Wiedersehen mit Brideshead - Evelyn Waugh - E-Book

Wiedersehen mit Brideshead E-Book

Evelyn Waugh

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Beschreibung

Eines der bedeutendsten Bücher der englischen Literatur endlich in neuer Übersetzung. Wiedersehen mit Brideshead ist das englische Gegenstück zum amerikanischen Großen Gatsby: das Porträt der Schönen und Reichen in den Jahren zwischen den Weltkriegen, die Chronik einer Vertreibung aus dem Paradies bei Anbruch der modernen Zeit und die Geschichte einer unmöglichen Liebe.

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Seitenzahl: 627

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Evelyn Waugh

Wiedersehenmit Brideshead

Die heiligen undprofanen Erinnerungen desCaptain Charles Ryder

Roman

Aus dem Englischen von pociao

Mit einem Nachwort vonDaniel Kampa

Titel der 1945 bei Chapman & Hall, London,

erschienenen Originalausgabe: ›Brideshead Revisited‹

Copyright © 1945, 1960 by Evelyn Waugh

Textgrundlage für die vorliegende Übersetzung ist die vom Autor revidierte und ebenfalls

bei Chapman & Hall, London, erschienene Fassung von 1960

Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 im Diogenes Verlag

Die Übersetzerin bedankt sich beim Deutschen Übersetzerfonds, Berlin,

für seine großzügige Unterstützung

Das Zitat aus T. S. Eliot, Das wüste Land, ist übersetzt von Robert Curtius,

Insel Verlag, Frankfurt 1962

Die Zitate im Nachwort sind von Claus Sprick und Cornelia Künne

aus dem Englischen übersetzt

Daniel Kampa dankt Cornelia Künne für ihre entscheidende Mitarbeit am Nachwort

Covermotiv: Foto von Andrew Montgomery; Aus: Jasper Conran, ›Country‹

Mit freundlicher Genehmigung

Für Laura

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24319 2 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60343 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Ich bin nicht ich;

du bist nicht er oder sie,

sie sind nicht sie.

E. W.

[7] Inhalt

Vorwort des Autors  [9]

WIEDERSEHEN MIT BRIDESHEAD

Prolog  [15]

I  ET IN ARCADIA EGO

1  Begegnung mit Sebastian Flyte – und Anthony Blanche – Erster Besuch auf Brideshead  [39]

2  Die große Standpauke meines Cousins Jasper – Warnung vor dem Charme – Sonntagmorgen in Oxford  [67]

3  Mein Vater zu Hause – Lady Julia Flyte  [97]

4  Sebastian zu Hause – Lord Marchmain im Ausland  [122]

5  Herbst in Oxford – Mittagessen mit Rex Mottram und Abendessen mit Boy Mulcaster – MrSamgrass – Lady Marchmain zu Hause – Sebastian contra mundum[158]

II  ABSCHIED VON BRIDESHEAD

1  Samgrass entlarvt – Abschied von Brideshead – Rex entlarvt  [223]

2  Julia und Rex  [265]

[8] 3  Mulcaster und ich verteidigen unser Land – Sebastian im Ausland – Abschied von Marchmain House  [297]

III  EIN RUCK AN DER SCHNUR

1  Waisen im Sturm  [331]

2  Privater Blick – Rex Mottram zu Hause  [386]

3  Der Springbrunnen  [404]

4  Sebastian contra mundum[429]

5  Lord Marchmain zu Hause – Tod im chinesischen Salon – Das große Ganze  [452]

Epilog  [494]

Nachwort von Daniel Kampa  [505]

[9] Vorwort des Autors

Dieser Roman, der hier mit zahlreichen kleinen Ergänzungen und einigen massiven Kürzungen neu aufgelegt wird, hat mich eine Menge Hochachtung gekostet, die mir einst von meinen Zeitgenossen zuteil wurde, und mich in eine befremdliche Welt von Fanpost und Pressefotografen gestürzt. Sein Thema – das Wirken göttlicher Gnade auf eine Gruppe von unterschiedlichen, aber eng miteinander verbundenen Charakteren – war möglicherweise übertrieben weit gefasst, aber dafür möchte ich mich nicht entschuldigen. Weniger glücklich bin ich mit seiner Form, deren eklatante Mängel den Umständen geschuldet sind, unter denen er entstand.

Im Dezember 1943 hatte ich das Glück, mir bei einem Fallschirmsprung eine kleinere Verwundung zuzuziehen, die mir eine Pause vom Militärdienst gewährte. Diese wurde von einem mitfühlenden Offizier verlängert, indem er mich bis zum Juni 1944, als das Buch fertig war, vor neuen Aufgaben verschonte. Ich schrieb mit einem Eifer, der mir völlig fremd war, wartete aber auch ungeduldig darauf, wieder in den Krieg zurückzukehren. Es war eine trostlose Zeit echter Entbehrungen vor einer drohenden Katastrophe – geprägt von Sojabohnen und einem begrenzten Wortschatz – und deshalb ist das Buch durchdrungen von einer maßlosen [10] Gier nach Essen und Wein, nach dem Glanz der jüngeren Vergangenheit, aber auch nach phrasenhafter, ornamentaler Sprache, die ich heute, mit vollem Magen, widerlich finde. Die schlimmsten Passagen habe ich überarbeitet, aber nicht ganz gestrichen, weil sie ein wichtiger Bestandteil des Buches sind. Was Julias Ausbruch hinsichtlich Todsünde oder den Monolog des sterbenden Lord Marchmains anbelangt, bin ich gespaltener Meinung. Natürlich sollten diese Teile nie tatsächlich gesprochene Worte wiedergeben. Sie gehören einer anderen Art des Schreibens an als beispielsweise die frühen Szenen zwischen Charles und seinem Vater. Heute würde ich sie nicht mehr in einen Roman integrieren, der ansonsten authentisch sein will. Doch ich habe sie fast unverändert belassen, weil sie wie der Burgunder oder der Mondschein einigermaßen zu der Stimmung passten, in der er geschrieben wurde, und außerdem vielen Lesern gefielen, wenngleich das nicht die wichtigste Überlegung ist.

Im Frühjahr 1944 war der heutige Kult um die englischen Landsitze unmöglich vorauszusehen. Damals schien es, als wären die uralten Stätten, die zu den bedeutendsten künstlerischen Errungenschaften unserer Nation gehören, dazu bestimmt, wie die Klöster des sechzehnten Jahrhunderts der Plünderung und dem Zerfall anheimzufallen. Deshalb habe ich wohl mit leidenschaftlicher Aufrichtigkeit ziemlich dick aufgetragen. Heute würde Brideshead Ausflüglern offen stehen, seine Schätze von fachkundigen Händen neu arrangiert und die Bausubstanz besser erhalten werden als unter der Ägide von Lord Marchmain. Die englische Aristokratie hat ihre Identität in einem Maße bewahrt, das damals undenkbar schien. Hoopers Aufstieg ist an mehreren Punkten [11] gestoppt worden. Deshalb ist ein großer Teil dieses Buches so etwas wie ein Abgesang vor einem leeren Sarg. Aber es wäre unmöglich gewesen, es zu aktualisieren, ohne es zu zerstören. Möge es einer jüngeren Generation von Lesern eher als Andenken an den Zweiten Weltkrieg denn an die zwanziger oder dreißiger Jahre dienen, von denen es nach außen hin handelt.

E.W. Combe Florey, 1959

[13] Wiedersehen mit Brideshead

[15] Prolog

Als ich die Quartiere der Dritten Kompanie oben auf der Anhöhe erreichte, hielt ich inne und wandte mich zu dem Lager um, das im grauen Dunst des frühen Morgens unter mir soeben in seiner ganzen Größe sichtbar wurde. An diesem Tag rückten wir ab. Bei unserem Einzug drei Monate zuvor hatte Schnee gelegen, jetzt spross das erste Frühlingslaub. Damals hatte ich gedacht, dass ich mir nichts Grausameres vorstellen könnte, egal, welch trostlose Szenen noch vor uns lagen, und jetzt dachte ich, dass ich keine einzige glückliche Erinnerung daran bewahrte.

Hier war die Liebe zwischen mir und der Armee gestorben.

Hier endeten die Gleise der Elektrischen, so dass die Männer, die benebelt aus Glasgow zurückkehrten, so lange auf ihren Sitzen dösen konnten, bis das Ende der Reise sie aufschrecken ließ. Von der Haltestelle bis zum Lager war es noch ein Stück zu Fuß; eine Viertelmeile, auf der sie sich die Uniformjacken zuknöpfen und ihre Mützen zurechtrücken konnten, ehe sie die Wachstube passierten, eine Viertelmeile, auf der das Pflaster am Straßenrand in Gras überging. Dies war das äußerste Ende der Stadt. Hier endete das dichte, homogene Gebiet von Wohnsiedlungen und Kinos und begann das Hinterland.

[16] Das Lager stand da, wo noch bis vor kurzem Wiesen und Felder gewesen waren. Das Bauernhaus, das uns als Büro für das Bataillon gedient hatte, schmiegte sich in eine Mulde des Hangs. Noch stützte Efeu einen Teil dessen, was einmal die Mauer eines Obstgartens gewesen war; ein halber Morgen verkrüppelter alter Bäume hinter den Waschhäusern hatte überlebt. Alles war zum Abriss bestimmt gewesen, bevor die Armee hier einzog. Ein weiteres Jahr Frieden, und es hätte kein Bauernhaus, keine Mauer und keine Apfelbäume mehr gegeben. Schon führte eine halbe Meile gepflasterter Straße zwischen kahlen Lehmböschungen entlang, und auf beiden Seiten offenbarte ein Netzwerk offener Gräben, wo die städtischen Bauunternehmer ein Abwassersystem geplant hatten. Ein weiteres Jahr Frieden, und diese Gegend wäre Teil des sich ausbreitenden Vorstadtviertels gewesen. Jetzt aber warteten die Baracken, in denen wir überwintert hatten, darauf, abgerissen zu werden.

Auf der anderen Seite lag das städtische Irrenhaus, das selbst im Winter hinter dichtstehenden Bäumen halb verschwand und Anlass zu bissigen Kommentaren gab. Mit seinen schmiedeeisernen Gittern und vornehmen Toren konnte unser primitiver Drahtverhau nicht mithalten. An schönen Tagen sahen wir, wie die Verrückten über die gepflegten Kieswege und hübsch angelegten Rasenflächen schlenderten oder hüpften, glückliche Kollaborateure, die den ungleichen Kampf aufgegeben, sich aller Zweifel entledigt und alle Pflichten abgeschüttelt hatten. Sie waren die unbestrittenen Nutznießer eines Jahrhunderts voller Fortschritt, die behaglich genossen, was man ihnen hinterlassen hatte. Wenn wir an ihnen vorbeimarschierten, riefen unsere Männer ihnen [17] über den Zaun hinweg zu: »Halt mir ein Plätzchen warm, Kumpel, ich bleib nicht lange.« Doch Hooper, mein frisch zu uns gestoßener Zugführer, gönnte ihnen ihr privilegiertes Leben nicht. »Hitler würde sie in die Gaskammer stecken«, erklärte er. »Vermutlich könnten wir das eine oder andere noch von ihm lernen.«

Als wir mitten im Winter eingerückt waren, hatte ich eine Kompanie kräftiger und hoffnungsvoller Männer gehabt. Wir waren aus der Moorlandschaft hier in die Hafengegend verlegt worden, und sie meinten, dass es nun endlich in den Nahen Osten gehen sollte. Doch die Zeit verging, und als wir anfingen, den Schnee zu räumen und einen Exerzierplatz anzulegen, beobachtete ich, wie sich ihre Enttäuschung in Resignation verwandelte. Sie schnupperten den Duft von Bratfischbuden und spitzten die Ohren, wenn sie vertraute Geräusche des Friedens hörten wie die Sirene der Fabriken oder die Musik der Tanzorchester. An freien Tagen lungerten sie jetzt an Straßenecken herum und verdrückten sich rasch, wenn ein Offizier auftauchte, aus Angst, ihr Gesicht bei ihren neuen Freundinnen zu verlieren, wenn sie salutierten. Im Kompaniebüro häuften sich Protokolle kleinerer Straftaten und Anträge auf Urlaub aus familiären Gründen, und schon im Morgengrauen begann der Tag mit dem Jammern der Simulanten oder dem düsteren Gesicht und starren Blick eines Mannes, der eine Beschwerde vortragen wollte.

Doch wie sollte ich, der nach allen Vorschriften verpflichtet war, ihre Moral zu heben, ihnen helfen, wenn ich doch mir selbst nicht zu helfen wusste? Der Colonel, unter dem wir uns formiert hatten, wurde woandershin beordert und von einem jüngeren, weniger liebenswürdigen Mann [18] abgelöst, den man aus einem anderen Regiment hierher versetzt hatte. Mittlerweile war in der Messe kaum noch jemand von denen übrig, die sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwillige gemeldet hatten und zusammen ausgebildet worden waren. Auf die eine oder andere Art waren fast alle abhandengekommen – manche ausgemustert, andere zu anderen Bataillonen oder zum Stab versetzt; einige hatten sich als Freiwillige zu Spezialeinheiten gemeldet, einer war auf dem Schießplatz getötet und einer vor ein Kriegsgericht gestellt worden. Ihre Plätze hatten normale Rekruten eingenommen. Inzwischen lief ununterbrochen das Radio im Vorzimmer, und man trank eine Menge Bier vor dem Essen. So war es vorher nicht gewesen.

Hier, mit neununddreißig Jahren, begann ich alt zu werden. Abends fühlte ich mich steif und müde und hatte keine Lust, das Lager zu verlassen. Ich entwickelte Besitzansprüche auf bestimmte Sessel und Zeitungen; ich trank regelmäßig drei Gläser Gin vor dem Abendessen, nicht mehr und nicht weniger, und ging gleich nach den Neun-Uhr-Nachrichten schlafen. Und immer war ich schon eine Stunde vor dem morgendlichen Weckruf hellwach und gereizt.

Hier starb meine letzte Liebe. Ihr Tod hatte nichts Bemerkenswertes. Eines Tages, nicht lange vor diesem letzten im Lager, lag ich wieder einmal vor der Reveille wach in der Baracke und starrte in die rabenschwarze Dunkelheit, umgeben vom tiefen Atmen und schläfrigen Murmeln der vier anderen Kameraden. Ich wälzte in Gedanken, was an diesem Tag alles zu erledigen war: Hatte ich die Namen der beiden Unteroffiziere für den Waffenausbildungskurs eingetragen? Würde der Großteil der Männer, die sich an diesem [19] Tag zurückmelden sollten und ihren Urlaub überzogen, wieder zu meiner Kompanie gehören? Konnte ich Hooper die Aufgabe anvertrauen, mit der Aspirantenklasse zum Kartenlesen ins Gelände zu gehen? Ich lag dort, in dieser dunklen Stunde, und erkannte zu meinem Entsetzen, dass etwas in mir nach langem Siechtum unversehens gestorben war. Ich fühlte mich wie ein Ehemann, der nach gut drei Jahren Ehe plötzlich weiß, dass er keine Zärtlichkeit, kein Verlangen, keine Achtung für seine einst geliebte Frau mehr empfindet, kein Vergnügen an ihrer Gesellschaft, nicht den Wunsch, ihr zu gefallen, oder Neugier auf das, was sie jemals sagen oder denken könnte, keine Hoffnung, alles wieder in Ordnung zu bringen, und sich keine Selbstvorwürfe wegen dieser Katastrophe macht. Ich kannte das alles, das ganze triste Ausmaß ehelicher Ernüchterung; wir hatten es gemeinsam durchgemacht, die Armee und ich, vom ersten stürmischen Werben bis jetzt, da uns nichts mehr blieb als die eiskalten Bande von Recht, Pflicht und Gewohnheit. Ich war an jeder Szene der häuslichen Tragödie beteiligt gewesen, hatte gemerkt, wie die ersten Unstimmigkeiten sich häuften, die Tränen ihre Wirkung verloren, die Versöhnung von Mal zu Mal weniger süß war, bis daraus ein Gefühl von Distanziertheit und kühler Kritik hervorging, aber auch die wachsende Überzeugung, dass es nicht an mir, sondern an ihr lag – sie war die Schuldige. Ich registrierte die falschen Töne in ihrer Stimme und lernte, bang auf sie zu horchen; ich nahm den leeren, verbitterten Ausdruck von Verständnislosigkeit in ihren Augen wahr und auch die egoistisch verzogenen Mundwinkel. Ich kannte sie, so wie man eine Frau eben kennt, mit der man dreieinhalb Jahre tagein, [20] tagaus zusammengelebt hat. Ich kannte ihre Schlampigkeit, den routinierten Einsatz ihres Charmes, ihre Eifersucht, ihre Selbstsucht und das nervöse Zucken der Finger, wenn sie log. Sie hatte all ihren Zauber verloren, und ich sah sie nur noch als unsympathische Fremde, an die ich mich in einem unbedachten Augenblick für immer gebunden hatte.

An diesem Morgen des Aufbruchs war mir unser Ziel daher völlig gleichgültig. Ich würde meine Arbeit wie gewohnt erledigen, aber mehr als Gehorsam brachte ich nicht dafür auf. Wir hatten Befehl, um 9.15Uhr an einem nahegelegenen Nebengleis in den Zug zu steigen und in unserem Tornister den Rest unserer täglichen Essensration mitzunehmen; mehr musste ich nicht wissen. Der stellvertretende Kommandeur war mit einem kleinen Vortrupp bereits unterwegs. Die Lager der Kompanie waren tags zuvor geräumt worden. Hooper hatte Anweisung bekommen, die Quartiere zu inspizieren. Um 7.30Uhr trat die Kompanie an, ihr Gepäck hatten die Männer schon vor den Baracken aufgestapelt. Solche Verlegungen hatte es viele gegeben seit jenem herrlich erregenden Morgen im Jahr 1940, als wir uns einbildeten, zur Verteidigung von Calais abkommandiert zu werden. Seitdem hatten wir drei- oder viermal im Jahr unseren Standort gewechselt. Diesmal legte unser neuer Kommandeur übertriebenen Wert auf »Sicherheit« und trug uns sogar auf, sämtliche Abzeichen von Uniformen und Gepäck zu entfernen. Es gehe um »wertvolle Ausbildung unter aktiven Kriegsbedingungen«, sagte er. »Wenn ich sehe, dass die üblichen weiblichen Bewunderer uns am anderen Ort erwarten, weiß ich, dass irgendwer nicht dichtgehalten hat.«

[21] Der Rauch aus den Küchen trieb mit dem Morgendunst davon, so dass ersichtlich wurde, dass das Lager, das nun wie eine archäologische Ausgrabungsstätte dalag, als planloses Labyrinth von Abkürzungen einem unvollendeten Bebauungskonzept übergestülpt worden war.

»Die Pollock-Grabungen offenbaren ein bedeutsames Bindeglied zwischen der Bürger-Sklaven-Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts und der Stammesanarchie, die sie ablöste. Man sieht deutlich, wie ein Volk mit fortschrittlicher Kultur, das ein kompliziertes Abwassersystem und ein gutes Straßennetz entwickelt hatte, von einer Rasse niedrigster Sorte überrollt wurde.«

Das, so glaubte ich, würden die zukünftigen Experten schreiben, und als ich mich abwandte, begrüßte ich den Sergeant-Major der Kompanie: »Haben Sie MrHooper irgendwo gesehen?«

»Den ganzen Morgen noch nicht, Sir.«

Wir gingen zu dem ausgeräumten Kompaniebüro, wo ich ein Fenster entdeckte, das nach Abschluss des Schadensberichts zerbrochen war. »Wind-in-der-Nacht, Sir«, sagte der Sergeant-Major.

(Alle Schäden wurden entweder so oder mit »Pionierübung, Sir« erklärt.)

Hooper erschien. Er war ein blasser Junge mit scheitellosem, aus der Stirn zurückgekämmtem Haar, einem flachen Midland-Akzent und erst seit zwei Monaten in der Kompanie.

Die Soldaten mochten Hooper nicht, weil er zu wenig Erfahrung hatte und sie manchmal mit ihrem Vornamen anredete, wenn sie zwanglos beisammenstanden, doch ich [22] brachte ihm ein Gefühl entgegen, das beinahe an Zuneigung grenzte und auf einen Vorfall in der Messe zurückging, der sich an seinem ersten Abend ereignet hatte.

Der neue Colonel war damals erst seit knapp einer Woche bei uns, und wir wussten noch nicht recht, woran wir bei ihm waren. Er hatte im Vorzimmer mehrere Runden Gin ausgegeben und war in ausgelassener Stimmung, als er zum ersten Mal Notiz von Hooper nahm.

»Dieser junge Offizier gehört zu Ihnen, nicht wahr, Ryder?«, sagte er zu mir. »Sein Haar muss geschnitten werden.«

»Ganz recht«, gab ich zurück. »Ich werde mich darum kümmern.«

Der Colonel trank noch einen Gin, starrte Hooper an und sagte so, dass jeder es hören konnte: »Mein Gott, was für Offiziere man uns heutzutage schickt!«

An diesem Abend schien sich der Colonel geradezu auf Hooper eingeschossen zu haben. Nach dem Essen erklärte er plötzlich mit lauter Stimme: »Wenn in meinem letzten Regiment ein junger Offizier so aufgekreuzt wäre, hätten ihm die anderen untergeordneten Offiziere aber verdammt schnell die Haare geschnitten.«

Niemand zeigte große Begeisterung für dieses Spiel, und unsere ausbleibende Reaktion schien den Colonel aufzubringen. »Sie«, sagte er, an einen ordentlichen Jungen aus der Ersten Kompanie gewandt, »besorgen Sie sich eine Schere, und schneiden Sie dem jungen Offizier die Haare!«

»Ist das ein Befehl, Sir?«

»Es ist der Wunsch Ihres Kommandeurs, und das ist der beste Befehl, den ich kenne.«

[23] »Jawohl, Sir.«

Und so saß Hooper in einer Atmosphäre frostiger Betretenheit auf einem Stuhl und ließ sich ein bisschen am Hinterkopf herumschnippeln. Zu Beginn der Operation hatte ich das Vorzimmer verlassen und mich später bei Hooper für diesen Empfang entschuldigt. »So etwas passiert normalerweise nicht in diesem Regiment.«

»Ach, nicht weiter schlimm«, gab er zurück. »War ja nur Spaß.«

Hooper machte sich keine Illusionen über das Militär – oder besser gesagt, keine besonderen Illusionen, keine, die sich von dem allgemeinen, alles umfassenden Nebel unterschieden, durch den er das Universum betrachtete. Er war nur widerwillig gekommen, unter Zwang, nachdem er alles unternommen hatte, was in seinen schwachen Kräften stand, um sich zurückstellen zu lassen. Er nahm seinen Militärdienst laut eigener Aussage hin »wie Masern«. Hooper war kein Romantiker. Er war nicht als Kind mit Ruprecht von der Pfalz ausgeritten oder hatte an den Gestaden des Xanthus am lodernden Feuer gesessen. In einem Alter, in dem mich nur die Dichtung rühren konnte – in jenem stoischen Ein-Indianer-kennt-keinen-Schmerz-Intermezzo, das unsere Schulen zwischen die rasch fließenden Tränen des Kindes und das Leben als Erwachsener setzen –, hatte Hooper oft geweint, allerdings weder über König Heinrichs Rede am Crispianusfest noch über die Grabinschrift bei den Thermopylen. Die Geschichte, so wie man sie ihm beigebracht hatte, enthielt nur wenige Schlachten, dafür eine Fülle von Details über eine humane Rechtsprechung und die industrielle Entwicklung der jüngsten Vergangenheit. Gallipoli, [24] Balaklawa, Quebec, Lepanto, Bannockburn, Roncesvalles und Marathon – wie auch die Schlacht im Westen, in der König Arthur fiel –, sie alle sowie Hunderte ähnlicher Namen, deren Fanfaren mich selbst in dieser dürren, gesetzlosen Zeit über die dazwischenliegenden Jahre hinweg mit der Klarheit und Kraft der Kindheit unwiderstehlich in ihren Bann schlugen, stießen bei Hooper auf taube Ohren.

Er beklagte sich selten. Obwohl man sich nicht einmal bei den kleinsten Aufgaben hundertprozentig auf ihn verlassen konnte, legte er übermäßigen Wert auf Effizienz. Gelegentlich zog er seine bescheidenen kaufmännischen Kenntnisse zurate und erklärte zu den Methoden des Militärs bezüglich Bezahlung, Proviant und Arbeitsstunden: »Im Geschäftsleben könnte man sich so etwas nicht leisten.«

Er schlief fest, während ich mich hin und her wälzte.

In den Wochen, die wir zusammen verbrachten, wurde Hooper für mich zum Inbegriff für das Junge England, so dass ich jedes Mal, wenn sich in der Öffentlichkeit jemand dazu äußerte, was die Jugend von der Zukunft erwartete und was die Welt der Jugend schuldete, diese Behauptungen überprüfte, indem ich Jugend durch »Hooper« ersetzte und schaute, ob sie immer noch einleuchtend klangen. So dachte ich in der dunklen Stunde vor dem Weckruf manchmal über »Hooper-Versammlungen«, »Hooper-Herbergen«, »Internationale Hooper-Zusammenarbeit« oder »Hoopers Religion« nach. Er war der Härtetest für all diese Legierungen.

Wenn er sich überhaupt verändert hatte, wirkte er heute noch weniger soldatisch als an dem Tag, an dem er aus seinem Ausbildungslager für Offiziersanwärter gekommen war. Beladen mit seiner Ausrüstung, hatte er an jenem Morgen [25] kaum noch Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen. Beim Strammstehen vollführte er so etwas wie einen schlurfenden Tanzschritt und legte die mit einem Wollhandschuh geschützte Hand auf die Stirn.

»Ich habe etwas mit MrHooper zu besprechen, Sergeant-Major… nun, wo zum Teufel haben Sie gesteckt? Ich habe doch gesagt, Sie sollen die Quartiere inspizieren.«

»Bin ich zu spät dran? ’tschuldigung. Ich musste noch meine Ausrüstung packen.«

»Dafür haben Sie doch einen Burschen.«

»Nun ja, das stimmt, wenn man es genau nimmt. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Er musste seine eigenen Sachen packen. Wenn man es sich mit diesen Leuten verdirbt, zahlen sie es einem irgendwann heim.«

»Na schön, dann inspizieren Sie jetzt die Quartiere.«

»Alles klar.«

»Und sagen Sie um Himmels willen nicht ›Alles klar‹!«

»’tschuldigung. Ich versuch ja, dran zu denken, aber es rutscht mir so raus.«

Als Hooper gegangen war, tauchte der Sergeant-Major wieder auf.

»Der Kommandeur ist im Anmarsch, Sir«, sagte er.

Ich ging hinaus, um ihn zu begrüßen.

An den Borsten seines kleinen roten Schnurrbarts hingen Tröpfchen von Feuchtigkeit.

»Ist hier oben alles fertig?«

»Ja, ich denke schon, Sir.«

»Sie denken? Sie sollten es wissen.«

Sein Blick fiel auf das zerbrochene Fenster. »Ist das als Schaden gemeldet?«

[26] »Noch nicht, Sir.«

»Noch nicht? Ich frage mich, ob Sie überhaupt daran gedacht hätten, wenn ich es nicht gesehen hätte.«

Er fühlte sich nicht wohl in meiner Gegenwart, und vieles von seinem Gepolter hatte mit Unsicherheit zu tun, aber das machte es in meinen Augen nicht besser.

Er führte mich hinter die Baracken zu einem Drahtzaun, der meinen Bereich von dem des Transportkorps trennte, sprang schnurstracks darüber und steuerte auf einen überwucherten Graben zu, der seinerzeit dem Bauern als Feldbegrenzung gedient hatte. Hier stocherte er wie ein Trüffelschwein mit seinem Gehstock herum und stieß plötzlich einen triumphierenden Schrei aus. Er hatte einen jener Müllhaufen entdeckt, die dem Ordnungsempfinden einfacher Soldaten entsprechen: Ein Besen ohne Stiel, ein Ofendeckel, ein durchgerosteter Eimer, eine Socke und ein Brotlaib lagen zwischen Zigarettenschachteln und leeren Blechdosen im Gestrüpp.

»Sehen Sie sich das an«, sagte der Kommandeur. »Das Regiment, das uns ablöst, wird ja einen schönen Eindruck von uns bekommen.«

»Schlimm«, sagte ich.

»Eine Schande! Sorgen Sie dafür, dass alles verbrannt wird, bevor Sie das Lager verlassen.«

»Jawohl, Sir. Sergeant-Major, schicken Sie jemanden zum Transportkorps, und lassen Sie Captain Brown ausrichten, der Kommandeur wünscht, dass der Graben gesäubert wird.«

Ich fragte mich, ob der Colonel diese Zurechtweisung schlucken würde; er sich wohl auch. Einen Augenblick [27] stocherte er noch unschlüssig in dem Abfall herum, mit dem der Graben übersät war, dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.

»Das sollten Sie nicht tun, Sir«, sagte der Sergeant-Major, der mir in allem beigestanden hatte, seit ich bei der Kompanie war. »Wirklich nicht.«

»Es war nicht unser Müll.«

»Vielleicht nicht, Sir, aber Sie wissen ja, wie das ist. Wenn man es sich mit den ranghohen Offizieren verdirbt, zahlen sie es einem irgendwann heim.«

Als wir an der Irrenanstalt vorbeikamen, standen zwei oder drei ältere Insassen hinter dem Zaun und stammelten irgendetwas vor sich hin oder bewegten nur höflich die Lippen.

»Alles Gute, Kumpels, bis zum nächsten Mal!«, »Wir sind bald wieder da!« oder »Lasst euch nicht unterkriegen«, riefen unsere Leute ihnen zu.

Ich marschierte mit Hooper an der Spitze des vordersten Zugs.

»Sagen Sie, wissen Sie, wo es hingeht?«

»Keine Ahnung.«

»Glauben Sie, dass es jetzt richtig losgeht?«

»Nein.«

»Wieder nur viel Lärm um nichts?«

»Ja.«

»Alle sagen, diesmal wären wir dran. Ich weiß wirklich nicht, was ich denken soll. Irgendwie ist das absurd, so viel Drill und Übung, und dann kommen wir nie zum Einsatz.«

»Da würde ich mir keine Sorgen machen. Wir werden noch genug davon abkriegen.«

[28] »Oh, ich reiße mich nicht gerade drum, wissen Sie. Ich möchte nur sagen können, dass ich dabei war.«

Ein Zug mit uralten Waggons wartete am Nebengleis auf uns, wo ein Eisenbahnbeamter Aufsicht führte. Ein Arbeitskommando war dabei, die restlichen Seesäcke aus den Lastwagen in die dafür bestimmten Gepäckwagen zu laden. Nach einer halben Stunde waren wir abfahrbereit, und nach einer Stunde ging es los.

Meine drei Zugführer und ich hatten ein Abteil für uns. Sie aßen belegte Brote und Schokolade, rauchten und dösten. Keiner von ihnen hatte ein Buch dabei. Während der ersten drei oder vier Stunden lasen sie die Stationsnamen oder beugten sich aus den Fenstern, wenn wir auf offenem Gelände hielten, was häufig der Fall war. Später verloren sie das Interesse. Um die Mittagszeit und dann noch einmal, als es schon dunkel war, füllte man unsere Becher mit lauwarmem Kakao aus einem Kessel. Der Zug rollte gemächlich durch eine flache, triste Durchgangslandschaft Richtung Süden.

Das wichtigste Ereignis des Tages war die »Befehlsausgabe« des Kommandeurs. Wir versammelten uns in seinem Abteil, auf Einladung eines Offiziersburschen, und trafen den Kommandeur und seinen Adjutanten mit Stahlhelm und in voller Montur an. Als Erstes sagte er: »Dies ist eine Befehlsausgabe. Ich erwarte entsprechende Kleiderordnung. Die Tatsache, dass wir uns in einem Zug befinden, spielt keine Rolle.« Ich glaubte schon, er würde uns wieder zurückschicken, doch nachdem er uns einen Moment finster gemustert hatte, sagte er: »Setzen Sie sich.«

»Das Lager befand sich in einem beschämenden Zustand, [29] als wir es verließen. Überall fand ich Indizien dafür, dass die Offiziere ihre Pflicht vernachlässigen. Ein geräumtes Lager ist der bestmögliche Ausweis für die Autorität seiner Regimentsoffiziere. Auf solchen Dingen beruht die Reputation eines Bataillons und seines Kommandanten. Und« – sagte er das wirklich oder erfinde ich nur gerade Worte für den Ärger in seiner Stimme und seinem Blick? Ich glaube, er sprach es nicht aus – »ich habe nicht die Absicht, mir meine professionelle Reputation von der Schlampigkeit einiger Aushilfsoffiziere ruinieren zu lassen.«

Wir saßen mit unseren Notizbüchern und Stiften da und warteten auf die Einzelheiten unserer anstehenden Aufgaben. Ein empfindsamerer Mensch hätte gemerkt, dass er uns nicht groß zu beeindrucken vermochte, und vielleicht war es ihm ja tatsächlich aufgefallen, denn plötzlich setzte er schmollend und schulmeisterlich hinzu: »Ich verlange nur Loyalität und Kooperation.«

Schließlich warf er einen Blick auf seine Notizen und las vor:

»Befehle.

Information. Das Bataillon ist auf der Fahrt von Standort A nach Standort B. Dies ist eine wichtige Verkehrsverbindung, auf der mit Bombardierungen und Giftgasangriffen von Seiten des Feindes gerechnet werden muss.

Ziel. Mein Ziel ist es, am Standort B anzukommen.

Methode. Der Zug wird gegen 23.15Uhr am Zielort eintreffen…«, und so weiter.

Das dicke Ende kam unter der Überschrift »Administratives«. Die Dritte Kompanie sollte bis auf einen Zug die Waggons nach unserer Ankunft auf dem Nebengleis entladen, [30] wo drei Dreitonner zur Verfügung standen, um die gesamte Bagage zu einem Bataillonsdepot in dem neuen Lager zu transportieren; die Arbeit würde so lange fortgesetzt, bis sie abgeschlossen war; der überzählige Zug hatte Wachen am Depot und im Umkreis des Lagerbereichs aufzustellen.

»Irgendwelche Fragen?«

»Können wir heißen Kakao an das Arbeitskommando ausgeben?«

»Nein. Noch weitere Fragen?«

Als ich dem Sergeant-Major von diesen Befehlen erzählte, sagte er: »Schon wieder hat es die arme Dritte Kompanie getroffen!«, und mir war klar, das war ein Vorwurf, weil ich den Kommandeur geärgert hatte.

Ich informierte die Zugführer.

»Das macht es noch schwieriger für die Jungs, würde ich sagen«, meinte Hooper. »Sie werden ziemlich sauer sein. Offenbar pickt er sich für die Drecksarbeit immer gerade uns heraus.«

»Sie machen den Wachdienst.«

»Okay. Aber verraten Sie mir eins: Wie soll ich im Dunkeln rauskriegen, wo der Lagerbereich ist?«

Kurz nach der Verdunkelung wurden wir von einem Ordonnanzoffizier aufgeschreckt, der mit einer Klapper düster durch den ganzen Zug schwankte. Einer der weltgewandteren Sergeants rief: »Deuxième service.«

»Wir werden mit flüssigem Senfgas besprüht«, erklärte ich. »Sorgen Sie dafür, dass die Fenster geschlossen bleiben.« Dann schrieb ich einen sauberen kleinen Lagebericht, um zu erklären, dass wir keine Verwundeten zu beklagen hatten, nichts kontaminiert war und die Männer Anweisung hätten, [31] die Außenbereiche der Abteile zu dekontaminieren, bevor sie ausstiegen. Dies schien den Kommandeur zufriedenzustellen, denn wir hörten nichts weiter von ihm. Danach legten wir uns alle schlafen. Es war schon sehr spät, als wir endlich an unserem Nebengleis ankamen. Von unserer Sicherheitsausbildung unter aktiven Kriegsbedingungen wussten wir, dass wir uns von Bahnhöfen und Bahnsteigen fernzuhalten hatten. Der Sprung vom Trittbrett auf die Kiesböschung neben den Gleisen sorgte für Unordnung und Bruchschäden im Dunkeln.

»Antreten auf der Straße unterhalb des Bahndamms. Die Dritte Kompanie lässt sich wie üblich mal wieder viel Zeit, Captain Ryder.«

»Jawohl, Sir. Wir haben ein paar Schwierigkeiten mit dem Kalk.«

»Kalk?«

»Zum Dekontaminieren der Abteile von außen, Sir.«

»Oh, sehr gewissenhaft. Blasen Sie das ab, und beeilen Sie sich.«

Mittlerweile brachten sich meine halbwachen, mürrischen Männer auf der Straße einigermaßen in Stellung. Wenig später war Hoopers Zug in die Dunkelheit abmarschiert; ich fand die Lastwagen, ließ die Männer mehrere Ketten bilden, um das Gepäck von Hand zu Hand den Bahndamm hinunterzureichen, und als sie plötzlich merkten, dass sie etwas Sinnvolles taten, besserte sich ihre Stimmung. Ich blieb die erste halbe Stunde bei ihnen, um mitzuhelfen, dann ging ich dem stellvertretenden Kommandeur entgegen, der gerade mit dem ersten Lastwagen zurückgekommen war.

»Es ist kein schlechtes Lager«, berichtete er. »Ein großer [32] Privatbesitz mit zwei oder drei Seen. Wenn wir Glück haben, erwischen wir ein paar Enten. In der Nähe gibt es ein Dorf mit einer Kneipe und einer Post. Keine Stadt meilenweit. Ich habe es geschafft, eine Baracke für uns beide freizuhalten.«

Gegen vier Uhr früh war die Arbeit getan. Ich fuhr mit dem letzten Lastwagen die gewundenen Straßen entlang, wo die tiefhängenden Zweige der Bäume gegen die Windschutzscheibe peitschten. Irgendwann verließen wir eine Chaussee und bogen in eine Zufahrt ein; irgendwann erreichten wir einen offenen Platz, wo zwei Zufahrten ineinander mündeten und ein Kreis von Sturmlampen den Gepäckstapel kennzeichnete. Hier entluden wir den Lastwagen und wurden dann unter einem sternenlosen Himmel, aus dem mittlerweile ein feiner Nieselregen fiel, zu den Quartieren geführt.

Ich schlief so lange, bis mein Ordonnanzoffizier mich weckte, stand müde auf, zog mich an und rasierte mich schweigend. Erst als ich an der Tür stand, fragte ich den stellvertretenden Kommandeur: »Wo sind wir hier eigentlich?«

Als er es mir sagte, war es, als hätte jemand das Radio ausgeschaltet, und eine seit unzähligen Tagen unablässig sinnlos in meinem Kopf brüllende Stimme wäre plötzlich verstummt. Eine gewaltige Stille folgte, die anfänglich leer war, sich dann aber, als meine aufgewühlten Sinne sich wieder beruhigten, mit einer Vielfalt süßer, natürlicher und längst vergessener Klänge füllte, denn er hatte einen Namen ausgesprochen, der mir vertraut war, einen Zaubernamen von so uralter Kraft, dass sich allein bei seinem Klang die Phantome der letzten gespenstischen Jahre verflüchtigten.

Vor der Baracke blieb ich verwirrt stehen. Es hatte [33] aufgehört zu regnen, doch die Wolken hingen tief und schwer über uns. Es war ein windstiller Morgen, der Rauch aus der Feldküche stieg geradewegs in den bleiernen Himmel. Ein Feldweg, einst mit Schotter bedeckt, dann von Unkraut überwuchert, jetzt schlammig und durchzogen von Fahrzeugspuren und aufgewühlten Pfützen, folgte dem Hang und verschwand unterhalb einer Anhöhe aus dem Blickfeld. Er war auf beiden Seiten von Baracken gesäumt, aus denen sich das Klappern und Schwatzen, Pfeifen und Johlen, kurz, all die Zoogeräusche eines Bataillons erhoben, das einen neuen Tag beginnt. Ringsum breitete sich, noch vertrauter, eine wunderbare, von Menschenhand geschaffene Landschaft aus. Es war ein abgelegenes Anwesen, eingeschlossen und geschützt von einem gewundenen Tal. Unser Lager lag an einem sanft ansteigenden Hang; auf der anderen Seite führte das noch unberührte Land zum angrenzenden Horizont, und dazwischen sprudelte ein kleiner Bach. Er hieß Bride und entsprang keine zwei Meilen entfernt bei einem Bauernhof namens Bridesprings, wo wir manchmal zum Tee hingegangen waren. Weiter unten schwoll er zu einem richtigen Fluss an, der dann in den Avon mündete. Hier aber war er eingedämmt worden, um drei Seen zu bilden, einer davon nicht mehr als eine blaugraue Lache zwischen dem Röhricht, die anderen beiden jedoch größer, so dass sie die Wolken und die mächtigen Buchen an den Ufern widerspiegelten. Der Wald bestand nur aus Buchen und Eichen, die Eichen grau und kahl, die Buchen mit einem ersten grünen Anflug von Knospen. Sie bildeten schlichte, sorgfältig auf die grünen Lichtungen und weiten grünen Wiesen abgestimmte Muster – ob das Damwild hier noch äste? –, und damit der [34] Blick nicht ziellos umherschweifte, stand ein dorischer Tempel am Ufer des Sees, und ein von Efeu überwucherter Bogen spannte sich über die niedrigen, miteinander verbundenen Wehre. All das war vor mehr als anderthalb Jahrhunderten geplant und ausgeführt worden; mittlerweile hatte es wohl seine Vollendung erreicht. Da, wo ich stand, verwehrte mir ein moosiger Felsvorsprung den Blick auf das Haus, aber ich wusste genau, wie und wo es lag, zwischen den Linden verborgen wie eine Hirschkuh im Farn.

Hooper schloss zu mir auf und salutierte auf seine oft nachgeahmte und doch unnachahmliche Weise. Sein Gesicht war grau von der Nachtwache, und rasiert hatte er sich auch noch nicht.

»Die Zweite Kompanie hat uns abgelöst. Ich habe die Männer in die Baracken geschickt, damit sie sich waschen.«

»Gut.«

»Das Gebäude liegt da drüben, gleich um die Ecke.«

»Ja«, antwortete ich.

»Die Brigade wird nächste Woche hierher verlegt. Großartiges Quartier, dieses Haus. Ich hab mich ein bisschen umgesehen. Ziemlich überladen, würde ich sagen. Und das Verrückteste, eine Art römisch-katholische Kapelle gehört auch dazu. Ich habe einen Blick hineingeworfen, es fand gerade ein Gottesdienst statt – nur der Priester und ein alter Mann. Mir war ganz komisch. Wohl mehr Ihr Ding als meins.« Vielleicht machte ich den Anschein, nicht zuzuhören. In einem letzten Versuch, mein Interesse zu erwecken, sagte er: »Außerdem gibt es noch einen fürchterlich großen Springbrunnen vor der Freitreppe, ganz aus Stein und voller in Stein gehauener Tiere. So was haben Sie noch nie gesehen.«

[35] »Doch, Hooper, habe ich. Ich war schon einmal hier.«

Die Worte schienen jetzt voller aus den Gewölben meines Kerkers widerzuhallen.

»Ach wirklich? Na, dann kennen Sie das ja alles. Ich gehe mal los, um mich zu waschen.«

Ich war schon einmal hier gewesen, ich kannte das alles.

[37] I

ET IN ARCADIA EGO

[39] 1

»Ich war schon einmal hier«, sagte ich. Ja, ich war schon hier gewesen, zum ersten Mal mit Sebastian, vor mehr als zwanzig Jahren an einem wolkenlosen Tag im Juni, als die Straßengräben voller sahnig weißem Mädesüß standen und die Luft schwer war von den Düften des Sommers; ein außergewöhnlich schöner Tag, und obwohl ich so oft und in so unterschiedlichen Stimmungen hier gewesen war, kehrte mein Herz bei diesem meinem letzten Besuch zu jenem ersten zurück.

Auch damals war ich hergekommen, ohne das Ziel vorher zu kennen. Es war Regattawoche. Oxford, heute versunken und ausgelöscht, unwiederbringlich verloren wie das mythische Lyonesse in den reißenden Fluten, Oxford war zu der Zeit noch eine Aquatinta-Stadt. In ihren weitläufigen, ruhigen Straßen gingen und sprachen die Menschen wie zu Newmans Zeiten; ihr herbstlicher Dunst, der graue Frühling und die seltene Pracht ihrer Sommertage, wenn – wie an jenem Tag – die Kastanien in Blüte standen und die Glocken hoch und klar über den Giebeln und Kuppeln erklangen, atmeten den leisen Hauch der Jugend von Jahrhunderten. Diese klösterliche Stille gab unserem Lachen seinen Klang und trug es friedlich und heiter selbst über den gelegentlichen Lärm hinweg. Gestört wurde die Ruhe nur, wenn [40] in der Regattawoche Hunderte von Frauenzimmern hierherströmten, die aufgeregt zwitschernd und vergnügungssüchtig über Pflastersteine und Treppen flatterten, Sehenswürdigkeiten inspizierten, Claret Cup tranken und Gurken-Sandwiches verzehrten. Man stakte sie in Kähnen über den Fluss, trieb sie in Scharen auf die College-Boote und begrüßte sie im IsisMagazine oder in der Oxford Union Society mit einem Feuerwerk kurioser, überaus peinlicher Operetten-Scherze im Gilbert-and-Sullivan-Stil und kuriosen Choreffekten in den College-Kapellen. Das Echo der Eindringlinge drang bis in den letzten Winkel vor, in meinem College jedoch war es kein Echo, sondern eine Quelle überaus unangenehmer Belästigung. Wir gaben einen Ball. Auf dem Hof vor meiner Wohnung wurde unter Zeltplanen ein Bretterboden gezimmert; um die Portiersloge herum stellte man Palmen und Azaleen auf. Am schlimmsten aber war, dass der Dozent, der über mir logierte, ein unscheinbarer Naturwissenschaftler, den Damen seine Wohnung als Garderobe zur Verfügung gestellt hatte. Ein handgeschriebener Anschlag, der auf diesen Frevel aufmerksam machte, hing keine Handbreit von meiner Eingangstür entfernt.

Niemand empörte sich darüber mehr als mein Hausdiener.

»Gentlemen ohne Damenbegleitung werden gebeten, ihre Mahlzeiten in den nächsten Tagen möglichst auswärts einzunehmen«, verkündete er missmutig. »Sind Sie zum Lunch hier?«

»Nein, Lunt.«

»Im Interesse des Personals, heißt es. Na, besten Dank! Jetzt soll ich für die Damengarderobe ein Nadelkissen[41] besorgen. Und die Tanzerei? Ich versteh das einfach nicht. In der Regattawoche ist noch nie getanzt worden. Commemoration ist was anderes, da sind Ferien, aber doch nicht in der Regattawoche, als wären Teegesellschaften und der Fluss nicht genug. Wenn Sie mich fragen, Sir, da ist nur der Krieg dran schuld. Sonst wär es gar nicht so weit gekommen.« Denn wir schrieben das Jahr 1923, und für Lunt wie für Tausende andere würde die Welt nie wieder so sein wie im Jahr 1914. »Ein Glas Wein am Abend«, fuhr er fort, halb noch in der Tür und halb schon draußen, wie es seine Gewohnheit war, »ein oder zwei Gentlemen zum Lunch, von mir aus, das kann man verstehn. Aber diese Tanzerei? Das haben wir nur denen zu verdanken, die vom Krieg zurückgekommen sind. Sie waren zu alt und kannten sich nicht aus, aber dazulernen wollten sie auch nicht. Stimmt doch! Und es gibt sogar welche, die gehn wie die Leute aus der Stadt zum Tanzen in die Masonic Hall – aber die Proktoren werden sich die schon vorknöpfen, warten Sie nur… Ah, da kommt Lord Sebastian. Und ich steh hier herum und schwatze, wo ich doch ein Nadelkissen kaufen soll.«

Sebastian kam herein – taubengrauer Flanell, weißes Crêpe de Chine, eine Charvet-Krawatte, meine übrigens, mit Briefmarkenmuster. »Charles – was zum Teufel ist in deinem College los? Ist ein Zirkus da? Bis auf Elefanten habe ich so ziemlich alles gesehen. Oxford ist auf einmal äußerst kurios. Gestern Abend wimmelte es nur so von Frauen. Du musst hier weg, sofort. Ich habe ein Automobil, ein Körbchen Erdbeeren und eine Flasche Château Peyraguey. Das ist ein Wein, den du noch nie probiert hast, also tu gar nicht erst so als ob. Er schmeckt himmlisch mit Erdbeeren.«

[42] »Wo fahren wir hin?«

»Jemanden besuchen.«

»Wen?«

»Hawkins. Nimm ein bisschen Geld mit, falls wir unterwegs etwas sehen, das wir kaufen wollen. Das Automobil gehört einem Mann namens Hardcastle. Bring ihm die Einzelteile zurück, falls ich mir den Hals breche; mit meinen Fahrkünsten ist es nicht weit her.«

Hinter dem Tor, hinter dem Wintergarten, der einst als Portiersloge diente, stand ein offener Zweisitzer, ein Morris Cowley. Sebastians Teddybär saß am Steuer. Wir setzten ihn zwischen uns – »Gib acht, dass ihm nicht übel wird« – und fuhren los. Die Glocken von St.Mary schlugen neun Uhr. Um Haaresbreite entgingen wir einem Zusammenstoß mit einem Geistlichen, schwarzer Strohhut, weißer Bart, der seelenruhig auf der falschen Seite die High Street entlangradelte, überquerten Carfax, kamen am Bahnhof vorbei und waren bald auf dem offenen Land auf der Straße nach Botley. Offenes Land erreichte man damals schnell.

»Es ist doch noch früh, oder?«, meinte Sebastian. »Die Frauen sind damit beschäftigt, sich zurechtzumachen – was immer das heißt –, bevor sie nach unten kommen. Der Müßiggang verdirbt sie. Und wir sind entwischt. Gott segne Hardcastle.«

»Wer immer das ist.«

»Er wollte uns eigentlich begleiten. Aber der Müßiggang hat auch ihn verdorben. Nun ja, ich hatte ihm zehn gesagt. Er ist ein ziemlich obskurer Bursche aus meinem College. Führt ein Doppelleben. Zumindest vermute ich das. Er kann doch unmöglich die ganze Zeit, Tag und Nacht, Hardcastle [43] sein, oder? Das müsste ihn umbringen. Er behauptet, meinen Vater zu kennen, aber das ist unmöglich.«

»Warum?«

»Niemand kennt Papa. Er ist ein Ausgestoßener. Wusstest du das nicht?«

»Wie schade, dass keiner von uns singen kann«, antwortete ich.

Bei Swindon bogen wir von der Hauptstraße ab und fuhren, während die Sonne höher und höher stieg, zwischen Trockenmauern und Steinhäusern dahin. Es war gegen elf, als Sebastian ohne Vorwarnung in einen Feldweg einbog und anhielt. Inzwischen war es so heiß, dass wir Schatten suchten. Auf einer von Schafen abgeweideten Anhöhe aßen wir unter einer Gruppe von Ulmen die Erdbeeren und tranken den Wein – eine köstliche Kombination, wie es Sebastian versprochen hatte. Dann zündeten wir uns dicke türkische Zigaretten an und legten uns auf den Rücken. Sebastians Blick ruhte in den Zweigen über uns, meiner auf seinem Profil, während der blaugraue Rauch von keinem Windhauch gestört zu den blaugrünen Schatten des Blattwerks hinaufstieg, das süße Aroma des Tabaks sich mit den süßen Sommerdüften ringsum vermischte und der Geist des süßen goldenen Weins uns einen Fingerbreit vom Boden emporzuheben und in der Schwebe zu halten schien.

»Genau die richtige Stelle, um einen Topf voller Gold zu verstecken«, sagte Sebastian. »Ich würde gern überall, wo ich glücklich war, etwas Kostbares vergraben. Dann kann ich später, wenn ich hässlich, alt und trübsinnig bin, zurückkommen, es ausgraben und mich daran erinnern.«

[44] Es war das dritte Trimester nach meiner Immatrikulation, doch ich datiere mein Leben in Oxford erst ab meiner ersten zufälligen Begegnung mit Sebastian, Mitte des vorangegangenen Trimesters. Wir waren auf unterschiedlichen Colleges und kamen von unterschiedlichen Schulen; ich hätte durchaus meine drei oder vier Jahre an der Universität verbringen können, ohne ihm je über den Weg zu laufen, hätte er sich nicht zufällig eines Abends in meinem College betrunken, und hätte ich nicht die Parterrezimmer des vorderen Hofes bewohnt.

Mein Vetter Jasper hatte mich vor den Gefahren dieser Räumlichkeiten gewarnt. Er war der Einzige, der in mir den idealen Adressaten für ausführliche Belehrungen sah, als ich anfing, in Oxford zu studieren. Von meinem Vater war nichts dergleichen zu erwarten. Damals wie heute ging er jeder ernsthaften Unterhaltung mit mir aus dem Weg. Erst zwei Wochen bevor es losging, war er zum ersten Mal überhaupt auf das Studium zu sprechen gekommen, steif und ein wenig spöttelnd: »Ich habe heute von dir geredet, als ich im Athenäum deinem zukünftigen Hausvater begegnete. Ich wollte mich über die Vorstellungen der Etrusker von Unsterblichkeit unterhalten, er hingegen über zusätzliche Vorlesungen für die Arbeiterklasse, daher machten wir einen Kompromiss und sprachen über dich. Ich fragte, wie viel Geld ich dir geben sollte. Er meinte, dreihundert im Jahr, geben Sie ihm auf keinen Fall mehr, so viel etwa haben die meisten Studenten. Ich fand seine Antwort erbärmlich. Ich bekam damals mehr als die meisten anderen Studenten, und soweit ich mich erinnere, wirken sich ein paar hundert Pfund mehr oder weniger nirgendwo sonst auf der Welt und in keiner [45] anderen Phase des Lebens derart auf Ansehen und Beliebtheit aus. Ich dachte an sechshundert«, erklärte mein Vater und schniefte ein wenig, wie immer, wenn er belustigt war, »aber dann wurde mir klar, dass der Hausvater es für einen mutwilligen Affront halten könnte, wenn ihm das zu Ohren käme. Ich gebe dir also fünfhundertfünfzig.«

Ich bedankte mich.

»Ja, das ist sehr großzügig, aber es geht alles von deinem Kapital ab, wie du weißt… Ich nehme an, dass ich dir auch noch einige Ratschläge mitgeben sollte. Ich selbst habe nie welche bekommen, abgesehen von einem einzigen Mal, von deinem Onkel Alfred. Wusstest du, dass dein Onkel Alfred im Sommer vor meiner Immatrikulation nach Boughton geritten kam, nur um mir einen Ratschlag zu erteilen? Ned, sagte er, um eins muss ich dich bitten. Geh während des Trimesters am Sonntag niemals ohne Zylinder aus dem Haus. Danach – und fast nur danach – wird man beurteilt. Und wusstest du«, fuhr mein Vater fort und schniefte noch mehr, »dass ich mich immer daran gehalten habe? Manche Studenten trugen einen, andere nicht. Ich habe nie einen Unterschied bemerkt oder davon reden hören, aber ich habe meinen Zylinder immer getragen. Das zeigt nur, welche Wirkung kluge Ratschläge haben können, wenn sie angemessen sind und im richtigen Moment ausgesprochen werden. Ich wünschte, ich hätte einen für dich, aber mir fällt keiner ein.«

Mein Vetter Jasper machte diesen Mangel wett. Er war der Sohn des älteren Bruders meines Vaters, den er mehr als einmal und nur halb im Scherz als »Familienoberhaupt« bezeichnete. Jasper war bereits im vierten Jahr und hätte es [46] im Trimester davor beinahe ins Regattateam der Ruderer geschafft; er war Sekretär des Canning-Clubs und Präsident des Junior Common Room; er hatteam College etwas zu sagen. In der ersten Woche stattete er mir einen offiziellen Besuch ab und blieb zum Tee. Nachdem er reichlich süßes Gebäck, Sardellentoast und Fuller’s Walnusskuchen gegessen hatte, zündete er seine Pfeife an, lehnte sich im Korbstuhl zurück und erläuterte mir die Verhaltensregeln, die ich zu befolgen hatte. Er ließ so ziemlich nichts aus, und noch heute kann ich vieles von dem, was er sagte, Wort für Wort wiederholen. »…Du studierst Geschichte? Ein sehr respektables Fach. Das Schlimmste überhaupt ist Englische Literatur und das Zweitschlimmste sind Sozialwissenschaften. Versuch, entweder mit Bestnote abzuschließen oder gerade noch durchzurutschen. Alles andere ist der Mühe nicht wert. Für eine gute Durchschnittsnote zu büffeln ist vertane Zeit. Du solltest die besten Vorlesungen besuchen, Arkwright über Demosthenes zum Beispiel, egal, ob sie an deiner Fakultät gehalten werden oder nicht… Garderobe. Zieh dich an wie in einem Landhaus. Trage niemals Tweedjacken zu Flanellhosen – immer einen Anzug. Und such dir einen Schneider in London, da bekommst du einen besseren Schnitt und länger Kredit… Clubs. Tritt jetzt in den Carlton Club ein und zu Beginn des zweiten Jahres in den Grid. Solltest du eine Mitgliedschaft in der Oxford Union Society anstreben, was keine schlechte Idee ist, mach dir zuerst außerhalb davon einen Namen, im Canning Club oder im Chatham, und äußere dich zu aktuellen Themen… Mach einen Bogen um Boar’s Hill…« Der Himmel über dem Dachgiebel gegenüber glühte auf und verdunkelte sich [47] dann; ich legte Holz im Kamin nach und schaltete die Lampe an, so dass seine in London gefertigten Knickerbocker und sein Leander-Club-Schlips in ihrer ganzen Respektabilität zur Geltung kamen… »Behandele Dozenten nicht wie Lehrer, sondern so wie den Pfarrer zu Hause… Kann sein, dass du die Hälfte des zweiten Jahres damit verbringst, unerwünschte Freunde aus dem ersten Jahr wieder loszuwerden… Hüte dich vor den Anglokatholiken – das sind durchweg Homosexuelle mit unangenehmen Akzenten. Besser noch, geh allen religiösen Gruppierungen aus dem Weg, sie richten nur Schaden an…«

Am Schluss, kurz bevor er ging, sagte er: »Und noch etwas: Such dir ein anderes Quartier.« Meine Räume waren groß, mit tief eingelassenen Fenstern und bemalten Holzvertäfelungen aus dem achtzehnten Jahrhundert. Als Studienanfänger konnte ich von Glück reden, sie ergattert zu haben. »Ich habe schon manch einen jungen Mann gesehen, dem es zum Verhängnis wurde, dass er die Parterrezimmer zum Hof bewohnte«, sagte mein Vetter im vollen Ernst. »Die Leute gewöhnen sich an, einfach vorbeizuschauen. Sie lassen ihre Talare bei dir liegen und holen sie auf dem Weg zur Mensa wieder ab. Du fängst an, sie mit Sherry zu bewirten. Und ehe du dich versiehst, hast du eine Gratisbar für sämtliche zweifelhaften Existenzen am College eröffnet.«

Ich kann mich nicht erinnern, je bewusst einem seiner Ratschläge gefolgt zu sein. Meine Wohnung habe ich jedenfalls nicht aufgegeben; unter den Fenstern wuchsen Levkojen, deren süßer Duft an Sommerabenden hereinströmte.

Im Nachhinein ist es leicht, seine Jugend mit falscher [48] Frühreife oder falscher Unschuld zu verklären oder bei den Markierungen am Türrahmen zu schummeln, mit denen man seine Größe festgehalten hat. Ich würde mir gern einbilden, und manchmal tue ich es auch, dass ich diese Räume mit Morris-Tapeten und Kunstdrucken der Arundel Society ausgestattet hätte oder dass meine Bücherregale mit Folianten aus dem siebzehnten Jahrhundert und französischen, in Juchten und Moiré eingebundenen Romanen aus der Zeit Napoleons gefüllt gewesen wären. Doch so war es nicht. An meinem ersten Nachmittag hängte ich stolz eine Reproduktion von van Goghs Sonnenblumen über den Kamin und stellte einen Paravent auf, den Roger Fry mit einer provenzalischen Landschaft bemalt hatte. Ich hatte ihn günstig erstanden, als die Omega Workshops liquidiert wurden. Außerdem prangte ein Plakat von McKnight Kauffer an der Wand, Blätter mit Reimen aus dem Poetry Bookshop, und es stand – was mir im Rückblick überaus peinlich ist – eine grässliche Porzellanfigur von Polly Peachum zwischen schwarzen Wachskerzen auf dem Kaminsims. Meine wenigen Bücher waren nichts Besonderes – Roger Frys Vision and Design, die Medici-Press-Ausgabe von A Shropshire Lad, Lytton Stracheys Eminent Victorians, ein paar Bände Georgian Poetry, die Romane Sinister Street und South Wind. Meine ersten Freunde passten perfekt in diesen Rahmen: Collins, Winchester-Absolvent, schon jetzt eine Miniaturausgabe des Dozenten, der er einmal sein würde, ein ungemein belesener Mann mit kindlichem Humor, sowie ein kleiner Kreis von College-Intellektuellen, die in ihrer Geisteshaltung zwischen den extravaganten »Ästheten« und jenen proletarischen Stipendiaten standen, die in billigen [49] Pensionen auf der Iffley Road und am Wellington Square wohnten und fieberhaft Fakten und Daten paukten. Dieser Zirkel hatte mich im ersten Trimester in seine Reihen aufgenommen; das war der Umgang, den ich aus dem letzten Schuljahr kannte, auf den mich das letzte Schuljahr vorbereitet hatte, doch selbst in den allerersten Tagen, als das Leben in Oxford mit eigenen Zimmern und einem eigenen Scheckbuch noch für jede Menge Aufregung sorgte, spürte ich tief in meinem Innern, dass dies nicht alles war, was Oxford zu bieten hatte.

Als Sebastian in meinem Leben auftauchte, schienen diese grauen Gestalten in der Landschaft aufzugehen und darin zu verschwinden, wie Hochlandschafe im nebligen Heideland. Collins hatte mir bereits den Trugschluss der modernen Ästhetik dargelegt: »…die ganze These der Signifikanten Form beruht auf dem Volumen. Wenn man Cézanne erlaubt, auf einer zweidimensionalen Leinwand eine dritte Dimension darzustellen, dann muss man Landseer auch den Funken der Treue im Auge seines Spaniels zubilligen«… aber erst, als Sebastian müßig in einer Ausgabe von Clive Bells Kunst blätterte und las: »Wen vermag schon ein Schmetterling oder eine Blume ebenso zu entzücken wie eine Kathedrale oder ein Bild?«, und dann hinzusetzte: »Mich«, wurden mir die Augen geöffnet.

Ich kannte Sebastian vom Sehen, schon lange, bevor ich ihm zum ersten Mal richtig begegnete. Das war nicht weiter verwunderlich, denn von Beginn an war er der auffälligste Mann seines Jahrgangs, einmal weil er so atemberaubend gut aussah, zum anderen weil er sich so exzentrisch benahm, als gäbe es für ihn keine Grenzen. Zum ersten Mal fiel er [50] mir auf, als wir in der Tür von Germer’s aneinander vorbeigingen, und bei dieser Gelegenheit beeindruckte mich weniger sein Äußeres als die Tatsache, dass er einen großen Teddybär bei sich hatte.

»Das«, so erklärte der Barbier, nachdem ich auf seinem Stuhl Platz genommen hatte, »war Lord Sebastian Flyte. Ein höchst amüsanter junger Mann.«

»Scheint so«, gab ich kühl zurück.

»Der zweite Sohn des Marquis von Marchmain. Sein Bruder, der Earl of Brideshead, hat letztes Trimester seinen Abschluss gemacht. Aber der war vollkommen anders, ein sehr ruhiger Herr, fast wie ein alter Mann. Was glauben Sie wohl, was Lord Sebastian hier wollte? Eine Haarbürste für seinen Teddybär, mit besonders harten Borsten, nicht etwa, um ihm das Fell zu bürsten, sagte Lord Sebastian, sondern um ihm Prügel anzudrohen, wenn er bockig ist. Er hat eine sehr schöne gekauft, mit einem Griff aus Elfenbein, in den er ›Aloysius‹ eingravieren lassen will – so heißt der Bär.« Dieser Mann hätte im Lauf seines Lebens reichlich Gelegenheit gehabt, der Spinnereien junger Studenten überdrüssig zu werden, doch er war sichtlich fasziniert. Ich hingegen behielt meine kritische Haltung, und spätere flüchtige Begegnungen mit Sebastian, etwa wenn er in einem Einspänner an mir vorbeifuhr oder mit falschem Schnurrbart im George Inn zu Mittag aß, konnten mich nicht umstimmen, obgleich Collins, der sich mit Freud auskannte, eine Reihe von Fachbegriffen hatte, die alles erklärten.

Auch als wir uns dann wirklich kennenlernten, waren die Umstände alles andere als erfreulich. Es war kurz vor Mitternacht Anfang März; ich hatte ein paar [51] College-Intellektuelle auf ein Glas Glühwein eingeladen; das Feuer im Kamin prasselte noch, die Luft in meinem Zimmer war schwer von Rauch und Gewürzen und mein Geist müde von metaphysischen Überlegungen. Ich riss die Fenster auf, und aus dem Hof draußen drang der keineswegs ungewohnte Lärm trunkenen Gelächters und unsicherer Schritte. Eine Stimme sagte: »Warte«, eine andere: »Komm schon«, eine dritte: »Noch viel Zeit… House… bis Tom zu läuten aufhört«, und wieder eine andere, deutlicher als die anderen: »Also, ich weiß nicht, aber mir ist ganz unerklärlich übel. Ich muss euch kurz verlassen«, und dann erschien an meinem Fenster das Gesicht, von dem ich wusste, dass es Sebastian gehörte, allerdings nicht, wie ich es kannte, lebendig und strahlend fröhlich. Er sah mich einen Augenblick an, ohne mich wirklich zu sehen, beugte sich dann weit in mein Zimmer hinein und übergab sich.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Dinnerpartys auf diese Weise endeten; es gab für solche Gelegenheiten sogar einen offiziellen Tarif für den Aufwärter, der hinterher saubermachen musste. Wir alle lernten durch praktisches Ausprobieren den Umgang mit Alkohol. Außerdem offenbarte Sebastians Entscheidung für ein offenes Fenster trotz seiner äußersten Not auch eine verrückte und liebenswerte Ordnungsliebe. Trotzdem änderte dies nichts daran, dass es eine unerquickliche Begegnung war.

Seine Freunde schleppten ihn zum Tor, und wenige Minuten später kehrte sein Gastgeber, ein liebenswürdiger Eton-Absolvent meines Jahrgangs, zurück, um sich zu entschuldigen. Auch er war ein bisschen beschwipst; seine Erklärungen wiederholten sich, und am Ende kamen ihm fast [52] die Tränen. »Wir haben zu viel durcheinandergetrunken«, sagte er. »Es war keine Frage von Qualität oder Quantität. Es war die Mischung. Wenn man das begreift, weiß man, wo der Hund begraben liegt. Und alles zu verstehen heißt alles zu vergeben.«

»Ja«, sagte ich, doch mit einer gewissen Gereiztheit dachte ich an Lunts Vorwürfe, die mich am nächsten Morgen erwarteten.

»Zwei Krüge Glühwein für fünf Studenten«, schimpfte Lunt. »Das konnte ja nicht gutgehn. Nicht mal bis zum Fenster hat er’s geschafft. Leute, die Alkohol nicht vertragen, sollten besser die Finger davonlassen.«

»Es war keiner von meinen Gästen. Es war jemand von außerhalb des Colleges.«

»Egal, wer’s war, es ist einfach widerlich, das wegzumachen.«

»Auf der Kommode liegen fünf Schilling.«

»Hab ich gesehn, vielen Dank auch, aber lieber würd ich auf das Geld genauso wie auf die Schweinerei verzichten und den Tag nie mehr so anfangen müssen.«

Ich nahm meinen Talar und überließ Lunt seiner Aufgabe. Damals besuchte ich noch Vorlesungen, und es war nach elf, als ich zum College zurückkehrte. Zu meiner Überraschung war meine Wohnung voller Blumen. Es sah nicht nur so aus wie der gesamte Tagesvorrat eines Blumenstandes, sondern war es auch. Sie standen in allen nur denkbaren Gefäßen überall im Zimmer. Lunt wickelte gerade die überzähligen in ein Stück braunes Packpapier, um sie mit nach Hause zu nehmen.

[53] »Was ist denn hier los, Lunt?«

»Der Gentleman von letzter Nacht, Sir, er hat Ihnen eine Nachricht dagelassen.«

Die Nachricht war mit einem Conté-Stift auf einen frischen Bogen meines feinen Whatman-H.-P.-Zeichenpapiers geschrieben: Ich bin zerknirscht. Aloysius spricht erst wieder mit mir, wenn Sie mir verziehen haben, daher kommen Sie bitte heute zum Essen zu mir. Sebastian Flyte. Typisch, er geht davon aus, dass ich weiß, wo er wohnt, dachte ich, aber ich wusste es tatsächlich.

»Ein höchst amüsanter Gentleman; es muss eine Freude sein, für ihn sauberzumachen. Ich nehme an, Sie essen auswärts, Sir. Das hab ich auch MrCollins und MrPartridge gesagt – sie wollten nämlich mit ihren belegten Broten zu Ihnen kommen.«

»Ja, Lunt, ich esse auswärts.«

Diese kleine Lunchparty – denn als Party stellte es sich heraus – markierte den Anfang eines neuen Abschnitts in meinem Leben.

Etwas unsicher machte ich mich auf den Weg, denn ich begab mich auf fremdes Terrain, und eine winzige, tugendhafte Stimme in meinem Ohr warnte mich in Collins’ Tonfall, dass es schicklicher wäre, nicht hinzugehen. Aber damals war ich auf der Suche nach Liebe, und daher ging ich voller Neugier und mit der schwachen, kaum spürbaren Vorahnung, hier das niedrige Türchen in der Mauer zu finden, das andere, wie ich wusste, schon vor mir entdeckt hatten, und das mich in einen eingefriedeten, verzauberten Garten führen würde, den es, von keinem Fenster aus einzusehen, irgendwo im Herzen dieser grauen Stadt gab.

[54] Sebastian wohnte im Christ Church, in einem der oberen Stockwerke der Meadow Buildings. Er war allein, als ich eintraf, und pellte gerade ein Kiebitzei, das er einem großen Moosnest in der Mitte des Tischs entnommen hatte.

»Ich habe sie gerade gezählt«, sagte er. »Es gibt fünf für jeden, zwei sind überzählig, und die genehmige ich mir. Ich habe nämlich heute einen ganz unerklärlichen Hunger. Nachdem ich mich rückhaltlos den Mixturen von Dolbear und Goodall anvertraut habe, bin ich jetzt so benebelt, dass ich mir beinahe einbilde, die ganze Sache gestern Abend könnte ein Traum gewesen sein. Bitte, wecken Sie mich nicht auf.«

Er war hinreißend, von jener androgynen Schönheit, die in früher Jugend um Liebe fleht und beim ersten kalten Windhauch vergeht.

Sein Zimmer beherbergte ein seltsames Sammelsurium – ein Harmonium mit einem gotischen Umbau, einen Papierkorb, der aus einem Elefantenfuß gemacht war, Wachsfrüchte unter einer Glasglocke, zwei überproportionale Sèvres-Vasen, gerahmte Zeichnungen von Daumier – und all das wirkte noch unpassender angesichts der kargen College-Einrichtung und des riesigen gedeckten Tischs. Auf dem Kaminsims standen haufenweise Einladungen von Damen der Londoner Gesellschaft.

»Dieser schreckliche Hobson hat Aloysius ins Nebenzimmer eingesperrt«, sagte er. »Aber vielleicht ist es auch gut so, denn wir hätten nicht genug Kiebitzeier für ihn gehabt. Hobson hasst Aloysius, wissen Sie. Ich wünschte, ich hätte einen Hausdiener wie den Ihren. Er war heute Morgen ganz reizend zu mir; ein anderer wäre verstimmt gewesen.«

Die Gäste trudelten ein. Drei Eton-Absolventen, sanfte, [55] elegante, reservierte Männer, die am Abend zuvor auf einer Tanzveranstaltung in London gewesen waren und sich darüber unterhielten, als ginge es um die Bestattung eines nahen, aber ungeliebten Angehörigen. Sie alle schnappten sich, kaum dass sie eingetreten waren, zuerst ein Kiebitzei und nahmen erst dann Notiz von Sebastian und dann von mir, mit einem höflichen Mangel an Neugier, so als wollten sie sagen: »Wir denken nicht im Traum daran, ungehörigerweise anzudeuten, dass du uns noch nie begegnet bist.«

»Die Ersten in diesem Jahr«, sagten sie. »Wo hast du sie her?«

»Mummy schickt sie aus Brideshead. Für sie legen sie immer besonders früh.«

Als die Eier aufgegessen waren und wir beim Hummerragout saßen, erschien der letzte Gast.

»Ich kam einfach nicht früher weg, mein Lieber«, sagte er. »Ich war zum Lunch mit meinem a-a-albernen Tutor. Er war ziemlich befremdet, als ich so früh aufbrach. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich umziehen muss, zum F-F-Football.«

Er war groß, schlank, eher dunkel, mit großen, lebhaften Augen. Wir Übrigen trugen grobe Tweedanzüge und Budapester. Er kam in einem weichen schokoladebraunen Anzug mit grellweißen Streifen, Wildlederschuhen, einer großen Fliege und streifte seine gelben Waschlederhandschuhe ab, als er das Zimmer betrat. Halb Franzose, halb Amerikaner, halb Jude vielleicht, auf alle Fälle ganz und gar exotisch.

Das, man musste es mir nicht erklären, war Anthony Blanche, der »Ästhet« par excellence, Inbegriff der Lasterhaftigkeit, wenn es nach der weiblichen Studentenschaft von Oxford ging. Man hatte ihn mir auf der Straße oft gezeigt, [56] wo er entlangstolzierte wie ein Pfau. Ich hatte seine Stimme im George gehört, wenn er sich gegen die Konventionen auflehnte, und als ich ihn jetzt in Sebastians Zauberkreis kennenlernte, ertappte ich mich dabei, wie ich ihn mit den Augen verschlang.

Nach dem Mittagessen stellte er sich mit einem Megaphon, das er überraschenderweise zwischen all dem Klimbim in Sebastians Zimmer aufgestöbert hatte, auf den Balkon und rezitierte den schwitzenden Scharen, die auf dem Weg zum Fluss waren und deren Stimmen bis zu uns drangen, in schmachtenden Tönen Passagen aus Das wüste Land.

»Und ich, Tiresias, litt dies alles vor«, schluchzte er ihnen von den venezianischen Bogenfenstern aus zu.

»Was sich auf diesem B-B-Bett abspielt, das Gleiche

Ich, der ich saß zu Theben unterm Thron

Ich, der ich wandelte im T-T-Totenreiche…«

Dann trat er leichtfüßig zurück ins Zimmer. »Sie waren so was von überrascht! R-R-Ruderer sind für mich lauter heldenhafte Grace Darlings.«

Wir saßen da und nippten unseren Cointreau; der sanfteste und reservierteste Eton-Absolvent sang Home they brought her warrior dead und begleitete sich dabei auf dem Harmonium.

Es war vier Uhr, als wir aufbrachen.

Anthony Blanche ging als Erster. Förmlich und liebenswürdig verabschiedete er sich nacheinander bei jedem von uns. Zu Sebastian sagte er: »Am liebsten würde ich dich mit Pfeilen spicken wie ein N-N-Nadelkissen, mein Lieber.« [57] Und zu mir: »Ich finde, es war absolut genial von Sebastian, dass er Sie entdeckt hat. Wo halten Sie sich versteckt? Ich komme in Ihren Bau und sch-sch-scheuche Sie auf wie ein altes W-W-Wiesel.«

Die anderen gingen kurz nach ihm. Ich stand auf, um mich ihnen anzuschließen, doch Sebastian sagte: »Nehmen Sie noch einen Cointreau«, und so blieb ich, und später sagte er: »Ich muss zum Botanischen Garten.«

»Warum?«

»Weil ich mir das Efeu ansehen will.«

Das schien ein ausreichender Grund zu sein, daher begleitete ich ihn. Er hakte sich bei mir ein, als wir unter den Mauern von Merton entlanggingen.