blinder!«

Lia schlenderte zu der Mädchengruppe. »Hätte mir selbst auffallen müssen«, murmelte sie.

»Haben Sie was zu mir gesagt?«, fragte ein vorbeigehender Junge.

Sie grinste. »Nein, ich führe Selbstgespräche.«

Lachend drehte sich der Junge weg.

Sie beobachtete die Geschwister, die aufeinander zugingen. Die Ähnlichkeit war trotz des Altersunterschieds unverkennbar. Gesten, Kopfhaltung und Bewegungen stimmten überein, als wären sie Zwillinge. Jan lächelte der Schwester zu und sie lachte fröhlich zurück. Lia gewann den überraschenden Eindruck, das Mädchen begrüße ihn geradezu kokett. Und da war noch etwas, das sie wie ein unsichtbarer Vorhang von den anderen trennte, als stünden sie auf einer Insel. Vielleicht war es Einbildung, doch die beiden schien etwas zu verbinden, das über die Zugehörigkeit zur gleichen Familie hinausging. Gewohnheitsmäßig speicherte Lia die Beobachtung ab, bei der Nachbearbeitung war sie über jede zusätzliche Information froh. Es läutete, die Schüler trotteten in die Klassen zurück.

Lia bummelte durch den Ort, trank im einzigen Café eine braune als Cappuccino angeschriebene Brühe, aß eine Kleinigkeit. Im Hotel steckte sie Kulturbeutel und Wäsche in die Umhängetasche, hing sich das Bandgerät über die Schulter. Aus dem Vorhaben, im Bus mit den Geschwistern Vorgespräche zu führen, wurde nichts, sie saßen mit ihren Freunden zusammen. Überdies war Lia hundemüde.

Jan rüttelte sie wach. »Lia, wir sind da.«

Der Busfahrer gab Jan Post mit. Es sei nicht weit, beruhigte Jan sie und hängte sich den Rekorder um. Auf ihre Frage, was er einmal werden wollte, antwortete er ohne Zögern: Journalist. Spontan bot sie ihm an, in den Ferien bei ihrer Zeitung zu praktizieren, war enttäuscht, als der Junge nicht wie erwartet begeistert reagierte, sondern einwandte, er müsste mit Vater sprechen, am Hof gäbe es viel zu tun.

Da meldete sich Inku zu Wort, die missgelaunt hinter ihnen hergetrottet war. Es missfiel ihr offensichtlich, plötzlich die zweite Geige zu spielen. »Das geht nicht, Vater braucht ihn!« Sie sagte es unwirsch. Lia verstand. Inku wollte wohl nicht, dass Jan fortging.

»Ein Praktikum bei der Zeitung«, ging er nun auf das Angebot ein, »würde mich schon reizen, sehr sogar. Aber Vater ist tatsächlich auf meine Hilfe angewiesen, gerade im Sommer.«

Lia fragte seine Schwester, warum sie nicht in der Schülerzeitung mitarbeitete, doch Inku tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. Jan erläuterte, sie dürfte erst mit fünfzehn mitmachen, außerdem machte sich Inku nicht viel aus der Schreiberei.

Das Mädchen reagierte mürrisch: »Ich helfe dir doch jetzt schon bei der verdammten Zeitung!«

Es hatte den Anschein, Inku befürchtete, die Fremde aus der Stadt könnte einen Keil zwischen sie und den Bruder treiben. Er drehte sich zu ihr. »Stimmt. Und ich bin froh, dass du hilfst und mir den Kleinkram abnimmst.«

Jan hatte mit Feingefühl auf Inkus Einwand reagiert – selten bei Jungen in dem Alter – und sie war beschwichtigt.

Er wies auf ein massives, behaglich wirkendes Bauernhaus aus Holzbohlen in einer Mulde. »Da sind wir. Mutter wird Augen machen, wenn wir Besuch aus der Stadt mitbringen, noch dazu eine Journalistin. Sie freut sich auf jeden Gast, das kommt selten vor hier draußen.«

Während die Geschwister den Vater holen gingen, berichtete die Mutter Lia im Gespräch in der Wohnküche, dass Jan und Inku nicht unter den Entfernungen zu Nachbarn oder zur Stadt litten, und den weiten Schulweg wären sie von klein auf gewohnt. »Sie haben viel miteinander gespielt, stecken oft zusammen. Inku hängt an Jan.« und dann erzählte sie Lia, wie Jan Inku gerettet hatte, und das nie vergessen würde. Er hatte sie auf Skiern zu einer Schulfreundin begleitet, obwohl Vater gewarnt hätte, das Wetter könnte umschlagen. Prompt wären sie beim Zurücklaufen in einen Schneesturm geraten und hatten sich verirrt. Inku wäre völlig erschöpft gewesen, hätte sich hinsetzen wollen, wäre eingeschlafen, doch er wäre vor ihr gegangen, hatte sie mit den Stöcken gezogen und mit letzter Kraft nach Hause geschleppt. Bei dem Sturm wären sie kaum zu finden gewesen, die Schneeverwehungen hätten jede Spur verwischt und die Temperatur wäre ständig weiter gefallen. »Er hat ihr das Leben gerettet.« Nachdenklich schloss die Mutter: »Inku hat grenzenloses Vertrauen zu Jan.«

Lia bemerkte das winzige Zögern, als wollte sie ein Aber hinzufügen. Sie hatte sehr plastisch erzählt. Lia sah die beiden im Sturm vor sich. »Woher hat Jan die Informationen für den Aufsatz und wer hat ihm den Stil beigebracht?«

Stolz antwortete die Mutter: »Er hat immer viel gelesen, besitzt ein gutes Gedächtnis und war immer neugierig, konnte einem ein Loch in den Bauch fragen.«

Gedankenvoll erkundigte sich Lia, wie das mit den beiden, die so sehr aufeinander eingespielt waren, werden würde, wenn sie sich aus der Familie lösten oder einen von beiden die große Liebe überkäme. Die Mutter schwieg lange, Lia nahm schon an, sie wollte nicht antworten.

»Das bereitet mir auch Sorge, vor allem für Inku. Sie sind in jeder freien Minute zusammen, eigentlich schon zu viel.« Versonnen fügte sie hinzu: »Für ihr Alter.«

Der Vorschlag der Journalistin, Jan könnte in den Ferien bei ihrer Zeitung ein Praktikum machen, gefiel ihr. Sie hätte mit ihm darüber gesprochen, fuhr Lia fort, er hatte aber Bedenken, weil er Vater am Hof helfen müsste.

Der kam eben mit den Kindern zur Tür herein. Beim Essen stellte er die wirtschaftliche Situation der Bauern im Norden dar, wies darauf hin, dass der Ertrag Jahr für Jahr zurückginge, obwohl sie weit mehr Arbeit investierten als die im Süden: Die Böden wären sauer und vertorft, für den Ackerbau nicht geeignet und der massive Einsatz von Düngekalk verteuerte die Produktion. Viele Familien wären in die Stadt gezogen, dort gäbe es Arbeit; auch sie hätten es sich überlegt. Er schaute seine Frau an, sprach mehr zu ihr als zu Lia. »Wir rackern von früh bis spät, doch der Boden ist schlecht, das Klima hart und der Sommer kurz. Bald werden hier noch weniger Menschen leben …« Er brachte alles rasch auf den Punkt, das hatte Jan wohl von ihm. Er meinte, der Junge sollte das Praktikum auf jeden Fall machen, es wäre eine Gelegenheit, zu testen, ob der Beruf für ihn das Richtige war. »Vier Wochen komme ich auch ohne ihn zurecht.«

Trotz der späten Stunde hielt Lia ihre Beobachtungen fest. Sie wusste aus Erfahrung, wie schnell Eindrücke verblassten. Schließlich stand sie am offenen Fenster und starrte in die Nacht, lauschte dem Rauschen des Windes in den Blättern. Ihr ging viel durch den Kopf, sie war sich sicher, nicht einschlafen zu können, nahm die Kopfhörer und hörte das Band ab. Zwei Jahre als Gerichtsreporterin hatten sie gelehrt, genau zu beobachten, zu erfragen, was nicht zu sehen war. Das Band lief, sie erlebte die Szene mit den Geschwistern im Schulhof nochmals, die Eindringlichkeit der Blicke, als tauschten sie, ohne ein Wort zu verlieren, Botschaften aus, die andere ausschlossen. Lia versuchte, die Erinnerung zu schärfen, um nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Das Gehirn hält Belanglosigkeiten fest, von denen man zum Zeitpunkt der Beobachtung nicht ahnt, dass sie irgendwann Bedeutung erlangen könnten – so war ihr aufgefallen, dass sich Schnitt und Ausdruck der Augen trotz der unterschiedlichen Augenfarben glichen. Die Blicke, die sie sich zugeworfen hatten, waren von einer Intensität, als versinke der eine im anderen. Zwar hatte der Kontakt nur Sekunden gedauert, war aber mehrmals erfolgt. Der Trubel auf dem Schulhof hatte die beiden nicht gestört. Beeindruckt hatte Lia auch, dass der eine zu spüren schien, wenn ihn der andere suchte. Beim Frühstück mit Mutter und Geschwistern fragte sich Lia allerdings, ob sie ihre Beobachtungen nicht mit zu viel eigenen Vorstellungen angereichert hatte.

Der Wandel (Jan)

Jan war zwar schon im zweiten Semester, aber an die Doppelbelastung von Studium und Job hatte er sich noch nicht gewöhnt. Abends sank er erschöpft ins Bett, konnte häufig trotzdem keinen Schlaf finden. Wie das hin- und herschwingende Pendel der Standuhr im elterlichen Wohnzimmer kam immer wieder die Überlegung zum Vorschein, dass seine Gefühle für Inku über die normale geschwisterliche Zuneigung hinausgingen. Erinnerungen – Fenster in die Vergangenheit – gaukelten ihm wie in einer Endlosschleife Bilder vor, wie es angefangen hatte. Anfangen war nicht das zutreffende Wort, es hatte nicht begonnen wie eine Kinovorstellung, wenn das Licht gedimmt wird, die Zuschauer auf die Verzauberung durch laufende Bilder, Musik, Geräusche und Sprache eingestimmt werden, auf die exakt geplanten Handlungen auf der Leinwand warten.

Bei ihnen war es anders gelaufen, schließlich verläuft das Leben nicht nach einem Drehbuch, ihr Verhältnis hatte sich allmählich, beinahe unmerklich, verändert, in winzigen Schritten. Er merkte es erst, als er sich dem Sog der Geschehnisse nicht mehr entziehen konnte, ohne großes Leid in Kauf zu nehmen. Wohl hatte er die körperlichen Veränderungen wahrgenommen, sie waren ja auch nicht zu übersehen gewesen, aber sie waren für ihn lediglich Folgen des normalen Reifungsprozesses gewesen. Allmählich sickerte die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass die mit diesem Prozess einhergehenden Änderungen nicht nur Inkus Leben, sondern auch seines umkrempelten, zumal er begann, Einfluss auf sie zu nehmen.

In stillen einsamen Stunden holte sich Jan Szenen aus dem Gedächtnis vor Augen und ließ sie wie einem Film ablaufen. Eine Erinnerung schob die nächstfolgende zur Seite, bis eine die Oberhand gewann: die, als sich Inku von einem Tag auf den anderen weigerte, in Unterwäsche durchs Haus zu laufen. Hätte Mutter nicht darauf hingewiesen, es sei in ihrem Alter normal, es nicht zu tun, wäre es Jan wahrscheinlich nicht aufgefallen. Der eigentliche Wendepunkt aber war Inkus erste Regel. Auf ihren Schrei: »Mutti, ich blute, komm schnell!«, war Mutter herbeigeeilt, hatte so etwas wohl erwartet, nahm im Vorbeigehen Watte und eine Binde aus dem Arzneischrank, redete beruhigend auf das aufgeregte Mädchen ein. Jan, der in der Annahme, Inku habe sich verletzt, gelaufen kam, bedeutete Mutter mit einer Kopfbewegung, zu verschwinden.

Jan fand das Getue übertrieben, hätte es wohl vergessen, wenn Inku sich nicht von nun an anders verhalten hätte, sich launisch gab, oft richtig zickig wurde. Das hatte er nicht erwartet, bisher war sie ein vernünftiges cleveres Mädchen gewesen. Ein weiteres Zeichen für die Veränderung war das Versperren der Tür beim Waschen oder Duschen. Und als er eines Morgens in ihrem Zimmer über der Stuhllehne einen Büstenhalter hängen sah, betrachtete er ihn verdutzt. Brauchte sie so etwas auf einmal? Ein unerklärlicher Impuls, stärker als eine ihm selbst unerklärliche Scheu, veranlasste ihn, die darüber gebreiteten Strümpfe beiseitezuschieben und den BH mit spitzen Fingern aufzunehmen. Ein Duft stieg von dem luftigen rosa Kleidungsstück auf, er hob es zur Nase und sog das neuartige Parfüm mit zitternden Nasenflügeln ein. Noch nie hatte er die feine Mischung aus Körpergeruch und Schweiß wahrgenommen, es war ein herb-süßer Geruch, von dem ihm schwindelig wurde. Hinterher stellte er erstaunt fest, diese Aktion war unabhängig von seinem Willen erfolgt, es war ein Instinkt, und obwohl ihn niemand beobachtete, war er verlegen und legte das Wäschestück zurück.

Beim Frühstück steckte er Inku das Stück Schokolade vom Abend zu, das er sich für die Schule aufgehoben hatte. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, sie wunderte sich wohl, was der Anlass sein konnte. Verstohlen musterte er ihre kleinen gleichwohl unübersehbaren Hügel, die sich unter dem Pullover abzeichneten. Seine tastenden Blicke entgingen ihr nicht, errötend senkte sie den Kopf. Hatte er bisher Inku als Neutrum betrachtet, als kleine, in letzter Zeit etwas schwierig gewordene Schwester eben, die er gernhatte, begriff er, dass sich das anhängliche kleine Mädchen zum launenhaften Teenager – er zögerte, den Ausdruck auf Inku anzuwenden – gewandelt hatte. Ihr körperlicher Reifungsprozess schritt unübersehbar voran, er ahnte, das Verhältnis zwischen ihnen würde von nun an nicht mehr so sein wie bisher. Nicht vorauszusehen war, dass sich die Vermutung so schnell bestätigen würde.

Blätterte er im Tagebuch, sah er, dass nicht allein der Zeitpunkt der Veränderung entscheidend war, sondern dass die Begleiterscheinungen die Situation beschleunigten. Es gelang ihm nicht, in das Chaos der neuartigen und mitunter schockierenden Gefühle eine Struktur zu bringen. Noch wehrte er sich gegen die sich ins Bewusstsein drängenden Bilder, die nicht nur im Traum erschienen, sondern ihn auch tagsüber beschäftigten. Je vehementer er die aufblitzenden Momentaufnahmen verdrängte, desto intensiver erschienen sie in abgewandelter Form erneut. Woher hätte er wissen sollen, dass es ungeheurer Anstrengung bedarf, Vorstellungen zu bekämpfen, wenn das Gehirn Botenstoffe als Belohnung ausschüttet, die Lustgefühle auslösen? Anerzogene Hemmungen und eine unerklärliche Scham verdrängten Szenen ins Unterbewusstsein, die gerade dann auftauchten, wenn er nicht darauf gefasst war. Die Szenen riefen Wünsche hervor, fachten Gelüste an, die neu waren und ihn ängstigten, weil er sie seiner für sein Alter schon recht fest gefügten Gedankenwelt nicht zuzuordnen vermochte und weil sie allgemeingültigen Konventionen widersprachen. Das wurde ihm allerdings erst bewusst, als es bereits zu spät war.

In seinen Träumen lief das Geschehen natürlich anders ab und da es keinen Sinn macht, sich gegen Träume zu wehren. Da diese noch dazu teuflisch schön waren, ging er dazu über, sich vor dem Einschlafen Situationen in der Hoffnung vorzustellen, eines seiner Luftschlösser herbeizuzaubern, in dem sich Szenen aus der letzten Nacht fortsetzten. In einer Zeitschrift fand er einen Artikel über Traumyoga in Tibet, das man dort seit tausend Jahren praktizierte: Schlafende lernen erkennen, was sie träumen und sind durch nachhaltiges Training imstande, den Traum zu lenken. Jan ging es nicht nur um Wiederholung, sondern mehr um die Ausgestaltung von Traumsituationen, in denen Inku die Hauptrolle spielte. Der Artikel beschrieb, künstlerisch und spielerisch veranlagten Menschen gelinge es, sogenannte Klarträume herbeizuführen; manche steigerten sich so hinein, dass sie die Klartraumwelt der Wirklichkeit vorzögen.

Sobald ihn derartige Fantasien heimsuchten, fragte sich Jan, so wie es der Artikel empfahl, ob er träumte und irgendwann übertrug sich die Frage tatsächlich in den Traum. Er übte, beim Aufwachen auf die Uhr zu gucken und zu testen, ob alles um ihn herum logisch und plausibel war. Nach Wochen gelang es ihm, Träume herbeizuführen und im Halbschlaf zu erfassen, dass er träumte. Wenn er sich konzentrierte, gelang es ihm, den verschlungenen Windungen des Gehirns ausgewählte Szenen zu entlocken. Er schaffte es, in lockende Situationen einzutauchen und sich in ihnen zu verlieren. Es war eine frivole Welt, in der sich Gefühle weder kontrollieren noch zügeln ließen, dort hatten sie genügend Raum, konnten sich ausleben. Er träumte sich Inku herbei, wie er sie sehen wollte, flog mit ihr über Städte, in denen sie nie gewesen waren, erlebte mit ihr Abenteuer und spielte mit ihr Szenen durch, die mit realistischen Momentaufnahmen begannen und sich in fantastische Vorstellungen vorwagten.

Am Morgen wachte er verwirrt und aufgeräumt auf. Schwieriger war der Umgang mit den Tagträumen, die sich wie Nebel über andere Gedanken legten und seine Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit für sachliche Inhalte minderten. Ein Lehrer ermahnte ihn, lieber mitzuarbeiten, statt immer vor sich hin zu träumen. Aufwühlende Gefühle begleiteten die Bilder und Träume, verselbstständigten sich, brachen manchmal unvermutet hervor. Die Wucht dieser nicht steuerbaren Empfindungen verstörte ihn, sie hinterließen eine befremdliche Leere. Waren andere zugegen, verdeckte ein Lächeln wie eine Maske die Gefühle, um sich nicht durch sein Mienenspiel zu verraten. Und ohne es zu wollen, legte er ausgerechnet Inku gegenüber Verhaltensweisen an den Tag, die ihn hinterher ärgerten, trug sie doch keine Schuld an seinen wirren Gefühlen. Das schroffe Verhalten brach manchmal gerade dann aus ihm hervor, wenn sie seine Nähe suchte. Da sie nicht ahnte, warum er sich plötzlich so seltsam verhielt, zog sie sich gekränkt zurück und wurde kratzbürstig. Versuchte er einzulenken, indem er seine schlechte Laune auf die Schule schob, zuckte sie die Schultern.

»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.«

Die gereizte Atmosphäre, die auch Mutter auffiel, störte ihre bisher harmonische Beziehung erheblich. »Warum seid ihr auf einmal so hässlich zueinander? Ihr habt euch doch bisher so gut verstanden, wie es Geschwister selten tun!«

Schweigend übergingen die beiden die Frage. Anders als in seinen Träumen behandelte er sie mitunter, als wäre sie Luft. Irgendwann drehte sie den Spieß um und forderte ihn so lange heraus, bis er ihr seine volle Aufmerksamkeit widmete. Seit Mutter ihn zurechtgewiesen hatte, es gehöre sich nicht, mit Mädchen in diesem Alter zu raufen, balgten sie sich kaum mehr. Aber die Ermahnung hinderte Inku nicht daran, ihn immer wieder zu reizen, bis er ihr Einhalt gebot.

So nahm sie einmal seinen Vier-Farben-Kugelschreiber, mit dem er gerade geschrieben hatte, an sich und lief in ihr Zimmer, hielt die Tür zu. Mit der Schulter drückte er die Tür auf, schnell steckte sie den Kuli in den Ausschnitt, grinste triumphierend. Ein kurzes Zögern, dann packte er ihre Hände, presste sie mit der Linken zusammen, griff mit der Rechten unter den BH. Als er ihren Busen berührte, schaute sie ihn starr an, ohne sich zu rühren. Da zuckte er zurück, ließ ihre Hände los und ging. Minuten später warf sie den Kuli auf seinen Schreibtisch und lachte. Ein unschönes befremdendes Lachen.

Es gab auch harmonische Phasen, etwa wenn sie klassische Musik oder Jazz hörten. Manchmal stand sie vom Sofa auf und begann, sich nach der Musik zu drehen, vor ihm zu tanzen.

Einmal schaute zufällig Mutter herein, freute sich, dass sie die Musik mochten, aber da war etwas, das sie störte, ohne dass sie hätte sagen können, was es war. Leise schloss sie die Tür. Die beiden waren so in die Klänge des Boleros von Ravel vertieft, dass sie Mutters Kommen nicht bemerkt hatten. Lange sann sie über die Szene nach: Inku hatte verträumt, wie in Trance, vor ihm getanzt, irgendwie hatte es – sie fand kein passenderes Wort – schamlos gewirkt. Mutter hatte nur Sekunden zugesehen, doch der lockende und herausfordernde Gesichtsausdruck der Tochter blieb ebenso im Gedächtnis wie seine Augen, die ihren Bewegungen wie in Hypnose folgten. Die Situation war befremdend, die Kinder erschienen so fern, der Raum war von einer seltsamen Atmosphäre erfüllt gewesen, die ihr, je länger sie darüber nachdachte, geradezu intim vorkam. Sie nahm sich vor, mit Jan zu reden. Doch sie verschob es, wusste nicht recht, wo sie ansetzen sollte. Im Grunde war es harmlos, und doch … Sie es war nicht gewohnt, über schwer in Worte zu fassende Befürchtungen zu reden, sah voraus, Jan würde sie nur schweigend ansehen und verwundert den Kopf schütteln.

Half er Inku bei den Aufgaben, lehnte sie sich an ihn, um besser über seinen Arm ins Heft gucken zu können. Das seltsame Prickeln, das ihn erfasste und ein Schauer, der zitternd durch den Körper lief, war eine völlig neue Erfahrung. Er musste sich zur Konzentration zwingen. Und verblüfft konstatierte er, dass jeder Versuch, die von ihr ausgehende Anziehungskraft zu ergründen und sie abzuschwächen, abgeblockt wurde, als würde eine Kraft sein logisches Denkvermögen lahmlegen. Nie zuvor hatte er ein so starkes Gefühl verspürt und es verstörte ihn, dass es ihm gerade bei Inku passierte. Er kämpfte dagegen an, doch der alle Sinne ansprechende Reiz erwies sich als stärker denn der Wille. Auch wenn sie nur an den Schrank gelehnt dastand und ihre Figur zur Geltung brachte, so verspürte er das Bedürfnis, hinzugehen und sie zu berühren. Dinge, denen er bislang kaum Beachtung geschenkt hatte, riefen Regungen hervor, die ihn verwirrten. Mutter schimpfte, wenn Inku den gebrauchten Büstenhalter im Badezimmer hängen ließ, das gehöre sich nicht. Aber am nächsten Tag hing er wieder dort. Es erschreckte Jan, dass ihn das feine Gemenge aus Körpergeruch, Schweiß und Seife, das ihm in die Nase stieg, und das er unter hunderten erkannt hätte, erregte. Statt den Geruch zu meiden, vergrub er sein Gesicht in dem BH, steckte ihn in die Hosentasche, um hin und wieder daran zu schnuppern.

Als die Entwicklung viel später eskalierte, warf er sich vor, der Faszination des Verbotenen nicht widerstanden zu haben, im Gegenteil, sie hatte ihn animiert. Ausschlaggebend für die Entfaltung seiner Gefühle war Inkus gesamte Erscheinung: Die Art zu gehen, sich zu bewegen, den Zopf nach hinten zu werfen, der staunende Blick aus den großen Augen, der oft nachdenklich auf ihm ruhte, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, und eben ihr Geruch. Unversehens hatte sich Gewohntes in eine völlig andere Kategorie verwandelt. Er las im Tagebuch und stellte verblüfft fest, die beschriebenen Empfindungen und Gedankengänge glichen den Äußerungen eines Verliebten. Sich selber gegenüber war er ehrlich genug, die Ausrede, die Heftigkeit seiner Gefühle sei eine Folge der Einsamkeit auf dem abgelegenen Hof in der schwermütigen Landschaft, als Selbstbetrug zu entlarven. Bisweilen erfassten ihn die Gefühlswallungen wie ein Fieber; die Ausschläge der Kurve flachten sich zwar bald ab, doch er wusste, die Fieberglut würde wiederkommen. Und er begann darauf zu warten, es war ihm egal, dass die Anfälle jedes Mal kräftiger wurden, von Heilung konnte keine Rede sein. Und im Grunde wünschte er auch gar nicht, geheilt zu werden, im Gegenteil: Er behielt nicht nur die Gewohnheit bei, vor dem Einschlafen im Tagebuch zu lesen, um einen Klartraum anzulocken, sondern stellte seine ganze Fantasie der Traumwelt zur Verfügung. Mit der neuen Gefühlslage konnte er noch nicht umgehen, mitunter hatte sie ähnliche Auswirkungen wie zu viel Alkohol. All das änderte sein Verhalten zu Inku von Grund auf. Im Tagebuch beschrieb er bestimmte Szenen sehr ausführlich, wie jene, die ein Schrei aus dem Badezimmer einleitete.

»Oh Gott, nicht schon wieder!«, drang der erregte Ruf durch die Tür.

Er eilte hin, klopfte, drückte die Klinke, es war nicht abgeschlossen. »Hast du dich verletzt?« Noch während der Frage registrierte er, dass Inku nur im Höschen auf der Waage stand und mit aufgerissenen Augen auf die Gewichtsanzeige schaute. Sie drehte sich ihm zu. »Ich habe schon wieder zugenommen!«

Wie eine Kamera hielt sein Gehirn das Bild fest, dass sie fast nackt vor ihm stand und ihn erschrocken anschaute. Plötzlich, als bemerkte sie erst jetzt, dass sie fast nichts anhatte, lief ihr Gesicht rot an. Sie nahm ein Handtuch und hielt es sich vor die Brust. Zum ersten Mal hatte er ihre Paradiesäpfel mit den zarten Knospen nah und deutlich gesehen, nicht groß, aber fest.

»Du bist halt im Wachsen«, stotterte er, »da nehmen alle zu. Und außerdem«, fügte er einem Impuls nachgebend hinzu, »gefallen mir nicht gar zu schlanke Mädchen ohnehin besser. Dürre Frauen sind schrecklich.«

Schnell schloss er die Tür, Inkus Schrei konnte auch Mutter gehört haben. War es Zufall oder war die Scheu ihm gegenüber noch ungewohnt? Jedenfalls hatte sie es nicht eilig mit dem Handtuch gehabt. Mit der Zeit kam eine ganze Reihe von Szenen zusammen, jede für sich harmlos, ihre Häufung aber beunruhigte. Vielleicht achtete er mehr darauf oder aber, schoss ihm der Verdacht durch den Kopf, sie probierte aus, wie er reagierte. Eventuell beabsichtigte sie sogar, ihn zu reizen? Ein so raffiniertes Verhalten traute er ihr nicht zu, zumindest so lange nicht, bis er jenes Lächeln das erste Mal sah, ein wissendes und, wie ihm schien, auch ein berechnendes Lächeln, das ihn in Unruhe versetzte und seinen Glauben an Zufall ins Wanken brachte. Damals ahnte er nicht, dass er dieses Lächeln, das ihre Grübchen hervortreten und sein Herz schneller schlagen ließ, einmal lieben würde und dass ihn die Vorstellung, dass sie es auch anderen zeigte, rasend vor Eifersucht machen würde. Es war ein anderes Lachen als jenes, das sie beim übermütigen Zwitschern der Vögel an den ersten warmen Frühlingstagen, wenn das Eis auf den Seen schmolz, sehen ließ. Das neue Lächeln schien das Versprechen zu beinhalten, ihm mehr zu geben, als er sich erträumte. Er fragte sich, ob er sich alles einbildete, bis ihm ein Anlass bewies, dass sie ihn herausforderte.