Vernichtet - Walter Manoschek - E-Book

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Walter Manoschek

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Beschreibung

Über die kleineren der insgesamt 342 Ghettos im Generalgouvernement Polen ist wenig bekannt – weder über die Dauer ihrer Existenz noch über die Anzahl der in ihnen eingesperrten Jüdinnen und Juden. Waren sie anfangs noch »Abladeplätze«, wurden sie mit Beginn der »Aktion Reinhardt« im Frühjahr 1942 zu Zwischenstationen auf dem Weg zur systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Über 9.000 Jüdinnen und Juden wurden zwischen Februar 1941 und Mai 1942 von Wien in die Ghettos des Generalgouvernements deportiert. Die erhaltenen Akten zeigen sie als Orte gewöhnlicher Bürokratie, befassen sich mit Bauwesen, Hygienemaßnahmen und Lebensmittelpreisen. Die Ghettos und ihre Bewohnerinnen und Bewohner kommen nicht vor. Anhand von persönlichen Briefen, Dokumenten der Nachkriegsprozesse und akribischer Recherche setzt Walter Manoschek zahlreiche Puzzleteile zu einem Bild zusammen. Er deckt die von den Nazis gezielte Vertuschung hinsichtlich ihrer Vernichtungspolitik auf, eruiert Schicksale von Opfern und benennt Täter. Dadurch gelingt ihm ein unentbehrliches und grundlegendes Werk politischer Geschichte.

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Seitenzahl: 385

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Walter Manoschek

VERNICHTET

Österreichische Jüdinnen und Juden in den Ghettos des Generalgouvernements 1941/1942

Walter Manoschek

VERNICHTET

Österreichische Jüdinnen und Juden in den Ghettos des Generalgouvernements 1941/1942

Czernin Verlag, Wien

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur, des Zukunftsfonds der Republik Österreich, des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und Yad Vashem, United States Holocaust Memorial Museum

Die in diesem Buch verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich auf alle Geschlechter.

Manoschek, Walter: Vernichtet. Österreichische Jüdinnen und Juden in den Ghettos des Generalgouvernements 1941/1942/Walter Manoschek

Wien: Czernin Verlag 2023

ISBN: 978-3-7076-0821-2

© 2023 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Hannah Wustinger

Coverfoto: Archivmaterial Lilli Tauber, Centropa – www.centropa.org

Fotos: S. 81: Archivmaterial Lilli Tauber, Centropa – www.centropa.org

S. 95: Archivmaterial Lilli Tauber, Centropa – www.centropa.org

S. 203: Familie Fleischmann. Wojciech Walkowiak

Autorenfoto: Privat

Covergestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Druck: GGP Media, Pößneck

ISBN: 978-3-7076-0821-2

ISBN E-Book: 978-3-7076-0822-9

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

INHALT

EINLEITUNG

DIE SITUATION DER ÖSTERREICHISCHEN JÜDINNEN VOR DEN ERSTEN DEPORTATIONEN INS GG

DIE ERSTE PHASE DER DEPORTATIONSPOLITIK

Die erste Deportation 1939: Nisko am San

Madagaskar

Vertreibungen innerhalb Polens

DIE ZWEITE PHASE DER DEPORTATIONSPOLITIK

INSTANZEN DER MACHT

Die Zivilverwaltung im Generalgouvernement

Kreis- und Stadthauptleute, Stadt- und Landkommissare

Abteilung »Bevölkerungswesen und Fürsorge« (BuF)

Der SS- und Polizeiapparat

INSTITUTIONEN DER OHNMACHT UND DER MACHT

Die Jüdische Soziale Selbsthilfe (JSS)

Die Judenräte und die Judenpolizei

DIE GHETTOS – EINE ZWISCHENWELT

EXKURS: »NICHTGLAUBENSJUDEN« IN DEN GHETTOS

DER BEGINN DER »AKTION REINHARDT«

DIE DEPORTATIONEN AUS WIEN IM FEBRUAR/MÄRZ 1941

Die Sammellager

DAS GHETTO OPOLE LUBELSKIE

Ankunft in der Zwischenwelt

Die Errichtung des Ghettos

ALLTAG IM GHETTO: »ES WAR NOCH VIEL ÄRGER ALS DACHAU UND NISKO«

»Posthaben von euch ist ein Stückchen Heimat«

Zensur

Hunger und Teuerung

Ungeziefer und Typhus

Krankheit und Tod

Das Verhältnis zu den polnischen Jüdinnen

»JSS Sektion Wien«

Kollektive und individuelle Rückkehrversuche

Geplante Fluchten

Die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Wien reagiert

Letzte Briefe

»Aktion Reinhardt«

Geglückte Fluchten

Weitere Überlebende

DAS GHETTO KIELCE

JFF, Judenrat und Jupo in Kielce

Die österreichischen Jüdinnen in Kielce

Deutsche Polizei im Ghetto

»Aktion Reinhardt«

Geglückte Fluchten

Weitere Überlebende

DAS GHETTO MODLIBORZYCE

Überlebende

OPATÓW, ŁAGÓW UND UMLIEGENDE GEMEINDEN

»Aktion Reinhardt«

Geglückte Fluchten

Weitere Überlebende

DIE DEPORTATIONEN IN DIE TRANSITGHETTOS 1942

IZBICA

Österreichische Jüdinnen in Izbica

WŁODAWA

»Aktion Reinhardt«

ANMERKUNGEN

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ARCHIVE

LITERATUR

EINLEITUNG

Im Generalgouvernement (GG)1 gab es 342 Ghettos.2 Bis auf die großen Ghettos (z. B. Warszawa,3 Kraków,4 L’viv,5 Majdanek6) ist wenig über sie bekannt. Wir wissen über viele der kleineren Ghettos im GG oft nicht einmal die Dauer ihrer Existenz oder die Anzahl der Insassinnen.7 Die kleinen Ghettos bildeten aber die Mehrheit. Legt man die jeweils überlieferte Höchstzahl an Insassinnen zugrunde, so lebten nur in 26 Ghettos mehr als 10.000 Jüdinnen und in weiteren 35 zwischen 5000 und 10.000.8 In dieser Dimension lagen auch – mit Ausnahme von Kielce9 – die in dieser Arbeit untersuchten Ghettos.

Insgesamt wurden zwischen Februar 1941 und Mai 1942 etwa 9000 österreichische, von den Nationalsozialisten als jüdisch definierte Menschen mit neun Transporten von Wien aus in Orte im GG deportiert. Sieben Transporte zu je etwa 1000 Personen gingen in den Distrikt Lublin, zwei weitere in den Distrikt Radom.10 Für die Betroffenen spielte es dabei kaum eine Rolle, in welchem der beiden Distrikte sie landeten. Die Lebensbedingungen in den Ghettos wichen nur unwesentlich voneinander ab.

Hingegen unterschied sich der Charakter der Transporte von 1941 bzw. 1942 fundamental. Die erste Deportationsphase im Februar/März 1941 hatte die »Entjudung« Großdeutschlands und der annektierten Gebiete zum Ziel. Das GG galt als »kolonialer Abfallhaufen für Nicht-Arierinnen«. Genaue Pläne, was mit den Menschen dort passieren sollte, gab es nicht. Sie gingen über ein Vegetierenlassen unter unmenschlichen Bedingungen nicht hinaus. Dass unter den vorgefundenen Lebensbedingungen kein längeres Überleben möglich sein würde, war den Deportierten aber von Beginn an klar.

Für die zwei Transporte mit etwa 2000 Menschen, die im April und Mai 1942 nach Izbica und Włodawa verschickt wurden, waren die Orte, in denen sie strandeten, nur Durchgangsghettos. Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits die »Aktion Reinhardt«, also die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den Vergasungsanlagen des GG, begonnen. Die Aufenthaltsdauer in den Ghettos war kurz, meist nur wenige Wochen oder Monate. Die beiden Züge, die am 5. und am 16. Juni 1942 Wien mit dem ursprünglichen Ziel Izbica verließen, wurden direkt in die Vergasungsfabrik Sobibór dirigiert. 1941 war für die Opfer der schleichende Tod, 1942 die systematische Vernichtung vorgesehen.

Die jüdischen Opfer wurden auf unterschiedliche Art vernichtet. Sie wurden erschossen oder vergast, sie verhungerten, erfroren oder wurden von Krankheiten dahingerafft.

Vorab ein Wort zur Quellenlage: Von den lokalen und regionalen NS-Behörden im GG wurden die Herrschaftsquellen zur NS-Judenpolitik systematisch und akribisch zerstört. Liest man die wenigen erhaltenen Aktensplitter, so gewinnt man den Eindruck, als habe es sich bei den Ghettos um Orte gewöhnlicher Bürokratie gehandelt, die sich mit Lebensmittelpreisen, Hygienemaßnahmen, dem Bauwesen etc. beschäftigten. Von Jüdinnen: keine Spur. Daher sind wir bei der Analyse des Geschehens meist auf die verbliebenen Egodokumente (Briefe und Postkarten der Deportierten und Interviews mit den wenigen Überlebenden, die hauptsächlich in die Archive von Yad Vashem in Jerusalem, in das USC Shoah Foundation Visual History Archive in Los Angeles, in das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, DC, und in das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien gelangten) und auf die Unterlagen der wenigen Nachkriegsprozesse, die wegen NS-Verbrechen in diesen Ghettos geführt worden sind, angewiesen.11 Zu den Ghettos in Opole Lubelskie/Lubieski und Włodawa etwa konnte kein einziges Herrschaftsdokument zur NS-Judenpolitik gefunden werden. Die Quellenlage ist bei allen behandelten Ghettos rudimentär. Insofern ähnelt die Arbeit an diesem Thema eher einer archäologischen, denn einer systematischen Rekonstruktion. Es sind Puzzlesteine, die es gilt zusammenzusetzen, wobei dennoch erhebliche Lücken bestehen bleiben, die nicht geschlossen werden können. So konnten von den 9000 Deportierten nur etwa 100 Briefe oder Postkarten gefunden werden. Geht man von der konservativen Annahme aus, dass von Februar 1941 bis Juni 1942 jede Person nicht mehr als eine Briefsendung verfasst hat, so wären dies insgesamt 9000 Stück. Das würde bedeuten, dass sich die erhalten gebliebenen Egodokumente im Einprozentbereich bewegen.

Es wurden nicht nur die Menschen, sondern auch die schriftlichen Zeugnisse des Vernichtungsprozesses vernichtet. Dennoch ist es das Ziel dieser Studie, die von den Nazis gezielt herbeigeführte »Blackbox« hinsichtlich der Praxis ihrer Vernichtungspolitik nicht obsiegen zu lassen, also Schicksale von Opfern zu eruieren und Täter zu benennen.

Im Zentrum der Studie steht das Ghetto in Opole Lubelskie, wohin zwei der insgesamt fünf Deportationen des Frühjahrs 1941 aus Wien, insgesamt etwa 2000 Personen, geleitet wurden. Überblicksartig werden die Ghettos Kielce, Modliborzyce und Opatów behandelt, in die weitere 3000 Jüdinnen transportiert wurden. Die in diesem Buch verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich auf alle Geschlechter.

DIE SITUATION DER ÖSTERREICHISCHEN JÜDINNEN VOR DEN ERSTEN DEPORTATIONEN INS GG

Für die von den Nazis als Jüdinnen definierte Bevölkerung bedeutete der »Anschluss« am 12. März 1938 einen radikalen Bruch ihres bisherigen Lebens. Wie aus dem Nichts tauchten längst vorbereitete Naziuniformen und Hakenkreuzbinden auf. Die Entrechtungsmaßnahmen, die im »Altreich« in fünf Jahren Schritt für Schritt umgesetzt wurden, waren in der nunmehrigen Ostmark innerhalb weniger Wochen vollzogen. Im Unterschied zum »Altreich« gab es in Wien eine antisemitische Massenbewegung, die sich vom ersten Tag an vehement Gehör verschaffte. Der einheimische Pogromantisemitismus schlug sich in zügellosen Plünderungen, Demütigungen, Erniedrigungen, Erpressungen und tätlichen Angriffen nieder. Gerhard Botz charakterisiert die Ausschreitungen der ersten Wochen als »mittelalterliche Pogrome in moderner Verkleidung«.12

Der Terror gegen die jüdische Bevölkerung in Wien lässt sich auch anhand der Selbsttötungen abmessen. Allein in den beiden letzten Märzwochen verübten an die 220 Jüdinnen Suizid.13 Die New York Times kommentierte die Situation knapp zwei Wochen nach dem »Anschluss« treffend: »In 14 Tagen ist es gelungen, die Juden einem unendlich härteren Regime zu unterwerfen, als es in Deutschland in einem Jahr erreicht wurde.«14

Der weitaus überwiegende Teil der jüdischen Bevölkerung Österreichs lebte in Wien. Hinzu kam der Zustrom von vertriebenen Jüdinnen aus der Provinz, die großteils mittellos waren und von den jüdischen sozialen Anstalten betreut und verköstigt wurden. Die NS-Judenpolitik in Wien kann damit praktisch jener in ganz Österreich gleichgesetzt werden.

Einen besonderen Stellenwert hatte die antisemitische Sozialpolitik, unter deren Vorwand und Argumentation Politik in Übereinstimmung mit der breiten Bevölkerung betrieben wurde. Botz teilt diese prozesshafte Entwicklung in acht idealtypische Stufen ein, die aufeinander folgten, aber auch ineinandergriffen und einander gegenseitig ergänzten: Die »Anschluss-Phase« als »Explosion des emotionalen Potenzials und (geprägt von) Erniedrigungsrituale(n)«, gefolgt und begleitet von einer genauen »Definition der Feindgruppe«15, einer begrifflichen Trennung zwischen »Uns« und den »Anderen«. Schon seit März 1938 wurde die »Zerstörung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage«16 betrieben, die im Laufe der Monate systematisiert wurde und bis Ende 1938 in Wien größtenteils abgeschlossen war. Kurz nach dem »Anschluss« wurden Jüdinnen an der Ausreise gehindert, später wurden sie vertrieben bzw. mussten fliehen. Diese »erzwungene Emigration«17 war mit einer wirtschaftlichen Ausbeutung verbunden. In der sogenannten »Reichskristallnacht«18 vom 9. auf den 10. November 1938 spitzte sich die Gewalt gegenüber der jüdischen Bevölkerung erneut zu – Tote, Verletzte, zerstörte Wohnungen und Synagogen waren das Resultat der Novemberpogrome. Die »(r)äumliche Absonderung und teilweise Ghettoisierung« der Wiener Jüdinnen war die Folge, und aufgrund dieser unmöglichen und menschenunwürdigen Lebensumstände wurde die Realisierung des NS-Stereotyps vom »Juden« betrieben und umgesetzt, wodurch sich die Wiener Bevölkerung von den übrig gebliebenen Jüdinnen entsolidarisierte, und ihre räumliche Ausgrenzung nun auch gesellschaftlich vollzogen war.19

Dieser Verlauf der Diskriminierung, Ausgrenzung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung folgte keinem ausgeklügelten Plan, sondern war ein Prozess, der sich aus sozialen und ökonomischen Interessen der Bevölkerung einerseits und den ideologischen und politischen Zielen der NS-Führungsriege andererseits ergab.

Insbesondere die zügellosen Plünderungen und die Aneignung von jüdischem Besitz durch die Parteigenossinnen (wilde »Arisierungen«, wilde Kommissare) waren der NS-Führung ein Dorn im Auge. Sie nahmen solch unkontrollierte Ausmaße an, dass die NS-Elite um ihren Anteil an der Beute fürchtete und bei Zuwiderhandeln mit Parteiausschluss drohte.20 Der »Völkische Beobachter« brachte die Divergenz zwischen dem Antisemitismus im »Altreich« und der Ostmark aus seiner Sicht Ende April 1938 auf den Punkt: »Mußte den Norddeutschen der Nationalsozialismus also vielfach erst auf die privaten, sozusagen unpolitischen Gefahren des Judentums aufmerksam machen, so ist es in Wien im Gegenteil die Aufgabe einer verantwortungsbewußten, um die Untadeligkeit und Reinheit der Bewegung besorgten Volkserziehung, den überschäumenden Radikalismus einzudämmen und die verständliche Reaktion auf die jüdischen Übergriffe eines geschlagenen Jahrhunderts in geordnete Bahnen zu lenken. Denn – das merke sich jeder – Deutschland ist ein Rechtsstaat.«21

Bereits im Spätsommer 1938 wurde die ordnungsstaatliche, bürokratisch gemilderte Phase in Österreich wiederum von einer radikalisierten Politik abgelöst. De facto hatte die Pogromstimmung niemals aufgehört. Sie war bestenfalls abgeflacht, ehe sie im Oktober durch »spontane Kundgebungen des Volkes« und durch Überfälle von SA- und HJ-Mitgliedern auf jüdische Passantinnen und auf Wohnungen und Geschäfte wieder anstieg. Nunmehr war die zentrale Forderung die Vertreibung aller Jüdinnen aus der Stadt. Markierte das anschließende Novemberpogrom im »Altreich« eine drastische Wende in der Judenpolitik, so unterschied es sich in Wien nur durch den Umfang und die Massenverhaftungen von der Zeit zuvor.

Mit der Aufnahme der Tätigkeit der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« im Sommer 1938 stieg die Zahl der erzwungenen Auswanderungen erheblich an. Hatten vom »Anschluss« bis Ende Juli 1938 etwa 18.000 Jüdinnen das Land verlassen, so waren es vom August bis Oktober 1938 bereits 32.000, und bis Juli 1939 folgten ihnen weitere 54.000. Mit Ende November 1939 hielt man schließlich beim Stand von 126.445 vertriebener Jüdinnen. Im Oktober 1939 lebten noch etwa 105.00 Jüdinnen in Wien. Ihre Zahl ging bis November 1940 auf 61.135 zurück.22

Die wirtschaftliche Lage der Wiener Jüdinnen im Sommer 1940 war trostlos. Ein NS-Bericht stellte dazu fest, dass die meisten über kein Einkommen verfügten und 40.000 mittellos wären.23 Diese Personen mussten von der Kultusgemeinde betreut und versorgt werden, deren Gelder meist von ausländischen Hilfskomitees stammten und nach Kriegsbeginn zunehmend versiegten. Hinzu kam, dass 40 % der Jüdinnen älter als 60 Jahre waren, wohingegen die unter 40-jährigen nur 19 % ausmachten; Frauen waren im Verhältnis 1:2 überrepräsentiert. Grund für diese Gewichtung war die selektive Vertreibungspolitik, die dazu geführt hatte, dass vor allem Männer und Personen im erwerbsfähigen Alter aus dem Land geflüchtet waren.

Mit Kriegsausbruch wurde das Verlassen des Reichsgebiets immer schwieriger. Dennoch gelang es weiteren 23.500 Personen zu flüchten,24 ehe am 3. Jänner 1942 »angesichts der nahe bevorstehenden Endlösung der Judenfrage die Auswanderung von Juden deutscher Staatsangehörigkeit und staatenloser Juden aus dem Reich«25 endgültig unterbunden wurde. Wenige Tage später fand die »Wannseekonferenz« statt, bei der die Deportation der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas zur Vernichtung in den Osten in Grundzügen organisiert und koordiniert wurde.

DIE ERSTE PHASE DER DEPORTATIONSPOLITIK

Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 und der Einverleibung Westpolens ins Reichsgebiet hatte sich die Zahl der Jüdinnen im Deutschen Reich fast versechsfacht, insgesamt waren es nun etwa 1,7 Millionen.26 Von den 3,5 Millionen Jüdinnen in Polen vor Kriegsbeginn lebten 2.350.000 in dem Gebiet, das unter deutsche Herrschaft geriet, weitere 1.150.000 lebten auf sowjetisch kontrolliertem Territorium.

Ab Kriegsbeginn kam Hitler immer wieder auf die Deportation aller Jüdinnen aus Großdeutschland in ein Judenreservat zu sprechen. Diverse mehr oder weniger ausgegorene Ideen schwirrten in den Köpfen. Letztendlich setzte sich die Idee eines Judenreservates im GG durch.27 Am 30. Oktober 1939 gab Heinrich Himmler die Anweisungen, bis Ende Februar 1940 ca. eine Million Menschen aus dem »Altreich« und den annektierten Gebieten – die Hälfte Jüdinnen, die andere Polinnen – ins GG zu deportieren.28 Die Verantwortung für die Deportationsvorgaben ging an das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), mit der Koordinierung der Durchführung wurde Reinhard Heydrich offiziell beauftragt. Dazu richtete er am 19. Dezember 1939 eine spezielle Abteilung im RSHA ein (IV B 4) und ernannte Adolf Eichmann zum »Sonderreferenten im RSHA«. Bis zum 17. Dezember 1939, zwei Tage bevor die Abteilung eingerichtet wurde, waren etwa 90.000 Jüdinnen aus dem einverleibten Westen Polens ins GG deportiert worden. Es waren keine Vorsorgemaßnahmen vor Ort getroffen worden, um sie unterzubringen. In einer RSHA-Akte vom 8. Jänner 1940 findet sich folgender Vermerk: »Die Leute mußten bis zu 8 Tagen in verschlossenen Eisenbahnwaggons sitzen, ohne ihre Notdurft verrichten zu können. Außerdem sind bei einem Transport während der großen Kälte 100 Erfrierungen vorgekommen.«29

In Wien war es von Beginn an das Ziel des von März 1938 bis März 1940 amtierenden »Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich«, Josef Bürckel, Jüdinnen bedingungslos aus dem Wirtschaftsleben und überhaupt aus Österreich zu entfernen.30 Schon sechs Wochen nach dem »Anschluss« und angesichts der antisemitischen Massenstimmung in Wien hatte der »Völkische Beobachter« proklamatisch geschrieben: »Bis zum Jahre 1942 muß das jüdische Element in Wien ausgemerzt und zum Verschwinden gebracht sein. Kein Geschäft, kein Betrieb darf zu diesem Zeitpunkt mehr jüdisch geführt sein, kein Jude darf irgendwo noch Gelegenheit zum Verdienen haben, und mit Ausnahme der Straßenzüge, in denen die alten Juden ihr Geld – dessen Ausfuhr unterbunden ist – verbrauchen und aufs Sterben warten, darf im Stadtbild nichts davon zu merken sein.«31

Durch die erfolgreiche Vertreibungspolitik, durch die Aufhebung des Mieterschutzes sowie der ab 1940 forcierten Konzentration von Jüdinnen in drei Wiener Wohnbezirken (ca. 90 % der Jüdinnen waren davon betroffen) und in Sammelwohnungen war nur mehr ein verschwindend kleiner Anteil in seinen ursprünglichen Wohnungen verblieben. Der stellvertretende Gauleiter von Wien teilte den Kreisleitern und der Gestapo im September 1940 vertraulich mit, dass der seit Juni 1940 amtierende Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, »angesichts der brennenden Wohnungsnot die sofortige Wiederaufnahme einer planvollen und durchgreifenden Judenumsiedlung«32 fordere.

Vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal sagte Schirach aus, dass ihm Hitler bei seiner Ernennung zum Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien bereits die Deportation der noch in Wien verbliebenen jüdischen Bevölkerung zugesagt hätte.33 Schirach hatte daraufhin Hitler in einem Bericht unter dem Vorwand der Wohnungsnot in Wien gedrängt, die Deportation der noch verbliebenen Jüdinnen Wiens rasch in Angriff zu nehmen. Sein Wunsch wurde erfüllt. In einem Schreiben des Chefs der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, vom 3. Dezember 1940 teilte dieser Schirach mit, »dass der Führer auf einen von Ihnen erstatteten Bericht entschieden (hat), dass die in dem Reichsgau Wien noch wohnhaften 60.000 Juden beschleunigt, also noch während des Krieges, wegen der in Wien herrschenden Wohnungsnot ins Generalgouvernement abgeschoben werden sollen.«34 Am 18. Dezember 1940 schrieb Schirach an den Höheren SS- und Polizeiführer Donau, Ernst Kaltenbrunner, knapp, bündig und in harschem Ton: »Die Abschiebung der Juden aus Wien soll Anfang des nächsten Jahres in Angriff genommen werden. Die Durchführung der Abschiebung wird zweckmäßig noch zu gegebener Zeit gemeinsam besprochen.«35

Warum zuerst die jüdische Bevölkerung aus Wien als der ersten Großstadt im Großdeutschen Reich deportiert werden sollte, lässt sich aus erhalten gebliebenen Dokumenten nicht schlüssig beantworten. Schließlich wollte nicht nur Schirach, sondern wollten alle Gauleiter ihren Gau als erstes »judenrein« bekommen. Am plausibelsten scheint die Annahme, dass Hitler mit den Deportationen der Jüdinnen aus seiner ehemaligen Heimat beginnen wollte. Irgendwo musste ja der Anfang gemacht werden.

Die erste Deportation 1939: Nisko am San

Bereits zuvor, Anfang Oktober 1939, führte Eichmann mit Mitarbeitern des Wiener Gauleiters Bürckel Gespräche über Deportationen aus Wien.36 Südwestlich von Lublin sollte ein Barackendorf gebaut werden. Am 15. Oktober 1939 meldete Eichmann, dass der Deportationsort Nisko am San sein werde. Der Fluss San bildete die Demarkationslinie zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Bürckel bat, die Deportationen aus Wien beschleunigt durchzuführen. Man entschied, ab 20. Oktober 1939 je zwei Züge pro Woche mit je 1000 Jüdinnen zu versenden. Zwischen dem 20. und dem 28. Oktober 1939 wurden in je zwei Transporten 1584 jüdische Männer aus Wien und weitere etwa 3100 aus Katowice und Mährisch-Ostrau nach Nisko transportiert.37

Die Umsiedlungen waren gerade angelaufen, da wurden sie auch gleich wieder gestoppt. Das RSHA urgierte nicht zu Unrecht das Fehlen einer zentralen Leitung der Aktion und verbot schon am 20. Oktober 1939 weitere Transporte. Eichmann erreichte die Nachricht in Nisko, als er gerade den ersten Transport in Empfang nahm. Das war der Grund, warum nur 200 der Eingetroffenen zum Barackenbau eingesetzt wurden, der Großteil hingegen über den Fluss auf sowjetisch besetztes Gebiet verjagt wurde. Im April 1940 kehrten 198 Juden von Nisko nach Wien zurück.38 Trotz dieses erfolglosen Versuchs wurde vom RSHA am Plan einer Deportation von Jüdinnen in ein Reservat im Distrikt Lublin festgehalten.

Offensichtlich stand auch hinter der Nisko-Aktion die Absicht, eine möglichst große Anzahl Jüdinnen über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie zu treiben39 oder sie mittel- und hilflos sich selbst zu überlassen. Ziel war die Vertreibung in ein Gebiet, das keine ausreichende Existenzbedingungen bot, um längerfristig überleben zu können. In zahlreichen Äußerungen von Vertretern des GG und anderen NS-Funktionären kam dies zum Ausdruck. Von »starker Dezimierung der Juden«, von »verhungern und erfrieren lassen« war die Rede40 oder, wie Hans Frank, der Generalgouverneur des GG, es auf den Punkt brachte: »Je mehr sterben, umso besser.«41 Es war die erste Variante zur Endlösung durch physische Vernichtung der im deutschen Herrschaftsbereich lebenden Jüdinnen. Der Wille war da, allein der konkrete Weg fehlte noch.

Noch im Februar 1940 wurden etwa 1200 Jüdinnen aus Szczecin und 600 aus Pila (beide Städte lagen in Pommern) in abgelegene Dörfer nahe Lublin verschickt. Schon nach einem halben Jahr waren 30 % von ihnen verstorben.42 Schließlich gab man den Plan eines 800 bis 1000 Quadratkilometer großen Judenreservates im GG auf.43 Am 23. März 1940 ließ Hermann Göring mit Zustimmung Himmlers den Plan fallen. Nach dem Scheitern des Nisko-Planes vom Oktober 1939 und dem vorläufigen Ende der Deportationen im März 1940 waren entgegen den hochfliegenden Plänen insgesamt nur 128.000 Menschen aus dem Warthegau in das GG deportiert worden, darunter einige Zehntausend Jüdinnen. Die Idee, zunächst die eingegliederten Ostgebiete und dann das Reichsgebiet »judenrein« zu machen, war vorerst gescheitert. Zusammenfassend für diesen Zeitraum kann man sagen: »In der Judenpolitik fehlt die große Perspektive.«44

Madagaskar

Mit dem Sieg über Frankreich im Juni 1940 verschoben sich die Deportationspläne von Polen nach Madagaskar. Die Idee war nicht neu. Sie war nach dem 1. Weltkrieg von verschiedenen Seiten (Polen, Rumänien, aber auch von Reichsmarschall Hermann Göring und dem Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg) ins Spiel gebracht worden. Himmler und die Abteilung Deutschland im Auswärtigen Amt entwickelten einen Plan, wie sich die Nazis gleich aller Jüdinnen im Reichs- und Protektoratsgebiet sowie im gesamten besetzten Polen entledigen könnten. Für den Transport der vorgesehenen vier Millionen Jüdinnen waren 120 Schiffe vorgesehen, die pro Jahr eine Million Menschen auf die Insel bringen sollten. Das bedeutete, dass nunmehr die Reservatsplanungen in den außereuropäischen Raum verlagert wurden.

Die Funktion des Madagaskarplans ist, ob seiner gigantischen Dimension, in der historischen Forschung umstritten.45 Zweifellos diente er auch dazu, einen Ausweg aus der vertrackten Situation zumindest als Zukunftsvision anzubieten. Denn zum einen war den Gauleitern die »Entjudung« ihrer Gaue versprochen worden, die aber durch die Umsiedlungsaktionen in den neu eingegliederten Gebieten Polens und dem GG in die Ferne gerückt waren. Zum anderen hatte Generalgouverneur Frank das GG als für Jüdinnen nicht aufnahmefähig erklärt.

Der Madagaskarplan sah vor, dass das besiegte Frankreich die Kolonie Madagaskar in einem Friedensvertrag an Deutschland abtreten sollte, um alle Jüdinnen auf die Insel deportieren zu können, wo sie unter Aufsicht der SS und Polizei vegetieren sollten. Der Plan konnte nicht umgesetzt werden. Er war vom Abschluss eines Friedensvertrages nach einer erfolgreichen Beendigung des Krieges gegen England abhängig, weil England mit seiner Marine die Meeresstraßen kontrollierte. Da England nicht kapitulierte, gab es auch keinen Friedensvertrag, und ohne Friedensvertrag gab es auch kein Madagaskar. Der Madagaskarplan war der letzte größere Versuch, die »Judenfrage« mittels Vertreibung aus dem deutsch-kontrollierten Gebiet zu lösen.

Die wirren Pläne der SS zur »Umsiedlung«, die zwischen einem »Judenreservat« im GG und der Idee der Verschiffung von Millionen von Menschen nach Madagaskar oszillierten, waren gescheitert. Letztlich waren die Nisko-Aktion und der Plan eines Judenreservates ein Desaster, das schnell beendet wurde. Doch aus diesen Erfahrungen sollte man lernen.

Vertreibungen innerhalb Polens

Man konzentrierte sich auch auf die Vertreibung innerhalb Polens: Von November 1939 bis Februar 1940 sollten auf Befehl Himmlers als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums »aus den ehemals polnischen, jetzt reichsdeutschen Provinzen und Gebieten alle Juden«46 ins GG deportiert werden, während mit dem deutschsowjetischen Übersiedlungsabkommen vom September 1939 Hunderttausende volks- und auslandsdeutsche Rücksiedlerinnen in die andere Richtung ins Reichgebiet verschoben wurden. Durch dieses Hin- und Hergeschiebe blockierten sich die Menschenmassen. Nah-, Zwischen- und Fernziele wurden entworfen und wieder verworfen, um das organisatorische Chaos in den Griff zu bekommen.47 Letztlich scheiterte auch dieser Plan: 1940 wurden nur insgesamt 47.000 Jüdinnen aus Oberschlesien und Danzig-Westpreußen, also aus den Deutschland eingegliederten Gebieten, in die »rassische Müllhalde« GG deportiert.48

Aus Baden, der Pfalz und dem Saargebiet wurden etwa 6500 Jüdinnen noch Ende Oktober 1940 in den unbesetzten Teil Frankreichs abgeschoben.49 Die Jüdinnen aus der »Ostmark« hatten noch ein halbes Jahr, die reichsdeutschen noch ein Jahr lang Galgenfrist.

DIE ZWEITE PHASE DER DEPORTATIONSPOLITIK

»Jede Forderung, die Juden auszuweisen, setzte voraus, dass irgendwo anders die Bereitschaft bestand, sie aufzunehmen. Was aber, wenn das GG es ablehnen würde, den rassischen ‚Sondermüll‘ aller anderen aufzunehmen? Was, wenn die eigenen zivilen und militärischen Machthaber die allgemeine Verwirrung noch dadurch steigerten, dass sie versuchten, Volksdeutsche und Polen in den für die Juden vorgesehenen Gebieten anzusiedeln oder die Juden aus der Umgebung deutscher Militärstützpunkte zu verbannen? Die Deportationen ins GG gingen Hand in Hand mit Umsiedlungen aus dem GG und Deportationen innerhalb desselben. Regelrechte Völkerwanderungen waren in Gang gesetzt worden, ohne dass irgendjemand vorher nüchtern abgewogen hätte, welche Konsequenzen damit verbunden waren, und mit der wahrscheinlichen Folge, dass die daraus resultierenden Konflikte im Spannungsfeld von kurzfristigen und langfristigen Zielsetzungen immer ruchlosere und radikalere ›Lösungen‹ provozieren würden. Das strukturelle Bedingungsgefüge, aus dessen Mitte die ›Endlösung‹ erwuchs, war ein Ergebnis bewussten individuellen Tuns, kein Fall von einem Deus ex Machina. Jede Komplikation, die die Nazis auszubügeln versuchten, hatten sie selbst durch vorangegangene Entscheidungen heraufbeschworen.«50

Die Zielvorgaben für die Judenpolitik im GG kamen immer aus Berlin. Alle dort bis 1941 angestrebten »Lösungen der Judenfrage« waren nicht praktikabel. So wurden die Jüdinnen zum Gegenstand der Politik und aus Sicht der Verwaltung zum Dauerproblem. Mit der Entwicklung der »Judenfrage« zu einer Verwaltungsangelegenheit wurden die Kompetenzen ab Mitte 1940 aufgespalten. Die Verwaltungsfragen gingen an das Amt des Generalgouverneurs, die Polizeifragen an den Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF). Diese Machtteilung und Machtkämpfe in der »Judenfrage« zwischen Zivilverwaltung und Polizei existierten bis zum Frühjahr 1942, also bis zum Beginn der »Aktion Reinhardt«. Ab dann, in der Vernichtungsphase, übernahm die SS, insbesondere der SSPF Lublin, Odilo Globocnik, mit seinem Mitarbeiterstab das Kommando.

Im GG wuchsen zwischenzeitlich die verwahrlosten Judenviertel mit ihren verarmten Menschenmassen der lokalen deutschen Verwaltung über den Kopf. In ihren Monatsberichten beklagten sie den Zuzug von Jüdinnen, der Aufnahmekapazitäten bei Weitem überschritt, und warnten vor dem Ausbruch von Seuchen. Auch Generalgouverneur Frank drängte auf eine wie immer geartete »Lösung der Judenfrage«. Am 25. März 1941 teilte er seinen Mitarbeiterinnen mit, »daß das GG in Anerkennung seiner Leistungen als erstes Gebiet judenrein gemacht werde«.51 War das GG bis dahin als Abladeplatz für alle Jüdinnen vorgesehen, so sollte es nun »judenrein« gemacht werden. Aber dann stellte sich die Frage: Wohin mit den Jüdinnen? Mit Beginn 1941 erhielt Heydrich den Auftrag, einen neuen Endlösungsplan auszuarbeiten. Eine Reihe konkreter Hinweise deuten darauf hin, dass nunmehr das Endziel klar definiert wurde: die Sowjetunion.52 Doch dazu musste erst der auf wenige Wochen geplante Krieg gegen die Sowjetunion gewonnen werden.

Knapp eineinhalb Jahre nach dem chaotischen und gescheiterten Nisko-Projekt und während für das GG Pläne geschmiedet wurden, es »judenrein« zu machen, wurden zwischen dem 15. Februar und dem 12. März 1941 etwa 5000 Jüdinnen von Wien in vier Ghettos im GG deportiert. Geplant war, jede Woche einen Transport von 1000 Jüdinnen ins GG zu verschicken. Bei den noch in Wien lebenden 61.135 Jüdinnen hätte das eine Zeitspanne von etwa 60 Wochen bedeutet. Auch das war schon zu diesem Zeitpunkt ein undurchführbares Unterfangen. Zu Beginn der Deportationen stand bereits fest, dass noch im Frühjahr 1941 der Überfall auf die Sowjetunion stattfinden sollte, der dann wegen des Kriegs gegen Jugoslawien um einige Wochen nach hinten verschoben wurde. Dass während der Kriegsvorbereitungen und den Aufmarschplänen der Wehrmacht aus logistischen Gründen und wegen der benötigten Bahnkapazitäten für Waffen und Soldaten keine Judendeportationen möglich sein würden, war offensichtlich. Von einer »planvollen und durchgreifenden Judenumsiedlung«, wie sie Schirach gefordert hatte, konnte nicht die Rede sein.

Am 15. März 1941 teilte der Gestapochef Heinrich Müller der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Wien mit, dass es nicht möglich sei, »ab 16.3.1941 bis auf weiteres Evakuierungstransporte aus den eingegliederten deutschen Ostgebieten bzw. Wien durchzuführen«.53 Aus einem Schreiben des Reichsverkehrsministers vom 19. März 1941 geht hervor, dass die Aktion wegen Transportproblemen abgebrochen werden musste. Er bestätigte, »daß bis auf weiteres für die Umsiedlungsbewegungen (Evakuierungen von Polen und Juden) zur Ansiedlung von Volksdeutschen und für Wehrmachtszwecke (Truppenübungszwecke) im Osten keinerlei Sonderzüge, auch nicht im Nahverkehr, gefahren werden können.«54

Von den ursprünglich anvisierten 238.000 Menschen waren gerade einmal 25.000 ins GG verschleppt worden, darunter etwa 5000 Jüdinnen aus Wien.55 Die Deportationsentscheidung war typisch für die Art der politischen Entscheidungsfindung bei der Judenpolitik im Nationalsozialismus. Es gab Zielvorgaben, aber kein ausgefeiltes Konzept, wie diese zu erreichen wären. Es wurde ein Stein ins Rollen gebracht. Einmal in Bewegung gesetzt, würde sich zeigen, auf welche Widerstände er stoßen werde, ob er zum Stillstand kommen oder welche Routen er nehmen werde. Dieser Stein kam bald zum Stillstand: Der bereits geplante sechste Transport wurde eingestellt, die ins Sammellager Verbrachten wurden wieder entlassen.56

INSTANZEN DER MACHT

Die Zivilverwaltung im Generalgouvernement

Der Aufbau der Zivilverwaltung im GG begann im November 1940, als Generalgouverneur Hans Frank seinen Dienstsitz in Kraków einrichtete. Im GG sollte eine rein deutsche Verwaltung im klassischen Sinn mit drei Stufen aufgebaut werden.

An der Spitze des dreistufigen Verwaltungsapparates stand Generalgouverneur Hans Frank, der Hitler direkt unterstand, und das Amt der Regierung des GG, das in Fachabteilungen und Ämter, die sachlich den Reichsressorts entsprachen, gegliedert war. Die mittlere Instanz bildete die Distriktsverwaltung, die von einem Distriktschef geleitet wurde, der direkt dem Generalgouverneur unterstand. Die dritte Instanz stellten Kreishauptmänner, die wiederum dem jeweiligen Distriktschef unterstanden. Die Kreisverwaltung war, entsprechend der Aufteilung in der zentralen und mittleren Instanz, in Ämter und Referate gegliedert: »Die Kreishauptleute mit ihren Ämtern waren das Rückgrad der deutschen Zivilverwaltung im GG und die Vollstrecker der deutschen Verwaltung vor Ort.«57 Das galt prinzipiell auch für die Judenpolitik. Auf dieser untersten Ebene waren auch die Stadt- und Landkommissare angesiedelt.

Um keine polnische Elitenbildung aufkommen zu lassen, durften Polinnen keine leitenden Positionen bekleiden, und es durfte auch keine polnische Autonomie geben. Erst auf der Ebene von Gemeindevorstehern und Dorfschulzen gab es eine polnische Selbstverwaltung, die unter totaler Aufsicht und Kontrolle der deutschen Verwaltung stand. Bei der jüdischen Bevölkerung im GG kann noch viel weniger von einer »Selbstverwaltung« gesprochen werden. Hier nahmen die sogenannten Judenräte gezwungenermaßen die Rolle der Empfänger und Exekutoren deutscher Befehle ein.

Kreis- und Stadthauptleute, Stadt-und Landkommissare

Für diese Studie sind die Kreis- und Stadthauptleute von entscheidender Relevanz. Sie waren die tragenden Säulen der Zivilverwaltung und hatten maßgeblichen Einfluss auf die Verhältnisse und den Besatzungsalltag in ihren Verwaltungseinheiten. Die Kreishauptleute in den Distrikten sind vergleichbar mit (österreichischen) Bezirkshauptleuten, die den Landeshauptleuten (Distriktschefs, später in Gouverneure umbenannt) unterstanden, allerdings viel größere Gestaltungsmöglichkeiten besaßen als Bezirkshauptleute in Österreich. Der Distrikt Lublin etwa hatte zehn Kreishauptleute und den Stadthauptmann von Lublin. Die Kreise umfassten etwa 2200 bis 3000 Quadratkilometer, die Einwohnerzahl variierte von 200.000 bis 300.000.58 Der Personalstand einer Kreishauptmannschaft betrug zwischen 100 und 150 Beschäftigte, davon mehr als 50 % Polinnen und Ukrainerinnen, der Rest waren Volks- und Reichsdeutsche.59 Als Ersatz für abgezogene deutsche Beamtinnen, die im Warthegau zum Einsatz kamen, wurden österreichische Beamtinnen herangezogen.60 Analog der Regierung in Kraków und den Distriktsverwaltungen gliederte sich die Behörde der Kreishauptleute in verschiedene Ämter.

Den Kreishauptmännern (KHM) stand jeweils ein Gendarmeriezug von 25 bis 40 Mann zur Verfügung, über den sie eine unbedingte Weisungsbefugnis besaßen. Hinzu kam die der Gendarmerie unterstellte polnische Polizei (100 bis 400 Mann) und der Sonderdienst (paramilitärischer Verband aus Volksdeutschen, pro Kreis 20 bis 30 Mann). Insgesamt waren pro Kreis zwischen 200 und 500 Sicherheitskräfte dauerhaft stationiert.61

Die KHM und Stadthauptleute (SHL) hatten hoheitliche Funktionen und bestimmten alle Bereiche der Politik, inklusive der Judenpolitik. Ihre vordringlichste Aufgabe war es, die deutsche Herrschaft vor Ort zu festigen, Wirtschaftskontingente und Arbeitskräfte zu erfassen und die polnische und jüdische »Selbstverwaltung« (Judenräte) in ihrem Kreis zu beaufsichtigen. Sie konnten sogar die Funktion eines Richters ausüben und Todesstrafen verhängen.62 Sie hatten allerdings keine Budgethoheit. Alle Ausgaben mussten vorab von der Hauptabteilung Finanzen in der Regierung des GG bewilligt werden. Diese finanzielle Abhängigkeit von der Zentrale versuchten die KHM durch Einrichtung von »schwarzen Fonds« zu unterlaufen. Die Mittel dafür beschafften sie sich, indem sie vor allem der jüdischen Bevölkerung Kontributionen auferlegten, Strafgelder verhängten oder nicht registrierte und beschlagnahmte Gegenstände auf eigene Rechnung verkauften. Korruption und Unterschlagungen waren integraler Bestandteil des Besatzungsalltags.63 In diesem Sumpf des deutschen Besatzungsmilieus wiesen die KHM eine hohe ideologische Homogenität auf. Für sie waren Slawinnen und Jüdinnen nicht Bürgerinnen zweiter Klasse, sondern »Untermenschen«. Peitschen gehörten zur Grundausstattung der KHM, von der auch oft Gebrauch gemacht wurde. Einrichtungen von Straflagern, Bestrafung mit Zwangsarbeit und Verschickung in KZ waren an der Tagesordnung.

Ein auffallendes Merkmal der KHM war, dass viele von ihnen nach der Machtübernahme 1933 zu den Verlierern zählten. Für diese »zu kurz Gekommenen« bot das GG ein willkommenes Terrain, wo sie Posten und Macht gewannen, von denen sie im Reich nur träumen konnten. So etwa beschrieb der KHM von Sokołów, Ernst Gramß, seiner Frau den neuen Lebensstil in seinem Schloss: »Ich habe hier einen herrlichen Sitz, 2 Reitpferde, Wagen u. was zu einer repräsentablen Lebensführung als kleiner Gouverneur gehört. Schwimmbad im Park – Sauna wird gebaut (…). Ich bin hier König im Land, schwere, verantwortungsvolle Arbeit (…). Hier kannst Du im Park baden, reiten, schwimmen, liegen, brauchst Dich um keinen Haushalt kümmern, Kindermädchen usw., alles da.«64

Im Gegensatz zur Distriktsverwaltung, die nur allgemeine Weisungen für die Politik im Distrikt gab, waren die KHM die eigentlichen »Herren« in den Provinzen.65 Generalgouverneur Hans Frank hatte das allgemeine Ziel der Zivilverwaltung im GG vorgegeben: »Deutsche und Volksdeutsche (müssen) mit eiserner Entschlossenheit sichern, daß die Polen niemals wieder wagen werden, einen Deutschen anders anzusehen als die Herren.«66 Die Ziele waren damit von Anfang an vorgegeben, die Methoden wählten die KHM aus.67 Von oben ließ man sie gewähren, ermunterte sie zum Teil und hieß radikale Initiativen nachträglich für gut. Die Hälfte von ihnen waren Juristinnen und die meisten langjährige NSDAP-Mitglieder.68 Ausbeutung, Gewalt, Repression und Mord charakterisierten die Besatzungsherrschaft. Trägerinnen, zum Teil auch Vorreiterinnen dieser Politik, waren in entscheidendem Maße die KHM und SHL, die in ihrer Funktion die radikale Ausformung der Herrschaftspraxis verkörperten. Bis zum Sommer 1940 konnte die Zivilverwaltung die Zuständigkeit in der Judenpolitik an sich ziehen. Bei den KHM und SHL bündelten sich diese Kompetenzen in ihrem Amt.69

Abteilung »Bevölkerungswesen und Fürsorge« (BuF)

Hinter dem harmlos klingenden Namen »Bevölkerungswesen und Fürsorge« verbarg sich jene Abteilung der Zivilverwaltung, die für die konkrete antijüdische Politik vor und ab Beginn der »Aktion Reinhardt« im März 1942 verantwortlich war. Die Abteilung BuF war ein neuartiges Gebilde, das kein Gegenstück in der Reichsverwaltung hatte. Sie war in der Hauptabteilung Innere Verwaltung im Amt des Generalgouverneurs in Kraków angesiedelt und wurde ab Ende 1940 von Lothar Weirauch geleitet. Ihr Aufgabenbereich umfasste drei Sachgebiete: den gesamten Bevölkerungstransfer im GG zu koordinieren und abzuwickeln, die Fürsorge und Wohlfahrt für Volksdeutsche und für Nichtdeutsche zu organisieren und zu beaufsichtigen sowie »volkstumspolitische Grundlagen für die Verwaltungsarbeit im GG« zu erarbeiten. Die Abteilung BuF war innerhalb des zivilen Behördenapparates diejenige Dienststelle, welche für alle Aussiedlungen, Vertreibungen und Umsiedlungen innerhalb des GG zuständig war.

Die Fürsorge und Wohlfahrt für Nichtdeutsche (Polinnen, Ukrainerinnen, Goralinnen und Jüdinnen) wurde im GG von der Abteilung BuF nach dem Prinzip der sogenannten »Selbstverwaltung« organisiert. So wurde die Jüdische Soziale Selbsthilfe (JSS) bezeichnet, die unter Aufsicht der Abteilung BuF auf den verschiedenen Verwaltungsebenen die materiellen Belange für Jüdinnen zu organisieren und zu koordinieren hatte.

Auf Distriktsebene wurde sie als Unterabteilung BuF in der jeweiligen Abteilung Innere Verwaltung eingerichtet, die sachlich ihre Weisungen von der Abteilung BuF bei der Regierung in Kraków erhielten. Im Distrikt Lublin leitete die Unterabteilung BuF bis 30. April 1942 Dr. Richard Türk.

Zur personellen Besetzung der Abteilung BuF und ihrer Dienststellen im Distriktsamt Lublin und Radom sowie zu den Referaten der Kreis- und Stadthauptmannschaften lässt sich sagen, dass die leitenden Funktionäre auf Distriktsebene akademisch ausgebildete »Rasseforscher« und/oder eingefleischte Nazis waren. Die Referatsstellen BuF auf Kreisebene waren hingegen eher von einem zufälligen, bunt zusammengewürfelten Haufen besetzt.70

Die Abteilungen bzw. Referate BuF hatten vielfältige Aufgaben. Im Bereich der Judenpolitik waren sie für die Aufenthaltspolitik, für die Verteilung der jüdischen Deportierten und für die Aufsicht über die JSS zuständig.71 Sie waren somit die unmittelbare Kontaktstelle zu den Judenräten und der JSS in den Ghettos und damit zentral für die Versorgung der Ghettobewohnerinnen.

Seit Beginn der »Aktion Reinhardt«, die mit der Räumung des Lubliner Ghettos am 16. März 1942 und der Verschickung der Insassinnen nach Bełżec ihren Ausgang nahm, bis zum Sommer 1942 war die Zivilverwaltung, insbesondere die Unterabteilung BuF unter der Leitung von Dr. Richard Türk und die Kreishauptleute, aktiv an den Deportationen in die Vernichtungslager beteiligt.72 Die »Aussiedlungen« aus den Kreisen des Distrikts Lublin im Frühjahr 1942 hingegen hingen eng mit den Deportationen von Jüdinnen aus dem Reich, dem Protektorat und der Slowakei zusammen. Diese »Aussiedlungen« erfolgten nach dem sogenannten »Austauschprinzip«: Die polnischen Jüdinnen wurden nach Bełżec deportiert und dort ermordet. Die dadurch entleerten Ghettos füllte man mit nicht polnischen Jüdinnen auf. Die Deportationen aus Wien nach Izbica und Włodawa vom April und Mai 1942 geschahen nach diesem Muster. Mit dem Erlass von Gouverneur Hans Frank vom 3. Juni 1942 waren Judenangelegenheiten zum Sachgebiet der Sicherheitspolizei (Sipo) erklärt worden, die allein vom Staatssekretär für das Sicherheitswesen und seinen Dienststellen zu bearbeiten waren. Damit endete formal die Zuständigkeit der zivilen Verwaltungsstellen, insbesondere der Abteilung BuF, für Judenangelegenheiten.73

Verantwortlich für die »Aktion Reinhardt« war zwar die Dienststelle des SSPF, Odilo Globocnik, in Lublin. Doch wie bereits erwähnt, wären die Deportationen ohne eine enge Zusammenarbeit mit den zivilen Stellen, also der Abteilung BuF und den Kreishauptleuten mit ihren Mitarbeiterinnen, nicht durchzuführen gewesen. Im Distrikt Lublin etwa trafen sich bereits Mitte März 1942 der Vertreter der Unterabteilung BuF, Richard Türk, und Helmut Pohl vom Stab der »Aktion Reinhardt«, um logistische Fragen der »Judenaussiedlungen« zu besprechen. Türk sicherte dabei jede mögliche Hilfe zu und machte sich unverzüglich an die Arbeit, indem er die Kreishauptleute über die geplanten »Austauschaktionen« in ihren Kreisen informierte. Schon wenige Tage später legte Türk seinen Plan vor: Als »Hauptunterbringungs- und Umschlagpunkte« für die »Austauschaktion« in seinem Distrikt nannte er u. a. Opole Lubelskie, Włodawa und Izbica.74 Im April 1942 verpflichtete die Distriktsverwaltung Lublin die Kreishauptleute des Distrikts dazu, »dass die einzelnen Judenaussiedlungen in engster Zusammenarbeit mit dem SD durchzuführen sind«.75

Das Muster im Distrikt Lublin war immer das gleiche: Türk und seine Mitarbeiter koordinierten gemeinsam mit dem Stab der »Aktion Reinhardt« die Logistik (z. B. Bahnkapazitäten, Begleitpersonal), die Kreishauptleute verfertigten Berichte, wie viele »unnütze jüdische Esser« sich in ihrem Kreis befanden, die es »auszusiedeln« galt, sie ließen die Transporte vor Ort zusammenstellen und waren oftmals persönlich anwesend, als die Opfer durch die örtliche Gendarmerie und Hilfskräfte in die Eisenbahnwaggons verfrachtet wurden, die dann nach Bełżec und ab Mai 1942 auch nach Sobibór rollten.

So offensichtlich die Beteiligung der Zivilverwaltung auch gewesen ist, so dünn sind die erhalten gebliebenen Dokumente zu diesem Tatkomplex. Musial stellt dazu fest, dass es bundesdeutschen Gerichten in keinem Fall gelungen ist, eine »Aussiedlung« so aufzuklären, dass die ehemaligen Angehörigen der Zivilverwaltung aus dem Distrikt Lublin abgeurteilt worden wären.76

Der SS- und Polizeiapparat

Als Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei arbeitete Heinrich Himmler daran, die Polizei mit der SS zu verschmelzen. Im GG war das wichtigste Instrument dafür der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF). Von Herbst 1939 bis Herbst 1943 war dies SS-Obergruppenführer Friedrich Wilhelm Krüger. Der HSSPF hatte den Befehl über alle Polizeidienststellen, die Waffen-SS, die Allgemeine SS und die Ordnungs und Sicherheitspolizei (Orpo und Sipo) im GG. Ihm waren der Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) und der Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO) mit Sitz in Kraków unterstellt. In den Kreisen waren die Kommandeure der Sicherheitspolizei (KdS) bzw. die Kommandeure der Ordnungspolizei (KdO) angesiedelt, die ihre Befehle vom BdS bzw. BdO oder vom HSSPF oder – im Distrikt Lublin – vom SS- und Polizeiführer (SSPF) Odilo Globocnik erhielten.77 BdS und KdS waren analog dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin gegliedert: Abteilung III war der Sicherheitsdienst, Abteilung IV war die Gestapo und Abteilung V war die Kripo.

Formal gesehen war der HSSPF dem Generalgouverneur »persönlich und unmittelbar« unterstellt, zugleich aber auch Himmler, dessen Befehle den Vorrang hatten. Der SS- und Polizeiapparat war also von vornherein eine Sonderbehörde, die enge Beziehungen zu Himmler hatte und deren Politik er im GG zu realisieren versuchte. »Mit einem Wort: Der HSSPF Ost war der Vertreter Himmlers und seiner Interessen auf dem Gebiet des GG.«78 Mithilfe Himmlers gelang es ihm, eine eigene, unabhängige Polizeiexekutive im GG zu schaffen, die ihren Terrorapparat auch auf Bereiche auszuweiten versuchte, die an sich der Regierung des GG unterstanden.

Der HSSPF und die SSPF agierten unabhängig von Heydrichs RSHA: »The supreme Final Solution authorities in the GG were the HSSPF and the Lublin SSPF. Ultimately, Operation Reinhard was a part of the Final Solution that was outside Heydrich’s domain.«79 Der vielgestaltige und breite Apparat polizeilicher Exekutive, verbunden mit zahlreichen neuen Dienststellen und Funktionen, die letztlich in der Hand Himmlers als Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei und zusätzlich als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums vereinigt waren, entwickelte sich während der Besatzung Polens zu einem Herrschaftssystem sui generis mit nahezu unbegrenzter exekutiver Zuständigkeit. Die Polizei entwickelte sich zu einer Nebenregierung, die versuchte, die Macht im GG an sich zu reißen.

In den fünf Distrikten (Galizien kam im August 1941 als sechster Distrikt dazu) wurden SSPF eingesetzt, die dem HSSPF unterstanden und die die verschiedenen Polizeisparten (Sipo und SD zum einen und Ordnungspolizei zum anderen) in ihrer Dienststelle zusammenfassten. Die SSPF konnten sich bei »Sonderaufträgen«, wie Umsiedlungen, Zwangsarbeitsangelegenheiten und später bei der »Endlösung der Judenfrage« der Polizeieinheiten bedienen.80 Sie hatten den direkten Befehl über die Kommandeure der Sipo (Gestapo und Kripo) und des SD (zusammengefasst beim KdS) auf Distriktsebene. Ab 1939 wurde jede Dienststelle der Sipo im Reich dazu verpflichtet, ein bestimmtes Kontingent an Beamtinnen für den Dienst im GG zur Verfügung zu stellen. Die Entsendung dieser Kontingente bot die günstige Gelegenheit, schlechte, unfähige und korrupte Beamtinnen loszuwerden.81

Die Rolle der Sipo bei der Judenverfolgung war bis 1941 noch begrenzt. In erster Linie war sie bis dahin für die Sicherung der Zwangsarbeitslager zuständig. Ein weiteres Glied in der Sipo war die Kripo, die ebenfalls u. a. für die Judenverfolgung zuständig war. Die unterste Ebene der Sipo waren die Außendienststellen in den Kreisen, die sich aus Gestapobeamten zusammensetzten. Die meist aus 15 bis 30 Mann starken Stellen waren innerhalb ihres Wirkungskreises »nahezu unumschränkte Herrscher über Leben und Freiheit über Polen und Juden. Aufgrund der schwachen Besetzung wurde nahezu jeder Funktionär bei Razzien, Deportationen oder Judenerschießungen eingesetzt«.82 Während die SSPF in erster Linie für die Ermordung der Jüdinnen und für die SS-eigenen Zwangsarbeitslager zuständig waren, fielen die polizeilichen Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in die Kompetenz der den KdS unterstehenden Gestapo. Das Durchschnittsalter der zwölf Kommandeure der Sipo lag bei 36 Jahren. Elf von ihnen hatten ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Die einzelnen Dienststellen auf Distriktsebene verfügten über 300 bis 600 Planstellen, die zum Teil nicht besetzt waren. Mehr als 50 % der Planstellen wurden in der Regel von der Gestapo besetzt, die eine Schlüsselposition innerhalb der Sipo einnahm.

Bei der Ordnungspolizei waren die Kommandeure der Ordnungspolizei (KdO) auf Distriktsebene die höchste Instanz. Ihnen unterstanden die Kommandeure der Schutzpolizei (KdSch) in den größeren Städten und die Kommandeure der Gendarmerie (KdG) in Dörfern und Gemeinden und die polnische Polizei.83 Die KdO hatten zudem direkte Befehlsgewalt über die Truppenpolizei, also die Polizeibataillone. Diese waren aufgrund ihrer Personalstärke von enormer Bedeutung für die Besatzungsherrschaft. Sie wurden auf allen Ebenen der Judenverfolgung eingesetzt: Sie beteiligten sich auf Ersuchen der Kreishauptleute an Verfolgungsmaßnahmen gegen Jüdinnen, indem sie Exekutionskommandos stellten, die Erfassung von Jüdinnen zur Zwangsarbeit betrieben, bei der Liquidierung der Ghettos mithalfen und die Bewachungs- und Begleitkommandos bei den Transporten in die Vernichtungslager stellten.84 Die Zahlenstärke der Polizeieinheiten schwankte erheblich: 1942 waren 15.186 Ordnungspolizisten und etwa 5000 Angehörige der Sipo im GG stationiert. 1944, nachdem das GG zum Hinterland der Ostfront wurde, verfügte die Orpo allein über 40.000 Mann.85 In Kielce bestand das Schutzpolizei-Kommando aus etwa 50 Polizisten, die meisten von ihnen waren Österreicher. Am Land war die Gendarmerie eingesetzt, wobei ein Gendarmerieposten sich aus fünf bis zehn Polizisten zusammensetzte. Die Polizeistärke im Distrikt Radom betrug im Zeitraum 1941/42 insgesamt etwa 1450 Mann.86 Im Distrikt Lublin waren im selben Zeitraum etwa 2000 Sipo- bzw. SD-Beamte eingesetzt, davon etwa 1500 bei der Gestapo, der Rest bei der Kripo und dem SD; das Gendarmerieaufgebot war mit etwa 450 Mann erheblich kleiner als im Distrikt Radom.87

Zusammenfassend kann man die polizeilichen Zuständigkeiten so formulieren: Der HSSPF kümmerte sich in der Regel um wichtige Grundsatzfragen in der Judenpolitik, der BdS war für die Übernahme der RSHA-Weisungen und die Koordinierung der polizeilichen »Judenmaßnahmen« zuständig. Die eigentliche polizeiliche Überwachung leitete der KdS mit seinen Judenreferenten in SD und Gestapo: »As we see, the German regime in the GG (…) consisted of many different chains of command, bureaucracies, and individuals. Therefore, when we say that the Germans did this or that to the Jews, the Germans to whom we are reffering may be different in each case. The various German authorities were complementary to each other in the sense that they all persecuted Jews.«88

INSTITUTIONEN DER OHNMACHT UND DER MACHT

Die Jüdische Soziale Selbsthilfe (JSS)

»Die JSS ist die vom Amt des Generalgouverneurs anerkannte einzige jüdische Fürsorge- und Wohlfahrtsorganisation und untersteht der Aufsicht der Abteilung Innere Verwaltung, Bevölkerungswesen und Fürsorge in der Regierung des Generalgouvernements.«89 So fasste Michal Weikert, der Leiter der JSS beim Amt des Generalgouverneurs in Kraków, die Stellung der JSS als Organ der Besatzungsinstanzen treffend zusammen. Die JSS wurde im Mai 1940 für das ganze GG eingerichtet, sie unterhielt in den einzelnen Orten Hilfskomitees, meist bei den Judenräten. Die Finanzierung lief teils über das Amt des Generalgouverneurs, innerhalb der jüdischen Gemeinden über Spenden oder über Hilfslieferungen durch ausländische jüdische Organisationen.90 Der Satzung zufolge vereinte die neu geschaffene Institution alle Organisationen der freien Wohlfahrt im GG und damit ihnen unterstehende offene und geschlossene Einrichtungen der sozialen Fürsorge. Ihre Tätigkeit sollte sowohl die Einrichtung neuer offener und geschlossener Fürsorgeanstalten als auch die Verteilung von Lebensmitteln und finanziellen Spenden an Einzelpersonen beinhalten. Insbesondere sollte die JSS Wert auf die Aufnahme und Erstverpflegung von Flüchtlingen und Deportierten legen, sich um elternlose Kinder und Jugendliche kümmern, Waisenhäuser, Alters- und Obdachlosenheime unterhalten und die Notleidenden in Volksküchen verpflegen.

In allen Kreisstädten sollte ein Netz aus jüdischen Hilfskomitees gegründet werden, das die Verteilung der zur Verfügung gestellten Hilfsgüter, Nahrungsmittel und Gelder auf die unmittelbar untergeordneten JSS-Delegaturen in den einzelnen Ortschaften übernehmen sollte. Die jüdischen Kreishilfskomitees waren dem JSS-Präsidium in Kraków unterstellt, von dem sie auch alle Anweisungen sowie die ihnen zustehenden Finanzmittel und Hilfsgüter erhielten. Die jüdischen Hilfskomitees in den Kreisstädten sollten jeweils aus fünf und die Delegaturen in kleineren Ortschaften jeweils aus drei sozial engagierten Persönlichkeiten bestehen, die innerhalb ihrer Gemeinde einen besonders guten Ruf hatten. Alle Kandidaten mussten natürlich vom zuständigen Kreishauptmann genehmigt werden, bevor das jeweilige Komitee offiziell seine Arbeit aufnehmen konnte.

Die Hilfskomitees waren dazu berechtigt, bei den deutschen Behörden finanzielle und materielle Unterstützung zu beantragen und selbst Geldsammlungen oder Sachspendenaktionen, soweit dies bei den lokalen nationalsozialistischen Behörden Zustimmung fand, durchzuführen. Anfang 1941 kam es zu einer Übereinkunft mit dem Joint Distribution Committee, einer US-amerikanischen jüdischen Hilfsorganisation,91