Verhaltensbiologie - Christoph Randler - E-Book

Verhaltensbiologie E-Book

Christoph Randler

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Beschreibung

Dieser Band richtet sich an Studienanfänger der Biologie und führt ein in alle wichtigen Themen der Verhaltensbiologie: Nahrungssuche, Partnerwahl und Fortpflanzung, Brutfürsorge und -aufzucht, Räuber-Beute-Beziehungen, Kommunikation und Sozialverhalten. Des Weiteren werden auch genetische und evolutionsbiologische Aspekte beleuchtet, die wichtigsten Forschungsmethoden erläutert und auf einige praktische Anwendungen der Verhaltensbiologie eingegangen. "Verhaltensbiologie" eignet sich insbesondere für BA- und MA-Studierende der Biologie. - 105 Abbildungen und 35 Tabellen veranschaulichen die komplexen Sachverhalte - ideal für die Prüfungsvorbereitung im Haupt- und Nebenfach

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Seitenzahl: 393

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Christoph Randler

Verhaltensbiologie

Haupt Verlag

Prof. Dr. Christoph Randler ist Professor für Didaktik der Biologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zuvor lehrte und forschte er als Professor an der Universität Leipzig und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Seine Schwerpunkte in der Verhaltensbiologie sind Räuber-Beute-Beziehungen, Kommunikation, Chronobiologie und Hybridisierung.

1. Auflage 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2018 Haupt Bern

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Fachlektorat: Claudia Huber, D-Erfurt

Umschlagsgestaltung und Satz: Atelier Reichert, D-Stuttgart

Umschlagsfoto: Christoph Randler, D-Tübingen

UTB-Band-Nr.: 4817

ISBN: 978-3-8463-4817-8

Inhaltsverzeichnis

Dank

1 Was ist Verhaltensbiologie

1.1 Wie wird «Verhalten» definiert?

1.2 Verhaltensbiologie – eine junge Disziplin

1.3 Was tun Verhaltensbiologen?

1.4 Berufsfelder für Verhaltensbiologen

1.5 Was müssen Verhaltensbiologen können?

2 Methoden der Verhaltensbiologie

2.1 Verhaltensbiologen testen Hypothesen

2.2 Forschungsansätze

2.3 Methodenrepertoire der Verhaltensbiologie

2.4 Integrative Funktion der Verhaltensbiologie

2.5 Probleme bei verhaltensbiologischen Studien

3 Terminologie und Ansätze der Verhaltensbiologie

3.1 Klassische Ethologie

3.2 Verhaltensökologie

3.3 Soziobiologie

3.4 Kognitive Ethologie

3.5 Verschiedene Typen von Faktoren: Die Fragen nach dem «Warum?»

4 Proximate Faktoren/Wirkmechanismen

4.1 Verhaltensgenetik

4.2 Verhaltensphysiologie

4.3 Verhaltensontogenie

4.4 Außenreize und Innenreize wirken bei der Steuerung des Verhaltens zusammen

5 Nahrungssuche

5.1 Welche Nahrung fresse ich? Nahrungswahl

5.2 Strategien der Nahrungssuche

5.3 Habitatwahl: Wo suche ich nach Nahrung?

5.4 Wie lange verweile ich, bis ich den Ort wechsle?

5.5 Nahrungssuche in Gruppen

6 Räuber-Beute-Beziehungen: Anti-Prädationsverhalten

6.1 Überblick und Definitionen

6.2 Der Ablauf der Prädation

6.3 Erkennen von Prädatoren

6.4 Körperliche Anpassungen, um einer Entdeckung zu entgehen

6.5 Verhaltensmechanismen vermeiden Entdeckung durch Beutegreifer

6.6 Die Vorteile des Gruppenlebens und die Beziehung zur Wachsamkeit

6.7 Signale an den Beutegreifer

6.8 Signale, die eine Verfolgung verhindern sollen

6.9 Fluchtverhalten und Fluchtstrategien

6.10 Morphologische und physiologische Verteidigungsmechanismen

6.11 Mobbing

7 Partnerwahl und Fortpflanzung

7.1 Sexuelle vs. asexuelle Fortpflanzung

7.2 Sexuelle Konflikte

7.3 Revierwahl und Revierverteidigung

7.4 Sexuelle Selektion: Balzverhalten und Partnerwahl

7.5 Alternative Fortpflanzungsstrategien

7.6 Paarungssysteme

7.7 Balzplätze

8 Brutfürsorge und Brutpflegeverhalten

8.1 Parentale Fürsorge

8.2 Eltern-Kind-Konflikte bei der Nahrung

8.3 Geschwisterkonkurrenz

8.4 Sonderformen

9 Lernen, Gedächtnis und Kognition

9.1 Formen des Lernens

9.2 Das Gehirn als Basis der Kognition

9.3 Kognitive Ethologie

9.4 Komparative Studien

10 Kommunikation

10.1 Was sind Signale?

10.2 Bau und Ökologie von Signalen

10.3 Sender und Empfänger

10.4 Warum sind Signale zuverlässig und ehrlich?

10.5 Funktionale Referenz und Bedeutung von Signalen

11 Sozialverhalten, Soziobiologie und soziale Evolution

11.1 Aspekte des Sozialverhaltens

11.2 Warum helfen sich Tiere gegenseitig?

11.3 Helfersysteme

11.4 Eusozialität

11.5 Infantizid

12 Angewandte Aspekte

12.1 Arten- und Naturschutz und Verhalten

12.2 Angewandte Aspekte

Literatur

Register

Dank

Bei einigen Kolleginnen und Kollegen möchte ich mich bedanken, da sie ein oder mehrere Kapitel durchgesehen und mir sehr wertvolle Hinweise und Korrekturen geschickt haben. Die Verantwortung für die jeweiligen Texte liegt dennoch beim Autor des Buches. Folgenden Personen danke ich sehr herzlich: Prof. Dr. Franz Bairlein, Dr. Henrik Brumm, MSc. Nadine Kalb, Prof. Dr. Uwe Maier, PD Dr. Gilberto Pasinelli, Dr. Constanze Pentzold, Dr. Stefan Pentzold, Dr. Susanne Rohrmann, PD Dr. Heiko Schmaljohann, Dr. Vanessa Schmitt. Prof. Dr. Petra Quillfeldt danke ich für weitere Hinweise sowie meinen Studentinnen und Studenten für ihr Interesse, ihre Aufgeschlossenheit und so manche Frage, über die bisher zu wenig geforscht wurde.

Was ist Verhaltensbiologie?

| 1

Inhalt

1.1 Wie wird «Verhalten» definiert?

1.2 Verhaltensbiologie – eine junge Disziplin

1.3 Was tun Verhaltensbiologen?

1.4 Berufsfelder für Verhaltensbiologen

1.5 Was müssen Verhaltensbiologen können?

Verhaltensbiologie beschäftigt sich mit der Frage, was ein Tier macht und auf welche Weise es etwas macht. Die Verhaltensbiologie verfolgt dabei einen integrativen Ansatz, bei dem Zoologie, Evolutionsbiologie und Ökologie eine wichtige Rolle spielen. Die Verhaltensbiologie verwendet bei der Erforschung ihrer Fragestellungen zahlreiche Methoden, die sowohl Beobachtungen als auch komplexe Experimente umfassen und die entweder im Freiland oder im Labor stattfinden können. Die in der Verhaltensbiologie am häufigsten untersuchten Tiergruppen sind in absteigender Reihenfolge Vögel, Insekten, Fische und Säugetiere. Aktuell eher stark beforschte Themen sind die sexuelle Selektion, Kommunikation und Signale.

Verhaltensbiologie ist so alt wie die Menschheit selbst: In der Zeit der Jäger (Paläolithikum) hatte es für die Menschen Vorteile, wenn sie das Verhalten von Tieren beobachten, erklären und vorhersagen konnten, da sich auf diese Weise der Jagderfolg steigern ließ. Ebenso war es überlebenswichtig, selbst Beutegreifern, wie etwa den Säbelzahnkatzen (Machairodontinae), zu entkommen. Verhaltensbiologische Kenntnisse halfen, etwas zu essen zu bekommen, anstatt selber zur Speise zu werden; verhaltensbiologische Kenntnisse verhalfen der Spezies Mensch zu einem Überlebensvorteil (Manning & Dawkins 2012).

Verhalten findet ständig statt: «Man kann sich nicht nicht verhalten.» lautet die Abwandlung eines Axioms von Paul Watzlawick. Eine Feldmaus (Microtus arvalis) etwa, die sich nicht bewegt, zeigt womöglich adaptives Verhalten: Sie erhöht z.B. ihre Überlebenswahrscheinlichkeit beim Vorbeilaufen eines Fuchses, weil sie sich nicht durch Bewegung verrät. Ihr Verhalten kann aber auch nicht adaptiv sein; z.B. dann, wenn ihre Überlebenswahrscheinlichkeit durch Flucht vor dem Fuchs in ein Erdloch größer gewesen wäre als durch Tarnung. Aber unabhängig davon, ob die Feldmaus adaptives oder nicht adaptives Verhalten zeigte: Verhalten hat sie sich auf jeden Fall.

Verhalten ist also das, was ein Tier macht, und Verhaltensbiologie fragt danach, was, wie und warum es dies macht. Während die Frage nach dem «Was?» auf eine möglichst neutrale Beschreibung des Verhaltens abzielt, stehen beim «Wie?» die verschiedenen Taktiken, Strategien, Mechanismen und Prozesse des tierischen Verhaltens im Vordergrund. Die Frage nach dem «Warum?» soll schließlich erklären, weshalb es zu einem spezifischen Verhalten eines Tieres kommt.

Ein Beispiel: Beobachtet wird, wie ein Dachs (Meles meles) herumläuft und mit der Schnauze in der Erde bohrt. Eine mögliche Antwort auf die Frage, was der Dachs macht, ist, dass er nach Nahrung sucht. Die Frage nach dem «Warum?» kann aus zwei Perspektiven beantwortet werden: aus einer physiologischen und einer evolutionstheoretischen. Die physiologische Perspektive weist darauf hin, dass der Dachs nach Nahrung sucht, weil er Hunger hat, während die evolutionstheoretische Perspektive besagt, dass die Nahrungszufuhr ihm das Überleben sichert und damit Fortpflanzung möglich macht. Die Frage nach dem «Wie?» kann auf verschiedene Weise beantwortet werden, da manche Dachse eher an ganz bestimmten Orten nach Nahrung suchen, während andere bestimmte Vorlieben für eine bestimmte Nahrung haben (Requena-Mullor et al. 2016). Damit werden Unterschiede zwischen Individuen thematisiert.

Box 1.1

Verhalten illustriert am Jahreslauf einer Blaumeise

Eine Blaumeise (Cyanistes caeruleus) sucht an einem sonnigen Wintermorgen nach Nahrung. Sie muss fressen, um ihre Energiebilanz ausgewogen zu halten, d.h., um nicht zu verhungern (Homöostase, →Kap. 4). Am besten sucht und frisst sie energiereiche Nahrung, weil sie auf diese Weise in kurzer Zeit viel Energie aufnehmen kann (→Kap. 5). Ihre Präferenz für energiereiche Nahrung beeinflusst also die Entscheidung, wann, was und wo sie frisst. Gerne frisst sie zudem im Verbund mit anderen Blaumeisen, weil dies mehr Sicherheit vor Beutegreifern (→Kap. 6) mit sich bringt. Damit verschärft sich aber die Konkurrenz ums Futter, da sie dieses mit Artgenossen und gegebenenfalls Vertretern anderer Arten teilen muss. Da Blaumeisen oft im Verbund mit anderen Vögeln bei der Nahrungsaufnahme beobachtet werden können, ist der Nutzen der verbesserten Feindwahrnehmung offenbar größer als der Schaden durch die erhöhte Futterkonkurrenz. Beim Erscheinen von Feinden warnen sich Blaumeisen gegenseitig mit Alarmrufen; diese werden über die Artgrenzen hinweg verstanden, sodass auch andere Arten auf diese Warnrufe reagieren (→Kap. 10). Fliegt ein Sperber (Accipiter nisus) vorbei, bleiben die Blaumeisen regungslos sitzen. Entdecken sie hingegen eine Eule, wird diese angegriffen und gemobbt. Warum das so ist, wird mit verschiedenen Hypothesen erklärt, darunter auch mit Altruismus (→Kap. 11).

| Abb. 1-1

Ein Jahr im Leben der Blaumeise (Cyanistes caeruleus). A) Blaumeise bei der Nahrungssuche im Winter, B) bettelnde Jungmeise, C) Sperber (Accipiter nisus) als Prädator von Blaumeisen, D) Kohlmeise als Begleitart in gemischten Winterschwärmen. Fotos: C. Randler.

Im Frühjahr suchen und besetzen die Blaumeisen-Männchen Reviere und singen, um Weibchen anzulocken, aber auch, um anderen Männchen zu signalisieren, dass das Revier bereits besetzt ist. Manchmal kämpfen die Männchen um ein Revier. Erscheint ein Weibchen im Territorium, zeigen die Blaumeisen ein Balzverhalten, da – wie übrigens bei den meisten Meisenarten – Damenwahl herrscht. Weibchen wählen ein Männchen nach verschiedenen Gesichtspunkten aus, oft nach dem Ultraviolettanteil im Gefieder (→Kap. 7). Brutpflege und Jungenaufzucht finden generell durch beide Eltern statt, obwohl Blaumeisen nicht unbedingt treu sind, sondern gerne mittels «außerehelicher» Kopulationen versuchen, ihre Gene breiter zu streuen. Erscheint ein Beutegreifer in der Nähe der Nisthöhle, so wird er angegriffen (Brutverteidigung). Blaumeisen legen sehr viele Eier, was mit der hohen Sterblichkeit der Jungvögel im ersten Lebensjahr zusammenhängen dürfte.

1.1 |Wie wird «Verhalten» definiert?

Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist Verhalten eine vielgestaltige Sache. Entsprechend schwierig ist es, eine Definition zu formulieren, die alle relevanten Facetten umfasst. Als Beispiel seien hier zwei Definitionen aufgeführt; zuerst die umfassende und komplexe von Kappeler (2012, p. 4):

«Verhalten bezieht sich auf die intern koordinierte Kontrolle von Bewegungen oder Signalen, mit denen ein intakter Organismus mit Artgenossen oder anderen Komponenten seiner belebten und unbelebten Umwelt interagiert sowie auf Aktivitäten, die der Homöostase eines Individuums dienen».

Nach dieser Definition wird Verhalten intern gesteuert, d.h. über Hormone und Nervenzellen. Das Verhalten wird dann in Signalen oder Bewegungen ausgeprägt. Wichtig bei dieser Definition sind neben der Interaktion mit der unbelebten Umwelt auch die Beziehungen zu anderen Tierarten (Räuber, Beute) sowie zu Tieren der eigenen Art. Ein weiterer Punkt, der Verhalten steuert, ist die Homöostase, d.h., die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen, wenn etwa ein Tier auf einen inneren Reiz (z.B. Hunger) reagiert und auf Nahrungssuche geht oder bei sehr hohen Temperaturen den Schatten aufsucht.

Ein anderer Ansatz definiert Verhalten als beobachtbaren Prozess, mit dem ein Tier auf innere und äußere Reize reagiert. Untersucht werden kann in diesem Zusammenhang neben der direkten Beobachtungen der Tiere auch die Untersuchung resp. Messung von Herzschlag oder die Bestimmung von Hormonspiegels. Wichtig ist, dass die Tiere Reize des eigenen Körpers (interne Reize), wie auch Umweltreize (und damit eingeschlossen andere Tiere und die von diesen ausgehenden Reize und Signale) zuerst einmal wahrnehmen müssen. Man könnte also auch sehr vereinfacht sagen, dass Verhalten eine messbare Reaktion auf Reize ist.

Keine der beiden Definitionen trifft völlig zu oder ist vollständig falsch; sie zeigen vielmehr die Bandbreite von Verhalten und die Schwierigkeit, dieses in einer kurzen, prägnanten Definition einzufangen. Die Tatsache, dass wir aktuell also über keine allseits anerkannte Definition des Begriffs «Verhalten» verfügen, ist zwar bedauerlich und verkompliziert die Arbeit der Verhaltensbiologen, macht sie aber zugleich auch außerordentlich spannend. Außerdem bedeutet das Fehlen einer allgemein akzeptierten Definition nicht, dass gar kein Konsens darüber besteht, was Verhalten ist. →Tab. 1-1 stellt Komponenten des Begriffs «Verhalten» dar, die allgemein als solche anerkannt werden.

| Tab. 1-1

Definition und Komponenten von Verhalten (basierend auf Kappeler 2012, Dugatkin 2014).

Komponente

Beispiel

Prozess

beobachtbarmessbar

Bewegung (Tier flüchtet)/SignaleVeränderung im Hormonspiegel

Stimuli

aus der Außenwelt (external)aus der Innenwelt (internal)

Nahrung, Fressfeind, ArtgenosseHunger/Homöostase

Wahrnehmung

Stimuli müssen wahrgenommen werden

Tier hört einen Warnruf, sieht den Fressfeind, riecht Futter

Koordinierte Reaktion/Integration

Zusammenhang zwischen dem Prozess und dem Stimulus

Flucht eines Tieres (Prozess), wenn sich ein Fressfeind nähert (Stimulus)

Physiologische Koordination im Tier

Muskeln, Gelenke etc. arbeiten koordiniert mit den Sinnesorganen zusammen, letztere zeigen an, aus welcher Richtung ein Fressfeind sich nähert

Demnach lässt sich als Merksatz Folgendes zusammenfassen:

Merksatz

Verhalten umfasst alle beobachtbaren/messbaren Prozesse, mit denen ein Tier auf wahrgenommene Veränderungen innerhalb seines Körpers oder der Außenwelt reagiert.

1.2 |Verhaltensbiologie – eine junge Disziplin

Bereits Aristoteles (384–322 v. Chr.) machte sich Gedanken über das Lernen und die Emotionen von Tieren. Die wissenschaftliche Sicht der Verhaltensbiologie ist dagegen erst etwa 150 Jahre alt. Charles Darwin (1809–1882) stellte klare Bezüge zwischen Verhalten und Evolution her; beispielsweise interpretiert er das Balzverhalten von Vögeln bzw. die ausgeprägte Gefiederfärbung derselben als Versuche, die Partnerwahl des Weibchens zu beeinflussen (sexuelle Selektion; →Kap. 7). Einen Aufschwung erlebte die Verhaltensbiologie aber erst im 20. Jahrhundert mit den Begründern der Ethologie (→Kap. 3), die die Bedeutung von Endursachen (ultimaten Faktoren, der Interpretation des Zwecks des jeweiligen Verhaltens) betonten und die Auffassung vertraten, dass sich Verhaltensmerkmale klar identifizieren und messen lassen. Als besonderer Erfolg der Ethologie kann die Entzifferung der Bienensprache durch Karl von Frisch (1886–1982) gelten, der 1973 zusammen mit Konrad Lorenz (1903–1989) und Nikolaas Tinbergen (1907–1988) den Nobelpreis für Medizin/Physiologie erhielt. Lorenz und Tinbergen werden auch als die Gründerväter der Ethologie bezeichnet.

Während die Ethologie in Europa lange Zeit die dominierende verhaltensbiologische Forschungsrichtung war, entwickelte in den USA Burrhus Skinner (1904–1990) den Behaviorismus, eine alternative Forschungsrichtung, der die Annahme zugrunde liegt, dass alles Verhalten erlernt sei. Ethologie und Behaviorismus unterscheiden sich stark, was sich nicht nur in ihren unterschiedlichen Grundannahmen manifestiert, sondern auch in der Art und Weise, wie geforscht wird: Während Behavioristen sich in der Regel auf Laborexperimente beschränken und dort die Beziehung zwischen Reizen und Reaktionen analysieren, dominieren bei den Ethologen Feldversuche, von denen man sich erhofft, dass durch das genaue Beobachten ein und desselben Verhaltens bei unterschiedlichen Individuen – z.B. das Beutefangverhalten bei der Erdkröte (Bufo bufo) – allgemeingültige Aussagen über dieses Verhalten generieren lässt.

Einen anderen Ansatz verfolgt die Vergleichende Psychologie, welche weniger auf das Verhalten bei einzelnen Arten fokussiert, sondern nach artübergreifenden allgemeinen Grundsätzen des Verhaltens sucht. Die vergleichende Psychologie entstand in den USA parallel zur klassischen Ethologie in Europa. Erfolgversprechende Ansätze der Vergleichenden Psychologie untersuchen beispielsweise Unterschiede im Verhalten oder in der Entstehung von Verhalten (der sogenannten «Verhaltensontogenese») von Menschenaffen und Menschen. Da sich die Ethologie und die Vergleichende Psychologie recht nahe sind, kam es mehrfach zu fruchtbarer Zusammenarbeit, wodurch u.a. die Forschungsrichtungen der Verhaltensökologie und der Soziobiologie entstanden. Beiden Forschungsrichtungen ist gemeinsam, dass sie die Fitnessmaximierung ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellen, d.h., den Überlebensvorteil und – noch wichtiger – den möglichst hohen Fortpflanzungserfolg als wichtigste Messgrößen untersuchen. Während die Verhaltensökologie auf die Wechselwirkungen zwischen dem sich verhaltenden Tier und seiner (belebten und unbelebten) Umgebung fokussiert, richtet sich der Blick der Soziobiologie auf die biologischen Grundlagen von sozialem Verhalten. Einen veritablen Aufschwung erlebte die Soziobiologie 1975 durch das Buch Sociobiology: The new synthesis von Edward O. Wilson (*1929), in dem der Autor Verhalten als etwas Egoistisches bezeichnete, nämlich als Mittel zu dem Zweck, den eigenen Fortpflanzungserfolg zu maximieren.

1.3 |Was tun Verhaltensbiologen?

Verhaltensbiologen stellen in erster Linie allgemeine oder abstrakte Fragen, die sie dann mit verschiedensten Methoden und an verschiedenen Tiergruppen/-arten untersuchen. Es gibt generell zwei Vorgehensweisen in der Verhaltensbiologie (Lehner 1996):

1. Im Zentrum steht das Interesse an einer bestimmten Tierart

2. Im Zentrum steht die Untersuchung einer bestimmten Forschungsfrage

Obwohl viele Verhaltensbiologen eine bevorzugte Tierart haben, ist es in der Regel die Forschungsfrage (oder ein generelles Konzept), die im Zentrum ihrer Forschung steht, und nicht die bevorzugte Tierart. Bei der Auswahl der zu untersuchenden Tierart spielt primär deren Eignung und Verfügbarkeit eine Rolle. Aus diesem Grund werden oft Tierarten ausgewählt, die häufig sind und in vielen Habitaten vorkommen und daher Stichproben ermöglichen, die groß genug sind, um zu statistisch signifikanten Resultaten zu kommen. Auch werden häufig Tierarten gewählt, die leicht im Labor zu halten sind oder bereits als Labortiere zur Verfügung stehen, wie z.B. Mäuse und Ratten.

Die Schwerpunkte in der Verhaltensbiologie verschieben sich von Zeit zu Zeit, wobei sich die Themen stärker ändern als die untersuchten Tiergruppen. Auf einer typischen Konferenz (International Behavioral Ecology Congress 2012) beschäftigten sich 37 % der vorgestellten Arbeiten mit Vögeln, 26 % mit Insekten, 15 % mit Fischen und 15 % mit Säugetieren. Die Beliebtheit der Vögel mag daher rühren, dass sie meist tagaktiv, oft auffallend gefärbt und auch rufaktiv sind und sich deshalb gut im Freiland beobachten lassen, während sich Fische und Insekten gut für Experimente im Labor eignen.

| Abb. 1-2

Verhaltensbiologen arbeiten teilweise im Freiland (Zypern 2008). Foto: C. Randler.

Aktuell stark beforschte Themen sind die sexuelle Selektion, Kommunikation und Signale sowie die «Life History». Owens (2006) unterzog Publikationen in der Verhaltensbiologie einer genaueren Analyse und zeigte, dass der Anteil von Themen wie «optimale Nahrungssuche», «Paarungssysteme» und «fluktuierende Asymmetrie» zwischen 1980 und 2004 abnahm, während «sexuelle Selektion», «Wirt-Parasit-Interaktionen» und «Signale bei Tieren» häufiger untersucht wurden.

1.4 |Berufsfelder für Verhaltensbiologen

Die meisten Stellen im Bereich der Verhaltensbiologie sind an wissenschaftlichen Instituten oder Universitäten lokalisiert und damit naturgemäß zahlenmäßig beschränkt. Alternativ gibt es einige Stellen in den angewandten Biowissenschaften, so z.B. im Naturschutz, oder bei Behörden, vereinzelt auch in Zoos. Um die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, kann es sinnvoll sein, sich nicht nur auf eine einzelne Tierart/-gruppe zu fokussieren, aber dennoch klare Schwerpunkte zu setzen. Hilfreich sind auch Aufenthalte an ausländischen Instituten und Universitäten. Aufgrund des interdisziplinären Charakters der Verhaltensbiologie gibt es auch «verschlungene» Pfade in der Berufswelt, z.B. im Bereich der Endokrinologie.

1.5 |Was müssen Verhaltensbiologen können?

Die Arbeit von Verhaltensbiologen ist äußerst vielfältig, weshalb die Anforderungen sehr unterschiedlich sind. Wer viel im Freiland arbeitet, benötigt ein gewisses Improvisationstalent, da technische Geräte manchmal ein «Eigenleben» führen und im Regenwald oder der Antarktis der Kundendienst oder die Hotline nicht funktionieren oder erreichbar sind. Im Gegensatz dazu sind bei der Laborarbeit andere Fähigkeiten und Fertigkeiten erforderlich, so z.B. Geduld und die Fähigkeit, ermüdende Tätigkeiten konzentriert und gewissenhaft durchzuführen. Generell haftet der Verhaltensbiologie – zumindest in der Bevölkerung – etwas romantisch Verklärtes an und es wird vergessen, dass Verhaltensbeobachtung auch das akribische Registrieren von Verhaltensweisen umfasst und manchmal endlose Stunden des langweiligen Wartens mit sich bringt, z.B. dann, wenn sich die zu untersuchende Schimpansenhorde tagelang nicht zeigen will. Hier hilft eine hohe Frustrationstoleranz weiter. Gute Kenntnisse der verschiedensten Tierarten sind von Vorteil und – weil die Datenanalysen oft einen gewichtigen Teil der Büroarbeit ausmachen – auch umfangreiche Statistikkenntnisse.

Weiterführende Literatur

Alcock J (2005): Animal Behaviour. An evolutionary Approach. Sinauer Associates, Sunderland, 579pp.

Breed MD, Moore J (2012): Animal Behaviour. Academic Press, Burlington, 475pp.

Kappeler, PM (2012): Verhaltensbiologie. 3. Aufl. Springer, Heidelberg, 641pp.

Online

www.bachelor-bio.de

www.master-bio.de

Methoden der Verhaltensbiologie

|

2

Inhalt

2.1 Verhaltensbiologen testen Hypothesen

2.2 Forschungsansätze

2.3 Methodenrepertoire der Verhaltensbiologie

2.4 Integrative Funktion der Verhaltensbiologie

2.5 Probleme bei verhaltensbiologischen Studien

Die Verhaltensbiologie testet Hypothesen und verfügt über ein reichhaltiges Repertoire an Methoden der Datensammlung sowie der Analyse von Original- und Sekundärdaten. Bei Originaldaten handelt es sich um Messwerte, die ein Wissenschaftler selbst erhoben, gemessen oder beobachtet hat. Bei Sekundärdaten erfolgt eine (Re-)Analyse bereits veröffentlichter und/oder frei zugänglicher Daten. Verhaltensbiologen vergleichen sowohl Individuen einzelner Arten untereinander als auch verschiedene Arten miteinander. Hypothesen-geleitete Beobachtungen und Experimente stehen dabei im Vordergrund. Verhaltensbiologen arbeiten sowohl im Freiland als auch im Labor, oft sogar in Kombination, und benutzen vielerlei Methoden, von relativ simplen Beobachtungen mittels Fernglas bis hin zu automatischen Registrierungen und molekularen Analysen.

2.1 |Verhaltensbiologen testen Hypothesen

In der Verhaltensbiologie steht das Testen von Hypothesen im Vordergrund. Die wichtigsten Typen von Hypothesen in der Verhaltensbiologie sind:

• adaptive (ultimate) Hypothesen, die den Überlebenswert bestimmter Verhaltensweisen betreffen,

• kausale (proximate) Hypothesen, die sich mit Fragen beschäftigen, die das «Funktionieren» bzw. die Mechanismen bestimmter Verhaltensweisen betreffen,

• entwicklungsbiologische (ontogenetische) Fragen, bei denen es um die Entwicklung von Verhalten beim Individuum geht und

• phylogenetische Hypothesen, die sich mit dem Entstehen von Verhalten im evolutiven Zusammenhang beschäftigen.

Wissenschaftler formulieren Hypothesen so, dass sie widerlegt (falsifiziert) werden können. Sie tun dies deshalb, weil ein einziges Beispiel genügt, um eine Hypothese zu widerlegen, während man unendlich viele Belege benötigen würde, um Hypothesen zu bestätigen (verifizieren). Da Letzteres im Prinzip also gar nicht möglich ist, kann wissenschaftlicher Fortschritt besser auf dem Weg der Falsifikation als auf dem Weg der Verifikation erlangt werden. In der Praxis wird diesem Ansatz allerdings nicht in aller Strenge gefolgt; sprechen sehr viele Daten für eine Hypothese, so gilt sie als bestätigt, auch wenn es theoretisch noch immer möglich ist, dass ein weiteres Beispiel sie falsifiziert.

2.2 |Forschungsansätze

Forschungsmethodische Ansätze können konzeptuell, theoretisch oder empirisch sein (Dugatkin 2014). Konzeptuelle Ansätze entstehen, wenn verschiedene Aspekte, die bislang nicht miteinander in Verbindung gebracht wurden, miteinander verknüpft werden oder bislang schon Bekanntes «neu gedacht» wird (wie z.B. in der Soziobiologie; vgl. →Kap. 11). Theoretische Ansätze basieren hingegen in der Regel auf Modellierungen, statistischen Annahmen und (Gedanken-)Modellen (wie beim Thema optimale Nahrungssuche; vgl. →Kap. 5.2), während empirische Ansätze auf Beobachtungen und Experimenten beruhen. Oft beginnt die Forschung mit konzeptuellen und theoretischen Ansätzen, die in der Folge empirisch untersucht werden (deduktives Verfahren). Die empirischen Ansätze folgen meist einem induktiven Verfahren. Häufig steht an dessen Anfang die Beobachtung eines Verhaltens, welches die Forscherin verstehen will. Um dahin zu gelangen, formuliert sie Hypothesen, die sie in der Folge empirisch prüft und damit falsifiziert oder verifiziert (→Kap. 2.1). Dieses Verfahren ist als Bottom-up-Strategie bekannt. Sie steht allerdings im Gegensatz zu dem, was die Wissenschaftstheorie als ideale Vorgehensweise postuliert. Gemäß der wissenschaftstheoretischen Doktrin sollte nämlich am Beginn eines Erkenntnisvorgangs stets eine Theorie stehen, aus der dann Hypothesen abgeleitet werden (Buss 2008). Der Kerngedanke dieser Top-down-Strategie ist es, dass es bei der Formulierung von Hypothesen sinnvoll ist, auf den bereits bestehenden Wissenskorpus der Forschung zurückzugreifen, und die Hypothesen zur Erklärung eines Verhaltens also aus dem Wissen herzuleiten, welches bereits als wissenschaftlich gesichert gilt. In der Praxis wird diesem Widerspruch in der Regel mit einem «sowohl als auch» begegnet; verhaltensbiologische Forschung setzt also sowohl auf die Bottom-up- als auch auf die Top-down-Strategie; dieses «sowohl als auch» wird auch das Interdependenz-Modell genannt (vgl. →Abb. 2-1).

| Abb. 2-1

Interdependenz-Modell (Wechselwirkungen). Der Bottom-up-Ansatz schließt aus Beobachtungen auf eine allgemeingültige Theorie, der Top-down-Ansatz dagegen geht von einer allgemeingültigen Theorie aus und untersucht dann ein einzelnes Merkmal/Verhalten bzw. versucht, dieses durch eine Hypothese vorherzusagen. (Neu gezeichnet nach Voland 2013.)

2.3 |Methodenrepertoire der Verhaltensbiologie

Die Verhaltensbiologie verfügt über ein reichhaltiges Repertoire an Methoden, das in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden kann. An erster Stelle steht die Unterscheidung zwischen Originaldaten und Sekundärdaten. Bei Originaldaten handelt es sich um Daten, die der Wissenschaftler selbst erhoben, gemessen oder beobachtet hat. Sie werden durch Beobachtungen oder durch Experimente gewonnen. Bei Sekundärdaten erfolgt eine (Re-)Analyse bereits veröffentlichter und/oder frei zugänglicher Daten.

2.3.1 |Beobachtungen

Bei Beobachtungen wird das Verhalten von Tieren beschrieben und analysiert. Aus diesen Beschreibungen werden dann Schlussfolgerungen gezogen, wie z.B. Erklärungen und Vorhersagen. Ein Beispiel: Beobachtet man, dass Amseln (Turdus merula) flüchten, sobald sich ihnen eine Hauskatze (Felis catus) nähert, so kann man die Fluchtdistanz von Amseln ermitteln, in dem man bei zahlreichen «Amsel-flieht-vor-Katze»-Beobachtungen misst, wie nahe die Amsel die Katze herankommen lässt, bevor sie davonfliegt. Die anschließend ermittelte durchschnittliche Distanz – die Fluchtdistanz – erlaubt dann Voraussagen über künftiges Verhalten von Amseln. In anderen Worten: Sie erlaubt die Prognose, dass eine Amsel davonfliegen wird, falls sich ihr eine Katze auf eine bestimmte Distanz nähert (Wenn-Dann-Logik). Beobachtungen dieser Art sind fast immer beschreibend. Sie können zwar hilfreich sein, um erste Anhaltspunkte zur Erklärung von Verhalten zu generieren, sind aber oft sehr allgemein und bringen nur beschränkte Erkenntnis.

Verhaltensbiologen testen solche, auf Beobachtung basierende Hypothesen auf verschiedene Weisen (verändert nach Dawkins 2007):

•Vergleiche von Individuen innerhalb einer Art (Variation zwischen Individuen): Dabei werden verschiedene Individuen beobachtet, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen; man würde also jeweils verschiedene Amseln beim Zusammentreffen mit einer Katze beobachten, um zu sehen, ob die Amsel ab einer bestimmten Distanz immer vor der Katze flieht oder nicht. Man kann davon ausgehen, dass zwischen den Individuen Unterschiede in der Fluchtdistanz bestehen, dass also nicht alle Amseln bei der exakt gleichen Entfernung flüchten.

•Vergleiche desselben Individuums in verschiedenen Kontexten: Hierbei werden dieselben Individuen betrachtet, aber in verschiedenen Situationen, um herauszufinden, welchen Einfluss diese haben. Bei derselben Amsel wird also einmal die Fluchtdistanz beobachtet, wenn sie Junge zu versorgen hat, und ein weiteres Mal, wenn diese ausgeflogen sind. So kann man den Einfluss der Jungenaufzucht auf die Fluchtdistanz untersuchen.

•Vergleiche zwischen verschiedenen Arten: Hier werden z.B. verschiedene Vogelarten beobachtet und ihre Reaktion auf Katzen protokolliert, um zu vergleichen, ob baumbewohnende Vogelarten anders auf die Anwesenheit einer Katze reagieren als bodenbewohnende.

Abb. 2-2| A) Katze (Felis catus), B) Amsel (Turdus merula). Fotos: C. Randler.

| Abb. 2-3

Häufigkeit verschiedener Tiergruppen und Methoden in der Verhaltensbiologie. (Neu gezeichnet nach Owens 2006.)

Lässt sich weiter feststellen, dass Amseln bei einer Katze eine größere Fluchtdistanz haben als bei einem Menschen, so kann aus den Beobachtungen selbst keine Erklärung für dieses Verhalten hergeleitet werden; es bleibt bei der rein deskriptiven Feststellung, dass sich die Amsel so verhält, wie sie es nach den Beobachtungen eben tut. Man könnte aber vermuten, dass Menschen für die Amsel weniger bedrohlich sind. Eine weitere Schwierigkeit von Beobachtungen besteht darin, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die unterschiedliche Fluchtdistanz bei Katzen und Menschen gar nichts mit dem Typus eines Prädators zu tun hat, sondern die Ursache eine andere ist – beispielsweise, dass Katzen auf die Amsel bedrohlicher wirken als Menschen, weil sie sich anders bewegen (z.B. anschleichen).

Weil solche unbekannten Variablen also stets einen Einfluss haben können, muss bei Beobachtungen klar getrennt werden zwischen Datenauswertung und Interpretation. In unserem Beispiel könnte man also aussagen, dass Amseln vor Katzen früher fliehen als vor Menschen. Dies wäre die korrekte Darstellung. Eine Interpretation wäre dann, dass dies an der unterschiedlichen Gefährdungssituation liegt. Solche Interpretationen sind zulässig, dürfen jedoch nicht mit der reinen Sachaussage vermengt werden. Um die Hypothesen genauer zu untersuchen, könnte man schauen, ob Amseln im Wald eine andere Fluchtdistanz gegenüber Menschen haben als Amseln in der Stadt, und wiederum vermuten, dass ein solcher Unterschied an der Gewöhnung an den Menschen liegt (Habituation, →Kap. 9.1). Man könnte aber genauso gut vermuten, dass im Wald generell ängstlichere Amseln leben und nur die «mutigeren» es geschafft haben, in der Stadt zu leben. Es gibt also stets viele verschiedene Variablen, die bei einer Beobachtung nicht erfasst und kontrolliert werden können. Ungeachtet vieler moderner Methoden und Arbeitsweisen werden in der Verhaltensbiologie vornehmlich Beobachtungen eingesetzt (Owens 2006, →Abb. 2-3).

2.3.2 |Erkenntnisgewinn durch Experimente

Experimente gelten als der Königsweg der naturwissenschaftlichen Forschung, da die Hypothesen, die in Experimenten getestet werden, von den Forschern direkt aus der Theorie (oder aus der Literatur) entwickeln werden. Die Hypothesen werden in einer kontrollierten Umgebung getestet und dabei meist in einer, seltener auch in zwei oder mehreren Faktoren systematisch variieren. In unserem Amsel-Katzen-Beispiel würde man also versuchen, alle Aspekte möglichst gleich zu halten und nur eine Variable – den Prädator – zu ändern. Das beobachtete Verhalten der Amsel (d. h. deren Fluchtdistanz) wird dabei beobachtet und protokolliert. In einem zweiten Experiment (an einem anderen Tag) würde man dann einen Menschen in den Lebensraum der Amsel einbringen und wiederum ihr Verhalten protokollieren. Aus den durch diese beiden Experimente gewonnenen Daten könnte dann die Hypothese getestet werden, dass Amseln vor einem Menschen später fliehen als vor einer Katze. Da dieses Beispiel von einem Freilandexperiment ausgeht, gibt es viele weitere Faktoren, die nicht experimentell konstant gehalten werden können, wie z.B. das Wetter oder andere Kontextfaktoren (wie den Ernährungszustand der Amsel). Deswegen werden Experimente oft im Labor durchgeführt, sodass möglichst viele (am besten alle) Bedingungen konstant gehalten werden können. Unser Experiment muss man auch bei verschiedenen Amselindividuen durchführen (Replikation), damit man eine allgemeine Aussage treffen kann. Führt man es nur bei einer Amsel druch, so kann man lediglich zur Aussage kommen, dass diese spezifische Amsel ein bestimmtes Fluchtverhalten zeigt. Wird das Experiment hingegen bei einer größeren Stichprobe (z.B. 10 oder mehr Amseln) durchgeführt, und zeigen alle Amseln ein ähnliches Verhalten, so kann man das Ergebnis generalisieren (verallgemeinern). Auf diese Weise kann das Experiment kausal betrachtet werden, d.h. die Ursache für eine bestimmte Wirkung (in unserem Beispiel die Flucht der Amsel) kann identifiziert werden.

|Tab. 2-1 Vergleich zwischen experimentellen und beobachtenden Studien.

 

Beobachtung

Experiment

Ursache/Wirkung

nur korrelativ

kausal

Natürliches Verhalten

weitgehend ungestörtes natürliches Verhalten

Tiere unter Labor- bzw. experimentellen Bedingungen

Kosten

gering

für Laborexperimente z.T. hoch (Pflege und Haltung)

Zeit

je nach Tierart können Beobachtungen oder Experimente zeitaufwändiger sein

Stichprobe

oft größere Stichprobe nötig

geringere Stichprobe bei klarer Experimentplanung möglich

Kontrollvariablen

möglichst umfassend beachten

weniger wichtig, oft hilfreich

Ort

meist Freiland

Labor und Freiland

Oft wird das Experiment als «höherwertig» als andere Untersuchungsmethoden betrachtet, da mit Experimenten – anders als bei Beobachtungen – Kausalitäten überprüft werden können. Soweit Experimente gut durchgeführt werden, sind sie tatsächlich besser geeignet, um Schlussfolgerungen zu ziehen. Allerdings können bei Experimenten auch Probleme auftreten. Geht man beispielsweise von einer Stichprobe von 10 Amseln aus, so muss der Hälfte der Amseln zuerst eine Katze präsentiert werden, den anderen fünf hingegen zuerst ein Mensch, um Reihenfolgeneffekte oder Habituation(→Kap. 9) auszuschließen sowie um festzustellen, ob die Amsel immer bei der ersten Begegnung früher flieht, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Katze oder um einen Menschen handelt. Des Weiteren müssen verschiedene Katzen (z.B. mit einer unterschiedlichen Fellfarbe) und verschiedene Menschen in diesem Experiment teilnehmen, um Pseudo-Replikation zu vermeiden (→Kap. 2.5). Schließlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass beispielsweise schwarze Katzen ein anderes Verhalten zeigen als graue (weil z.B. das Gen für die Fellfärbung mit dem Gen für Aggression gemeinsam vererbt wird). Diese Vorbehalte zeigen, dass es sehr schwierig ist. Bei der Planung von Experimenten kommt es also sehr darauf an, genau denjenigen Faktor zu identifizieren und zu variieren, der überprüft werden soll. Dazu sind vorab alle möglichen Fehlerquellen sorgfältig zu durchdenken.

Merksatz

Ein Experiment bezeichnet die Isolation und systematische Variation von Variablen.

Abb. 2-4| Hausmaus (Mus musculus) bei einem Open-Field-Test und mit einer Wand. Beobachtet man lediglich das Wandkontaktverhalten, handelt es sichnoch nicht um ein Experiment. Vergleicht man das Verhalten, wenn die Wand entfernt wird, so haben wir es hingegen mit einem Experiment zu tun, weil nun die Variable Wand systematisch variiert wird. Fotos: C. Randler.

Arbeitsorte in der Verhaltensbiologie

Verhaltensbiologische Studien können sowohl im Labor als auch im Freiland durchgeführt werden. Im Labor herrschen kontrollierte Bedingungen, die leichter variiert werden können, weshalb Experimente im Labor leichter möglich sind. Beispielsweise kann man Tieren im Labor durch Beleuchtung vortäuschen, dass bereits die Sonne aufgeht, obwohl es noch Nacht ist. Eine solche Studie ist im Freiland nur unter erschwerten Bedingungen machbar, wenn nicht gar unmöglich. Viele Messapparaturen sind nur im Labor und nicht im Freiland einsetzbar. Allerdings können Laborstudien nicht immer direkt auf die Freilandsituation übertragen werden. Im Freiland kommen viele Störvariablen hinzu, die sich kaum kontrollieren, bestens aber wenigstens zum Teil erfassen und quantifizieren lassen. Zu diesen Störvariablen gehört, dass Tiere sich im Freiland verstecken können, dass man nichts über die Vorerfahrungen (z.B. Lernprozesse) der beobachteten Tiere weiß und nichts über ihren inneren Zustand (z.B. Hunger). Allerdings zeigen Tiere im Freiland ihr natürliches Verhalten, was ein Vorteil gegenüber Laborversuchen ist. Des Weiteren gibt es Arten, die sich im Labor nicht halten lassen (z.B. einige große Huftiere). Meist sind die Forschungsorte gekoppelt an die Unterscheidung experimentell/observational, da im Labor eher Experimente, im Freiland eher Beobachtungen durchgeführt werden. Dennoch gibt es auch observationale Laborstudien. Wird beispielsweise eine Hausmaus (Mus musculus) im Labor in einen Kasten gesetzt und beobachtet, ob sie sich eher an der Wand oder in der Mitte aufhält, ist dies zunächst einmal eine observationale Vorgehensweise. Erst wenn eine Variable systematisch variiert, z.B. die Wand eingesetzt, verändert oder entfernt wird, entspricht dies einem experimentellen Design (→Abb. 2-4).

Im Labor kann man relativ einfach mit domestizierten Tieren arbeiten, aber auch manche Wildtierarten können kurzzeitig in ein Labor verfrachtet werden. Bei der Vogelzugforschung werden beispielsweise wildlebende, während des Vogelzuges gefangene Vögel für ein oder zwei Nächte in einen Registrierungskäfig gesetzt und ihr Verhalten erfasst (Fusani et al. 2009). Danach werden sie wieder freigelassen. Auf diese Weise konnte festgestellt werden, dass Zugvögel mit einer guten Körperkondition mehr nächtliche Zugunruhe zeigten als solche mit einer schlechteren Kondition (Eikenaar & Schläfke 2013). Man kann auf diese Weise auch herausfinden, in welche Richtung die Zugvögel ziehen würden.

Box 2.1

Die Vielfalt der Erkennungs- und Markierungsmöglichkeiten

| Abb. 2-5

Markierungsmethoden und Überwachungstechniken. A) Höckerschwan (Cygnus olor) mit Halsmarkierung, B) Graugans (Anser anser) mit Farbfußring, C) Kleine Zangenlibelle (Onychogomphus forcipatus) mit Flügelmarkierung, D) Reh (Capreolous capreolous), durch eine Kamerafalle überwacht, E) Afrikanischer Elefant (Loxodonta africana) mit individueller Erkennung anhand der Stoßzahnde-formation, F) Afrikanischer Elefant mit GPS-Halskrause. Fotos: C. Randler.

Stehen keine natürlichen Kennzeichen wie individuelle Unterschiede in der Fellfärbung oder im Gefieder zur Verfügung, muss man zu Markierungen wie Vogelringen (Aluminium, Farbringe), Ohrmarken, Flügelmarken, Halsringen und Farbmarkierungen greifen. Kurzfristige Markierungen sind beispielsweise bei Wirbellosen auch mit einem wasserfesten Farbstift möglich (Libellenflügel).

Wichtig ist, dass die Markierungen das Verhalten der Tiere nicht verändern und möglichst über die gesamte Untersuchungsdauer sichtbar bleiben. Es gibt eine Reihe von Studien, die belegen, dass z.B. die Markierung mit Metallringen keinen Einfluss auf das Verhalten und das Überleben haben, während andere zeigen, dass beispielsweise Flügelmarkierungen bei Königspinguinen (Aptenodytes patagonicus) die Überlebensrate von Jungtieren und den Bruterfolg der adulten Tiere senken (Gauthier-Clerc et al. 2004). Kleinere Transponder oder RFID-Chips können über verschiedene Empfangsstationen abgelesen werden und ermöglichen so eine automatische Registrierung der Individuen. Für die meisten Markierungen muss eine Genehmigung der zuständigen Behörden eingeholt werden. Technische Hilfsmittel erlauben es uns, das Verhalten der Tiere relativ unbeeinflusst zu beobachten, oder ermöglichen es, Tiere bei Nacht oder in dunklen Bauen mit Filmtechnik zu beobachten.

Bei allen Laborexperimenten sind grundsätzlich die Tierschutzbestimmungen zu beachten und bei Studien, bei denen Wildtiere der Natur entnommen und kurzfristig ins Labor verbracht werden, zusätzlich die Bestimmungen des Bundesnaturschutzgesetzes bzw. eine spezielle Ausnahmegenehmigung zu beantragen (vgl. auch die «Ethics in Research» der Association for the Study of Animal Behaviour; ASAB/ABS 2006). Generell gilt bei Labortieren die Regel: «Reduction, Replacement, Refinement»: Es sollen möglichst wenige Experimente mit möglichst wenigen Tieren durchgeführt werden, d.h., die verwendeten Methoden sollen so verfeinert und die Forschungsfragen so präzisiert werden, dass möglichst wenige Tiere an den Experimenten teilnehmen müssen. Statistische Power-Tests helfen, die erforderliche Stichprobengröße bereits im Vorfeld abzuschätzen.

Tab. 2-2| Überblick über die Methoden der Verhaltensbiologie.

Originaldaten

Sekundärdaten

Beobachtung:

kein Eingriff in die Natur

komparative/phylogenetische Analyse:

jede Art ergibt einen Datenpunkt und wird in Bezug zu verschiedenen Variablen gesetzt

Quasi-Experiment:

experimenteller Eingriff, aber keine Kontrolle aller Variablen

Review:

«narrativ» und z.T. etwas subjektiv, neuerdings klare Vorgaben für die Durchführung systematischer Reviews; Datenpunkte sind die jeweiligen Studien, daher kann eine Art mehrfach zum Ergebnis beitragen

Experiment:

Variablen werden isoliert und variiert (strenge Kontrolle der Variablen)

Meta-Analyse:

klare Regeln für die Literatursuche; Systematische Datenanalyse; Basis der Daten ist die jeweilige Studie; eine Art kann mehrfach zum Ergebnis beitragen

Sekundärdatenanalysen

Während Primärdaten meist selbst an einer oder wenigen Arten erhoben werden, werden Sekundärdaten ohne eigene Beobachtungen und Experimente analysiert. Hierbei wird eine gründliche Literaturanalyse vorgenommen. In einer eher narrativen Überblicksarbeit, dem Review, werden die verschiedenen Studien vorgestellt, aber durch den Autor unterschiedlich gewichtet, was zu einer größeren Subjektivität führen kann. Etwas objektiver sind Meta-Analysen. Auch bei diesen werden die Daten vorhandener Studien gesammelt und ausgewertet. Dafür gelten in der Regel klare Hinweise für den Umgang mit Literaturdaten. Schließlich muss sichergestellt werden, dass nicht manche Studien vergessen werden, aber auch, dass Qualitätskriterien angewendet werden. Am stärksten ausgeprägt sind die Vorschriften hierzu in der Medizin (PRISMA Guidelines: Moher et al. 2009, Liberati et al. 2009), aber auch in der Ökologie und Verhaltensforschung gibt es Hinweise zum Umgang damit (Pullin & Stewart 2006). Werden die Daten statistisch ausgewertet, so wird versucht, einen generellen statistischen Effekt zu zeigen (Stankowich & Blumstein 2005; →Tab. 2-3). Wenn man dabei zu widersprüchlichen Ergebnissen kommt, sind Meta-Analysen in der Regel nützlich, um diese aufzulösen. Allerdings sind sie einer Review dann unterlegen, wenn die Ergebnisse an sich nicht einfach statistisch vergleichbar sind (z.B. dann, wenn die Tierarten zu unterschiedlich sind).

| Tab. 2-3

Beispiel für eine Sekundärdatenanalyse (Meta-Analyse), die sich mit den Effektgrößen verschiedener Aspekte des Fluchtverhaltens beschäftigt. Die Effektgrößen basieren auf statistischen Auswertungen. Dabei werden die Effekte aller einzelnen Studien gewichtet (z.B. nach Stichprobe). Durch diese Art der Analyse kann ein genereller Effekt extrahiert werden. Ebenso ist es möglich, sich widersprechende Studien gegeneinander zu testen. Je höher die Effektgröße, desto größer der generelle (durchschnittliche) Effekt. (Aus Stankowich & Blumstein 2005.)

Faktor

Aussage

Effektgröße

Distanz zum sicheren Platz

Je näher, desto später die Flucht

0.43

Geschwindigkeit

Je schneller sich der Prädator annähert, desto eher die Flucht

0.38

Richtung

Wenn sich der Prädator direkt annähert, dann eher Flucht als bei tangentialer Annäherung

0.29

Größe des Prädators

Je größer, desto eher Flucht

0.34

Gruppengröße

Je größer die Gruppe, desto eher die Flucht

–0.01

Gruppengröße (ohne Fische)

Je größer die Gruppe, desto eher die Flucht

0.15

Gruppengröße (nur Fische)

Je kleiner die Gruppe, desto eher die Flucht

–0.42

Verteidigung

Beute besitzt «Waffen», daher Flucht später

0.33

Tarnung

Beute ist gut getarnt, daher Flucht später

0.34

Nicht nur die Amseln in unserem Beispiel, sondern fast alle Beutetiere fliehen vor einem herannahenden Beutegreifer. In einer Meta-Analyse kann versucht werden, einen generellen Überblick zu Fluchtdistanzen zu bekommen. Gibt es Zusammenhänge zwischen der Fluchtdistanz und weiteren Variablen, die in dieser Hinsicht bereits untersucht wurden? Gibt es Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen oder Abhängigkeiten von der Gruppengröße, in der die Tiere auftreten. Als Beispiel einer entsprechenden Meta-Analyse sei hier eine Sekundärdatenanalyse von Stankowich und Blumstein (2005) vorgestellt (→Tab. 2-3).

Verhaltensphylogenie

Bei der Verhaltensphylogenie geht es um die stammesgeschichtliche Entstehung und Entwicklung von Verhalten aus evolutiver Sicht. Anders als bei morphologischen Merkmalen, die als Fossilien Millionen Jahre überdauern, kann Verhalten nicht konserviert werden. Mit der komparativen phylogenetischen Methode können Rückschlüsse auf die evolutive Entstehung von Verhalten anhand heute lebender (rezenter) Arten gezogen werden. Dazu wird auf die Stammbäume (Phylogenien) der interessierenden Arten zurückgegriffen. Diese sind mittlerweile dank einer Vielzahl an molekulargenetischen Untersuchungen gut bekannt. Nun wird – ähnlich der vergleichenden Verhaltensforschung – das Verhalten von nahe verwandten Arten untersucht und auf den Stammbaum (Phylogenie) übertragen. Mithilfe dieser Methode wird dann abgeschätzt, wann im Laufe der Evolution ein Verhalten entstanden ist oder wieder verschwand, aber auch, ob dieses Verhalten im Stammbaum an unterschiedlichen Stellen unabhängig voneinander entstand (Konvergenz). Konvergenz bedeutet, dass bei nicht verwandten Tierarten ein ähnlicher Selektionsdruck oder gleiche Umwelteinflüsse ein ähnliches Verhalten ausprägten. Der Gegenbegriff zur Konvergenz ist die Divergenz; sie besagt, dass nahe verwandte Arten ein unterschiedliches Verhalten entwickelten. Ähnliches oder gleiches Verhalten oder Aussehen gibt also nicht notwendigerweise einen Hinweis auf nahe Verwandtschaft, nahe verwandte Arten können aber ähnliches Verhalten zeigen. Aktuell wird in der Phylogenie das Prinzip der Parsimonie (Einfachheit) favorisiert, d.h., es wird die Erklärung bevorzugt, die die wenigsten evolutiven Änderungen voraussetzt (→Abb. 2–6).

| Abb. 2-6

Zwei hypothetische Szenarien, nach denen der Brutparasitismus bei Kuhstärlingen (Molothrus sp.) entstanden sein könnte. Das obere Szenario geht davon aus, dass es zuerst einen Spezialisten gab. Das untere beginnt mit einem generellen Brutparasiten. Beide Hypothesen erscheinen wahrscheinlich, obwohl die obere nur einen evolutionären Wandel voraussetzt, die untere dagegen zwei. (Neu gezeichnet nach Rothstein et al. 2002.)

Ein Vorteil der phylogenetischen Methode sind Verallgemeinerungen über viele Arten hinweg. Dies steht im Gegensatz zu Studien, die an einzelnen Arten durchgeführt werden und deren Ergebnisse somit zuerst nur für diese eine Art gelten. Am Beispiel der Amseln haben wir das Fluchtverhalten vor Katzen (oder anderen Beutegreifern) diskutiert. Mit dem komparativen phylogenetischen Ansatz könnte man nun auch bei anderen Vogelarten schauen, ob ein solches Verhalten zu beobachten ist. Beginnen würde man eine solche Prüfung beispielsweise bei Drosseln und anderen Singvögeln, die der Amsel relativ ähnlich sind. In einem nächsten Schritt würde man dann, ähnlich wie bei einer Meta-Analyse, Daten zur Fluchtdistanz sehr verschiedener Arten aus der Literatur extrahieren. Diese Daten können dann mit weiteren Faktoren in Beziehung gesetzt werden, z.B. mit der Körpergröße. Dadurch könnte man feststellen, dass größere Vogelarten eine höhere Fluchtdistanz haben, also früher fliehen (Møller et al. 2016). Diese Verallgemeinerung ist erst durch die vergleichende phylogenetische Methode möglich, Beobachtungen allein an Amseln hätten dazu nicht genügt. Es gibt viele weitere Beispiele für Erkenntnisse, die mit dieser Methode gewonnen werden können (Bennett & Owens 2002).

Merksatz

Während die meisten Methoden in der Verhaltensbiologie Analysen auf dem Niveau des Individuums durchführen, untersuchen phylogenetische Methoden das Verhalten auf dem Artniveau bzw. zwischen den Arten.

Bei Datenanalysen repräsentiert eine bestimmte Art einen statistischen Datenpunkt, während bei Originaldaten meist ein einzelnes Individuum einen statistischen Datenpunkt bildet. In der Regel variiert das Verhalten zwischen einzelnen Arten deutlich stärker als innerhalb einer Art. Allerdings unterliegen diese phylogenetischen Studien einem statistischen Irrtum, da die einzelnen Tierarten wegen ihrer Verwandtschaftsbeziehungen keine «unabhängigen» Datenpunkte darstellen. Es mussten daher Methoden entwickelt werden, um dieses Problem zu lösen.

Kritik am Ansatz der vergleichenden Verhaltensphylogenie: Der vergleichende Ansatz kann nicht experimentell überprüft werden. Allerdings können Hypothesen überprüft werden, für die es keinen experimentellen Zugang gibt. Wichtig beim vergleichenden Ansatz sind:

• eine gründliche Wahl der geeigneten Tiergruppe,

• die korrekte statistische Behandlung (phylogenetisch unabhängige Kontraste),

| Abb. 2-7

Gehirngröße (in Relation zum Körpergewicht) und Lauben bei Laubenvögel (Ptilonorhynchidae). Je größer das Gehirn, desto komplexere Lauben bauen die entsprechenden Arten. (Neu gezeichnet nach Madden 2001.)

• das Berücksichtigen von Variablen, die einen zusätzlichen Einfluss auf die Analysen haben können (konfundierende Variablen),

• klare, sich widersprechende oder sich gegenseitig ausschließende Hypothesen,

• Übereinstimmung der Phylogenie (Stammbäume) mit der Wirklichkeit. Die Realität zeigt aber, dass sich die postulierten Stammbäume mithilfe zunehmend besser werdender Methoden (bis hin zum Sequenzieren des gesamten Genoms) regelmäßig ändern.

• Wissen über die bereits ausgestorbenen Arten und deren Entwicklung. Darüber ist allerdings bislang wenig bekannt.

Da die phylogenetischen, vergleichenden Studien ebenso korrelativ sind wie Beobachtungen, lassen sich oftmals Ursache und Wirkung in verschiedene Richtungen interpretieren. Illustriert sei dies am Beispiel der Gehirngröße von Zugvögeln. Sol et al. (2005) stellten fest, dass Zugvogelarten relativ zur Körpergröße ein kleineres Gehirn haben als Standvögel. In den phylogenetischen Analysen postulierten sie nun, Standvögel seien «klüger» als Zugvögel. Als Beleg dafür diente das (relativ) größere Gehirn der Standvögel. Die Gehirngröße wurde also als Maß für die kognitiven Fähigkeiten verwendet. Winkler et al. (2004) dagegen stellten die Hypothese auf, dass Zugvogelarten im Laufe der Evolution ein kleineres und effizienteres Gehirn entwickelten, um Energie zu sparen. Das kleinere Gehirn ist gemäß ihrer Hypothese demnach kein geeigneter Indikator für schlechtere kognitive Fähigkeiten, sondern ein Beleg für die Anpassung der Vögel an die ziehende Lebensweise. Diese unterschiedlichen Interpretationen konnten mit der vergleichenden phylogenetischen Methode nicht aufgelöst werden. Sie gaben in der Folge Anlass zu einer Studie an der Dachsammer (Zonotrichia leucophrys), deren Unterarten teils Zugvögel, teils Standvögel sind. Die ziehenden Unterarten besaßen ein kleineres Gehirn als jene, die sesshaft waren. Pravosudov et al. (2007) argumentieren, dass sich das Gehirn vergrößerte, nachdem eine Unterart sesshaft wurde. Dies spricht für die Hypothese von Winkler et al. (2004) und zeigt, dass bei vergleichenden phylogenetischen Studien mit Ursache und Wirkung sorgfältig umgegangen werden muss und dass weitere Studien helfen, die Beziehung zwischen den Variablen zu klären.

Merksatz

Phylogenetische Analysen versuchen, Studien an einzelnen Arten zu generalisieren und auf viele Taxa zu übertragen. Phylogenetisch basierte Studien können aber auch Anregungen bieten, an einzelnen Arten konkret und experimentell weiter zu forschen.

Das Zugvogelbeispiel zeigt, wie hilfreich es ist, sich widersprechende Hypothesen zu wählen, um ein Verhalten zu erklären. Phylogenetische Analysen beruhen zum Großteil auf bereits publizierten Daten. Es ist jedoch auch möglich, zuerst eine Hypothese aufzustellen und dann zu prüfen, ob alle erforderlichen Daten veröffentlicht sind, und noch fehlende selbst zu erheben. In der Analyse werden Original- und Sekundärdaten kombiniert.

Modellbildung

Bei der Modellbildung lassen sich mathematische und physische Modelle unterscheiden. Bei der mathematischen Modellbildung werden aus der Theorie heraus und aus vorhandenen Studien Annahmen formuliert, die daraufhin mathematisch abgebildet werden. Die Modelle werden dann anhand der Realität überprüft. Als einfaches Beispiel für die mathematische Modellierung eignet sich der Effekt der Gruppengröße auf die Sicherheit eines Tieres (Prädation, →Kap. 6). Das mathematische Modell versucht, alle relevanten Faktoren in Einklang zu bringen und ggf. verschiedene Szenarien zu entwickeln. Hier sind Computer mittlerweile wichtige Hilfsmittel geworden (Houston & McNamara 1999). Modelle sind auch situationsabhängig, d.h. ein Tier reagiert unter verschiedenen Umweltbedingungen verschieden (situationaler Ansatz; Houston & McNamara 1999). Die Überprüfung an der Realität durch Beobachtung oder Experiment zeigt dann, welches Modell am wahrscheinlichsten ist und die Variation im beobachteten Verhalten am besten erklärt.

Physische Modelle sind wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, wie sich am Beispiel der Präriehunde (Cynomys ludovicianus) zeigen lässt. Diese Tiere leben in großen unterirdischen Kolonien und sind auf eine gute Belüftung ihres Höhlensystems angewiesen. Um die optimale Belüftung zu finden, bauten Forscher selbst verschiedene Höhlen. Ihre Modelle verglichen sie dann mit den realen Bauten der Präriehunde. Das am besten belüftete Modell wies einen höheren Krater (mit Kaminfunktion) und einen flacheren Krater (für den Lufteintritt) auf. Die Forscher konnten daraufhin Rückschlusse auf die relevanten Baukriterien der Präriehunde beim Bau ihrer Kolonien ziehen.

2.4 |Integrative Funktion der Verhaltensbiologie

Bei der Erfassung des Verhaltens steht stets die Betrachtung des (ganzen) Tieres als Organismus im Vordergrund. Wie sich ein Tier jeweils verhält, hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab. Grundsätzlich unterscheidet man dabei zwischen internen und externen Faktoren (und Prozessen). Bei internen (auch: intrinsischen) Faktoren und Prozessen handelt es sich um genetische, hormonelle, physiologische, motorische oder neurobiologische Prozesse, bei externen (auch: extrinsischen) um soziale und ökologische Faktoren und Prozesse.

Ein Beispiel: Das Balzverhalten der Stockente (Anas playtrhynchos) läuft weitgehend stereotyp ab, d.h., es ist in seiner Grundlage vererbt und beruht daher auf internen Faktoren. Zentral sind beispielsweise genetische Faktoren, was bewiesen wurde, als es gelang, mittels gezieltem Knock-out (Ausschalten von Genen) das Balzverhalten zum Verschwinden zu bringen. Aber auch Hormone spielen eine wichtige Rolle, da durch die experimentelle Verabreichung von Testosteron das Balzverhalten gezielt ausgelöst werden kann. Als weiterer interner Faktor ließ sich die Tageslänge identifizieren, da Stockentenmännchen ab einer gewissen Tageslänge mit der Balz beginnen, auch wenn weit und breit kein Weibchen zu sehen ist.

Weil die Verhaltensbiologie stets das ganze Tier im Auge hat, wird oft darauf verwiesen, dass sie in ihrer Ausrichtung eine stark integrative Funktion ausweist.

2.5 |Probleme bei verhaltensbiologischen Studien

Bei der Planung und Analyse von verhaltensbiologischen Studien können verschiedene Probleme auftreten, die hier aufgrund gewisser interpretativer Spielräume häufiger vorkommen als in anderen Disziplinen der Biowissenschaften. Man bezeichnet die Verhaltensbiologie deshalb auch als die «Sozialwissenschaft unter den Naturwissenschaften».

Grafen und Hails (2002) nennen drei wichtige Aspekte, die für Experimente und Beobachtungen gleichermaßen bedeutend sind:

• Replikation

• Randomisierung

• Blocking

Replikation bedeutet, dass eine ausreichende Anzahl an unabhängigen Beobachtungen oder Experimenten vorliegen muss. Nur von einem einzigen Individuum auf eine Population zu schließen, wäre keine gute wissenschaftliche Praxis. Um zu testen, ob männliche Amseln (Turdus merula)