Verfall und Untergang - Evelyn Waugh - E-Book

Verfall und Untergang E-Book

Evelyn Waugh

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Beschreibung

Die Geschichte des Studenten Paul Pennyfeather, der einmal zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Er fliegt völlig unverschuldet von der Uni, versucht sein Glück als Lehrer in einem dubiosen Internat, verliebt sich in die umwerfend charmante Mutter eines seiner Schüler – und wird in die Machenschaften der besseren Gesellschaft verwickelt. Evelyn Waughs Debüt ist eine rasante Satire auf den Bildungsroman und die englische High Society.

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Seitenzahl: 298

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Evelyn Waugh

Verfallund Untergang

Roman

Aus dem Englischen vonAndrea Ott

Titel der 1928 bei Chapman & Hall,

London, erschienenen Originalausgabe: ›Decline and Fall‹

Copyright ©1928 by Evelyn Waugh

All rights reserved

Der Roman erschien im Diogenes Verlag erstmals 1984

als Diogenes Taschenbuch unter dem Titel Auf der schiefen Ebene

Die vorliegende Neuübersetzung erschien erstmals 2014 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto von George Hoyningen-Huene, ca. 1930 (Ausschnitt)

Copyright ©Condé Nast Archive / Corbis / Dukas

Für Harold Acton

mit Hochachtung und Zuneigung

Neuübersetzung

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24381 9

ISBN E-Book 978 3 257 60421 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Vorwort des Autors  [7]

Verzeichnis der Illustrationen des Autors  [9]

VERFALL UND UNTERGANG

Präludium: Alma Mater  [13]

ERSTER TEIL

1  Berufen  [23]

2  Llanabba Castle  [30]

3  Captain Grimes’ Geschichte  [37]

4  Mr.Prendergasts Geschichte  [46]

5  Disziplin  [51]

6  Betragen  [60]

7  Philbrick  [68]

8  Das Sportfest  [84]

9  Das Sportfest – Fortsetzung  [106]

10  Post mortem  [117]

11  Philbrick – Fortsetzung  [125]

12  Die Leiden des Captain Grimes  [132]

13  Das Hinscheiden eines Privatschulmannes  [146]

[6] ZWEITER TEIL

1  King’s Thursday  [161]

2  Zwischenspiel in Belgravia  [171]

3  Pervigilium Veneris  [174]

4  Auferstehung  [193]

5  Die Lateinamerikanische Vergnügungs-Gesellschaft mbH  [200]

6  Hochzeitsvorbereitungen mit Hindernissen  [206]

DRITTER TEIL

1  Die Mauer macht noch keine Haft…  [223]

2  Die Lucas-Dockery-Experimente  [239]

3  Tod eines modernen Seelsorgers  [246]

4  …das Gitter keinen Kerker  [257]

5  Das Hinscheiden eines Privatschulmannes  [272]

6  Das Hinscheiden des Paul Pennyfeather  [278]

7  Auferstehung  [285]

Epilog  [295]

[7] Vorwort des Autors

Diese Geschichte wurde vor dreiunddreißig Jahren geschrieben. Ich bot sie dem Verlag an, der mein erstes Buch in Auftrag gegeben hatte, doch er lehnte sie mit der damals wie heute seltsam anmutenden Begründung ab, sie sei unanständig.

Daraufhin trug ich sie ein paar Häuser weiter zu Chapman & Hall. Der Verlagsdirektor, mein Vater, befand sich gerade im Ausland, und so blieb ihm die Peinlichkeit einer Entscheidung erspart, die dann in seiner Abwesenheit ein Kollege traf, der inzwischen verstorbene Mr.Ralph Straus.

Mr.Straus las das Manuskript sorgfältig, um herauszufinden, was den Verlag Duckworth so schockiert haben mochte. Er schlug ein paar Änderungen vor, und ich akzeptierte sie. Zum Beispiel hielt er es für sittsamer, wenn der Bahnhofsvorsteher von Llanabba nach einer Arbeitsmöglichkeit für seine Schwägerin suchte statt für seine Schwester. Außerdem erhob er verschiedene Einwände literarischer Art, die vielleicht noch weniger nützlich waren.

Das Ergebnis war ein Text, der leicht vom Originalmanuskript abwich.

Für die vorliegende Ausgabe habe ich diese [8] Korrekturen rückgängig gemacht. Die Veränderungen sind geringfügig, aber da das Buch neu gesetzt wurde, schien mir der Zeitpunkt günstig, die Uhr ein, zwei Minuten zurückzudrehen.

[9] Verzeichnis der Illustrationen von Evelyn Waugh

»Außerdem bin ich auf einer Privatschule gewesen.« [42]

Sportfest in Llanabba [107]

»Dass ein Wohnhaus schön sein kann, halte ich für unmöglich, aber ich tue mein Bestes.« [168]

»Bei den unteren Schichten stieß die Hochzeit auf beispiellose Begeisterung.« [208]

»Die ganze Straße schien ihn auszulachen.« [213]

[11] Verfall und Untergang

[13] Präludium

Alma Mater

Mr.Sniggs, der Prodekan, und Mr.Postlethwaite, der Schatzmeister, saßen allein in Mr.Sniggs’ Zimmer, das auf den Gartenhof des Scone College ging. Aus der Wohnung von Sir Alastair Digby-Vaine-Trumpington, zwei Aufgänge weiter, drang wildes Grölen und das Geräusch von splitterndem Glas. Von den Vorstehern des Scone College waren an diesem Abend nur sie beide im Haus, denn heute fand das jährliche Dinner des Bollinger Club statt. Alle anderen waren über Boar’s Hill und den Norden von Oxford verstreut, auf fröhlichen, streitlustigen Partys, in Kollegiumsräumen anderer Colleges oder auf Sitzungen akademischer Gesellschaften, denn das alljährliche Bollinger-Dinner ist für die Autoritätspersonen eine schwierige Zeit.

Die Bezeichnung »alljährlich« ist ungenau, denn oft muss das Clubleben nach einer solchen Zusammenkunft für Jahre ausgesetzt werden. Der Bollinger ist ein traditionsreicher Club, er zählt regierende Könige zu seinen ehemaligen Mitgliedern. Beim letzten Dinner vor drei Jahren wurde ein Fuchs, den man in einem Käfig mitgebracht hatte, mit Champagnerflaschen gesteinigt. Das war vielleicht ein Abend gewesen! Das heutige Treffen war das erste seither, und zu diesem Anlass hatten sich Ehemalige aus ganz Europa eingefunden. In den letzten zwei Tagen waren sie nach Oxford [14] geströmt: epileptische Hoheiten aus den Villen ihres Exils, ungehobelte Adlige von ihren zerfallenden Landsitzen, aalglatte junge Männer mit zweifelhaften Neigungen aus Botschaften und Konsulaten, des Lesens und Schreibens kaum mächtige Gutsherren aus feuchten Granitgemäuern in den schottischen Highlands und ehrgeizige junge Anwälte und Kandidaten der Konservativen, die sich von der Londoner Saison und den plumpen Avancen der Debütantinnen losgerissen hatten; alles, was Rang und Namen hatte, war zum großen Fest gekommen.

»Die Bußgelder!«, sagte Mr.Sniggs und rieb mit seiner Pfeife sanft an seiner Nase. »Allmächtiger! Was das für Bußgelder gibt nach diesem Abend!«

In den Kellern des Professorenkollegiums lagert ein ganz besonderer Portwein, der nur heraufgeholt wird, wenn die College-Bußgelder die Summe von fünfzig Pfund überschreiten.

»Diesmal reicht es mindestens für eine Woche«, sagte Mr.Postlethwaite, »eine Woche Founder’s Port!«

Mittlerweile drangen aus Sir Alastairs Wohnung noch schrillere Töne. Jeder, der sie einmal gehört hat, zuckt schon bei der Erinnerung daran zusammen; es ist das Gebell des englischen Landadels auf der Jagd nach Splittern und Scherben. Bald würden sie alle auf den Hof hinaustorkeln, grölend und hochrot in ihren flaschengrünen Frackjacken, denn jetzt fing der Spaß erst richtig an.

»Meinen Sie nicht, es wäre klüger, das Licht auszumachen?«, fragte Mr.Sniggs.

Im Dunkeln schlichen die beiden Professoren zum Fenster. Der Hof unten war ein Kaleidoskop aus kaum erkennbaren Gesichtern.

[15] »Es müssen mindestens fünfzig sein«, sagte Mr.Postlethwaite. »Wenn sie nur alle zum College gehören würden! Fünfzig zu jeweils zehn Pfund. Allmächtiger!«

»Es wird noch mehr, wenn sie die Kapelle stürmen«, sagte Mr.Sniggs. »Ach, lieber Gott, mach, dass sie die Kapelle stürmen! Das erinnert mich an den kommunistischen Aufstand in Budapest, als ich im Schuldenausschuss war.«

»Ich weiß«, sagte Mr.Postlethwaite. Mr.Sniggs’ Erinnerungen an Ungarn waren im Scone College bestens bekannt.

»Welche Studenten wohl dieses Semester besonders unbeliebt sind? Deren Zimmer werden ja immer überfallen. Ich hoffe, sie waren klug genug, heute Abend auszugehen.«

»Partridge gehört sicher dazu; er besitzt ein Gemälde von Matisse oder so jemandem.«

»Ich habe gehört, er hat schwarze Bettlaken.«

»Und Sanders war mal mit Ramsay MacDonald essen.«

»Und Rending könnte es sich leisten, auf die Jagd zu gehen, sammelt aber stattdessen Porzellan.«

»Und raucht nach dem Frühstück im Garten Zigarren.«

»Austen hat einen Konzertflügel.«

»Den werden sie mit Vergnügen zertrümmern.«

»Sie werden sehen, das gibt eine stattliche Rechnung heute Abend. Aber mir wäre ehrlich gesagt wohler, wenn der Dekan oder der Rektor im Haus wäre. Sie können uns doch hier nicht sehen, oder?«

Es wurde ein schöner Abend. Sie zertrümmerten Mr.Austens Flügel, stampften Lord Rendings Zigarren in den Teppich und zerschlugen sein Porzellan, sie zerrissen Mr.Partridges Bettlaken und warfen den Matisse ins Klo; bei Mr.Sanders gab es außer den Fenstern nichts, was man [16] kaputtmachen konnte, aber sie entdeckten das Manuskript eines Gedichts, mit dem er sich für den Newdigate Prize bewerben wollte, und hatten viel Spaß damit. Sir Alastair Digby-Vaine-Trumpington wurde es vor Aufregung ganz schlecht, und so half ihm Lumsden of Strathdrummond ins Bett. Es war halb zwölf. Bald würde der Abend zu Ende sein. Aber ein besonderer Höhepunkt stand noch bevor.

Paul Pennyfeather studierte Theologie. Es war sein zweites ereignisloses Jahr am Scone College. Zuvor hatte er mit achtbaren Ergebnissen eine kleine, klerikal gesinnte Privatschule in den South Downs absolviert, wo er die Schülerzeitung herausgegeben hatte, Vorsitzender des Debattierclubs gewesen war und, wie es in seinem Zeugnis hieß, auf das Haus, in dem er Schülersprecher war, »einen gesunden und guten Einfluss ausgeübt« hatte. In den Ferien wohnte er am Onslow Square bei seinem Vormund, einem wohlhabenden Rechtsanwalt, der auf Pauls Fortschritte stolz war und von seiner Gesellschaft abgrundtief gelangweilt. Beide Eltern waren in Indien gestorben, als der Junge in der Grundschule gerade den Aufsatzpreis gewonnen hatte. Seit zwei Jahren lebte er nun hier von den Zinsen seines Erbes, die durch zwei großzügige Stipendien aufgebessert wurden. Er rauchte drei Unzen Tabak in der Woche – John Cotton, Medium – und trank anderthalb Pint Bier am Tag, das halbe zum Lunch und das ganze zum Dinner, eine Mahlzeit, die er ausnahmslos in der Hall des College einnahm. Er hatte vier Freunde, von denen drei schon mit ihm auf der Schule gewesen waren. Niemand im Bollinger Club hatte jemals von Paul Pennyfeather gehört, und er hatte seltsamerweise noch nie von ihnen gehört.

[17] Ohne die leiseste Ahnung, welche unabsehbaren Folgen der Abend für ihn haben sollte, radelte er von einer Sitzung des Völkerbundvereins, wo er einen höchst interessanten Vortrag über Plebiszite in Polen gehört hatte, vergnügt nach Hause. Er gedachte noch ein Pfeifchen zu rauchen und vor dem Zubettgehen ein Kapitel aus der Forsyte Saga zu lesen. Er klopfte ans Tor, wurde eingelassen, räumte sein Fahrrad fort und huschte scheu wie immer quer über den Hof zu seiner Wohnung. So viele Leute hier auf einmal! Paul hatte eigentlich nichts gegen Trunkenheit – er hatte sogar vor der Thomas-More-Gesellschaft einen ziemlich kühnen Vortrag darüber gehalten –, aber Betrunkene waren ihm einfach nicht geheuer.

Da schwankte aus dem Dunkel der Nacht Lumsden of Strathdrummond wie ein druidischer Wackelstein auf ihn zu. Paul versuchte, an ihm vorbeizukommen.

Nun wollte es der Zufall, dass die Krawatte von Pauls alter Schule starke Ähnlichkeit mit der blaßblau-weißen des Bollinger Clubs aufwies. Und Lumsden of Strathdrummond war wohl kaum in der Lage, den Unterschied von einem Viertelzoll in der Streifenbreite wahrzunehmen.

»Hier trägt so eine Kanaille die Boller-Krawatte!«, rief der schottische Gutsherr. Nicht von ungefähr hatte seine Sippe seit vorchristlicher Zeit die Stammesherrschaft über ungezählte Quadratmeilen öden Heidemoors inne.

Mr.Sniggs warf Mr.Postlethwaite einen etwas besorgten Blick zu.

»Offenbar haben sie einen erwischt«, sagte er. »Hoffentlich tun sie ihm nicht ernsthaft weh.«

»Anscheinend reißen sie ihm die Kleider vom Leib.«

[18] »Du liebe Zeit, ist das womöglich Lord Rending? Vielleicht sollte ich doch eingreifen.«

»Nein, Sniggs«, sagte Mr.Postlethwaite und legte seinem ungestümen Kollegen die Hand auf den Arm. »Nein, nein, nein. Das wäre unklug, schon aus Rücksicht auf das Ansehen des Kollegiums. In ihrem derzeitigen Zustand sind sie möglicherweise taub für disziplinarische Ermahnungen. Wir müssen um jeden Preis einen Skandal vermeiden.«

Die Menge teilte sich, und Mr.Sniggs seufzte vor Erleichterung. »Alles in Ordnung. Es ist nicht Rending. Es ist Pennyfeather – der ist unwichtig.«

»Gut, das erspart uns einen Haufen Ärger. Ich bin froh, Sniggs, wirklich. Na, der junge Mann hat aber eine Menge Kleidungsstücke verloren!«

Am nächsten Tag gab es eine erfreuliche Professorenkonferenz. »Zweihundertdreißig Pfund«, murmelte der Schatzmeister hingerissen, »die Schäden nicht gerechnet! Mit dem, was wir bereits gesammelt haben, macht das fünf Abende. Fünf Abende Founder’s Port!«

»Im Fall Pennyfeather«, sagte der Rektor, »liegt die Sache allerdings völlig anders. Ihnen zufolge ist er ohne Hosen über den ganzen Hof gelaufen. Das ist entschieden anstößig und keineswegs das Verhalten, das wir von einem Gelehrten erwarten dürfen.«

»Wie wäre es mit einer richtig satten Geldstrafe?«, schlug der Prodekan vor.

»Ich bezweifle, dass er die bezahlen könnte. Wie ich höre, ist er nicht gerade wohlhabend. Ohne Hose, also wirklich! Und um diese Zeit, mitten in der Nacht! Ich halte es für [19] besser, wenn wir uns seiner gänzlich entledigen. Solche jungen Männer sind nicht gut für das College.«

Als Paul zwei Stunden später seine drei Anzüge in den kleinen Lederkoffer packte, wurde ihm ausgerichtet, der Schatzmeister wünsche ihn zu sprechen.

»Ah, Mr.Pennyfeather«, sagte er. »Ich habe Ihre Wohnung inspiziert und zwei kleine Brandflecken entdeckt, einen auf dem Fensterbrett und einen anderen auf dem Kaminsims, offenbar von ausgedrückten Zigaretten. Ich setze Ihnen für jeden fünf Shilling sechs Pence auf Ihre Rechnung. Das ist alles, danke.«

Als Paul den Hof überquerte, begegnete er Mr.Sniggs. »Geht es schon los?«, fragte der Prodekan munter.

»Ja, Sir«, sagte Paul.

Kurz darauf begegnete er dem Kaplan.

»Oh, Pennyfeather, bevor Sie gehen: Sie haben doch sicherlich noch mein Exemplar von Dekan Stanleys Die Ostkirche?«

»Ja. Ich habe es auf Ihren Tisch gelegt.«

»Danke. Na dann, auf Wiedersehen, mein lieber Junge. Ich nehme an, dass Sie nach der garstigen Geschichte gestern Abend über einen anderen Beruf nachdenken müssen. Na, Sie können von Glück sagen, dass Sie Ihre mangelnde Eignung für das Priesteramt entdeckt haben, bevor es zu spät ist. Wenn ein Pfarrer so etwas tut, erfährt es nämlich alle Welt. Und das kommt leider allzu oft vor! Was haben Sie denn für Pläne?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Eine Möglichkeit ist natürlich immer der Handel. [20] Vielleicht können Sie in die weite Geschäftswelt einige der Ideale einbringen, die Sie in Scone kennengelernt haben. Aber das wird nicht leicht sein. Es braucht viel Tapferkeit, so etwas vergessen zu machen. Wie sagt doch Doktor Johnson über die Seelenstärke?… Nein, nein! Ohne Hose!«

Am Tor gab Paul dem Portier ein Trinkgeld. »Leben Sie wohl, Blackall«, sagte er. »Ich werde Sie vermutlich längere Zeit nicht sehen.«

»Ja, Sir, und das tut mir sehr leid. Jetzt werden Sie wohl Lehrer werden, Sir. Das machen die meisten Gentlemen, Sir, die wegen anstößigen Benehmens relegiert werden.«

[21] Erster Teil

[23] 1

Berufen

So? Relegiert wegen anstößigen Benehmens?«, sagte Paul Pennyfeathers Vormund. »Gott sei Dank ist deinem armen Vater diese Schande erspart geblieben. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«

Es war mäuschenstill am Onslow Square, nur das Grammophon der Tochter von Pauls Vormund spielte in dem kleinen rosa Boudoir oben an der Treppe Musik von Gilbert and Sullivan.

»Meine Tochter braucht davon nichts zu erfahren«, fuhr Pauls Vormund fort.

Wieder herrschte Schweigen.

»Nun ja«, begann er wieder. »Du kennst ja die Bedingungen im Testament deines Vaters. Er hat eine Summe von fünftausend Pfund hinterlassen, von deren Zinsen deine Ausbildung bezahlt werden soll; an deinem einundzwanzigsten Geburtstag wird die gesamte Summe in deinen Besitz übergehen. Also in elf Monaten, wenn ich nicht irre. Für den Fall, dass deine Ausbildung vor diesem Zeitpunkt enden sollte, hat er es gänzlich meinem Ermessen überlassen, die jährlichen Zinsen einzubehalten, sofern dein Lebenswandel in meinen Augen zu wünschen übriglässt. Ich glaube, es hieße das Vertrauen, das dein armer Vater in mich gesetzt hat, enttäuschen, wenn ich dir unter den gegebenen Umständen das [24] Geld weiter auszahlen würde. Im Übrigen siehst du gewiss ein, dass du in Zukunft unmöglich mit meiner Tochter unter einem Dach wohnen kannst.«

»Aber was wird dann aus mir?«, fragte Paul.

»Du musst dir wohl Arbeit suchen«, sagte der Vormund nachdenklich. »Nichts ist besser geeignet, den Geist von unsittlichen Gedanken abzulenken.«

»Aber was für Arbeit?«

»Einfach ehrliche Arbeit, bei der man ordentlich anpacken muss. Dein Leben verlief bisher gar zu behütet, Paul. Vielleicht ist das meine Schuld. Es wird dir nur guttun, wenn du dich ein wenig mehr der Wirklichkeit stellst – dem richtigen Leben, meine ich. Und den Tatsachen unverwandt und gründlich ins Auge siehst.« Pauls Vormund zündete sich eine Zigarre an.

»Habe ich denn gar keinen rechtlichen Anspruch auf das Geld?«, fragte Paul.

»Nicht den geringsten, mein lieber Junge«, erwiderte der Vormund vergnügt.

In diesem Frühjahr bekam die Tochter von Pauls Vormund zwei neue Abendkleider und konnte sich, dergestalt verschönert, mit einem gesitteten jungen Mann vom königlichen Bauamt verloben.

»So? Relegiert wegen anstößigen Benehmens?«, fragte Mr.Levy von der Lehrkräftevermittlung Church and Gargoyle. »Na ja, das müssen wir ja nicht weitersagen. Genau genommen – ich meine offiziell – weiß ich von nichts. Bei uns heißt so etwas ›Ausbildung aus persönlichen Gründen abgebrochen‹, verstehen Sie.« Er hob den Telefonhörer ab. [25] »Mr.Samson, haben wir zurzeit eine Ausbildung-abgebrochen-Stelle, männlich?… Genau!… Bringen Sie’s hoch, ja? Ich glaube«, und damit wandte er sich wieder an Paul, »wir haben genau das Richtige für Sie.«

Ein junger Mann erschien mit einem Zettel.

»Wie wär’s damit?«

Paul las:

Privates Stellenangebot, vertraulich.

Augustus Fagan, Esquire, Ph. D., Llanabba Castle, North Wales, benötigt umgehend jungen Hilfslehrer für alte Sprachen und Englisch bis zur Hochschulreife sowie ergänzend Mathematik, Deutsch und Französisch. Erfahrung unerlässlich, Sport auf höchstem Niveau unerlässlich.

Schulart: Schule.

Gehalt: 120Pfund plus Unterkunft.

Unverzügliche, aber sorgfältige Antwort an Dr.Fagan (auf dem Umschlag: »Esq. Ph. D.«); beizulegen sind Abschriften von Empfehlungsschreiben sowie, wenn dies ratsam erscheint, eine Fotografie. Bitte erwähnen Sie, dass Sie von diesem Stellenangebot durch uns erfahren haben.

»Ist doch wie für Sie gemacht«, sagte Mr.Levy.

»Aber ich spreche kein Wort Deutsch, ich habe keine Erfahrung, ich habe keine Empfehlungsschreiben, und ich kann nicht Kricket spielen.«

»Allzu große Bescheidenheit schadet nur«, sagte Mr.Levy. »Es ist erstaunlich, was man alles unterrichten kann, wenn man es nur versucht. Erst letztes Trimester haben wir einen Mann, der noch nie einen Fuß in ein Labor gesetzt hatte, als [26] Hauptlehrer für Naturwissenschaften an eine unserer besten Privatschulen vermittelt. Eigentlich wollte er Musikstunden geben. Er macht sich recht gut, glaube ich. Außerdem kann Dr.Fagan bei diesem Gehalt nicht erwarten, dass alle seine Anforderungen erfüllt werden. Unter uns gesagt, hat Llanabba in Fachkreisen nicht den besten Ruf. Wir unterteilen die Schulen nämlich in vier Kategorien: Eliteschule, erstklassige Schule, gute Schule und Schule. ›Schule‹ allein ist offen gestanden ziemlich schlecht«, erklärte Mr.Levy. »Ich denke, die Stelle wird Ihnen zusagen. Soviel ich weiß, gibt es nur zwei weitere Bewerber, von denen einer stocktaub ist, der arme Kerl.«

Am nächsten Tag ging Paul zu Church and Gargoyle, um sich Dr.Fagan vorzustellen. Er musste nicht lange warten. Dr.Fagan war bereits da und sprach mit den anderen Bewerbern. Nach wenigen Minuten führte Mr.Levy Paul ins Zimmer, machte die beiden miteinander bekannt und ließ sie allein.

»Ein äußerst anstrengendes Gespräch«, sagte Dr.Fagan. »Das war bestimmt ein sehr netter junger Mann, aber von dem, was ich gesagt habe, hat er kein Wort verstanden. Können Sie mich denn deutlich hören?«

»Einwandfrei, vielen Dank.«

»Gut, dann kommen wir zur Sache.«

Paul, ein wenig befangen, betrachtete ihn über den Tisch hinweg. Er war sehr groß, sehr alt und sehr gut gekleidet; er hatte tiefliegende Augen, rabenschwarze Augenbrauen und ziemlich langes, weißes Haar. Während er sprach, wiegte er den auffallend langgezogenen Kopf hin und her; seine Stimme [27] verfügte über tausend Modulationen, als hätte er in grauer Vorzeit Sprechunterricht genommen. Die Handrücken waren behaart und die Finger gekrümmt wie Klauen.

»Ich habe gehört, Sie haben noch keinerlei Erfahrung?«

»Nein, Sir, leider nicht.«

»Nun ja, in mancher Hinsicht ist das natürlich von Vorteil. Man verfällt allzu leicht in den berufstypischen Trott und verliert die Phantasie. Aber wir müssen natürlich praktisch denken. Ich biete ein Gehalt von hundertzwanzig Pfund, aber nur für einen Mann mit Erfahrung. Ich habe hier einen Brief von einem jungen Mann mit einem Diplom in Forstwirtschaft. Er verlangt auf Grund dessen zehn Pfund zusätzlich im Jahr, aber was ich brauche, Mr.Pennyfeather, ist Phantasie, kein Diplom. Ich habe auch gehört, Sie hätten die Universität etwas unvermittelt verlassen. Wie kam es denn dazu?«

Diese Frage hatte Paul befürchtet, und wie er es gelernt hatte, entschied er sich für Ehrlichkeit.

»Ich wurde relegiert wegen anstößigen Benehmens, Sir.«

»Soso. Na ja, Einzelheiten interessieren mich nicht. Ich bin lange genug im Schulbetrieb, um zu wissen, dass niemand Lehrer wird, der nicht aus gutem Grund etwas zu verbergen hat. Aber noch einmal zum Praktischen, Mr.Pennyfeather. Einem Mann, der wegen anstößigen Benehmens relegiert wurde, kann ich unmöglich hundertzwanzig Pfund zahlen. Sagen wir, dass wir Ihr Gehalt für den Anfang auf neunzig Pfund im Jahr festlegen, ja? Ich muss gleich heute Abend nach Llanabba zurückfahren. Das Trimester dauert noch sechs Wochen, und ich habe ziemlich unvermittelt einen Lehrer verloren. Ich erwarte Sie morgen Abend. Von Euston [28] Station fährt etwa um zehn Uhr ein hervorragender Zug. Die Arbeit wird Ihnen sicher gefallen«, fuhr er träumerisch fort. »Sie werden sehen, dass meine Schule auf einem Ideal gegründet ist – dem Ideal von Dienst und Kameradschaft. Viele der Jungen kommen aus den allerbesten Familien. In diesem Trimester ist der kleine Lord Tangent zu uns gekommen, Sie wissen ja, der Sohn des Earl of Circumference. Ein wirklich netter kleiner Kerl, launisch natürlich wie die ganze Familie, aber er hat Stil.« Dr.Fagan seufzte tief. »Ich wollte, ich könnte das auch von meinem Lehrerkollegium behaupten. Unter uns gesagt, Pennyfeather, Grimes muss ich wohl bald entlassen. Er ist nicht gerade das Gelbe vom Ei, und Kinder merken so etwas. Ihr Vorgänger hingegen war ein äußerst angenehmer junger Mann. Ich habe ihn ungern verloren. Aber meine Töchter wurden immer aus dem Schlaf gerissen, wenn er mitten in der Nacht auf seinem Motorrad heimkam. Außerdem hat er sich von den Jungen Geld geliehen, ziemlich hohe Summen, da haben die Eltern protestiert. Ich musste ihm kündigen… Trotzdem hat es mir sehr leidgetan. Der hatte Stil.«

Dr.Fagan erhob sich, setzte sich den Hut verwegen schief auf den Kopf und zog einen Handschuh an.

»Auf Wiedersehen, lieber Pennyfeather. Ich glaube, ja ich weiß, dass wir gut zusammenarbeiten werden. So etwas spüre ich.«

»Auf Wiedersehen, Sir«, sagte Paul.

»Fünf Prozent von neunzig Pfund, das sind vier Pfund zehn Shilling«, sagte Mr.Levy fröhlich. »Sie können jetzt gleich zahlen oder wenn Sie Ihr erstes Gehalt bekommen. Wenn Sie [29] sofort zahlen, gibt es eine Ermäßigung von fünfzehn Prozent. Das wären dann drei Pfund, sechs Shilling, sechs Pence.«

»Ich zahle, sobald ich meinen Lohn bekomme«, sagte Paul.

[30] 2

Llanabba Castle

Llanabba Castle hat zwei völlig verschiedene Gesichter, je nachdem, ob man von Bangor her darauf zukommt oder von der Küstenstraße. An der Rückseite sieht es im Grunde aus wie jedes andere große Landhaus: eine Menge Fenster, eine Terrasse, eine Reihe von Gewächshäusern und halb von Bäumen verdeckt die Dächer von zahllosen unscheinbaren Küchengebäuden. Doch von vorne – und so kommt man vom Bahnhof Llanabba darauf zu – wirkt es beeindruckend feudal. Man fährt mindestens eine Meile an einer Mauer mit Pechnasen entlang, bis man ans Tor gelangt, das mit Türmen und Türmchen und Wappentieren geschmückt und mit einem funktionierenden Fallgitter bewehrt ist. Dahinter steht, am Ende der Auffahrtsallee, das Schloss, ein Muster an mittelalterlicher Unbezwingbarkeit.

Für diesen erstaunlichen Kontrast gibt es eine recht einfache Erklärung. Zur Zeit der Baumwollhungersnot in den sechziger Jahren war Llanabba House im Besitz eines wohlhabenden Fabrikanten aus Lancashire. Seine Frau ertrug den Gedanken nicht, dass ihre Arbeiter hungern mussten, und organisierte mit ihren Töchtern einen kleinen Wohltätigkeitsbasar, allerdings ohne nennenswertes Ergebnis. Der Mann wiederum hatte die Wirtschaftsliberalisten gelesen und ertrug den Gedanken nicht, zu zahlen, ohne eine [31] Gegenleistung zu bekommen. Also suchte der »aufgeklärte Egoismus« nach einem Ausweg. Im Park wurde ein Lager für Fabrikarbeiter errichtet, und diese mussten dafür das Anwesen mit einer Mauer einfassen und das Haus mit großen Quadern aus dem nahen Steinbruch verkleiden. Als der Amerikanische Bürgerkrieg vorüber war, kehrten sie wieder in die Fabrik zurück, und aus Llanabba House wurde Llanabba Castle, nachdem ein Großteil der Umgestaltung sehr billig vorgenommen worden war.

Paul, der in einem kleinen geschlossenen Taxi vom Bahnhof angefahren kam, sah wenig von alledem. In der Allee war es fast dunkel und im Haus stockfinster.

»Ich bin Mr.Pennyfeather«, sagte er zum Butler. »Ich bin der neue Lehrer.«

»Ja«, sagte der Butler, »ich weiß Bescheid über Sie. Hier entlang.«

Sie gingen durch eine Reihe von unbeleuchteten Korridoren, in denen es nach allen möglichen grässlichen Schuldünsten roch, bis sie zu einer hell erleuchteten Tür kamen.

»Hier hinein. Das ist das Lehrerzimmer.« Und ohne ein weiteres Wort verschwand der Butler im Dunkeln.

Paul blickte sich um. Es war kein sehr großer Raum. Selbst er spürte das, obwohl er seit jeher an beengte Räumlichkeiten gewöhnt war.

›Wie viele Leute sich hier wohl aufhalten?‹, dachte er voll plötzlicher banger Ahnung beim Anblick von sechzehn Pfeifen in einem Gestell neben dem Kaminsims. An einem Haken an der Tür hingen zwei Talare. In einer Ecke lehnten ein paar Golfschläger, ein Spazierstock, ein Regenschirm und zwei Miniaturgewehre. Über dem Kaminsims hing eine [32] mit grünem Stoff bezogene Anschlagtafel voller Listen; auf dem Tisch stand eine Schreibmaschine. In einem Bücherschrank befanden sich eine Reihe uralter Schulbücher und ein paar neue Übungshefte. Ferner gab es eine Fahrradpumpe, zwei Sessel, einen Stuhl, eine halbe Flasche Medizinalportwein, einen Boxhandschuh, einen Bowlerhut, die Daily News von gestern und ein Bündel Pfeifenreiniger.

Paul setzte sich verzagt auf den Stuhl.

Kurz darauf klopfte es an der Tür, und ein kleiner Junge kam herein.

»Oh!«, sagte er und sah Paul sehr genau an.

»Hallo!«, sagte Paul.

»Ich suche eigentlich Captain Grimes«, sagte der kleine Junge.

»Oh!«, sagte Paul.

Noch immer beäugte der Junge Paul mit durchdringendem, sachlichem Interesse. »Sie sind wohl der neue Lehrer?«, fragte er.

»Ja«, sagte Paul. »Ich heiße Pennyfeather.«

Der kleine Junge lachte hell auf. »Das ist ja wahnsinnig witzig«, sagte er und ging.

Bald darauf öffnete sich die Tür erneut, und zwei weitere Jungen schauten herein. Sie standen da, kicherten eine Weile und verschwanden wieder.

Im Lauf der nächsten halben Stunde erschienen sechs oder sieben Jungen unter verschiedenen Vorwänden und starrten Paul an.

Dann ertönte eine Glocke, und es erhob sich ein Höllenlärm aus Pfeifen und Toben. Die Tür ging auf, und ein sehr kleiner Mann von ungefähr dreißig Jahren kam ins [33] Lehrerzimmer. Wegen seines Holzbeins erzeugte er dabei ein ziemliches Getöse. Er hatte einen kurzen, roten Schnurrbart und eine beginnende Glatze.

»Hallo!«, sagte er.

»Hallo!«, sagte Paul.

»Komm rein, du«, sagte er zu jemandem, der draußen stand.

Wieder kam ein Junge herein.

»Was denkst du dir eigentlich?«, fragte er. »Wieso pfeifst du einfach weiter, obwohl ich gesagt habe, du sollst aufhören?«

»Alle anderen haben auch gepfiffen«, antwortete der Junge.

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Ich finde, das hat ziemlich viel damit zu tun«, sagte der Junge.

»Also, du schreibst hundert Zeilen Strafarbeit, und merk dir: Beim nächsten Mal gibt’s Prügel«, sagte er, »und zwar hiermit«, und er schwang den Spazierstock.

»Der tut nicht besonders weh«, sagte der Junge und ging hinaus.

»In diesem Haus herrscht keine Disziplin«, sagte der Lehrer, dann ging auch er hinaus.

›Ich frage mich, ob mir der Lehrerberuf gefallen wird‹, überlegte Paul.

Es dauerte nicht lang, da kam ein anderer, älterer Mann ins Zimmer.

»Hallo«, begrüßte er Paul.

»Hallo!«, sagte Paul.

»Wollen Sie einen Schluck Port?«

»Danke, sehr gern.«

[34] »Aber es gibt nur ein Glas.«

»Ach so. Macht nichts, dann eben nicht.«

»Sie könnten sich das Zahnputzglas aus Ihrem Zimmer holen.«

»Ich weiß noch nicht, wo das ist.«

»Oh. Na ja, egal. Dann trinken wir an einem anderen Abend. Sie sind bestimmt der neue Lehrer?«

»Ja.«

»Sie werden es hier unerträglich finden. Ich weiß das. Ich bin seit zehn Jahren hier. Grimes ist erst dieses Trimester gekommen. Er findet es jetzt schon unerträglich. Haben Sie Grimes bereits gesehen?«

»Ich glaube ja.«

»Er ist kein Gentleman. Rauchen Sie?«

»Ja.«

»Pfeife, meine ich.«

»Ja.«

»Das sind meine Pfeifen. Erinnern Sie mich daran, dass ich sie Ihnen nach dem Abendessen zeige.«

In diesem Augenblick erschien der Butler mit der Nachricht, Dr.Fagan wünsche Mr.Pennyfeather zu sehen.

Der Flügel des Schlossherrn war prunkvoller. Dr.Fagan stand am äußersten Ende eines langgestreckten Raumes vor einem marmornen Rokokokamin; er trug eine Smokingjacke aus Samt.

»Schon ein bisschen eingewöhnt?«, fragte er.

»Ja«, sagte Paul.

Vor dem Feuer saß, eine Glasflasche mit Bonbons auf dem Schoß, eine farbenfroh gekleidete Frau, die über die erste Jugend hinaus war.

[35] »Das ist meine Tochter«, erklärte Dr.Fagan leicht angewidert.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Miss Fagan. »Ich sag immer allen Neulingen, sie sollen sich bloß nicht krumm und bucklig schuften für meinen Papa. Mein Papa ist nämlich ein ziemlicher Tyrann. Aber so sind sie eben, die Gelehrten. Unmenschen sind das. Oder?« Miss Fagan wandte sich voll plötzlichen Ingrimms an ihren Vater: »Bist du vielleicht kein Unmensch?«

»Manchmal bin ich dankbar für das bisschen Abstand, das ich mir erarbeitet habe, meine Liebe. Aber hier kommt meine andere Tochter.«

Schweigend, nur ganz leise mit dem Schlüsselbund klirrend, war eine weitere Frau ins Zimmer getreten. Sie war jünger als ihre Schwester, aber viel weniger munter.

»Guten Tag«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben sich eigene Seife mitgebracht. Ich habe meinen Vater gebeten, Ihnen dies auszurichten, aber solche Dinge vergisst er immer. Seife und Schuhcreme werden nicht gestellt, Wäschewaschen nur bis zu zwei Shilling sechs Pence pro Woche. Nehmen Sie Zucker in den Tee?«

»Ja, normalerweise schon.«

»Ich werde das notieren und für Sie zwei Stücke extra ausgeben lassen. Aber sehen Sie zu, dass die Jungen nicht drankommen.«

»Ich habe Ihnen für den Rest dieses Trimesters die fünfte Klasse zugeteilt«, sagte Dr.Fagan. »Sie werden sehen, es sind reizende Jungen, ganz reizend. Clutterbuck muss man ein wenig im Auge behalten, ein etwas empfindliches Kerlchen. Außerdem sind Sie für Sport verantwortlich, für die [36] Tischlereistunden und für die Brandschutzübungen. Und, das habe ich vergessen, unterrichten Sie auch Musik?«

»Nein, leider nicht.«

»Schade, sehr schade. Ich hatte das Mr.Levys Worten entnommen. Ich habe nämlich angeordnet, dass Sie Beste-Chetwynde zweimal die Woche Orgelstunden geben. Nun ja, tun Sie Ihr Bestes. Da, es läutet zum Abendessen. Ich möchte Sie nicht aufhalten. Oh, eines noch. Bitte kein Wort zu den Jungen über die Gründe, derentwegen Sie aus Oxford weggegangen sind! Wir Lehrer müssen Diskretion mit Irreführung würzen. So, nun habe ich Ihnen wohl genug Stoff zum Nachdenken geliefert. Gute Nacht.«

[37] 3

Captain Grimes’ Geschichte

Paul fand den Speisesaal ohne große Schwierigkeiten; er ließ sich von Küchengerüchen und Stimmengewirr leiten. Es war ein großer, getäfelter, gar nicht unwirtlicher Raum, in dem fünfzig oder sechzig Jungen im Alter von zehn bis achtzehn an vier langen Tischen saßen.

Er wurde ans Kopfende eines Tisches geführt. Die beiden Jungen rechts und links von seinem Platz standen höflich auf und warteten, bis er sich gesetzt hatte. Einer von ihnen war der Junge, der hinter Captain Grimes hergepfiffen hatte. Paul fand ihn irgendwie sympathisch.

»Ich heiße Beste-Chetwynde«, sagte er.

»Ich glaube, dir muss ich Orgelunterricht geben.«

»Ja, das macht großen Spaß, wir spielen in der Dorfkirche. Können Sie wahnsinnig gut Orgel spielen?«

Paul spürte, dass dies nicht der Augenblick für Offenheit war, und so sagte er, Diskretion mit Irreführung würzend: »Ja, exzellent.«

»Ich meine, wirklich? Oder nehmen Sie mich auf die Schippe?«

»Aber nein. Ich habe in Scone den Rektor unterrichtet.«

»Na ja, mir werden Sie nicht viel beibringen können«, sagte Beste-Chetwynde fröhlich. »Ich nehme nur Stunden, damit ich nicht zum Sport muss. Ach, man hat Ihnen keine Serviette [38] gegeben. Diese Dienstboten sind wirklich schrecklich. Philbrick«, rief er dem Butler zu, »warum haben Sie Mr.Pennyfeather keine Serviette gegeben?«

»Vergessen«, sagte Philbrick, »und jetzt ist es zu spät, weil Miss Fagan den Wäscheschrank schon zugesperrt hat.«

»Unsinn!«, sagte Beste-Chetwynde. »Holen Sie sofort eine. Der Mann ist durchaus in Ordnung«, fügte er hinzu, »man muss ihn nur im Auge behalten.«

Wenige Minuten später kehrte Philbrick mit einer Serviette zurück.

»Du scheinst mir ein äußerst intelligenter Bursche zu sein«, sagte Paul.

»Da ist Captain Grimes ganz anderer Meinung. Er hält mich für beschränkt. Ich bin froh, dass Sie nicht wie Captain Grimes sind. Er ist so gewöhnlich, finden Sie nicht?«

»Du darfst vor mir nicht in diesem Ton über die anderen Lehrer reden.«

»Aber so denkt hier jeder. Außerdem trägt er drunter Einteiler. Das habe ich auf seiner Wäscheliste gelesen, als ich ihm einmal seinen Hut holen musste. Ich finde Einteiler ziemlich grässlich, Sie nicht?«

Am anderen Ende des Saales entstand Unruhe.

»Wahrscheinlich ist Clutterbuck schlecht geworden«, vermutete Beste-Chetwynde. »Dem wird immer schlecht, wenn es Hammel gibt.«

Jetzt sprach zum ersten Mal der Junge an Pauls anderer Seite. »Mr.Prendergast trägt eine Perücke«, sagte er, dann verlor er den Faden und rettete sich in ein verlegenes Kichern.

»Das ist Briggs«, erklärte Beste-Chetwynde, »aber jeder [39] nennt ihn Brolly, nach dem Regenschirmgeschäft Brigg’s Umbrellas, wissen Sie.«

»Blöde Schweinehunde sind das«, sagte Briggs.

Es schien alles viel unkomplizierter, als Paul erwartet hatte; am Ende war es wohl gar nicht so schwierig, mit den Jungen auszukommen.

Nach einer Weile erhoben sich alle, und Mr.Prendergast sprach inmitten beachtlichen Lärms das Tischgebet. Nahe an Pauls Ohr rief jemand laut: »Prendy!«

»…per Christum Dominum nostrum. Amen«, sagte Mr.Prendergast. »Beste-Chetwynde, warst du das, der da soeben gestört hat?«

»Ich, Sir? Nein, Sir.«

»Pennyfeather, war das Beste-Chetwynde?«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Paul, und Beste-Chetwynde warf ihm einen freundlichen Blick zu, denn natürlich war er es gewesen.

Draußen vor dem Speisesaal hakte sich Captain Grimes bei ihm unter. »Ein Schweinefraß, nicht wahr, mein Freund?«, sagte er.

»Ziemlich mies«, sagte Paul.

»Prendy hat heute Abend Dienst. Ich geh gleich ins Pub. Wie steht’s mit Ihnen?«

»Gut, ich komme mit«, erwiderte Paul.

»Prendy ist auf seine Art gar nicht so übel«, sagte Grimes, »aber er kann nicht für Ordnung sorgen. Sie wissen natürlich schon, dass er eine Perücke trägt. Ein Mann mit Perücke tut sich schwer damit, für Ordnung zu sorgen. Ich hab ein künstliches Bein, aber das ist was anderes. Davor haben die Jungs Respekt. Sie glauben, ich hätt es im Krieg [40] verloren. In Wirklichkeit«, sagte der Captain, »und das muss unter uns bleiben, wurde ich in Stoke-on-Trent von einer Straßenbahn überfahren, als ich einen über den Durst getrunken hatte. Aber das braucht nicht jeder zu wissen. Komisch, irgendwie hab ich das Gefühl, Ihnen kann ich vertrauen. Ich glaub, wir könnten Freunde werden.«

»Ich hoffe es«, sagte Paul.

»Mir fehlt ein Freund, schon seit langem. Der Bursche vor Ihnen war nicht übel – allerdings ein bisschen hochnäsig. Er hatte nämlich ein Motorrad. Die Töchter des Hauses mochten ihn nicht besonders. Haben Sie Miss Fagan schon kennengelernt?«

»Ich habe zwei kennengelernt.«

»Alle zwei sind Miststücke«, sagte Grimes und fügte düster hinzu: »Mit Flossie bin ich verlobt.«

»Großer Gott! Welche ist das?«

»Die Ältere. Die Jungs nennen die beiden Flossie und Dingy. Wir haben es dem Alten noch nicht gesagt. Ich warte, bis ich wieder in der Tinte sitze. Dann spiele ich das als letzte Karte aus. Früher oder später sitz ich immer in der Tinte. Hier ist das Pub. Auf seine Art gar kein so übles Lokal. Clutterbucks Vater braut alles Bier hier in der Gegend. Auch nicht übel, das Zeug. Zwei Pints, bitte, Mrs.Roberts!«

In einer Ecke ganz hinten saß Philbrick und unterhielt sich in fließendem Walisisch mit einem zwielichtigen alten Mann.

»Verdammt! Eine Frechheit, dass der hierherkommt!«, sagte Grimes.

Mrs.Roberts brachte ihnen das Bier. Grimes nahm einen kräftigen Schluck und seufzte glücklich. »Es sieht so aus, als würde ich zum ersten Mal seit zwei Jahren das Ende eines [41] Trimesters erleben«, sagte er verträumt. »Komisch, ungefähr sechs Wochen lang läuft immer alles ganz gut, aber dann lande ich in der Tinte. Ich glaube nicht, dass mich die Natur zum Lehrer ausersehen hat. Mein Problem ist mein Temperament«, sagte Grimes mit einem Blick ins Unendliche, »mein Temperament und der Geschlechtstrieb.«

»Ist es schwer, wieder eine Stelle zu bekommen, nachdem – nachdem Sie in der Tinte gesessen haben?«, fragte Paul.

»Anfangs schon, aber es gibt Mittel und Wege. Außerdem bin ich auf einer Privatschule gewesen. Das bedeutet einiges. Es gibt im englischen Sozialsystem die segensreiche ›Billigkeitsregel‹«, sagte Grimes, »die den Privatschulabsolventen vor dem Verhungern bewahrt. Man geht vier oder fünf Jahre durch die absolute Hölle, in einem Alter, in dem das Leben ohnehin eine Hölle ist, und von da an lässt einen das System nie mehr fallen.