Verlockende Finsternis: Midnight Kiss - Band 3 - Shannon Drake - E-Book
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Verlockende Finsternis: Midnight Kiss - Band 3 E-Book

Shannon Drake

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Beschreibung

Denn die Liebe ist unwiderstehlich! Der Urban-Fantasy-Roman »Verlockende Finsternis« von Bestseller-Autorin Shannon Drake als eBook bei dotbooks. Die Literaturkritikerin Jordan Riley reist nach Venedig, um am Maskenball im Palazzo der geheimnisvollen Contessa della Trieste teilzunehmen. Umringt von Gästen in kunstvollsten Kostümen wird sie Zeugin eines blutigen Schauspiels: Vampire greifen die ahnungslosen Gäste an. Im letzten Moment wird Jordan von einem verkleideten Fremden gerettet. Da niemand dem Vorfall auf den Grund gehen möchte, sucht Jordan auf eigene Faust nach der Wahrheit – und ahnt nicht, in welche Gefahr sie sich begibt. Einzig ihr mysteriöser Retter Ragnor Wulfson bietet ihr seine Hilfe an. Doch welches Geheimnis hütet der Mann, zu dem sich Jordan magisch hingezogen fühlt? New-York-Times-Bestseller-Autorin Shannon Drake bietet in ihren Erotic-Fantasy-Romanen alles, was die Fans dieses Genres lieben! »Die Autorin kombiniert Mystery mit knisternder Romantik.« Publishers Weekly »Eine unglaubliche Geschichtenerzählerin.« Los Angeles Daily News Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Urban-Fantasy-Roman »Blutrote Nacht« von Shannon Drake. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 629

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Über dieses Buch:

Die Literaturkritikerin Jordan Riley reist nach Venedig, um am Maskenball im Palazzo der geheimnisvollen Contessa della Trieste teilzunehmen. Umringt von Gästen in kunstvollsten Kostümen wird sie Zeugin eines blutigen Schauspiels: Vampire greifen die ahnungslosen Gäste an. Im letzten Moment wird Jordan von einem verkleideten Fremden gerettet. Da niemand dem Vorfall auf den Grund gehen möchte, sucht Jordan auf eigene Faust nach der Wahrheit – und ahnt nicht, in welche Gefahr sie sich begibt. Einzig ihr mysteriöser Retter Ragnor Wulfson bietet ihr seine Hilfe an. Doch welches Geheimnis hütet der Mann, zu dem sich Jordan magisch hingezogen fühlt?

»Die Autorin kombiniert Mystery mit knisternder Romantik.« Publishers Weekly

»Eine unglaubliche Geschichtenerzählerin.« Los Angeles Daily News

Über die Autorin:

Hinter dem Pseudonym Shannon Drake verbirgt sich die New-York-Times-Bestseller-Autorin Heather Graham. Bereits 1982 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Seitdem hat sie über zweihundert weitere Romane und Novellen verfasst, die in über dreißig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Florida.

Von Shannon Drake erscheinen bei dotbooks ebenfalls:

Blutrote Nacht

Bei Anbruch der Dunkelheit

Das Reich der Schatten

Der Kuss der Dunkelheit

Unter ihrem Namen Heather Graham veröffentlicht sie bei dotbooks:

In den Händen des Highlanders

***

eBook-Neuausgabe März 2019

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel Um Mitternacht in der Verlagsgruppe Weltbild GmbH.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2001 by Shannon Drake

Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP., NEW YORK , NY 10018 USA

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Deep Midnight bei Zebra Books.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2008 Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Rossi Helen, Africa Studio und Vector Tradition

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ca)

ISBN 978-3-96148-752-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Verlockende Finsternis an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuchen Sie uns im Internet:

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www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Shannon Drake

Verlockende Finsternis

Roman

Aus dem Amerikanischen von Angela Schumitz

dotbooks.

Mit aufrichtigem Dank den Mitarbeitern des Max Art Shop gewidmet, einem wundervollen Geschäft in Venedig .Und auch Antonia Sautter, Marie Lo Cueto, Nicole De Leo, Chiara Scomazzon, Tomaso Satta, Francesco Cavaliere, Teresa Lucente, Isabella Pachera, Clivia Muechler, Stefano Dardi, Franca Krippner, Katia Del Neri, Simonetta Perri; vor allem aber Sandra Poletto, die sich hartnäckig und geduldig bemüht, meine italienischen Sprachkenntnisse aufzumöbeln. Außerdem dem Danieli, einem der schönsten Hotels der Welt, und seinen Angestellten, die einfach wunderbar sind. Und nicht zuletzt den unglaublich lieben Freunden, die wir in Venedig gefunden haben – Robin und Michelle Archer, David und Janet G.-W, Natacha Marro, Beatrix Ost und Ludwig Kuttner.

Prolog

Der Mond war voll. Riesengroß stand er am Himmel, eine funkelnde, schimmernde Scheibe, die spöttisch auf die Erde herabzublicken schien.

Obwohl er bei Nacht ausgezeichnet sehen konnte, half ihm das Mondlicht.

Er hatte beschlossen, die Stadt vom Campanile aus zu betrachten, und blickte nun auf das Gewühl der Menschen, die sich in den Gassen drängten, und die klare Schönheit des nächtlichen Himmels über ihm. Er wurde immer angespannter, immer wachsamer.

Carnevale.

Venedig.

Der Wahn des Ganzen.

Heute Nacht. Sie würden heute Nacht zuschlagen.

Denn dort unten auf den Straßen, Gassen und Kanälen tummelten sich alle möglichen Karnevalsbesucher: Artisten, Stelzengänger, Arm und Reich, alle waren heute Nacht unterwegs, um das Spektakel zu genießen.

Doch die Welt war düster, trotz der Lichter, die die Stadt erleuchteten, und trotz der Laternen, die viele Maskierte bei sich trugen.

Das große Fest vor der Fastenzeit.

Ja, sie würden danach trachten, sich heute Nacht die Bäuche vollzuschlagen. Und sie würden es tun – sich vollfressen ...

Es sei denn ...

Mit der Anmut und dem Geschick des geborenen Jägers verließ er lautlos seinen Aussichtspunkt.

Und er begab sich in die Stadt.

Jordan Riley öffnete die Fensterläden ihres Zimmers im Hotel Danieli und musterte die lärmende, in Festlaune schwelgende Menge. Von hier aus sah man auf den Canale di San Marco bis hin zum Canale Grande, auf Vaporettos, Gondeln und den Strom von Menschen, die zu den Anlegestellen liefen oder von dort kamen. Schräg gegenüber erhob sich die herrliche Kuppel der Kirche Santa Maria della Salute. Und wenn sie sich weit aus dem offenen Fenster lehnte, konnte sie zu ihrer Rechten den Rand des Markusplatzes sehen, wo das Treiben der Kostümierten am dichtesten war. Lachen und Musik erfüllten die Nacht, überall herrschten Frohsinn und Freude. Das Fest vor der Fastenzeit mochte auch in anderen Städten bekannt und beliebt sein, aber Jordan glaubte, dass der Karneval nirgendwo so herrlich begangen wurde wie in Venedig.

Und so skurril manche Kostüme auch sein mochten, sie wirkten alle höchst elegant.

»Jordan, bist du fertig?«

Sie drehte sich um. Ihr Cousin Jared stand auf der Schwelle. Wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass er es war, hätte sie ihn nie erkannt. Er hatte sich als Dottore verkleidet, ein beliebtes Kostüm im venezianischen Karneval. Früher war die Stadt oft von der Pest heimgesucht worden, weshalb der Dottore eingedenk des Schutzes, den die Ärzte gegen die üblen Gerüche angelegt hatten, eine Maske mit einer riesigen, oft schnabelförmigen Nase trug. Die Masken waren kunstvoll und ein bisschen furchteinflößend. Außerdem trug Jared einen weiten Umhang mit einer Kapuze, da er keine Lust gehabt hatte, sich in ein geckenhaftes Renaissance-Kostüm zu werfen. Maske und Umhang waren rasch angezogen, vielleicht war das Kostüm auch deshalb so beliebt.

»Fertig? Na klar! Ich kann es kaum erwarten. Dort draußen herrscht ja ein unglaublicher Trubel!«

Sie war schon mehrmals in Venedig gewesen, doch noch nie zur Karnevalszeit. In diesem Jahr hatten Jared und seine Frau Cindy sie überredet, zum Karneval mitzukommen. Heute Abend stand der erste große Kostümball auf dem Programm. Ein klein wenig kam sie sich wie das fünfte Rad am Wagen vor, weil sie ohne eigenen Begleiter war. Ihre Italienischkenntnisse reichten zwar, um den Zimmerservice zu rufen und sich nicht zu verirren, doch sie hatte Angst, neben Wildfremden zu sitzen, mit denen sie sich kaum unterhalten konnte, auch wenn die meisten Einheimischen Englisch sprachen. Aber der Reiz des Vorhabens überwog ihre Ängste.

»Gottlob! Ich dachte schon, du würdest versuchen, dich vor heute Abend zu drücken«, meinte er.

»Ich? Mich drücken? Auf gar keinen Fall!« Natürlich entsprach das nicht ganz der Wahrheit, denn sie hatte tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt, doch als es dunkel wurde und von überall her Musik an ihr Ohr drang, hatte schon die Stimmung des Abends ihre Abenteuerlust erregt. Bestimmt würde sich jemand finden, mit dem sie sich unterhalten, tanzen und ein paar angenehme Stunden verbringen konnte.

»Du siehst übrigens hinreißend aus!«, erklärte er.

Jordan machte einen Knicks. »Danke.«

Ihr Kostüm stammte aus der Renaissance, einer in Venedig sehr beliebten Zeit, und sah mit seiner wundervollen Paillettenverzierung und seinem Spitzenüberwurf wirklich hinreißend aus. Sie hatte es in allerletzter Minute bei einem Kostümverleih besorgt und war nur deshalb dazu gekommen, weil sie sehr zierlich war – wenn sie sich ganz gerade hinstellte, brachte sie es bei fünfundvierzig Kilo auf einen Meter sechzig. Das Kleid war für eine junge Frau angefertigt worden, die kurzfristig hatte absagen müssen, und offenbar war keine andere mehr mit der richtigen Größe aufgekreuzt.

»Hinreißend. Und du wirkst sogar ein bisschen größer.«

»Das sind die Schuhe«, erklärte sie und zeigte sie ihm. Allerdings fragte sie sich, ob die Frauen damals wirklich so hohe Absätze getragen hatten. Bestimmt waren sie nur ein Zugeständnis an die Eitelkeit moderner Frauen.

»Hoffentlich schrumpfst du nicht mal so wie Oma Jay, denn dann bleibt nichts mehr von dir übrig.«

»Mach nur weiter so. Sei ruhig gemein, nur weil du all die Riesengene abbekommen hast«, erwiderte sie. Es war wirklich seltsam, dass er so groß war und sie so winzig. Aber sie hatten beide die tiefdunkelgrünen Augen von Oma Jay geerbt – die Augen und die Freude an neuen Orten, Menschen und Städten wie Venedig mit seinem wirklich einzigartigen Charakter.

»Nichts wird mehr von dir übrig bleiben«, wiederholte er mit einem spöttischen Seufzen. »Kannst du in diesen Schuhen überhaupt laufen?«

»Tja, ich habe ziemlich viel Übung mit hohen Absätzen«, versicherte sie ihm. »Nur so schaffe ich es, über den Ladentisch zu sehen und notfalls auf einen Barhocker zu klettern.«

»Hey, ihr zwei, wir sollten jetzt endlich los, es ist schon spät.«

Cindy stand in einem schwarzen viktorianischen Trauerkostüm vor der Tür. Sie war fast so groß wie Jared.

»Jordan! Tolle Schuhe. Vielleicht denken die Leute heute Abend ausnahmsweise mal nicht, du wärst meine Tochter.«

Jordan stöhnte. »Cindy! Willst du mich auch noch quälen?«

»Dich quälen? Ich bin gerade mal fünf Jahre älter als du, und ständig werde ich gefragt, ob ich deine Mutter bin!« Sie schüttelte sich.

»Ihr seht beide umwerfend aus«, erklärte Jared. »Zwei der beeindruckendsten Schönheiten der Stadt. Also, nachdem das jetzt geklärt ist, könnten wir eigentlich gehen, oder?«

Kurz darauf durchquerten sie das jahrhundertealte Foyer des prunkvollen Hotels. Sogar die Pagen trugen Masken, und jeder grüßte jeden. Überall wurden Komplimente ausgetauscht, alle lächelten und waren hochgestimmt.

Sie traten in das Gewühl auf dem Bürgersteig vor dem Kanal. Die Leute rempelten einander an, Entschuldigungen fielen in Dutzenden verschiedener Sprachen. Jared reckte den Hals, um über die Menschen hinwegzusehen. Wassertaxis, Vaporettos und Gondeln drängten sich am Anleger vor dem Danieli, alle Plätze waren belegt.

»Mädels, wartet mal kurz. Vielleicht geht unsere Fahrt erst hinter der nächsten Ecke los«, meinte er und machte sich mit flatterndem Umhang auf den Weg.

Jordan und Cindy bahnten sich durch den Strom der Passanten einen Weg zum Kanal und warteten am Ufer, während Jared sich auf die Suche nach dem Privatboot machte, das sie zu dem Ball bringen sollte, der jedes Jahr in einem historischen Palazzo stattfand und stets einer der Höhepunkte des Karnevals war.

Jared hieß wie Jordan mit Nachnamen Riley, aber seine Mutter stammte aus Genua. Italien hatte schon immer eine ganz besondere Faszination auf ihn ausgeübt, und inzwischen arbeitete er als Vertreter eines amerikanischen Reiseunternehmens in Venedig und verbrachte fast genauso viel Zeit in Italien wie in Amerika. Deshalb sprach er auch perfekt Italienisch.

Jordan wünschte sich, diese Sprache besser zu beherrschen. Ein Mann rempelte sie an, tippte an seinen Hut und erging sich in einer langatmigen Entschuldigung. Sie hatte keine Ahnung, was er sagte, also lächelte sie nur, nickte und meinte: »Prego, prego« – ›ich bitte Sie‹, was fast auf alles passte. Er lächelte, fasste sich noch einmal an den Hut und ging weiter.

»Ich werde heute Abend ein Auge auf dich haben müssen«, meinte Cindy. »Diese Ratte hat versucht, dich anzumachen.«

»Cindy, das ist gemein. Woher willst du wissen, dass er eine Ratte war?«

Cindy lachte und warf ihr langes blondes Haar zurück, das heute Abend nicht wie üblich glatt über ihren Rücken fiel, sondern in winzige Löckchen gelegt war. »Er war als Ratte verkleidet, hast du das nicht bemerkt?«

»Ach so«, murmelte Jordan. »Nein. Ich habe den Schwanz gesehen und den grauen Filz auf seinen Schultern, aber ...«

»Eine Ratte«, warnte Cindy. »Auch wenn sie aus der Renaissance stammt: Ratte bleibt Ratte. Wir sollten lieber auf der Hut sein, heute Abend sind wahrscheinlich ziemlich viele Ratten unterwegs – und Wölfe. Und du siehst aus wie eine leckere Beute.«

»Mädels«, meinte Jared, der in dem Moment wieder zu ihnen stieß, »wir müssen runter an den Markusplatz. Unser Mann ist in der Bootsschlange ziemlich weit hinten und meinte, ein Stückchen weiter könnten wir leichter einsteigen.«

»Na gut. Es ist ohnehin besser, wenn wir hier nicht stehen bleiben. Ratten und Wölfe und andere Widerlinge sind hinter unserer kleinen Roten her«, erklärte Cindy.

»Kleine Rote?«, fragte Jared. Er klang, als würde er verwirrt die Stirn runzeln, während er Jordan betrachtete, aber sehen konnte sie es natürlich nicht, da er seine Maske trug. »Sie hat rabenschwarzes Haar, was soll denn an ihr rot sein?«

»Schon gut – er hat nicht die geringste Fantasie.« Cindy schüttelte liebevoll den Kopf. »Wir müssen einfach auf deine Cousine aufpassen, mein Lieber. Sie sieht heute Abend einfach zum Anbeißen aus.«

»Mag schon sein«, murmelte Jared. »Vielleicht hast du recht. Jordan, ist deine Oberweite wirklich echt?«

»Jared, du bist unhöflich!«, protestierte Cindy.

Jordan lachte und stemmte die Hände in die Hüften. »Jawohl, Jared. Und wie sieht es bei dir aus? Was steckt hinter deinem Hosenlatz?«

»Gottlob sind wir in Italien und kaum einer kann verstehen, was ihr da redet«, rief Cindy. »Können wir jetzt endlich los?«

Sie drängten sich durch das Gewimmel. Jordan war froh, dass Jared sie führte, so konnte sie sich umschauen und die Eindrücke und Geräusche genießen.

Das Wetter war klar und kühl, die Stadt war wunderbar lebendig. Lichter tanzten auf dem Wasser, und jede Spiegelung auf dem schimmernden Kanal war prächtiger, farbiger, fantastischer.

Die Kostüme reichten von kunstvollen Gewändern aus verschiedenen Epochen über Fantasieschöpfungen hin zu Tiergestalten. Vögel spreizten ihr buntes Gefieder, Katzen stolzierten schlank und juwelengeschmückt daher. Reporter aus aller Welt interviewten Leute, Kameras surrten, Musik dröhnte vom Markusplatz, überlagert von Stimmen und Gelächter. Vielleicht wurde auch andernorts wild gefeiert, dachte Jordan abermals, aber Venedig war einzigartig. Nirgendwo sonst hatte sie so raffinierte Verkleidungen gesehen, Einheimische wie Gäste wetteiferten darum, die Schönsten zu sein.

Jared führte sie zur Anlegestelle direkt vor dem Markusplatz. Jordan drehte sich um, da sie plötzlich das Gefühl hatte, dass jemand sie beobachtete. Sie sah nach oben. Der venezianische Löwe saß auf seiner hohen Marmorsäule und starrte auf sie herab. Ihr Blick wanderte weiter zum Markusdom und zum Dogenpalast. In der Nacht schienen die Schatten zu tanzen, als wären sie lebendig, sie versteckten sich hinter Wasserspeiern, stolzen Pferdestatuen und Fantasiewesen, die von einigen der großartigsten Architekten aller Zeiten auf diese herrlichen Bauwerke gesetzt worden waren.

Eine Kirchenglocke läutete.

Ein Dutzend weiterer Kirchenglocken fielen ein. Jared packte Jordan am Arm und zog sie zur Anlegestelle, wo das Boot auf sie wartete. Bald glitten sie durch die Kanäle, auf denen fast ebenso viel Betrieb herrschte wie in den Gassen der Stadt.

»Ach, dort vorne ist er ja schon, unser Palast!«

Sie versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was sie über das bevorstehende Ereignis gehört hatte. Der Ball wurde von einer gewissen Nari Contessa della Trieste veranstaltet, einer Frau mit einem stattlichen Erbe. Sie war unglaublich wohlhabend, weil sie sich sehr zu ihrem Vorteil verheiratet hatte, und das nicht nur einmal. Ihre größte Leidenschaft allerdings galt den Künsten. Der Palazzo Trieste mit seinen Bögen und der kunstvollen Stein- und Marmorbildhauerei war von Anfang an als Residenz geplant gewesen und nicht als Festung. Wundervolle schmiedeeiserne Tore zierten den Zugang vom Kanal; dahinter erstreckten sich halbkreisförmige Stufen zum Eingang. Kostümierte Bedienstete eilten herbei, um den Damen und Herren aus den Booten zu helfen.

Im weitläufigen Foyer mit seinem marmorverkleideten Treppenhaus wurden sie von ihrer Gastgeberin begrüßt, einer Dame von mittlerer Größe und bestimmt auch schon mittleren Alters, doch noch immer auffallend schön. Heute war sie ganz in Weiß gekleidet; lange weiße Federn schmückten den Saum ihres Gewandes, und auch der äußerst aufwendige, herrschaftlich anmutende Kragen war mit Federn verziert. Die Maske, von der Contessa mit viel Erfahrung elegant gehalten, war ebenfalls mit langen weißen Federn geschmückt. Sie nickte den Gästen an ihrer Seite lächelnd zu, dann wandte sie sich an die Neuankömmlinge. »Jared, benvenuto! Cindy, ciao, bella!«

Sie schien über den Boden zu schweben, als sie auf sie zukam und sie mit Küssen auf beide Wangen begrüßte. Dann nahm sie Jordans Hände und trat einen Schritt zurück, um sie zu begutachten. »Oh, die Cousine! Jared, bella, bella, bella, cara mia. Sprechen Sie Italienisch? Ein bisschen? Poco, eh? Grazie, grazie, bella, dass Sie zu meiner kleinen Soiree gekommen sind. Grazie!«

»Grazie anche a lei«, erwiderte Jordan höflich. »Mille grazie.«

»Sie sprechen also doch Italienisch!«

»Nein«, erklärte Jordan. »Nur sehr, sehr wenig, fürchte ich.«

»Na, wie auch immer – tanzen Sie, vergnügen Sie sich. Die meisten hier sprechen Englisch, aber manchmal ist es viel, viel besser, wenn man einen Mann nicht versteht, nicht wahr?« Sie lächelte schelmisch und ließ ihre ausdrucksvollen dunklen Augen über Cindy und Jared gleiten.

Jordan befiel auf einmal ein seltsames Unbehagen, und ihr schoss die Frage durch den Kopf, ob ihre Gastgeberin Jared nicht sehr viel näherstand, als dieser jemals zugegeben hätte. Doch rasch schob sie diesen Gedanken wieder beiseite – Jared und Cindy liebten sich innig, sie waren ein perfektes Paar.

»Das Buffet ist im ersten Stock, Champagner gibt es hier«, meinte die Contessa und hielt einen Kellner an, der mit einem Tablett vorbeikam. »Und getanzt wird überall.«

Während sie weitergingen, entschuldigte sich Jared bei Jordan. »Ich lasse dich beim Essen nicht allein, das verspreche ich dir. Aber es gibt hier ein paar Geschäftspartner, mit denen ich sprechen muss.«

»Dass er mich im Stich lässt, macht ihm überhaupt nichts aus«, spottete Cindy.

»Du kennst doch Leute hier.«

»Kennt hier denn irgendwer irgendjemanden?«, fragte Cindy, während sie sich auf den Weg zum Buffet machten und sich umsahen. Die Kostüme waren noch schillernder als auf den Straßen – elegant und extravagant, jedes ein kleines Vermögen wert, dachte Jordan. Sie fing an, sich ob ihrer Pailletten, dem Modeschmuck und dem Samt ein wenig zu leger gekleidet zu fühlen. Sehr viele Frauen hier trugen echte Juwelen. Auf einem mittelalterlichen Gewand glaubte Jordan Dutzende echter Smaragde schillern zu sehen.

»Jordan, tut mir leid, aber der Pfau dort drüben mit dem dicken Hintern und dem großen Fächer ist Mrs Meroni. Ich muss sie rasch begrüßen. Komm doch einfach mit!«

»Ich laufe noch ein bisschen herum«, meinte Jordan. »Geh ruhig zu ihr.«

»Aber ...«

»Ich komme schon klar.«

»Hüte dich vor den Ratten!«

»Wenn ich mich an einen Wolf ranmache, achte ich darauf, dass er gut betucht ist«, versicherte Jordan ihr.

»Und jung«, riet Cindy. »Oder aber so alt, dass er bald das Zeitliche segnet und dich als stinkreiche Witwe zurücklässt.«

»Das werde ich beherzigen.«

Cindy zog los.

Er sah, wie sie Richtung Buffet schlenderte.

Sie war klein und perfekt gebaut, eine zierliche Frau mit dunklem, lockigem Haar, das ihr über die Schultern fiel und passend zu ihrem tiefroten Renaissancekleid mit je einem kleinen geflochtenen Zopf aus der Stirn gehalten wurde. Vielleicht waren andere Kleider hier teurer, aber niemand trug sein Kostüm mit solch natürlicher Eleganz wie sie.

Wie viele andere Gäste auch, hielt sie ihre Maske, eine Kreation in Gold und Silber, mithilfe eines Stabs vors Gesicht. Sie nahm die Maske von den Augen, nippte an ihrem Champagner und überlegte, wie sie gleichzeitig ihren Drink, die Maske und eine kleine Krabbe halten sollte.

Er verließ den Balkon und stieg die Treppe hinunter, ohne sie aus den Augen zu lassen. Dann trat er zu ihr und sprach sie zuerst auf Italienisch an, aber als sie ihn mit einer gewissen Verwirrung ansah, ging er zum Englischen über. »Guten Abend. Entschuldigen Sie meine Unverfrorenheit ...« Er brach ab und senkte die Stimme. »Ich glaube, hier sollte man eigentlich vorgestellt werden. Aber Sie scheinen ein gewisses Problem zu haben, und ich dachte, ich könnte Ihnen vielleicht behilflich sein.« Er streckte eine Hand aus und bot an, ihr das Champagnerglas, die Maske oder beides abzunehmen.

Sie blickte zu ihm hoch. Ihre funkelnden, lebhaften grünen Augen hätten es mit jedem Edelstein aufnehmen können. Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen, reumütig-amüsierten Lächeln.

Sie sprach ebenfalls mit verhaltener Stimme. »Ich weiß nicht, ob ich Ihre Hilfe annehmen kann. Soeben habe ich nämlich meinem Cousin versichert, mich vor Ratten, Wölfen und nächtlichen Raubtieren in Acht zu nehmen.«

»Es sei denn, sie sind stinkreich«, murmelte er.

Sie lachte, wobei sie ein klein wenig schuldbewusst klang. Dann sah sie sich um, die Stirn leicht gerunzelt.

»Tja«, murmelte sie und musterte ihn noch einmal von oben bis unten. »Sie sind ein Wolf.«

»Ein Wolf?«, fragte er mit gespielter Entrüstung.

Sie deutete auf sein Kostüm. Seine Maske war aus Leder, mit einer angedeuteten Schnauze und Zähnen, und unter seinem schwarzen Umhang lugten abgewetzte Fellstreifen hervor.

»Aber vielleicht bin ich ja ein junger, betuchter, stinkreicher Wolf. Warum gehen Sie nicht das Wagnis ein und tanzen mit mir? Na gut«, fügte er rücksichtsvoll hinzu, »erst essen Sie eine Krabbe und trinken Ihren Champagner, und dann tanzen Sie mit mir.«

»Tja, aber ...«

»Trauen Sie sich ruhig! Wir sind hier auf dem Karneval von Venedig.«

Ihr Lächeln vertiefte sich. Sie reichte ihm ihre Maske, beeilte sich mit der Krabbe, trank ihr Glas leer und nickte. »Ich gebe mein Bestes.«

Kurz darauf waren sie auf der Tanzfläche im hinteren Teil des Saals, einer Terrasse, von der aus man auf einen anderen Abschnitt des Kanals blickte. Im vom Mondlicht erhellten Wasser spiegelten sich die Tänzer. Es wurde ein Walzer gespielt. Sie hatte ihn gewarnt, sie sei Amerikanerin und mit Standardtänzen nicht sehr vertraut. Aber mit ihm tanzte sie den Walzer, als folgte sie schon seit Jahren seiner Führung. Sie schwebte über die Tanzfläche, sie lachte, sie stolperte und verzog das Gesicht. »Sie sind ein bisschen zu groß«, stellte sie fest.

»Und Sie ein bisschen zu klein. Aber wir schaffen das schon.«

»Sie sind kein Italiener, oder?«, fragte sie.

»Ein Wolf und nicht einmal ein Italiener«, gab er zu.

»Aber Sie sind auch kein Amerikaner.«

»Ich bin ein Weltbürger«, erklärte er. »Aber Sie sind fraglos Amerikanerin.«

»Ich hätte ja auch aus England kommen können«, entgegnete sie.

»Nein, bestimmt nicht.«

»Na ja, aber vielleicht aus Kanada.«

»Sie sind eindeutig eine Amerikanerin«, versicherte er ihr.

»Ach ja?« Amerikaner schienen tatsächlich sofort von allen als solche erkannt zu werden, noch bevor sie den Mund aufmachten, als wäre ihnen ihre Herkunft auf die Stirn tätowiert. »Ich komme aus Charleston in South Carolina«, gab sie zu. »Und Sie?«

»Italien ist meine Wahlheimat, im Moment jedenfalls. Es gibt nur wenige Menschen, die so warm und herzlich sind wie die Italiener.«

»Aber woher kommen Sie ursprünglich?«, fragte sie mit kaum verhohlener Neugier in ihren grünen Augen.

Er lächelte und beschloss, es ihr nicht zu sagen. Warum auch? Nach heute Abend ...

Er hätte nicht mit ihr tanzen und auch nicht mit ihr reden sollen. Bald würde ein Chaos ausbrechen. Aber sie war ihm ins Auge gefallen, sie hatte seine Sinne geweckt, vielleicht auch seine Instinkte. Womöglich schaffte sie es sogar, seinen Geist zu faszinieren.

Und die Seele?

»Sir? Entschuldigen Sie, Sir Wolf, woher kommen Sie?«

»Von weit, weit her«, erwiderte er leichthin und wirbelte mit ihr über die Tanzfläche. Dann blieb er stehen, denn jemand tippte ihm von hinten an die Schulter. »Signore, per piacere ...«

Ein viktorianischer Gentleman, offenkundig aus England, wollte ihn ablösen.

Er fügte sich mit einer tiefen Verbeugung. »Cara americana«, meinte er, »ciao, bella. Ciao, bella!«

Sie lächelte ihn an. Er glaubte, ein wenig Bedauern in ihrem Blick zu erkennen. Oder wollte er es nur gern darin lesen?

Er sah ihr nach, während sie davontanzte.

Ihre Füße taten weh; sie hatte wirklich viel Übung mit hohen Absätzen, aber die hier waren extrem hoch. Und der Abend war alles andere als langweilig. Zuerst der Wolf, der rätselhafte, sehr große, ach so charmante Wolf. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er wirklich aussah, denn er hatte seine Maske nie abgenommen. Aber seine Größe konnte er nicht verbergen. Würde sie ihn wiedererkennen? Sie würde seinen Geruch wiedererkennen, dachte sie. Ja, ganz bestimmt. Ein sehr angenehmer Geruch. Ein Aftershave, das sauber und entfernt nach Wald, im Hintergrund aber auch sehr sinnlich und ein bisschen nach Moschus roch.

Nach dem Wolf kam der Engländer.

Und dann ein Harlekin.

Er überhäufte sie mit Komplimenten, erst galten sie ihrem Kleid, dann ihren Augen und Haaren, dann der Länge ihres Halses.

Sie lachte, wahrte jedoch Distanz. »Sie sind zu überschwänglich, mein Herr.«

»Ach, keineswegs. Solch herrlich weißes Fleisch. Wie wundervoll Ihr Puls schlägt ...«

In dem Moment, als ihr etwas unbehaglich zumute wurde, trat ein Sensenmann in einem braunen Lederanzug zu ihr, ein großer, attraktiver Spanier. Er lobte ihre wundervolle Energie und ihre lichterfüllte Ausstrahlung.

Sie bedankte sich artig. Sein Gesicht war grau geschminkt, aber seine Augen waren sehr dunkel und sehr ausdrucksstark. Sexy, dachte sie.

Cindy, du hattest recht, hier sind überall Wölfe. Verführerische Wölfe ...

Während sie sich unterhielten, trat ein Komödiant in karmesinroten Strumpfhosen auf die Terrasse und läutete ein Glöckchen. Ihm folgte ein Zwerg, der mit zwei Holzpaddeln klatschte.

Er sprach Italienisch, dann wiederholte er alles auf Englisch, damit ihn alle Gäste verstehen konnten. »Hört, hört, das Maskenspiel beginnt. Vor langer, langer Zeit lebte Odo, Conte des Castello. Er hatte keinen Sohn, doch er zeugte eine Tochter, die so wunderschön war, dass die Edelsten der Edlen ihn für sehr reich hielten. Doch Odo bedauerte noch immer, dass er keinen Erben hatte. Er packte seine Gemahlin ...«

Damit packte er eine Frau mittleren Alters mit einer Haube, wie man sie im zwölften Jahrhundert getragen hatte, und fragte sie leise, ob sie mitspielen wolle. Sie nickte lachend, offenbar zu allen Schandtaten bereit.

»Er packte seine Frau und schüttelte das arme Geschöpf!« Er tat, als schüttelte er sie. »Und dann gab er ihr den Todeskuss!«

Es sah aus, als flüsterte er der Frau etwas ins Ohr. Sie erschlaffte, und er legte sie auf den Boden.

»Und so«, fuhr der scharlachrot gekleidete Komödiant fort, »heiratete er abermals. Aber auch seine nächste Gemahlin gebar ihm keinen Sohn.«

Aus der wachsenden Menge um ihn herum suchte er sich wieder eine Frau mittleren Alters aus, die eifrig nickend ihre Bereitschaft kundtat, die Rolle der Gemahlin des Conte zu spielen.

Er flüsterte ihr etwas zu, und sie erschlaffte. Behutsam ließ er auch sie zu Boden gleiten.

»Und dann nahm er sich die nächste Gemahlin.«

Wieder suchte er eine Frau aus, die schon kichernd nickte, bevor er überhaupt fragte. Mit ihr verfuhr er wie mit den beiden Frauen vor ihr.

»Und so verschliss er mehr Ehefrauen als Blaubart.« Der Komödiant tanzte durch den Raum und holte sich Frau um Frau.

Dann hielt er inne und schüttelte theatralisch den Kopf.

»Und keine dieser Frauen gebar ihm einen Sohn. Schließlich wollte er seine wunderschöne Tochter opfern.«

Der Komödiant schritt durch die Menge. Auch er war groß und kräftig gebaut, unter seiner engen Bekleidung wölbten sich die Muskeln.

Er kam direkt auf Jordan zu. Sie wich zurück. »Ich bin Amerikanerin!«, sagte sie leise.

»Das macht nichts«, erklärte er und streckte die Hand nach ihr aus. Sie schüttelte den Kopf, doch er hatte sie schon erwischt. Sie war ein Gast, sie wollte nicht unhöflich sein.

»Er wollte dem Teufel seine Seele versprechen, damit dieser ihm einen Mann fände, der gewillt war, seine Tochter zu heiraten und den Familiennamen anzunehmen. Ah! Aber wo steckte der Teufel?«

Der Komödiant lief mit ihr im Saal herum und suchte nach dem Teufel, die Gäste lachten und schlenderten hin und her.

Und dann sah Jordan ein scharlachrotes Rinnsal unter dem Kopf der ersten Frau hervorsickern, die zu Boden gegangen war.

Blut.

Ihr stockte der Atem. Sie legte die Hand vor den Mund und begann zu schreien.

Der Komödiant packte sie fester. Sie kreischte und versuchte, sich loszureißen. Aber er war noch stärker, als sie vermutet hatte. Und dann stellte sie entsetzt fest, dass der Raum sich plötzlich mit ...

... mit Bestien zu füllen schien, mit Dämonen. Bestimmt bildete sie sich das alles nur ein: Männer in Fellen, in Umhängen, Mänteln ... Frauen, die zu kreischen begannen und dabei Reißzähne entblößten ...

»Lassen Sie mich los!«

Sie kämpfte wie eine Wahnsinnige, sie schrie und trat um sich. Trotzdem zog der Komödiant sie an den Rand der Terrasse.

Seine Kleidung wirkte so tiefrot wie das Blut, das er vergossen hatte.

Doch plötzlich zerrte ihn jemand von ihr weg, und sie sah in die Augen des Wolfes.

Der Komödiant fauchte und fluchte in einer Sprache, die sie nicht kannte. Der Wolf antwortete. Der Komödiant stürzte sich auf den Wolf, der Wolf wich ihm aus, dann hieb er auf ihn ein.

Jordan begann wieder zu schreien und konnte gar nicht mehr aufhören, als ein wuchtiger Schlag dem Komödianten offenbar das Genick brach, denn sein Kopf baumelte seltsam verrenkt an seinem Hals.

In dem eleganten Palazzo schien das völlige Chaos auszubrechen.

Jordan wich völlig benommen zurück.

Bestien stürzten aus dem Haus. Bestien! Geschöpfe in allen möglichen Verkleidungen. Tiere mit riesigen langen Zähnen und Blut, das ihnen aus dem Maul troff.

Wieder begann Jordan zu schreien, denn jetzt packte der Wolf sie. Sie wollte ihm ausweichen, aber er war unglaublich schnell.

Er sprang mit ihr von der Terrasse ...

... in Nebel, in reinen Nebel. Ein Nebel, der so dicht war, dass es ihr vorkam, als würden sie in ein schwarzes Loch, in die Ewigkeit springen ...

Doch seine Füße landeten auf etwas Festem – auf einem Boot, das unter der Wucht ihres Aufpralls zu kentern drohte. Jordan kreischte wieder auf; sie hätte ja auch auf Stein, auf Marmor landen können, sie hätte sich das Genick brechen können ...

Sie hätte auch weiter fallen können, durch den Nebel, direkt in die Hölle.

Er setzte sie in dem kleinen Boot ab, dann blickte er auf den zutiefst verwunderten Ruderer.

»Los!«, befahl er mit dröhnender Stimme. »Leg dich ins Zeug! Rudere, so schnell du kannst!«

Der Bursche löste sich aus seiner Erstarrung.

Der Wolf sprang aus dem Boot.

Er drehte sich um.

Und wurde vom Nebel verschluckt.

Kapitel 1

Morgen.

Heller Tag.

Kein wabernder Nebel, kein böses Flüstern. Nur das klare Blau eines erstaunlich schönen Wintertags und das Klirren von Besteck, vielsprachiges Geplauder und das universelle Geräusch von Lachen.

»Ich denke«, meinte Jared bemüht leise, »das geht alles auf die Sache mit Steven zurück. Es tut mir sehr leid, das anzusprechen, und ich habe mich sehr bemüht, es nicht zu tun, aber Jordan – du hörst einfach nicht auf, obwohl dir alles erklärt worden ist. Egal, wie freundlich und geduldig die Leute sind, du willst einfach nicht verstehen, dass alles Teil des Festes war, ein guter, wenn auch derber Witz, nichts weiter.«

Beim Tonfall ihres Cousins verkrampfte sich Jordan. Sie blickte auf ihre Hände und zählte bis zehn. Steven war jetzt seit über einem Jahr tot. Sie hatte die Tatsache akzeptiert, sie war keine Neurotikerin. Sein Tod hatte sie zutiefst erschüttert, und sie hatte getrauert. Ja, sie war auch wütend gewesen – aber nie paranoid.

Sie bedachte Jared mit einem eisigen Blick. »Mit Steven hat das nichts zu tun, rein gar nichts. Es hat mit gestern Abend zu tun. Es hat im Lauf der Zeit immer wieder Ungeheuer gegeben, menschliche Ungeheuer«, fuhr sie fort. »Und viele von ihnen waren sehr reich und gehörten zu den angesehensten Mitgliedern der Gesellschaft.«

Jared schnaubte verärgert und beugte sich zu ihr vor.

»Jordan, kapier es doch endlich: Du bist hinters Licht geführt worden. Ich habe es gleich verstanden. Du hattest Angst, du hast dir schreckliche Sorgen gemacht, aber man hat dir doch erklärt, dass das Ganze eine Posse war, eine Vorführung. Wenn du so weitermachst, ruinierst du noch meine Beziehung zur Contessa und meine Karriere.« Anfangs hatte er nur ungeduldig geklungen, zum Schluss war sein Ärger kaum mehr zu überhören. »Glaub mir, die Contessa ist eine wichtige, weltgewandte, verantwortungsvolle Frau. Sie spendet riesige Summen für wohltätige Zwecke, und sie inszeniert gerne Spektakel, auch furchteinflößende Spektakel. Jedenfalls hängt sie keinem Kult an, welcher Sorte auch immer.«

Die letzten Worte und ihr Tonfall waren wie ein Schlag ins Gesicht. Jordan beschloss, den Ton zu ignorieren.

Insgeheim musste sie zugeben, dass es ihr an diesem Morgen, im Restaurant auf der Dachterrasse des Danieli, umringt von aufmerksamen Kellnern, die höflich, munter und ausgesprochen normal waren, eigentlich möglich sein sollte, die Sache zu vergessen.

Man hatte ihr alles erklärt.

Und dennoch hatte sie sich weiter bemüht zu erläutern, was sie in der vergangenen Nacht gesehen hatte.

Selbst die Polizei war am Ende einigermaßen entnervt gewesen.

Als Literaturkritikerin, die das Glück einer breiten Leserschaft in den ganzen USA hatte, hatte sie sich Arbeit in den Urlaub mitgenommen. In dem Stapel der zu besprechenden Vorabexemplare und Fahnen – Belletristik wie Fachliteratur – war sie auf das neueste Werk eines Hollywoodproduzenten gestoßen. Der Mann hatte die Drehbücher zu einigen der bekanntesten Horrorfilme des letzten Jahrzehnts geschrieben. Das Buch war gut, es ragte weit über die Filme hinaus. Der Autor ging den Fakten hinter Legenden und Mythen nach, die im Laufe der Zeit auf der ganzen Welt entstanden waren.

Jordan hatte sich die Erklärungen angehört, sie hatte die Geduld der anderen strapaziert, sich der Belustigung und dem Ärger ausgesetzt. Sie habe einer Vorstellung beigewohnt, hatte man ihr immer wieder gesagt. Einer Vorstellung! Diese Vorstellung war jedenfalls verdammt pervers gewesen, und wenn die Contessa darunter gute Unterhaltung verstand, dann konnte Jordan nur sagen: Sie war überhaupt nicht gut unterhalten worden. Jared, der felsenfest davon überzeugt war, dass seine Beziehung zur Contessa ihm sämtliche Türen in Venedig öffnete, weigerte sich standhaft, in Erwägung zu ziehen, dass sich im Palazzo tatsächlich etwas Grauenvolles abgespielt haben könnte, selbst ohne Wissen und Zutun der Contessa. Und er weigerte sich auch, Jordans Zorn darüber zu teilen, dass die Contessa nie eine solch schlechte Vorführung in Auftrag hätte geben sollen.

»Jared, du täuschst dich, du täuschst dich gewaltig. Ich lasse mich nicht von meiner Fantasie überwältigen, und ich glaube auch nicht an Geister, Kobolde oder Gespenster. Aber ich weiß ganz genau, dass schlimme Dinge passieren. Außerdem gibt es Menschen, die sich für übernatürlich halten. Hör dir das mal an, pass gut auf und denk daran – das ist nur einer von Dutzenden gut dokumentierter Fälle: Antoine Leger, ein französischer Massenmörder, war ein Kannibale – und er trank Blut«, informierte sie ihn möglichst ruhig, den Finger auf die Buchseite gelegt, während sie ihren Cousin fest ansah. »Er kam 1824 unter die Guillotine, ein wahrhaft grässlicher Mann, der sein Schicksal verdient hat. Was hatte er verbrochen? Er versteckte sich im Wald und lauerte wie eine Schlange auf seine Beute. Wenn ein junges Mädchen vorbeikam, schlug er zu, er vergewaltigte sie, brachte sie um, trank ihr Blut und verspeiste schließlich ihr Herz.«

Cindy, die bislang wortlos am Tisch gesessen hatte, starrte Jordan bestürzt an. Mit unendlicher Geduld, die ihrem Mann längst abhanden gekommen war, streichelte sie Jordans Hand. »Du liest ein Buch. Das sind nur Geschichten.«

»Das sind keine Geschichten«, widersprach Jordan. »Ich habe euch doch erklärt, dass es diesen Mann wirklich gegeben hat.«

Jared stellte seine Kaffeetasse so heftig ab, dass das Porzellan fast einen Sprung bekommen hätte. »In diesem Buch geht es um Geschichten, um Fiktionen – es handelt von Vampiren im Film und in Legenden«, erklärte er unwirsch.

»Es handelt von Vampiren in Filmen, Büchern und der Vergangenheit«, verbesserte Jordan ihn, bemüht, ihren Gleichmut zu wahren.

Sie und Jared waren Einzelkinder. Sie waren zusammen aufgewachsen, weshalb sie sich meist so nah wie Geschwister waren. Sie verstand ja, dass er diese Stadt liebte und dass es wichtig für ihn war, Menschen wie die Contessa zu seinen Freunden zu zählen. Doch trotzdem fiel es ihr extrem schwer, hinzunehmen, dass das, was sie gesehen hatte, wirklich nur der Unterhaltung gedient haben sollte.

»Jordan ...«

»Jared, warum ziehst du nicht wenigstens die Möglichkeit in Betracht, dass gestern Abend wirklich etwas Schreckliches passiert ist?«

Sie wusste, dass sie die Sache auf die Spitze trieb, aber trotz aller Versicherungen, die man ihr nach dem Ball gegeben hatte, trotz des wundervollen, kühlen, sonnigen Morgens und trotz des offenkundigen Unbehagens, das Jared quälte, konnte sie nicht damit aufhören.

Um sie herum tranken die Leute ihren Espresso oder Caffè Latte, lachten, plauderten und lasen Zeitung. Jetzt war die Welt hell, erfüllt von Sonnenschein und Gesprächen in allen möglichen Sprachen. Irgendwo erklang sogar das völlig alltägliche Weinen eines Babys. Doch trotz all der Erklärungen, die man ihr gegeben hatte, waren in ihrem Schlaf immer wieder lebhafte, groteske Traumfetzen der ›Vorstellung‹ aufgetaucht, die sie am Vorabend gesehen hatte.

Es war alles so schnell gegangen ...

Obwohl sie in ihrem Entsetzen und ihrer Angst jedes Wort Italienisch vergessen hatte, hatte sie es irgendwie geschafft, dem verwirrten Ruderer ihren Wunsch nahezubringen, zur Polizei gebracht zu werden. Zum Glück klangen Polizei und polizia ähnlich genug, sodass der Mann sie irgendwann verstanden hatte und sie schließlich zur nächstgelegenen Dienststelle der Carabinieri brachte. Dort stieß sie auf einen freundlichen Beamten, der Englisch konnte und ihr versicherte, dass man der Sache sofort nachgehen würde, auch wenn er etwas skeptisch wirkte, als sie ihm sagte, dass sie aus dem Palazzo der Contessa della Trieste kam. Anfangs hatte sie, einem Nervenzusammenbruch nahe, nur gestammelt; sie hatte schreckliche Angst um Jared und Cindy gehabt. Sie berichtete ihm, dass eine Geschichte erzählt und gespielt worden sei, die schließlich in einem richtigen Blutbad geendet hätte; die verkleideten Menschen im Raum hätten sich plötzlich in Ungeheuer verwandelt und sich auf die ahnungslosen Zuschauer gestürzt. Ein mit einem großen Schuss Brandy versehener Caffè Latte half ihr, sich etwas zu beruhigen. Schließlich schaffte sie es, so vernünftig und überzeugend zu klingen, dass trotz der Karnevalsfeiern und obwohl es sich um den Palazzo einer sehr bekannten Frau handelte ein größerer Trupp Beamter loszog, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Die Carabinieri kamen mit Jared, Cindy und der Contessa zurück. Obwohl sich die Contessa offenbar bei den einigermaßen besorgt wirkenden Beamten entschuldigte, wirkte sie eher belustigt. Sie habe von so einer hübschen und intelligenten jungen Amerikanerin nicht so viel Leichtgläubigkeit erwartet, meinte sie. Eigentlich machte sie einen verdammt herablassenden Eindruck. Jared benahm sich an diesem Punkt noch wie ein älterer Bruder. Er wirkte sehr besorgt über Jordans Panik und Angst, hielt sie fest und blickte ihr sorgenvoll und prüfend in die Augen. Sanft erklärte er, dass sie offenbar in eine ziemliche derbe Posse geraten sei, einen schaurigen Karnevalsspaß. Doch eigentlich sei nichts wirklich Gewalttätiges oder Grausames vorgefallen und ganz bestimmt nichts Mörderisches.

Er habe nichts von diesem grausamen Spaß gewusst, den die Contessa geplant hatte; und die Contessa habe nichts von Steven gewusst. Vielleicht sei es ja verständlich, dass Jordan die kleine Vorführung einer Spukgeschichte solche Angst gemacht habe. Aber jetzt, nachdem sie wüsste ...

Doch Jordan hatte nicht locker gelassen. Sie versuchte, die Contessa davon zu überzeugen, dass einige ihrer Gäste verrückt gewesen seien. Vielleicht habe sie gar keine Ahnung gehabt von den Vorkommnissen auf ihrem Fest, aber es seien Menschen ermordet worden. Die Contessa schüttelte den schönen Kopf, in ihrer Miene drückte sich Mitleid und Bedauern aus. Der freundliche, Englisch sprechende Beamte räusperte sich, dann erklärte er Jordan, dass man den Palazzo untersucht hatte. Man habe nur kostümierte Gäste vorgefunden, von denen einige noch mit Kunstblut verschmiert gewesen waren. Alle seien höchst zerknirscht gewesen, Jordan so schlimm erschreckt zu haben.

»Aber ich sage Ihnen, ich habe Menschen sterben sehen«, beharrte sie. »Gehen Sie nochmal hin. Bestimmt ist alles gesäubert worden. Ich weiß nicht, welches Verfahren die Polizei hier benutzt, aber möglicherweise könnte man mithilfe von Luminol ...«

An diesem Punkt war die Contessa wütend geworden; sie begann, hastig auf die Beamten einzureden. Schließlich atmete sie tief durch, wie um Geduld zu tanken, und wandte sich wieder an Jordan. »Meine Liebe, da Sie Jareds Cousine sind, verzeihe ich Ihnen diesen schrecklichen Affront. Aber Sie müssen einfach all diese albernen amerikanischen Filme vergessen und die Tatsache akzeptieren, dass auch wir einen Sinn für Humor und das Makabre haben. Und«, fügte sie leise hinzu, »was Ihrem Verlobten passiert ist ... Jared hat es mir natürlich erklärt, und deshalb, mein liebes Kind, verstehe ich alles und kann Ihnen mein Mitgefühl versichern. Mein Palazzo steht Ihnen nach wie vor offen. Als Jareds Cousine sind Sie mir jederzeit willkommen, schauen Sie also unbedingt noch einmal vorbei und überzeugen Sie sich, dass die Feierlichkeiten und die Vorführungen vorbei sind und dass wir nur eine Party und ein Possenspiel veranstaltet haben. Liebe, gute Jordan, Sie Ärmste! Es tut mir schrecklich leid, aber bitte – Sie müssen bei solchen Dingen vernünftig bleiben!«

»Ja, und jetzt müssen wir die Contessa nach Hause gehen lassen«, hatte Jared mit fester Stimme hinzugefügt. Bevor Jordan Einspruch erheben konnte, entschuldigten sich die Polizisten bei der Contessa und komplimentierten sie hinaus. Die Contessa küsste Jordans Wangen mit kalten Lippen und drängte sie ein weiteres Mal, sie bald wieder zu besuchen. Obwohl die Beamten zunehmend die Geduld verloren hatten, waren sie doch die ganze Zeit freundlich geblieben, viel freundlicher als Jared, als Jordan – nachdem die Contessa in ihrem Privatboot davongebraust war – noch immer behauptete, sie habe echtes Blut gesehen und sei beinahe selbst ermordet worden, wenn nicht ein Mann in einer Wolfsverkleidung sie gerettet hätte.

»Und wo ist dieser Mann abgeblieben?«, hatte Jared missmutig gefragt.

»Er ist mit mir vom Balkon gesprungen, und dann ... dann verschwand er im Nebel.«

Ihr Cousin und seine Frau hatten sie angestarrt, als fürchteten sie, dass sie nun endgültig den Verstand verloren hatte. Ach, die arme Jordan. Vielleicht sollte man sie doch lieber ins nächste Irrenhaus verfrachten?

Zurück im Hotel hatte Cindy einen Portier aufgetrieben, der Jordan einen Tee kochte, und ihr angeboten, bei ihr zu übernachten. Doch da Jared ungeduldig schnaubte, schlug Jordan das Angebot aus. Aber als sie dann in ihrem hübschen, mit wundervollen Antiquitäten ausgestatteten Zimmer allein war, konnte sie nicht einschlafen. Schließlich kramte sie in ihrem Bücherstapel nach dem Buch des Filmproduzenten und fing an zu lesen. Doch dann merkte sie, dass Cindy ihr wohl ein Beruhigungsmittel in den Tee getan hatte. Ihr fielen die Augen zu. Allerdings hinderte das Valium sie nicht daran, lebhaft zu träumen. Sie erlebte die Ereignisse wieder und immer wieder, sie träumte, dass sie aufwachte und dass ein riesiger, silbergrauer Wolf ihr Fenster bewachte, das Fenster, das hinaus auf den Bürgersteig und den Kanal führte, wo vor wenigen Stunden das Gelächter und der Frohsinn in der Dunkelheit und den Schatten der monderleuchteten Nacht verebbt waren.

Na gut, das Fest und das Valium hatten ihr ein paar schlimme Albträume beschert. Dennoch war sie nach wie vor davon überzeugt, dass ...

Sie unterbrach ihre quälenden Gedankengänge, nahm sie jedoch gleich wieder auf.

Ja, vielleicht waren doch Mitglieder eines schrecklichen Kultes oder ein paar skrupellose, kaltblütige Mörder am Werk gewesen, auch wenn das jetzt an diesem schönen Morgen auf der Dachterrasse des Danieli höchst unwahrscheinlich schien.

Doch nun war Jared mit seiner Geduld am Ende. Er beugte sich zu ihr. »Jordan, bitte, ich flehe dich an: Hör jetzt endlich damit auf! Ich arbeite mit diesen Leuten. Die Contessa ist unglaublich wichtig für meinen Job, für meine Stellung hier in Italien, für meine Karriere, für mein Leben. Wenn du so weitermachst, ruinierst du mir das alles. Verstehst du das denn nicht? Ein Fest, Masken, Kostüme, ein Gespensterhaus, Spezialeffekte, alles sehr raffiniert, jawohl! Die Contessa veranstaltet gern ausgefallene Bälle, über die noch tagelang gesprochen wird. Vergiss es einfach, misch dich nicht mehr ein. Bestimmt zerreißt sich schon jetzt ganz Venedig das Maul. Du wirst mich ruinieren, verstehst du das denn nicht?«

»Jared, ich sage dir ...«

»Und die Polizisten haben es dir auch gesagt. Die Contessa hat sogar ihre Gäste im Stich gelassen, um zu dir zu kommen, weil du so verängstigt warst. Alle haben sich schier überschlagen, um dir zu erklären, was passiert ist, und du weigerst dich, es zu akzeptieren.«

»Jared, du warst nicht dabei, als ...«

Er sprang auf und warf seine Serviette auf den Tisch. »Ich muss jetzt los. Jordan, nimm bitte Vernunft an, bevor du mein Leben zerstörst!«

»Jared!«, protestierte Cindy, die endlich den Mund aufmachte. »Jordan ist deine Cousine, dein Fleisch und Blut.«

»Das hat sie offenbar vergessen. Du sitzt da und hörst ihr zu, während sie sich die wüstesten Geschichten ausdenkt und sich einredet, dass es Ungeheuer gibt.« Er stemmte die Hände auf den Tisch und starrte Jordan zornig in die Augen. »Was mit Steven passiert ist, tut mir leid, es tut mir schrecklich leid. Wir haben versucht, dir beizustehen, dich zu unterstützen. Und du hast dich wacker gehalten, Jordan, du warst sehr vernünftig. Aber offenbar hat dieser Karneval etwas in dir ausgelöst. Noch einmal: Es tut mir leid. Aber jetzt reicht's mir. Ich bin müde. Und das eine sage ich dir: Ich muss heute eine Menge Schaden beheben. Ich muss eine Menge Leute aufsuchen und mich bei ihnen für das verrückte Verhalten meiner Cousine entschuldigen.«

Er wandte sich ab und überquerte die Dachterrasse mit großen, wütenden Schritten. Cindy, die ebenfalls aufgestanden war, starrte verlegen auf Jordan. »Ich weiß, dass er es nicht so meint ...«

»Cindy, du brauchst dich bei mir nicht für Jared zu entschuldigen«, murmelte Jordan.

Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Cindy hatte nun offenbar das Gefühl, ihren Mann verteidigen zu müssen. Sie setzte sich wieder hin.

»Jordan, du musst einsehen, dass du seinen Job gefährdest, dass er mit diesen Leuten befreundet ist, dass die Contessa für seine Arbeit wirklich sehr wichtig ist.« Cindy seufzte. »Ehrlich, Jordan, ich weiß, dass du Angst hattest, und wir sollten für dich da sein, aber man hat dir die Sache doch wirklich erklärt. Und zwar besorgt, fürsorglich und sehr verständnisvoll. Und jetzt kommst du mit diesem albernen Buch an und machst alles nur noch schlimmer.«

»Signorina, noch etwas Kaffee?«

Jordan blickte hoch. Sogar der freundliche Kellner starrte sie mitleidig an. Hatte er von der verrückten Amerikanerin gehört, die gestern Abend bei dem makabren Ball der Contessa durchgedreht war und die Polizei auf Trab gebracht hatte? Vielleicht war sie wirklich albern und sollte es mit Jareds Augen sehen: Es war reine Show gewesen, wenn auch eine verdammt brutale Show. Aber in gewisser Weise hatte die Contessa recht, zumindest in einem Punkt: Das Gemetzel war nicht schlimmer gewesen als das, was sie von amerikanischen Filmen hätte gewöhnt sein sollen. Allerdings hätte sie dagegenhalten können, dass italienische Filmemacher genauso grausam waren.

Sie beschloss aufzuhören, Cindy davon überzeugen zu wollen, dass in Venedig Bestien frei herumliefen. Vielleicht hatte sie doch überreagiert. Vielleicht hatte sie zu viel und zu lange gelesen. Die Sonne schien, und der Morgen war wundervoll, vor allem für einen Wintertag.

Dem Kellner zuliebe bemühte sie sich um ein Lächeln. Es war zwecklos, zu versuchen, all diese Leute zu überzeugen; denn sie waren nicht dabei gewesen, sie hatten nichts gesehen. Wer hatte sich unter den Anwesenden befunden? Eine Gruppe maskierter Fremder, die sie niemals wiedererkennen würde.

Sie hatte genug Kaffee getrunken, sie musste jetzt weitermachen.

Allein sein.

»Nein, basta, grazie, Signore«, murmelte sie und stand auf. Cindy sah sie plötzlich angsterfüllt an.

»Jordan ...«

»Signora?«, fragte der Kellner an Cindy gewandt. Irgendwer hier wollte doch bestimmt noch einen Kaffee.

»No, grazie, basta. Il conto, per favore«, sagte Cindy rasch und erhob sich ebenfalls. »Jordan, warte – wohin willst du?«

»Keine Sorge, ich gehe nicht noch einmal zur Polizei. Ich will nur einen kleinen Spaziergang um den Platz machen.«

Der Kellner war gegangen, um die Rechnung zu holen, um die Cindy ihn gebeten hatte. Jordan hatte bislang als kleines Dankeschön für alles, was Cindy und Jared für sie taten, die meisten Rechnungen übernommen, doch an diesem Morgen sollte ruhig Cindy unterschreiben. Jared war richtig gemein gewesen.

»Ich denke, du solltest lieber nicht alleine ausgehen«, meinte Cindy und verzog protestierend das Gesicht.

»Warum nicht? Ihr habt mir doch versichert, dass es dort draußen keine Ungeheuer gibt. Dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Dass alles nur eine Vorstellung war.«

»Aber du regst dich noch immer auf.«

»Offenbar muss ich darüber hinwegkommen.«

»Jordan, wo immer du hinwillst, ich begleite dich.«

»Ich möchte mir nur ein bisschen die Beine vertreten, Cindy. Und zwar allein.«

»Jordan, bitte!«

Cindy wirkte so unglücklich, dass Jordan einen Teil ihrer Ängste und auch ihres Ärgers auf Jared vergaß. Sie streichelte Cindy die Wange. »Es geht mir gut, ganz ehrlich! Ich bummle nur ein wenig über den Platz und sehe mir ein paar Juwelierauslagen an.«

»Aber abseits vom Platz kann man viel besser einkaufen, auf dem Platz findet man nur Touristenpreise. Ich zeige dir ein paar günstigere Läden.«

»Cindy, du bist ein Schatz. Ich hab dich wirklich lieb, und ich bin dir überhaupt nicht böse. Ehrlich! Aber jetzt will ich einfach ein bisschen allein sein. Also, bis später!«

»Vergiss nicht, dass wir heute Abend zum Künstlerball wollen.«

»Nein«, erwiderte Jordan. Entschlossen steckte sie das Vampirbuch in ihre große Schultertasche und ging. Sie wartete nicht auf den Aufzug, sondern nahm die Treppe, auch wenn sie heute nicht auf all das hübsche Dekor achtete, das sie sonst immer so begeisterte. Im Erdgeschoss herrschte lebhaftes Treiben. Der Karneval war noch lange nicht vorbei. Im hinteren Teil des Foyers hatte ein Kostümverleih aufgemacht, dort drängten sich die Leute, besorgten sich Kostüme, brachten sie zurück, erzählten von Partys und sonstigen Veranstaltungen. Auch an der Rezeption war viel los, Reisende kamen und gingen, und an der Bar und im Salon schien es genauso zuzugehen.

Jordan bahnte sich einen Weg durch die Menge. Auf einmal beschlich sie wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie ärgerte sich über sich selbst und hoffte, dass sie nicht den ganzen Tag das Gefühl haben würde, von allen angestarrt zu werden. Trotzdem drehte sie sich um.

Sie hatte es sich nicht eingebildet, jemand beobachtete sie tatsächlich, und zwar ganz unverhohlen. Eine attraktive junge Frau starrte sie an, während sie einem untersetzten, älteren Mann etwas zuflüsterte. Als sie sah, dass Jordan sie anblickte, errötete sie weder noch blickte sie weg oder bemühte sich, so zu tun, als habe sie nicht über sie gesprochen.

Stattdessen kam sie näher. Jordan runzelte die Stirn und wartete ab. Sie merkte, dass die Frau nicht mehr ganz so jung war, wie sie anfangs gedacht hatte. Aus der Ferne hatte sie wie Mitte zwanzig gewirkt, doch bei genauerem Hinsehen war sie den Vierzigern näher, auch wenn sie schlank und rank war und ihr modischer Kurzhaarschnitt, durchsetzt von silberblonden Strähnchen, ihr jugendliches Aussehen betonte. Lächelnd streckte sie eine schlanke, mit mehreren Ringen geschmückte Hand aus. »Hallo, Miss Riley. Ich bin Tiff Henley, eine amerikanische Landsmännin.«

Jordan schüttelte die dargebotene Hand. »Hallo, wie geht es Ihnen? Ja, ich bin Jordan Riley, aber ...«

»Wir haben uns gestern Abend nicht getroffen, aber ich war auch auf dem Ball. Ich bin so froh, dass Sie wieder wohlauf sind. Sie haben gestern Abend einen ziemlichen Aufruhr verursacht.«

Jordan bekam einen roten Kopf. »Es tut mir leid. Ich ... ich habe Sie nicht gesehen.«

»Wenn ich es recht verstanden habe, sind Sie im ersten Stock gelandet, während sich die meisten anderen Gäste beim Essen oder beim Tanzen im Erdgeschoss aufhielten. Ich habe die Vorstellung nicht gesehen, aber wissen Sie, die Contessa ist bekannt für ihren exzentrischen Geschmack. Ich bin mir sicher, dass das Ganze absolut furchteinflößend war. Ich kenne die Contessa zwar nicht besonders gut, aber ich habe gehört, dass sie das Haus nie verlässt, solange noch Gäste da sind. Dass sie es trotzdem getan hat, um noch einmal mit Ihnen zu sprechen, ist ein Zeichen, dass Sie ihr sehr am Herzen liegen. Geht es Ihnen wirklich wieder gut?«

Diese gepflegte Salonlöwin war also auch auf dem Ball gewesen. Und sie hatte gerade über Jordan getuschelt. Jordan Riley, die Amerikanerin, die einem der bekanntesten Mitglieder der venezianischen Gesellschaft die Polizei auf den Hals gehetzt hatte. Na toll! Vielleicht hatten schon alle in der Stadt von ihr gehört und tuschelten jetzt über sie?

Im hellen Licht des eleganten Hotels, umringt von zahlreichen Menschen, kam sich Jordan auf einmal ausgesprochen dämlich vor. War die Show so hervorragend und professionell gewesen, die Spezialeffekte so überzeugend, dass ihre Fantasie mit ihr durchgegangen war?

»Ich kann mir gut vorstellen, dass ich einen ziemlichen Aufruhr verursacht habe. Aber es sah alles wahnsinnig echt aus«, meinte sie. Die Frau musterte sie noch immer prüfend. Jordan nahm sich fest vor, jetzt möglichst vernünftig zu erscheinen, schon allein Jared zuliebe, auch wenn er wirklich gemein gewesen war.

»Sie sind Schriftstellerin?«, fragte Tiff Henley.

War Tiff eine Kurzform von Tiffany? Die Frau sah aus wie eine Tiffany – mit echten Klunkern behängt, das Haar eine Mischung aus Champagnerblond und Silber, das lange Wollkleid und die Jacke modisch und perfekt auf Figur geschnitten.

»Ich bin Literaturkritikerin«, erwiderte Jordan. »Wenn ich schreiben könnte, würde ich es tun. Aber ich fürchte, mein Talent reicht nur dazu, Schätze zu finden, die andere versteckt haben. Und Sie?«, fragte sie höflich.

Tiff lächelte reumütig. »Ich bin einfach nur stinkreich«, antwortete sie. »Aber nicht wirklich bekannt in den besten Kreisen. Nun, nachdem das geklärt ist – würden Sie gerne mal einen Kaffee mit mir trinken?« Die Frau wirkte sehr freundlich und ziemlich forsch; wahrscheinlich war sie auf irgendeine skandalöse Weise zu ihrem Reichtum gekommen.

»Ja, gern«, erwiderte Jordan.

»Morgen vielleicht?«

Warum nicht?, dachte Jordan. »Klingt gut. Wohnen Sie hier?«

Tiff schüttelte den champagnergetönten Kopf. »Nein, ich bin nur mit einem Freund da, Mack, der Mann dort drüben.« Sie deutete auf ihren untersetzten Gesprächspartner. »Er braucht ein Kostüm für den Künstlerball heute Abend. Gehen Sie auch dorthin?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Es wird Ihnen bestimmt gefallen. Die Eintrittskarten sind günstig, das Essen mittelmäßig, doch dort treten oft die erstaunlichsten Talente des venezianischen Karnevals auf. Und wenn nichts anderes mehr hilft – die Drinks sind meist ziemlich stark.«

»Dann sehen wir uns dort«, meinte Jordan.

»Wirklich sehen sollen Sie mich natürlich nicht – ich komme verkleidet. Aber wir werden uns schon finden. Und schlagen Sie doch in Ihrem Terminkalender nach, wann Sie zu mir zum Kaffee kommen können. Ich habe im Nachbarviertel eine Villa gemietet, ein herrliches altes Gemäuer. Es gehört den Nachfahren eines Dogen, der natürlich schon längst das Zeitliche gesegnet hat. Besuchen Sie mich einfach dort. Fantastische Vergangenheit, Geister, Skandale – was immer Sie wollen. Ich werden Ihnen ein paar der Geschichten verraten, die man mir erzählt hat. Ups! Tut mir leid, ich wollte Ihnen keine Angst machen ...«

»Eigentlich bin ich nicht so leicht zu ängstigen«, versicherte ihr Jordan rasch.

»Gut!« Sie lächelte und wandte sich zum Gehen, doch dann drehte sie sich noch einmal um. »Nehmen Sie es sich nicht allzu sehr zu Herzen, wenn die Leute heute über Sie tuscheln. Über mich wird ständig geredet, und bislang habe ich das ganz gut überstanden.«

Bevor Jordan etwas erwidern konnte, war Tiff schon zu ihrem Bekannten zurückgekehrt. Verwundert stellte Jordan fest, dass sie sich nach dem Gespräch mit dieser sehr freimütigen Frau viel besser fühlte. Während sie lächelnd hinausging, überlegte sie, woher die Frau nur all ihr Selbstbewusstsein nahm. Warum die Leute wohl über Tiff tuschelten? Wahrscheinlich hatte es etwas mit ihrem Lebenswandel zu tun.

Vor dem Hotel boten Händler ihre Waren feil – die üblichen T-Shirts, Puppen und Hunderte von Masken. Tagsüber waren die meisten Menschen ganz normal gekleidet, doch viele waren selbst jetzt kostümiert. Jordan sah die maskierten und in kunstvolle Gewänder gehüllten Menschen als das, was sie waren: Feiernde, die die Schönheit und Fantasie der Riesenparty, die der Karneval in Venedig war, in vollen Zügen genossen.

Die Luft war kühl, der Tag sonnig, der Himmel blau. Beim Überqueren der Brücke vor dem Danieli blieb sie stehen und blickte den Kanal hinab bis zur Seufzerbrücke, die den Dogenpalast und das Gefängnis verband. Über diese Brücke waren viele Elendsgestalten in Gefangenschaft oder den Tod gestolpert. Doch das war Vergangenheit – heute sang ein Gondoliere mit einem jungen Paar in seinem schmalen schwarzen Boot ein italienisches Liebeslied. Als die Gondel sich Jordan näherte, blickte der Mann zu ihr hoch und wechselte sofort ins Englische: »When the moon hits your eye like a big piece of pie, that's amore!« Er winkte. Jordan zog eine Braue hoch, lächelte etwas verlegen und winkte dem glücklichen Paar zu.

Der Gondoliere hörte zu rudern auf und glitt langsam an ihr vorbei. »Buon giorno, Signorina!«, rief er ihr zu. »Hätten Sie Lust auf eine Fahrt?«

»Sie haben doch schon Passagiere!«, entgegnete sie.

»Ach, aber die sind verliebt, und ich bin allein.«

»Tja, so ist das Leben eben«, neckte sie ihn. »Ihre Gondel ist besetzt.«

»Dann kommen Sie ein andermal mit. Ich heiße Sal. Salvatore D'Onofrio. Der Beste. Der Lustigste, der Hübscheste.«

»Und der Bescheidenste«, ergänzte sie.

Er grinste schelmisch. »Nein, das nicht. Aber Sie fragen nach mir, ein andermal, eh?«

»Wenn ich mit einer Gondel fahren möchte, frage ich bestimmt nach Ihnen«, versprach sie.

Die junge Frau im hinteren Teil der Gondel, die sich an ihren Begleiter kuschelte, der bestimmt nicht älter als zwanzig war, rief Jordan mit französischem Akzent zu: »Er ist der Beste!«

Jordan lachte. »Na dann viel Spaß noch!«

Während die Gondel unter der Brücke hindurchglitt, setzte Jordan ihren Weg fort.

Auf dem Markusplatz herrschte reges Treiben. Vor den Pforten der Basilika stellte sich Jordan auf Zehenspitzen und entdeckte über die Köpfe der Menge hinweg, dass am anderen Ende des Platzes auf einer provisorischen Bühne gerade ein Kostümwettbewerb stattfand. Eine Rockband spielte, und ein Harlekin stellte die Teilnehmer auf Englisch und Italienisch vor, gewürzt mit ein paar Brocken Französisch. Die Leute mit den auffälligsten und extravagantesten Kostümen standen an den Säulen rund um den Platz und ließen sich von Touristen fotografieren. Dank der Masken waren die Verkleideten völlig anonym, es war unmöglich, Nationalität, Hautfarbe oder Geschlecht einer Person zu erraten.

Anonym ... das ist der springende Punkt, dachte Jordan. Es ist ein Leichtes, hierherzukommen, sich eine Maske aufzusetzen, in die Menge zu schlüpfen und ...

Dieser Gedanke ließ wieder ein seltsames Unbehagen in ihr aufsteigen. Ja, sie würde keinen von denen erkennen, die ihr gestern Abend auf dem Ball begegnet waren. Bis auf die Contessa, denn die hatte sie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Aber all die anderen ... Möglicherweise hielten sie sich nun zusammen mit ihr auf diesem Platz auf – und sie wusste es nicht.

Sie lief durch die Menge. Plötzlich konnte sie es kaum mehr erwarten, zu den Straßen hinter dem Platz zu gelangen, wo das Gewimmel nicht mehr ganz so dicht war. Neben ihr her schritt ein sehr echt aussehender Napoleon, gefolgt von seinem Hofstaat. Er blieb stehen, verbeugte sich tief und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er ihr den Vortritt lassen wollte. Sie bedankte sich rasch und lief weiter.

Plötzlich blieb sie wie versteinert stehen und starrte in ein Schaufenster, in dem die unterschiedlichsten Kostüme ausgestellt waren.

Einen Moment lang ...

Nein. Es war nur eine Schaufensterpuppe, eine männliche Schaufensterpuppe, mit einer dunklen Kurzhaarperücke. Einen Moment lang hatte sie sich eingebildet, Stevens Gesicht in dieser Puppe zu erkennen, seine ernsten, haselnussbraunen Augen, die hageren Züge, das feste Kinn. Aber sie blickte auf eine Plastikform, auf ausdruckslose Gesichtszüge. Die Schaufensterpuppe trug keine Maske und auch keinen Hut, sondern nur den typischen Umhang. Trotzdem raste Jordans Herz und sie begann, selbst an ihrem Verstand zu zweifeln. Vielleicht hatte Jared doch recht? Steven war erst seit einem Jahr tot. Er war bei der Jagd auf Menschen gestorben, die ein tödliches Spiel trieben; Anhänger eines Kultes, die für ihren grausamen Glauben Menschenopfer brachten. Sie betrachtete die Schaufensterpuppe noch einmal ganz gründlich und zwang sich, logisch zu denken.

Ja, jetzt wurde ihr klar, warum sie diese Eingebung gehabt hatte.

Die hageren Gesichtszüge ähnelten denen Stevens. Die Augen waren haselnussbraun gemalt, die Perücke hatte seine Haarfarbe, und auch die Größe stimmte in etwa.

Tiefes Leid wallte in ihr auf. Ein Jahr war nicht gerade lang.

Er war ganz plötzlich in ihr Leben getreten, und sie hatte sich sofort in ihn verliebt. Ein charmanter, intelligenter, beeindruckender Mann. Richtig edel.

Er hätte nicht zur Polizei gehen sollen, dachte sie. Er war viel zu gutgläubig gewesen. Er hatte Gewalt gehasst, aber schließlich war er im Morddezernat gelandet – ein Mann, der an die Resozialisierung glaubte, der die Todesstrafe strikt ablehnte und stets alles daransetzte, Verdächtige lebend zu fassen.

Der Versuch, Verdächtige lebend zu fassen – genau das hatte ihn sein Leben gekostet.