Verhaltensprobleme bei Nager, Reptil & Co. -  - E-Book

Verhaltensprobleme bei Nager, Reptil & Co. E-Book

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Beschreibung

Angst und Aggression müssen nicht sein! Kleintiere wie Kaninchen, Frettchen und auch Papageien, Sittiche oder Reptilien sind sehr beliebt, werden aber häufig nicht artgerecht gehalten. So wächst auch die Zahl dieser Tiere, die mit Verhaltensstörungen in der Tierarztpraxis vorgestellt werden. Dieser Leitfaden vermittelt praxisnah und leicht verständlich Grundlagen des Medical Trainings, gibt wertvolle Tipps zur Prävention von Verhaltensstörungen und zeigt Therapieansätze auf. Ein hilfreiches Nachschlagewerk insbesondere für Praxisteams, die nicht auf Verhaltensmedizin spezialisiert sind.

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Patricia Solms (Hrsg.)

Verhaltensprobleme bei Nager, Reptil & Co.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/abrufbar.

ISBN 978-3-8426-0027-0 (print)

ISBN 978-3-8426-0028-7 (PDF)

ISBN 978-3-8426-0029-4 (epub)

Herausgeberin

Dr. med. vet. Patricia Solms

Tierarztpraxis Rheinallee

Rheinallee 19

55118 Mainz

[email protected]

www.tierarztpraxis-rheinallee.de

© 2022 Schlütersche Fachmedien GmbH, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte liegen beim Verlag.

Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt auch für jede Reproduktion von Teilen des Buches. Produkt- und Unternehmensbezeichnungen können markenrechtlich geschützt sein, ohne dass diese im Buch besonders gekennzeichnet sind. Die beschriebenen Eigenschaften und Wirkungsweisen der genannten pharmakologischen Präparate basieren auf den Erfahrungen der Autoren, die größte Sorgfalt darauf verwendet haben, dass alle therapeutischen Angaben dem Wissens- und Forschungsstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen. Ungeachtet dessen sind bei der Auswahl, Anwendung und Dosierung von Therapien, Medikamenten und anderen Produkten in jedem Fall die den Produkten beigefügten Informationen sowie Fachinformationen der Hersteller zu beachten; im Zweifelsfall ist ein geeigneter Spezialist zu konsultieren. Der Verlag und die Autoren übernehmen keine Haftung für Produkteigenschaften, Lieferhindernisse, fehlerhafte Anwendung oder bei eventuell auftretenden Unfällen und Schadensfällen. Jeder Benutzer ist zur sorgfältigen Prüfung der durchzuführenden Medikation verpflichtet. Für jede Medikation, Dosierung oder Applikation ist der Benutzer verantwortlich.

Projektleitung: Sabine Poppe, Hannover

Lektorat: Martina Kunze, Ehringshausen

Layout und Umschlaggestaltung: Sandra Knauer Satz · Layout · Service, Garbsen

Umschlagabbildungen: shark749 – stock.adobe.com (li.), moehligdesign – stock.adobe.com (o. re.), artfocus – stock.adobe.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

 1 Trainingsmethoden bei HeimtierenDaniela Zurr

1.1Allgemeine Einführung

1.2Lernverhalten

1.2.1Habituation

1.2.2Desensibilisierung

1.2.3Konditionierung

1.2.4Gegenkonditionierung

1.2.5Sozialisation und soziales Lernen

1.2.6Umgang mit unerwünschtem Verhalten

1.3Handling und Propädeutik

1.3.1Kleine Nager

1.3.2Meerschweinchen

1.3.3Kaninchen

1.3.4Frettchen

1.3.5Sittiche und Papageien

1.3.6Reptilien

1.4Medical Training

1.5Neophobie

1.6Orale Gabe von Medikamenten

1.6.1Nager und Kaninchen

1.6.2Sittiche und Papageien

1.6.3Reptilien

1.7Fixation

1.8Kooperationssignal

1.9Tellington TTouch®-Methode

1.9.1Basis-TTouch

1.9.2Kleine Nager

1.9.3Meerschweinchen und Kaninchen

1.9.4Reptilien

1.9.5Sittiche und Papageien

 2 KaninchenPatricia Solms, Dorothea Döring

2.1Allgemeine Einführung

2.2Verhaltensprobleme

2.2.1Management

2.3Aggression

2.3.1Intraspezifische Aggression

2.3.2Interspezifische Aggression

2.3.3Management

2.4Angstverhalten

2.4.1Management

2.5Abnormal-repetitives Verhalten

2.5.1Management

 3 MeerschweinchenBarbara Schneider

3.1Allgemeine Einführung

3.2Verhaltensprobleme

3.2.1Management

3.3Aggression

3.3.1Intraspezifische Aggression

3.3.2Interspezifische Aggression

3.4Angstverhalten

3.4.1Management

3.5Abnormal-repetitives Verhalten

3.5.1Management

 4 ChinchillasBarbara Schneider

4.1Allgemeine Einführung

4.2Verhaltensprobleme

4.2.1Management

4.3Aggression

4.3.1Intraspezifische Aggression

4.3.2Interspezifische Aggression

4.4Angstverhalten

4.4.1Management

4.5Abnormal-repetitives Verhalten

4.5.1Management

 5 DegusBarbara Schneider

5.1Allgemeine Einführung

5.2Verhaltensprobleme

5.2.1Management

5.3Aggression

5.3.1Intraspezifische Aggression

5.3.2Interspezifische Aggression

5.4Angstverhalten

5.4.1Management

5.5Abnormal-repetitives Verhalten

5.5.1Management

 6 RattenDorothea Döring

6.1Allgemeine Einführung

6.2Verhaltensprobleme

6.2.1Management

6.3Aggression

6.3.1Intraspezifische Aggression

6.3.2Interspezifische Aggression

6.4Angstverhalten

6.4.1Management

6.5Abnormal-repetitives Verhalten

6.5.1Management

 7 GoldhamsterDorothea Döring

7.1Allgemeine Einführung

7.2Verhaltensprobleme

7.2.1Management

7.3Aggression

7.3.1Interspezifische Aggression

7.4Angstverhalten

7.4.1Management

7.5Abnormal-repetitives Verhalten

7.5.1Management

 8 RennmäusePatricia Solms

8.1Allgemeine Einführung

8.2Verhaltensprobleme

8.2.1Management

8.3Aggression

8.3.1Intraspezifische Aggression

8.3.2Interspezifische Aggression

8.4Angstverhalten

8.4.1Management

8.5Abnormal-repetitives Verhalten

8.5.1Management

 9 Farb- und AlbinomäusePatricia Solms

9.1Allgemeine Einführung

9.2Verhaltensprobleme

9.2.1Management

9.3Aggression

9.3.1Intraspezifische Aggression

9.3.2Interspezifische Aggression

9.4Angstverhalten

9.4.1Management

9.5Abnormal-repetitives Verhalten

9.5.1Management

 10 FrettchenBarbara Schneider

10.1Allgemeine Einführung

10.2Verhaltensprobleme

10.2.1Management

10.3Aggression

10.3.1Intraspezifische Aggression

10.3.2Interspezifische Aggression

10.4Angstverhalten

10.4.1Management

10.5Abnormal-repetitives Verhalten

10.5.1Management

 11 Papageien und SitticheWerner Lantermann

11.1Allgemeine Einführung

11.2Verhaltensprobleme versus Verhaltensstörungen

11.2.1Verhaltensprobleme

11.2.2Verhaltensstörungen

11.3Aggression

11.3.1Intraspezifische Aggression

11.3.2Interspezifische Aggression

11.4Angstverhalten

11.4.1Management

11.5Abnormal-repetitives Verhalten

11.5.1Management

 12 ReptilienPetra Kölle

12.1Allgemeine Einführung

12.1.1Haltung

12.1.2Ernährung

12.1.3Verhalten

12.2Verhaltensprobleme

12.3Aggression

12.3.1Intraspezifische Aggression

12.3.2Interspezifische Aggression

12.4Angstverhalten

12.5Abnormal-repetitives Verhalten

 

Anhang

Glossar

Autorinnen und Autoren

Zum Weiterlesen

Sachverzeichnis

Abbildungsnachweise

ZUSATZMATERIAL ONLINE

Autorinnen und Autor haben Infoblätter zur Weitergabe an Patientenbesitzer und Videos zusammengestellt. Sie finden diese zum Download auf tfa-wissen.de unter folgendem Link: www.tfa-wissen.de/download_0270_solms

Vorwort

„Denn auch die kleinen Tiere haben es verdient!“

Liebe Leserinnen und Leser,

Für Hunde und Katzen hat die Verhaltensberatung schon länger Einzug in die Tierarztpraxen gehalten. Allerdings wird mit zunehmender Beliebtheit weiterer Spezies als Haustier auch deren Anteil in den Praxen immer größer. Dabei sind die Ansprüche der Besitzer stetig gestiegen. Ein CT bei der Ratte, Operationen bei Farbmaus und Hamster oder auch Blutentnahmen bei Meerschweinchen & Co. sind längst keine Seltenheit mehr. Doch nicht nur bei organischen Erkrankungen ist der Tierarzt die erste Anlaufstelle. Oftmals ist er für Kleintierbesitzer auch bei Fragen zur Haltung oder Verhaltensproblemen sogar der einzige Ansprechpartner.

Die Haltungsbedingungen haben sich in den letzten Jahren zwar verbessert und die Kenntnisse über Bedürfnisse der einzelnen Spezies Dank des Internets ebenso, doch für eine kompetente Beratung auf diesem Gebiet ist noch mehr erforderlich. An den Universitäten wird diesem Thema leider immer noch viel zu wenig Beachtung geschenkt. Fachkundige Literatur oder Fortbildungsveranstaltungen sind ebenso rar gesät und machen dieses Buch längst überfällig. Um ein gewisses Grundwissen zu vermitteln, soll das vorliegende Buch daher einen ersten Einblick in häufige Verhaltensprobleme bei kleinen Heimtieren und mögliche Therapieansätze liefern. Nicht nur für Tiermedizinische Fachangestellte, sondern für alle, die sich dafür interessieren. Denn auch die „kleinsten der Kleinen“ haben ein Recht auf die bestmögliche Behandlung in allen Bereichen!

Mein besonderer Dank geht diesmal an die Autoren, die sich nicht „zu schade“ dafür waren, sich auch den kleinen und exotischen Tieren zu widmen. Ein weiterer großer Dank geht an die Schlütersche Fachmedien GmbH, welche sich dazu bereiterklärt hat, ein Buch über die „besonderen Spezies“ zu verlegen und mit diesem dritten Werk die Reihe über Verhaltensprobleme und deren Management zu komplettieren.

Erneut danke ich den vielen Tiermedizinischen Fachangestellten, die tagtäglich ihr Leben den Tieren widmen und meinem Mann, der nicht müde wird, mich in meinem Tun zu unterstützen.

Widmen möchte ich dieses Buch meinen eigenen (leider längst verstorbenen) Heimtieren: Sheldon, Luna, Merlin, Joschka, Pucki, Grufti, Elli Pirelli, Hobbes, Keule, Schröder, Moppel, Cindy, Koko, Moses, Wilma sowie allen meinen „adoptierten“ C57- und BALB-Mäusen.

1Trainingsmethoden bei Heimtieren

Daniela Zurr

1.1Allgemeine Einführung

Unter dem Begriff „Heimtiere“ versammelt sich ein breites Spektrum an Tierarten. Diese reichen von kleinen Nagern, wie Mäusen, Ratten und Gerbilen, bis zu etwas größeren Säugetieren, wie Kaninchen, aber auch Reptilien und viele Vogelarten. Die Grundlagen des Lernens sind für alle Tiere gleich. Jedes Tier ist grundsätzlich lernfähig, sonst könnte es nicht überleben, und somit ist auch jedes Tier trainierbar. Dem Lernen sind jedoch natürliche Grenzen gesetzt, z. B. aufgrund anatomischer Gegebenheiten. So kann beispielsweise eine Schildkröte keine Gegenstände mit den Füßen greifen.

Viele Heimtiere gehören zu noch nicht domestizierten Arten, diese sind häufig etwas weniger „fehlertolerant“ als domestizierte Arten, die oft auch dann noch die menschliche Nähe suchen, wenn sie zuvor schon negative Erfahrungen mit Menschen gemacht haben. Bei Wildtieren ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich bei Trainingsfehlern zurückziehen oder nur noch schwer zum Mitmachen zu motivieren sind, deutlich höher. Umso wichtiger ist ein sorgfältig und systematisch aufgebautes Training. Artspezifische Besonderheiten stellen den Halter beim Training vor unterschiedliche Herausforderungen. Beispielsweise kann es bei sehr kleinen, sich schnell bewegenden Tieren, wie z. B. Mäusen, schwieriger sein, im richtigen Moment zu belohnen.

BEACHTE

Das Wissen über das Normalverhalten und die Körpersprache der jeweiligen Art ist Voraussetzung für ein sinnvoll aufgebautes Training. Anhand des Normalverhaltens kann man erkennen, welche Trainingsaufgaben für das Tier leichter zu erlernen sind und welche schwieriger. So ist eine bewegungsaktive Art einfacher zu trainieren, von einer Stelle zu einer anderen zu laufen, während längeres Stillsitzen für sie eine schwierigere Aufgabe darstellt.

Die Anforderungen des Trainings sollten an die Körpersprache des Tieres angepasst werden. Daher ist ein möglichst genaues Wissen über die Körpersprache hilfreich, um den emotionalen Zustand des Tieres zu erkennen: Ist es entspannt, aufmerksam oder schon etwas ängstlich?

Viele Heimtiere lernen am besten, wenn die Trainingseinheiten kurz sind und immer wieder von kleinen Pausen unterbrochen werden.

PRAXISTIPP

Grundsätzlich sollte das Training so gestaltet sein, dass das Tier freudig mitarbeitet und viele Erfolgserlebnisse hat (positive Verstärkung).

1.2Lernverhalten

Alle Tiere lernen permanent, nicht nur wenn der Halter sich entscheidet, mit ihnen zu trainieren. Jedes Mal, wenn ein Mensch in den Wahrnehmungsbereich des Tieres kommt, findet Lernen statt. Wie der Alltag mit den Heimtieren gestaltet wird, hat somit erheblichen Einfluss darauf, ob sich die Tiere in ihrem Zuhause wohlfühlen und wie die gezielt geplanten Trainingseinheiten ablaufen.

Der Ort, an dem der Käfig, das Terrarium oder die Voliere steht, hat erheblichen Einfluss darauf, ob sich die Heimtiere wohlfühlen und wie viel sie vom Alltag der Menschen mitbekommen. Bei den meisten Arten ist es sinnvoll, einen ruhigen Standort zu wählen. Gleichzeitig sollte ein Zimmer gewählt werden, in dem sich regelmäßig Menschen aufhalten. Stehen die Heimtiere in einem nur wenig benutzten Zimmer, neigen zum einen die Halter eher dazu, die Versorgung zu vernachlässigen und zum anderen nehmen viele Heimtiere das Betreten des Zimmers durch einen Menschen als etwas Ungewöhnliches und damit potenziell Bedrohliches wahr.

Ob mit jedem einzelnen Tier intensiv trainiert oder nur eine gewisse Gewöhnung an den Menschen angestrebt wird, hängt stark von der Anzahl der gehaltenen Tiere ab. So halten viele Reptilienzüchter Dutzende bis Hunderte Tiere, sodass ein Einzeltraining nicht möglich ist. Der typische Heimtierhalter hingegen hat nur wenige Tiere und sollte zeitlich in der Lage sein, sich mit diesen Tieren intensiv zu beschäftigen.

1.2.1Habituation

Bei der Habituation kommt es zu einer „Gewöhnung“ an einen sich wiederholenden Reiz, sodass die Reaktion des Tieres auf diesen Reiz im Laufe der Zeit immer schwächer wird. Die Habituation ist gerade in den ersten Wochen nach dem Einzug neuer Heimtiere wichtig. Im besten Fall gewöhnen sich die Tiere an die typischen Geräusche, Gerüche und optischen Eindrücke des Haushaltes, in dem sie jetzt leben und reagieren auf diese nach einer Weile nicht mehr. Damit die Habituation gelingt, müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden:

• Der Reiz darf weder positive noch negative Konsequenzen haben.

• Der Reiz tritt immer wiederholt auf oder hält über längere Zeit an.

• Der Reiz ist so schwach, dass er keine stärkere emotionale Reaktion des Tieres auslöst.

Die Habituation an bestimmte Reize kann sehr unterschiedlich verlaufen: An leise Haushaltsgeräusche, z. B. das Geräusch einer Spülmaschine, gewöhnen sich die meisten Tiere sehr schnell, eine Habituation an das Geräusch des Staubsaugens ist hingegen viel unwahrscheinlicher, weil der Reiz für die meisten Tiere zu stark ist und deshalb ohne eine gezielte Desensibilisierung und Gegenkonditionierung (Kap. 1.2.2, Kap. 1.2.4) bei ihnen Furcht auslöst. Bei der Beurteilung der Reizintensität müssen unbedingt die unterschiedliche Hör- und Sehfähigkeiten der Tierarten berücksichtigt werden. So hören und kommunizieren manche Arten, z. B. Ratten und Gerbile, auch im Ultraschallbereich, der unserem Ohr nicht zugänglich ist (Kap. 5.1, Kap. 8.1). Andere Arten, wie z. B. Schlangen, hören nur sehr eingeschränkt und nehmen dafür Erschütterungen und Vibrationen sehr genau war (Kap. 12.1). Somit würde eine Schlange, wenn ihr Terrarium in der Nähe der Musikanlage steht, die Erschütterungen durch die Bässe deutlich spüren.

1.2.2Desensibilisierung

Bei der systematischen Desensibilisierung erfolgt ebenfalls eine Gewöhnung an einen Reiz. Diese Gewöhnung wird erreicht, indem das Heimtier gezielt in sehr kleinen Schritten mit dem auslösenden Reiz konfrontiert wird. Damit eine Desensibilisierung gelingt, müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden:

• Der Reiz muss so schwach sein, dass das Tier nicht oder nur minimal und kurz reagiert.

• Die Stärke des Reizes wird in so kleinen Schritten gesteigert, dass das Tier weiter entspannt bleibt und keine Reaktion zeigt.

• Der Reiz darf während des Trainings nicht unkontrolliert auftreten.

Beispiel für eine Desensibilisierung

Eine Kornnatter zeigt Anspannung beim Öffnen der Terrarientür, z. B. wenn die Tierhalterin das Wasser wechseln möchte. Dies ist körpersprachlich daran zu erkennen, dass die Schlange ihren Vorderkörper in ein waagrechtes „S“ legt. Außerdem züngelt sie hochfrequent. Damit die Schlange sich an das Öffnen der Tür gewöhnen kann, beginnt die Halterin zunächst damit, nur die Hand an die Scheibe zu legen. Hierauf zeigt die Schlange keine Reaktion. Die Halterin wiederholt diese Bewegung mehrfach. Dann öffnet sie die Scheibe des Terrariums nur circa 1 cm weit und schließt sie danach sofort wieder. So arbeitet sie sich in kleinen Schritten über mehrere Tage vor, bis sie in das Terrarium greifen kann und die Schlange ruhig liegen bleibt. Bis dahin wechselt sie das Wasser regelmäßig an Zeitpunkten, an denen die Schlange sich sowieso in ihr Versteck zurückgezogen hat.

BEACHTE

Nach einer erfolgreichen Desensibilisierung sollte man nicht davon ausgehen, dass das Tier das erwünschte Verhalten auch zukünftig beibehält, sondern man sollte immer bedenken, dass es sich auch wieder ändern kann. Auch wenn Tiere beim Hineingreifen der Halterin in den Käfig oder das Terrarium lange friedlich waren, können hormonelle Veränderungen, z. B. durch Eiablage oder Trächtigkeit, dazu führen, dass die Tiere plötzlich ein aggressives Verhalten zeigen.

1.2.3Konditionierung

Eine bestimmte Assoziation findet häufig statt und wird fest im Gehirn verankert, das heißt, sie wird erlernt. Es werden zwei Formen der Konditionierung unterschieden:

Klassische Konditionierung

Ein zunächst neutraler Reiz wird mit einem reflexauslösenden Reiz gekoppelt. Hierdurch kommt es nach der Verknüpfung zu einer „reflexartigen“ oder emotionalen Reaktion auf den ursprünglich neutralen Reiz. Diese Reaktion ist nicht bewusst steuerbar und findet weitgehend ortsunabhängig statt.

Beispiel für eine klassische Konditionierung

Ein leises „Clickgeräusch“ hat für das Tier zunächst keine Bedeutung. Erhält das Tier mehrfach sofort nach dem Click eine Futterbelohnung, wird das Geräusch mit dem Futter assoziiert. Da viele Heimtiere sehr geräuschempfindlich sind, ist das Geräusch eines „normalen“ Clickers oft zu laut. In diesen Fällen kann auch das Klicken eines Kugelschreibers, ein leises Zungenschnalzen oder ein Wort verwendet werden. Taube Tieren können auf ein optisches Signal konditioniert werden.

Instrumentelle Konditionierung

Bei der instrumentellen Konditionierung wird die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines zukünftigen Verhaltens entweder erhöht oder erniedrigt. Das Tier lernt, weil sein Verhalten Konsequenzen hat (Tab. 1-1). Dies wird auch als „Lernen am Erfolg“ bezeichnet. Früher hat man auch von Lernen durch „Versuch und Irrtum“ gesprochen. Gutes Training zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass es so gestaltet wird, dass das Tier in den allermeisten Fällen das erwünschte Verhalten zeigt und hierfür belohnt werden kann. Lässt man zu, dass im Training zu viele Fehler passieren, nimmt die Frustration des Tieres zu und damit seine Bereitschaft, beim Training mitzumachen, ab.

In der Humanpsychologie wird zudem zwischen operanter und instrumenteller Konditionierung unterschieden: Bei der operanten Konditionierung interagiert das Tier mit seiner Umwelt. Das gezeigte Verhalten (die „Operation“) löst eine Reaktion der Umwelt aus. Viele Verhaltensweisen der operanten Konditionierung treten spontan auf. Je nach Reaktion der Umwelt können sie dann in Zukunft häufiger auftreten.

Beispiel für eine operante Konditionierung

Eine Schlange kriecht durch ihr Terrarium und drückt ihre Schnauzenspitze in Spalten. An einem Tag wurde die Schiebetür des Terrariums nicht sorgfältig geschlossen. Der Schlange gelingt es, sich in den Spalt zu drücken, die Schiebetür noch etwas weiter aufzuschieben und aus dem Terrarium zu entkommen. Nach dem Wiedereinfangen sucht sie dieselbe Stelle wieder auf und versucht ausdauernd mit der Schnauzenspitze wieder die Spalte zu finden.

Bei der Anwendung im Training mit Tieren haben diese Bezeichnungen eher einen historisch-kulturellen Hintergrund. In den USA wird der Begriff „operant conditioning“ häufiger benutzt, in Europa spricht man eher nur von „instrumental conditioning“.

Tab. 1-1 Überblick über das Lernen anhand von Konsequenzen

Verstärkung

Strafe

positive

Etwas Angenehmes wird hinzugefügt.

Etwas Unangenehmes wird hinzugefügt.

negative

Etwas Unangenehmes wird entfernt.

Etwas Angenehmes wird entfernt.

Abb. 1-1 Futter ist ein vielseitig einsetzbarer positiver Verstärker.

Positive Verstärkung: Ein Tier zeigt ein bestimmtes Verhalten häufiger, wenn es dafür etwas Gutes/Begehrtes erhält. Das Training sollte zum Großteil auf positiver Verstärkung beruhen, da auf diese Art Tiere entspannt, tierschutzgerecht und schnell lernen. Das Tier erhält für ein erwünschtes Verhalten, z. B. für das „Männchen machen“ beim Kaninchen, ein Leckerli (Abb. 1-1), ein Spielzeug oder ein Kraulen an der Lieblingsstelle.

Negative Verstärkung: Ein Tier zeigt ein Verhalten in Zukunft häufiger, wenn etwas Unangenehmes beendet oder entfernt wird. Da durch diese Art der Verstärkung dem Tier zuvor etwas Unangenehmes widerfährt, sollte diese Lernform nur dann eine Rolle spielen, wenn unangenehme Reize nicht zu vermeiden sind. Dies kann beispielsweise bei tiermedizinischen Behandlungen der Fall sein (Kap. 1.8). Ist z. B. ein Meerschweinchen bei einer Untersuchung schon etwas angespannt, bleibt aber noch ruhig, kann es zügig in die Transportbox zurückgesetzt werden. In dem Fall wird das ruhige Verhalten durch das „Verschwinden“ der untersuchenden Hände verstärkt. Ist ein neu eingezogenes Heimtier noch so ängstlich, dass es schon bei Annäherung an den Käfig flieht, kann man das Zimmer betreten und mit viel Abstand zum Käfig ruhig stehen bleiben. Wenn sich das Tier entspannt (erkennbar z. B. an der veränderten Körperhaltung oder dem Weiterfressen), verlässt man wieder den Raum.

Positive Strafe: Ein Tier zeigt ein unerwünschtes Verhalten seltener, wenn etwas Unangenehmes hinzugeführt wird. Dieses Vorgehen hat bei allen Tierarten viele potenzielle Nebenwirkungen. Bei Heimtieren, von denen viele Arten Fluchttiere und schreckhaft sind, ist das Risiko, dass es Angst oder Panik bekommt, noch größer als bei manch anderen Tierarten. Das Ziel, dass ein unerwünschtes Verhalten in Zukunft seltener oder im besten Fall gar nicht mehr auftritt, lässt sich im Rahmen eines Tiertrainings in der Regel durch schonendere Trainingsansätze, z. B. das Training eines Alternativverhaltens, erreichen. Positive Strafe ist daher in den meisten Fällen überflüssig und in vielen Fällen tierschutzrelevant.

Negative Strafe: Ein Tier zeigt ein unerwünschtes Verhalten seltener, wenn etwas Angenehmes entzogen wird. Der Einsatz negativer Strafe kann in wenigen Situationen sinnvoll sein. Wenn ein Tier beim Übergeben eines Leckerlis grob nach diesem schnappt, kann dieses zurückgezogen und damit kurzfristig etwas Angenehmes entfernt werden. Versuchen Tiere die Aufmerksamkeit des Menschen durch unerwünschte Verhaltensweisen, z. B. durch Kratzen an der Terrarienscheibe oder Zähnewetzen am Gitter, zu erreichen, ist es sinnvoll, sich bewusst abzuwenden und den Tieren die Aufmerksamkeit zu entziehen.

1.2.4Gegenkonditionierung

Klassische Gegenkonditionierung

Diese folgt dem Prinzip der klassischen Konditionierung, mit dem Unterschied, dass bei der Gegenkonditionierung der Reiz nicht neutral, sondern negativ besetzt ist und dieser durch die Gegenkonditionierung hin zu einem positiven Reiz konditioniert wird. Wenn sich ein Tier z. B. schon mehrfach vor der menschlichen Hand erschreckt hat, kann diesem Tier immer dann, wenn die Hand vor ihm auftaucht, ein kleines Leckerli zugeworfen oder aus der Hand gegeben werden (je nachdem wie viel Abstand nötig ist, damit sich das Tier sicher fühlen kann). Dadurch verbindet das Tier im Laufe des Trainings mit einem zuvor negativen Reiz, nämlich der Hand, ein positives Gefühl.

Instrumentelle Gegenkonditionierung

Wenn ein Tier auf einen Reiz schon ein unerwünschtes Verhalten zeigt, kann dieses durch die instrumentelle Gegenkonditionierung durch ein erwünschtes Verhalten ersetzt werden. Das erwünschte Verhalten sollte dabei so gewählt werden, dass es nicht gleichzeitig mit dem unerwünschten Verhalten ausgeführt werden kann.

Beispiel für eine instrumentelle Gegenkonditionierung

Bisher wurde eine Gruppe Kaninchen immer aus dem Käfig gelassen, wenn diese an der Tür gescharrt und mit den Zähnen am Gitter gewetzt haben. Zukünftig wird die Tür erst dann zum Auslauf geöffnet, wenn die Tiere ruhig warten. Der Zugang zum Freilauf ist hier ein positiver Verstärker, sodass die Tiere ein ruhiges Warten auch in Zukunft immer häufiger zeigen werden.

EXKURS CLICKERTRAINING

Beim Clickertraining wird ein zunächst neutrales Geräusch klassisch konditioniert und somit mit einem primären Verstärker, meistens Futter, verknüpft. Die Lautstärke des Klickgeräuschs sollte an die Tierart und den Abstand zum Tier angepasst werden. Reptilien und Großpapageien kommen meist gut mit dem „normalen“ Clicker, der auch im Hundetraining Verwendung findet, zurecht.

Für Kleinvögel und Nager ist dieser oft zu laut. Hier sollten leisere Modelle oder einfach ein Kugelschreiber benutzt werden. Das Klickgeräusch markiert ein erwünschtes Verhalten und im Anschluss erfolgt die Belohnung mit Futter oder Spielzeug. Der Clicker hat gegenüber der reinen Futtergabe den Vorteil, dass das erwünschte Verhalten zeitgenau markiert werden kann, auch wenn der Mensch etwas mehr Abstand zum Tier hat. So kann beispielsweise bei einem Rückruftraining das Losrennen des Tieres in Richtung Halter mit dem Clicker markiert werden, die Belohnung erhält das Tier dann beim Halter.

Anstelle eines Clickers kann, insbesondere wenn die Hände frei sein sollen, auch ein Zungenschnalzer oder ein Wort benutzt werden. Das Wortsignal sollte kurz und prägnant sein und im Alltag nicht verwendet werden. Häufig verwendete Wörter sind „Top“, „Klick“ oder „Jepp“. Diese Geräusche werden auch als Markersignale bezeichnet, weil sie das erwünschte Verhalten „markieren“ und die Belohnung ankündigen. Mit dem Clickertraining können für den Alltag relevante Verhaltensweisen, Tricks oder die Kooperation bei tiermedizinischen Maßnahmen trainiert werden.

Ist der Halter noch unerfahren im Clickertraining, bietet es sich an, mit Verhaltensweisen anzufangen, deren korrekte Ausführung für den Alltag mit dem Tier nicht wichtig sind, z. B. Männchen machen oder Pfote geben. Ein Wortsignal für eine Verhalten wird erst eingeführt, wenn das Tier das Endverhalten zuverlässig zeigt.

Ein Video mit Clickertraining beim Meerschweinchen finden Sie auf tfa-wissen.de unter: svg.to/clickertraining-meerschwein

Möglichkeiten, ein neues Verhalten zu trainieren:

•Locken: Insbesondere für das Erlernen bestimmter Körperpositionen kann das Locken mit Futter hilfreich sein, z. B. führt das Anheben der Hand mit einem Stückchen Futter über dem Kopf eines Kaninchens häufig zu einem Aufrichten auf die Hinterbeine. Nicht geeignet ist das Locken in Situationen, in denen das Tier ängstlich oder gestresst ist. Es sollte beispielsweise nicht versucht werden, ein scheues Tier zum Menschen zu locken, wenn es körpersprachlich deutlich anzeigt, dass ihm die Nähe zum Menschen eigentlich noch zu viel ist.

In dieser Situation würde das Tier in einen unangenehmen emotionalen Konflikt geraten, der das Lernen negativ beeinträchtigt. Wird bei einem entspannten Tier eine bestimmte Körperposition durch Locken hervorgerufen, ist es wichtig, im weiteren Training das Lockmittel schnell wieder auszuschleichen, da es sonst Teil des Signals wird und das Tier das Verhalten nur in Anwesenheit des Lockmittels zeigen wird. Das Ausschleichen kann z. B. erfolgen, indem das Futter zunächst sichtbar in der Hand gehalten wird, dann mehr versteckt wird und schließlich die gleiche Bewegung mit der leeren Hand ausgeführt wird.

Abb. 1-2 zeigt das Locken von Halsbandsittichen, indem das Futter mit der Hand angeboten wird.

•Targettraining: Das Locken mit Futter hat den Nachteil, dass manche Tiere zu sehr auf das Futter fokussiert sind und kaum wahrnehmen, was sie gerade tun. Im Zootiertraining werden deshalb schon lange eine Vielzahl an „Targets“ (= Zielpunkte) verwendet. Bei vielen Heimtieren ist es am einfachsten, ein Nasen- (Abb. 1-3) oder Schnabeltarget zu trainieren. Wenn sie nicht sehr scheu sind, nähern sie ihren Kopf sowieso an einen neuen Gegenstand, der in ihrem Gesichtsfeld auftaucht. Wenn dies sofort gemarkert und belohnt wird, erlernen die Tiere das Berühren des Targets sehr schnell. Neben Nasen- oder Schnabeltargets können auch Bodentargets oder Targets für andere Körperteile eingesetzt werden. Bodentargets sind z. B. praktisch beim Training verschiedener Tiere. Diese können dann jeweils auf ihrem Target warten, bis sie an der Reihe sind und für das ruhige Warten belohnt werden.

Ein Video zum Targettraining mit einer Bartagame finden Sie auf tfa-wissen.de unter:

svg.to/target-bartagame

Abb. 1-2 Anlocken mit Futter

Abb. 1-3 Targettraining mit einem Kaninchen

•Shaping: Unter Shaping versteht man das Herausarbeiten eines Endverhaltens in kleinen Teilschritten. Hierbei wird jeder Zwischenschritt in die richtige Richtung markiert und anschließend belohnt. Nachteil dieses Verfahrens kann sein, dass viele Zwischenschritte bis zum Endziel erforderlich sind. Vorteil des Shapings ist, dass das Tier durch die kleinen Zwischenschritte sehr viele Erfolgserlebnisse hat und selbst kreativ herausfinden kann, was das Endziel ist. Daher eignet sich Shaping gut zur kognitiven Auslastung von Tieren und wenn der Halter seine Beobachtungsgabe und sein Timing verbessern möchte.

Ein Infoblatt zum Shaping als Methode im Heimtiertraining zur Weitergabe an Patientenbesitzer finden Sie auf tfa-wissen.de unter:

svg.to/shaping-heimtier

BEACHTE

Einfangen von Verhalten

Manchmal zeigen Heimtiere spontan Verhaltensweisen, die uns gefallen. Diese können geclickt und belohnt werden. Dieses Verfahren eignet sich am besten für Verhaltensweisen, die häufig spontan gezeigt werden.

Beispielsweise laufen Mäuse oder Gerbils oft in angebotene Röhren. So kann beispielsweise das Betreten der Röhre mit einem Clicker markiert und beim Verlassen der Röhre ein Leckerli gegeben werden. Wo die Futtergabe erfolgt, hat Einfluss darauf, welches Verhalten das Tier in Zukunft öfters zeigen wird. Soll es lernen, durch die Röhre zu rennen, sollte das Futter außerhalb der Röhre gegeben werden. Soll das Verweilen in der Röhre trainiert werden, ist es sinnvoll, das Futter noch innerhalb der Röhre zu übergeben (Abb. 1-4).

Abb. 1-4 Mäuse, Ratten und andere kleine Nager lassen sich gut umsetzen, indem man sie in Röhren transportiert. Das Verweilen in der Röhre kann mit Clickertraining und Belohnung in der Röhre trainiert werden.

1.2.5Sozialisation und soziales Lernen

Sozialisation

Sowohl bezüglich der Sozialisation mit Artgenossen als auch mit Menschen gibt es arttypische Zeiträume in der Jungtierentwicklung, in denen ein Kontakt zu Artgenossen und Menschen notwendig ist, um eine optimale Entwicklung des Sozialverhaltens zu ermöglichen. Tiere, die in diesen Zeiträumen einzeln gehalten wurden, haben oft erhebliche Probleme in der Kommunikation mit Artgenossen und können nur schwer – manchmal auch gar nicht mehr – vergesellschaftet werden. Je komplexer das Sozialverhalten einer Art ist, desto erheblicher sind die Defizite bei einer Einzelhaltung. Manche Heimtierarten, die in diesem Alter engen Kontakt zum Menschen, aber nicht zu Artgenossen haben, sehen den Menschen als alleinigen Partner an und zeigen ihm gegenüber Paarungsverhalten. Dies kann z. B. bei Papageien (Kap. 11.3.2) und Grünen Leguanen (Kap. 12.3.2) beobachtet werden. Umgekehrt können Tiere bei zu seltenem oder ganz unterbliebenem Kontakt zu Menschen in der Sozialisierungsphase eine erhebliche Scheuheit gegenüber Menschen zeigen. Dies erhöht das Risiko für chronischen Stress und erschwert die Trainings- und Behandlungsmaßnahmen.

Soziales Lernen

Viele Heimtiere lernen besser gemeinsam mit ihrem Partner oder ihrem Artgenossen, weil sie sich dann sicherer fühlen. Innerhalb der Gruppe kommt es zu Stimmungsübertragung und Verhaltenssynchronisation. Dies ermöglichst beispielsweise Beutetieren eine abgestimmte Flucht der gesamten Gruppe oder des Schwarms (Kap. 11.1). Umgekehrt kann das soziale Lernen aber auch für das Vertrautwerden mit dem Menschen genutzt werden. Daher ist es sinnvoll, ein scheues Tier, wann immer möglich, mit einem oder mehreren mit den Menschen gut sozialisierten Tieren zu vergesellschaften. Ist das Tier neu in der Gruppe, lässt man es zunächst komplett in Ruhe und schenkt ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Gleichzeitig können die Tiere, die mit den Menschen vertraut sind, trainiert werden, während das scheue Tier einfach dabei zusieht. In der Regel wird so eine schnellere Annäherung an den Menschen erreicht, als wenn dem Tier der Kontakt aufgezwungen wird. Bei sozial lebenden Arten erwartet man, dass diese ihre Artgenossen beobachten und von ihnen lernen. Doch auch einige Arten, die in der Natur als Einzelgänger leben, können über Beobachtung lernen. So ist von Bartagamen bekannt, dass sie das Öffnen einer kleinen Schiebetür mit Futter dahinter durch Beobachtung von Artgenossen erlernen können, genauso wie Schildkröten auf diese Weise das Umgehen von Hindernissen auf dem Weg zu einer Futterquelle erlernen können.

BEACHTE

Der Transport zum Tierarzt sollte bei sozial lebenden Arten mit wenigstens dem Bindungspartner erfolgen, bei kleineren Arten wie Mäusen oder Degus mit der ganzen Gruppe.

1.2.6Umgang mit unerwünschtem Verhalten

Tierhalter fragen oft in der Tierarztpraxis nach, wie sie reagieren sollen, wenn ihr Heimtier ein unerwünschtes Verhalten zeigt, z. B. in den Finger beißt oder im Freilauf Möbel anknabbert. Diese Fragestellung beinhaltet, dass das Verhalten schon aufgetreten ist und im Nachhinein gehandelt werden soll, was in den meisten Fällen keine optimale Vorgehensweise ist. Vor jeder Intervention müssen sorgfältig die Lebensumstände des Tieres und die Ereignisse, die diesem Verhalten vorausgegangen sind, abgeklärt werden. Bevor vorschnell Tipps gegeben werden, wie man das unerwünschte Verhalten vermeintlich schnell abstellen kann, müssen daher folgende Fragen geklärt werden:

•Werden die arttypischen Bedürfnisse des Heimtieres in der Haltung erfüllt (siehe jeweils bei den einzelnen Arten)?

• Ist das Tier gesund oder gibt es Hinweise auf eine mögliche Erkrankung?

• Was geht dem unerwünschten Verhalten voran?

• Was ist die Konsequenz aus dem unerwünschten Verhalten?

Beispiele für den Umgang mit unerwünschtem Verhalten

Ein Vogelhalter fragt nach, was er tun kann, wenn sein Papagei ihn in den Finger beißt. Doch eine eindeutige Antwort kann schwierig sein, da für dieses Verhalten eine Vielzahl an Ursachen verantwortlich sein kann:

• Der Papagei wird einzeln gehalten und sieht den Menschen als Partner an. Das Balzverhalten gegenüber dem Menschen kann irgendwann in Aggression umschlagen (Kap. 11.3.2).

→ Die Haltungsbedingungen müssen geändert werden. Der Papagei muss mit Artgenossen vergesellschaftet werden.

• Der Papagei beißt in den Finger, wenn die Hand zum Aufsteigen angeboten wird. Wenn der Papagei unsicher ist und dies körpersprachlich, z. B. durch ein Weglehnen von der Hand anzeigt, kann es sein, dass er bei weiterem Bedrängen aus Angst zubeißt (Abb. 1-5, Kap. 11.3.2).

→ Der Halter muss über die Körpersprache von Papageien aufgeklärt und das Training geändert werden. Das Aufsteigen auf die Hand muss in kleinen, individuellen Schritten geübt werden (Link zum Infoblatt „Training des Aufsteigens auf die Hand bei Papageien und Sittichen“, S. 23)

• Der Papagei beißt in den Finger, wenn der Vogelhalter an die Tür greift, um diese für den Freiflug zu öffnen. Deshalb beeilt sich der Halter, die Tür sehr schnell zu öffnen, um möglichst nicht erwischt zu werden.

→ Hierbei handelt sich um ein erlerntes Verhalten. Das In-den- Finger-Beißen, ist durch ein schnelles Öffnen der Tür und damit dem Zugang zum erwünschten Freiflug verstärkt worden. Zukünftig wird die Tür nur noch geöffnet, wenn der Papagei mit Abstand zur Tür wartet. Hierzu muss er evtl. anfangs mit Futter von der Tür weggelockt werden und anschließend das ruhige Warten mit Futter und dem Öffnen der Tür belohnt werden.

Bei jeder Überlegung, wie ein unerwünschtes Verhalten geändert werden kann, sollten somit zunächst die Lebensumstände des Tieres analysiert und die effektivste und positivste Intervention gefunden werden.

Abb. 1-5 Unsichere Amazone: Weiteres Bedrängen kann zum Beißen führen.

1.3Handling und Propädeutik

Aufgrund der Vielzahl der Heimtierarten können zu diesem Thema nur einige Basisinformationen gegeben werden. Für alle Nagetiere, Kaninchen und wahrscheinlich auch Reptilien helfen vertraute Gerüche, sich zu entspannen. Daher sollte in das Transportbehältnis etwas benutzte Einstreu gegeben werden. Es dürfen sich keine schweren Einrichtungsgegenstände, die während des Transports verrutschen und die Tiere verletzen können, im Transportbehältnis befinden. Die Hände sollten vor dem Anfassen der Tiere ebenfalls mit etwas Einstreu eingerieben werden. Grundsätzlich sollten Bewegungen ruhig und langsam erfolgen. Die Stimme sollte leise und freundlich sein. Für das Handling muss die Aktivitätszeit der Tiere beachtet werden, dämmerungs- und nachtaktive Tiere, wie z. B. Goldhamster oder Leopardgeckos, sollten abends gehandelt werden (Kap. 7.1, Kap. 12.1).

1.3.1Kleine Nager

Sind kleine Nager noch nicht an das Handling gewöhnt, können sie am einfachsten umgesetzt werden, indem man sie in eine Röhre laufen lässt und zusammen mit dieser umsetzt. Sind sie mit der menschlichen Hand vertraut, können sie mit beiden Händen höhlenartig umfasst werden. Die Transportbox sollte vor dem ersten Einsatz am besten schon länger im Käfig stehen. Den Aufenthalt in der Box kann man den Nagern „schmackhaft“ machen, indem sie dort immer wieder sehr begehrtes Futter erhalten. Nach und nach wird dann die Tür für kurze Zeiträume verschlossen und die Box kurz angehoben. Die Dauer des Aufenthalts und das Herumtragen der Box wird schrittweise gesteigert (Kap. 5.1, Kap. 6.1, Kap. 7.1, Kap. 8.1, Kap. 9.1).

BEACHTE

Kleine Nager dürfen niemals am Schwanz gepackt und hochgehoben werden. Dies löst bei den Tieren Todesangst aus und kann bei manchen Arten zu erheblichen Verletzungen führen (z. B. Degus). Aus der Labortierkunde ist bekannt, dass das Greifen am Schwanz zu langanhaltenden Verhaltens- und Stresshormonveränderungen führt.

1.3.2Meerschweinchen

Meerschweinchen sind sehr lärmempfindlich und schreckhaft, sodass ein Hochheben der Tiere nicht immer ohne Weiteres möglich ist. Dies kann jedoch mit ihnen geübt werden, indem sie lernen, selber auf die Hand zu klettern und dann mit der zweiten Hand gesichert werden. Müssen sie aus dem Käfig gehoben werden, ohne dass sie selber auf die Hand klettern, werden sie mit zwei Händen gehalten: Eine Hand umfasst dabei sanft den Schultergürtel, die andere Hand stützt den Beckenbereich und die Hinterbeine. Als Transportbehältnis eignet sich ein Katzentransportkorb, der mit einer rutschfesten Unterlage, vertraut riechender Einstreu und einem Versteckplatz aus leichtem Material (z. B. Stoffkuschelhöhle oder Pappkarton) versehen wird. Der Versteckplatz sollte schon eine Weile im Käfig gestanden haben, um vertraut zu riechen. Versteckplätze aus Holz oder ähnlich schwerem Material sollten vermieden werden, da sie zu Verletzungen führen können, wenn der Versteckplatz beim Tragen ins Rutschen gerät. Um Geräusche und visuelle Eindrücke zu reduzieren, sollte der Transportkorb zusätzlich in eine Decke gewickelt werden (Kap. 3.1).

BEACHTE

Kleine Nager und Meerschweinchen meiden offene Flächen und bewegen sich am liebsten mit Wandkontakt (Thigmotaxis). Auf einem freien Behandlungstisch fühlen sie sich extrem unwohl. Daher sollte immer ein Rückzugsort angeboten werden.

1.3.3Kaninchen

Das Hochheben ist für Kaninchen ohne entsprechendes Training mit Stress verbunden und sollte daher in kleinen Schritten trainiert werden. Steht eine dringende Untersuchung an, ist es oft einfacher, zunächst zu trainieren, dass die Tiere freiwillig in die Transportbox gehen. Als Transportbehältnis eignet sich ein Katzentransportkorb, der mit einer rutschfesten Unterlage, vertraut riechender Einstreu und einem Handtuch, unter dem sich die Kaninchen verkriechen können, ausgestattet sein sollte. Wenn eine Box mit abnehmbarem Deckel verwendet wird, können die meisten Untersuchungen mit dem Kaninchen in der Bodenschale sitzend erfolgen (Kap. 2.1).

BEACHTE

Kaninchen dürfen niemals an den Ohren oder dem Nackenfell hochgehoben werden. Die Gliedmaßen sollten immer einen festen Halt haben und das Hinterende im Beckenbereich gesichert werden.

Das Hochheben des Kaninchens sollte geübt werden, entweder indem es mit den Händen umfasst wird oder das Kaninchen zunächst lernt, auf einem Handtuch zu sitzen und mit diesem nach und nach eingewickelt und angehoben wird. Alle Einzelschritte werden mit Futter belohnt. Auch das Clickertraining kann hilfreich sein, um ein erwünschtes Ruhigsitzen genau zu markieren und dann zu belohnen.

1.3.4Frettchen

Frettchen sind als kleine Beutegreifer meist weniger ängstlich als Nager und lassen sich sehr gut trainieren (Kap. 10.1, Kap. 10.4). Da sie 14–20 Stunden pro Tag schlafen, muss für das Training unbedingt eine Aktivitätsphase abgewartet werden. Frettchen kann problemlos beigebracht werden, in eine Transportbox zu gehen und sich von Hand hochheben zu lassen. In der Transportbox sollte es eine Versteckmöglichkeit geben, z. B. ein Handtuch oder Kopfkissenbezug. Außerdem darf nicht unterschätzt werden, durch was für kleine Öffnungen sich Frettchen hindurchwinden können. Die Gittertür einer Katzentransportbox sollte daher unbedingt mit einem engmaschigeren Gitter gesichert werden.

PRAXISTIPP

Bei Untersuchungen lassen sich Frettchen sehr gut an einer Futtertube „andocken“ und halten dann beim Dauerschlecken oft still.

1.3.5Sittiche und Papageien

Bei kleinen Arten, die im Schwarm gehalten werden, muss abgewogen werden, ob das Handling und Einfangen grundsätzlich trainiert werden sollte (Kap. 11.1