Verräter und Verratene - Giorgio Scerbanenco - E-Book

Verräter und Verratene E-Book

Giorgio Scerbanenco

0,0

  • Herausgeber: Folio Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Vier Tote und ein Metzger – und ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit. Eines Abends bekommt Duca Lamberti bizarren Besuch: Ein gewisser Silvano bittet den ehemaligen Arzt darum, die Jungfräulichkeit einer jungen Frau wiederherzustellen, damit sie den einflussreichen Metzger Brambilla heiraten kann. Als Lamberti den Vorfall der Polizei meldet, ergeben sich bald Verbindungen zu mehreren mysteriösen Todesfällen, die bislang als Unfälle in den Akten stehen. Das Netz der Verstrickungen reicht bis in die Zeiten der Partisanen zurück. Da taucht plötzlich eine junge Amerikanerin auf, die sich zu den Morden bekennt. Ihre Beichte stürzt Lamberti in einen Gewissenskonflikt …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 373

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


GIORGIO SCERBANENCO

VERRÄTER UND VERRATENE

DUCA LAMBERTI ERMITTELT

Aus dem Italienischen von Christiane Rhein

Mit einem Nachwort von Tobias Gohlis

Inhalt

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

ZWEITER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

DRITTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

MIT DEM SKALPELL

ERSTER TEIL

Als das Fernsehen eingeführt wurde, war der Erste, der sich eins anschaffte, mein Bräutigam, der Fleischer. Natürlich wollte ganz Ca’ Tarino das mal miterleben, aber er wählte seine Gäste sorgfältig aus. Er lud meine Eltern ein, und ich ging natürlich mit, und so fing das an mit uns. Im Dunkeln lag auf einmal seine Hand auf meinem Knie und glitt dann immer höher, und sobald sich die Gelegenheit bot, fragte er mich, ob ich noch Jungfrau sei. Seine Hand auf meinen Beinen zu haben, mit meiner Mutter gleich daneben, ärgerte mich, und so habe ich gesagt, ja, natürlich, ich hätte die ganze Zeit nur auf ihn gewartet, um ihn ein wenig zu ärgern.

1

Es ist schwer, zwei Menschen gleichzeitig umzubringen, doch sie stoppte das Auto fast auf den Zentimeter genau an der bewussten Stelle, wie sie es mehrmals, auch nachts, geprobt hatte, an dieser Stelle, die an der merkwürdigen gotischen, eiffelturmartigen Eisenbrücke über den Kanal zu erkennen war, und sagte, als das Auto auf dem gewünschten Quadratzentimeter zum Stehen kam wie ein Pfeil, der in der Mitte der Zielscheibe stecken bleibt: „Ich steige einen Moment aus, um eine Zigarette zu rauchen, ich rauche nicht gern im Auto.“ Sie sagte es zu den beiden auf dem Rücksitz, die sie umbringen musste, und stieg aus, ohne ihre Antwort abzuwarten, und so hörte sie nicht mehr, wie sie, träge von dem reichhaltigen Mahl und auch wegen ihres Alters, freundlich und etwas heiser zustimmten, ja, sie solle ruhig aussteigen, um es sich dann, von ihrer Gegenwart befreit, noch ein bisschen bequemer zu machen, als könnten sie so besser einnicken, alt und fett wie sie waren, beide im weißen Regenmantel, sie mit einem beigegelben Wollschal um den Hals, der fast vom gleichen Farbton war wie ihre Haut, die Haut einer Leberleidenden, und sie noch fetter erscheinen ließ. Ihr Gesicht erinnerte an einen großen Frosch, obwohl sie doch einst, vor Millionen von Jahren, der Krieg, der Zweite Weltkrieg, war noch nicht vorüber, sehr schön gewesen war, wie sie selbst behauptete. Und nun würde sie sie umbringen, sie und ihren Freund. Offiziell hieß sie Adele Terrini, doch in Buccinasco, in Ca’ Tarino, wo sie geboren war und man viel über sie wusste, war sie bekannt als Adele die Hure, und nur ihr Vater, der Amerikaner und ein Trottel war, hatte sie Adele meine Hoffnung genannt.

Auch sie selbst war Amerikanerin, aber kein Trottel, und als sie ausstieg, schlug sie die Autotür zu, den Sicherheitsknopf hatte sie heruntergedrückt, auch die Sicherheitsknöpfe der anderen Türen waren bereits unten, und dann zündete sie sich eine Zigarette an und schaute zur anderen Seite des Kanals hinüber, zu der Straße nach Pavia, auf der die Autos zu dieser Zeit in einem trägen Rhythmus auftauchten und wieder verschwanden, selbst das war berechnet. Und dann, als spaziere sie ein wenig ziellos herum, näherte sie sich dem Heck des Autos. Es war ein bescheidener, leichter, viersitziger Fiat, sie wusste zwar nicht den Namen des Modells, aber sie hatte genau bedacht, inwieweit er für ihre Zwecke geeignet sei.

Zwischen ihr und der Straße lag ein Kanal, der Alzaia Naviglio Pavese, ein ziemlich schwieriger Name für sie, die Amerikanerin, ein unverständlicher Name. Ihr Italienischlehrer aus San Francisco, Arizona, das übrigens nichts mit dem anderen San Francisco zu tun hat, hatte sich nicht damit aufgehalten, bestimmte Feinheiten zu erläutern, etwa dass mit alzaia der Treidel bezeichnet wird, mit dem Boote oder Lastkähne vom Land aus den Fluss oder Kanal hinaufgezogen werden; aber die Philologie, die Etymologie dieses Wortes war auch nicht das, was sie interessierte, sondern die einzigartige Lage dieses Kanals zwischen den beiden Straßen und die Tatsache, dass das Wasser zu dieser Jahreszeit sehr hoch stand, und dann die Beschaffenheit der beiden Straßen: Die breitere, asphaltierte war eine Nationalstraße, sogar ihren offiziellen Namen hatte sie sich eingeprägt, Strada Nazionale 35 dei Giovi. Die andere, die nicht asphaltiert war und fast rührend ländlich wirkte, war der alte Treidelweg des Kanals. Und dazwischen der Kanal.

Kanäle führen Wasser, wenn sie nicht trocken liegen, und dieser lag nicht trocken, und außerdem verfügte er nicht einmal über befestigte Ufer, eine Brüstung oder Holzpflöcke, nichts; in der nächtlichen Dunkelheit konnte ein Auto in diesen Kanal geraten, ohne durch irgendetwas aufgehalten zu werden. Und so gab sie dem Auto einen kleinen Schubs, diesem Fiat, von dem sie nicht wusste, um welches Modell es sich handelte. Und alles geschah genau so präzise und sanft, binnen weniger Sekunden, wie sie es geplant hatte, sogar die Vorderräder waren leicht nach rechts gerichtet, zum Kanal hin, und natürlich war der Leerlauf eingelegt, sodass es nicht mühsamer war, als einen Karren den Abhang hinunter zu schieben, und das Auto, in dem die beiden Alten saßen, träge von dem Huhn mit den Pilzen, dem Gorgonzola, den überbackenen Äpfeln mit Zabaione, dem Sambuca, alles von der Amerikanerin bezahlt, sodass sie sicher annahmen, sie sei ein Trottel wie ihr Vater – dieser Ausbund an Einfalt und Dummheit –, dieses Auto also, in dem Adele die Hure oder Adele meine Hoffnung und ihr Freund saßen, glitt wunderbar leicht, wunderbar glatt in den Kanal, in das tiefe Wasser des Kanals, und schlug genau im gewünschten Moment auf das Wasser auf, nämlich als auf der anderen Seite des Kanals, auf der großen Straße, der Nationalstraße 35 dei Giovi, gerade kein Wagen vorbeifuhr und es fast vollkommen finster war. Das Einzige, was man ausmachen konnte, waren die weit, noch sehr weit entfernten Scheinwerfer einiger Autos.

Ein Wasserstrahl spritzte auf, selbst ihr Gesicht wurde nass, die Zigarette aber löschte er nicht, und dann noch ein Strahl, fast zischend und diesmal stark wie aus einer Pumpe. Er versetzte ihr einen kalten Schlag gegen die Brust, nie hätte sie gedacht, dass ein im Wasser versinkendes Auto solche Fontänen erzeugen könne. Sie spürte die aufgeweichte Zigarette zwischen den Lippen, nun war sie eindeutig aus, sie klaubte sie sich aus dem Mund und spuckte das Gemisch aus Papier und nassem Tabak auf den Boden. Auch Gesicht und Haare waren von dem übel riechenden Wasser des Kanals – Alzaia Naviglio Pavese – durchnässt, und so stand sie dort, um auf die aufsteigenden Luftblasen zu warten.

Sie wartete in der Finsternis. Die Straße diesseits des Kanals, auf der sie sich befand, lag vollkommen im Dunkeln; auch auf der Straße jenseits des Kanals, der asphaltierten Straße, war es dunkel, doch wurde das weiche Tuch der Nacht dort ab und zu von Lichtkegeln durchbohrt. Das waren die Autos der Mailänder, die allerdings nicht von der Riviera zurückkamen, denn es war ja ein Wochentag, und an einem Mittwoch etwa kann man schließlich nicht nach Santa Margherita fahren, oder?, denn mittwochs muss man ja ins Büro, und auch wenn man keine Verpflichtungen dieser Art hat, muss man zumindest Jagd auf die machen, die ein Büro haben; nein, es waren die Mailänder, die es an diesen sanften Frühlingsabenden nach dem Büro zu einem Gasthaus auf dem Land zog, wobei sich die weniger Abenteuerlustigen schon mit den Lokalen an der Via Chiesa Rossa zufriedengaben oder höchstens bis nach Ronchetto delle Rane vordrangen, während die Kühneren Binasco oder sogar Pavia hinter sich ließen, um die Luxusschenken aufzusuchen, die eigentlich gar keine Schenken waren, und dort in einer ländlich angehauchten Atmosphäre Speisen und Weine zu sich nahmen, die nur mehr entfernt an Landkost erinnerten, und die nun, zu dieser Stunde, nach Hause zurückkehrten, nach Mailand, und langsam durch die wunderschöne Frühlingsnacht fuhren; langsam jedenfalls, solange keine anderen Autos vor oder hinter ihnen auftauchten, denn dann beschleunigten sie unverzüglich und blendeten ihre Scheinwerfer auf, und ebendiese Lichter sah sie, während sie auf die Luftblasen wartete.

Doch es kamen keine Luftblasen, denn da die Fenster, jedenfalls vorn, heruntergekurbelt waren, hatte sich das Auto schlagartig mit Wasser gefüllt, und so trat auch schlagartig vollkommene Stille ein. Nun musste sie nur noch schauen und warten; schauen, dass auf ihrer Straße niemand kam, keine Vespa mit einem Pärchen, das nicht viel Geld besaß und daher an den ländlichen Ufern des Kanals Zuflucht suchte, kein betrunkener Radfahrer, der in sein abgelegenes Haus zurückkehrte, kein Auto, das vollgestopft war mit den jungen Männern der umliegenden Höfe und Vororte, die Ausschau hielten nach Mädchen der benachbarten Höfe und Vororte und somit langwierige, wenn auch nicht eben blutige Fehden zwischen den Höfen in der Gegend von Assago, Rozzano, Binasco und Casarile riskierten; und warten, mindestens fünf Minuten warten, denn wenn die Fenster heruntergekurbelt sind, gelingt es den Eingeschlossenen manchmal, sich aus dem vollgelaufenen Auto zu befreien, und so wartete sie und starrte auf das Wasser, besessen von der eisigen Furcht, einer der beiden, oder auch beide, könnte plötzlich wieder auftauchen, auferstanden von den Toten, schreiend.

Die Scheinwerfer eines Autos, das jenseits des Kanals vorüberkam, leuchteten sie einen Augenblick an wie auf einer Bühne, und wenn die beiden in diesem Moment aus dem Wasser aufgetaucht wären, dachte sie, vom Licht getroffen wie von einem Blitz, hätte sie die Hand ausstrecken können, um sie herauszuziehen, und sagen, sie verstehe gar nicht, was geschehen sei, denn die beiden hatten sicher nicht gemerkt, dass sie das Auto angeschoben hatte. Wenn sie es aber doch bemerkt hatten?

Sie wartete, und erst als sie sicher war, dass fünf Minuten vergangen waren oder vielleicht zweimal fünf Minuten oder dreimal, erst als sie vollkommen sicher war, dass die beiden diesen Planeten nie mehr, absolut nie mehr mit ihren verdorbenen Seelen und ihren verdorbenen Körpern verpesten konnten, löste sie sich vom Ufer des Kanals, ging zu der kleinen Eisenbrücke, öffnete ihr Handtäschchen, nahm die Papiertaschentücher heraus und wischte sich die schon fast angetrockneten Tropfen Kanalwasser vom Gesicht. In Brusthöhe war ihr leichter Mantel feucht, doch daran war nichts zu ändern, das Wasser quietschte in ihren Schuhen. Kaum war sie an dem Treppchen der Brücke angelangt, setzte sie sich auf eine Stufe, zog die absatzlosen Schuhe von den Füßen, kippte das Wasser aus, ließ die Schuhe ein wenig an der Luft trocknen und zog sie sich dann wieder über die nassen Strümpfe; auch daran war nichts zu ändern. Merkwürdig, sie hätte nicht gedacht, dass sie so nass werden würde.

Sie stieg die Stufen der kleinen Brücke hinauf, die über den Kanal führte, eigentlich war es ein Spielzeug, keine Brücke, nur dass sie kein kleines Mädchen war und sich über diese Brücke nicht wirklich freuen konnte. Sie zitterte, allerdings nicht vor Kälte, ach, wenn sie es doch ungeschehen machen könnte, aber das ging nicht, wenn jemand zwei Menschen umgebracht hat, hat es keinen Sinn, das ungeschehen machen zu wollen, man kann sie ja nicht wieder zum Leben erwecken. Und als sie oben auf dieser schizophrenen Brücke stand, die an Venedig und Jules Verne erinnerte, schluckte sie mehrmals, um die Übelkeit niederzukämpfen, die in ihr aufstieg, sobald sie an die beiden in dem Auto dachte, die unter Wasser um sich schlugen, und dann begann sie mit unsicheren Schritten die Stufen auf der anderen Seite herabzusteigen, sie war schließlich kein Profikiller; in der Theorie allerdings war sie sehr beschlagen, sie wusste über alle Methoden Bescheid, mit denen man jemanden umbringen kann, es gibt da ja unbegrenzte Möglichkeiten, aber sie kannte sie fast alle. Eine glühende Stricknadel etwa, die in die Gegend der Leber gestochen wird und diese langsam durchbohrt – dazu ist nur ein Minimum an Anatomiekenntnissen erforderlich –, führt den Tod unter zuckenden Schmerzen und mit bestialischer Langsamkeit herbei, so einen Tod war zum Beispiel Tony Paganica gestorben, amerikanischer Staatsbürger aus den italienischen Abruzzen, dessen Namen Paganica kein Amerikaner aussprechen konnte, sodass sie ihn kurz Tony Paany nannten. Der Gedanke, dass dieser Mann eben durch so eine Stricknadel in der Leber verendet war, milderte ihren Brechreiz, machte sie starr, und so ging sie die beiden letzten Stufen der Brücke hinunter und nahm den zweiten Teil ihrer Unternehmung in Angriff.

Sie befand sich nun auf der asphaltierten Straße. Immer mal wieder kam ein Auto vorbei, wenn auch in größeren Abständen, denn es war inzwischen ziemlich spät. Dicht rasten sie an ihr vorbei und tauchten sie in grelles Licht, hielten aber trotz ihrer erhobenen Hand nicht an, unglaublich, sich nachts mitten auf der Landstraße herumzutreiben, wohin sind wir bloß gekommen; es schien, als blendeten sie zur Warnung auf, statt anzuhalten. Ein Auto aber hielt schließlich doch, es waren gute alte Langobarden der guten alten Lombardei, ein Ehepaar mit Kind, die vielleicht das Abenteuer reizte, sie mitzunehmen, oder sie waren von Barmherzigkeit und Nächstenliebe erfüllt; armes Ding, um diese Zeit auf der Straße, wer weiß, was ihr geschehen ist, lass sie einsteigen Piero, schau mal, sie ist ja ganz nass, ihr Mantel, hoffen wir das Beste.

Piero hielt an, und sie stieg ein, stieg in das Auto und konzentrierte all die Jahre, in denen sie Italienisch gelernt hatte, auf ihre Lippen, damit auch ja nicht durchschien, dass sie aus San Francisco, Arizona, kam. „Grazie, siete molto gentili, sehr freundlich von Ihnen, fahren Sie nach Mailand?“, während da unten, im Wasser des Kanals, an dem das Auto entlangfuhr, die beiden Alten lagen, und sie war es gewesen.

„Ja, natürlich, Signorina, wohin denn sonst?“, erwiderte die Frau von Signor Piero und wandte sich ihr zu. Sie saß hinten neben dem Jungen und lachte; sie war gutherzig, gesprächig, sozial, ja in gewisser Hinsicht sogar fürsorglich.

„Papa, sie ist Amerikanerin“, bemerkte der Junge, während das Auto seine Fahrt verlangsamte, da sie sich dem Zollhäuschen* näherten. „Ich habe schon einmal eine Frau so sprechen hören, sie hat gencili gesagt und nicht gentili. Nicht wahr, Sie sind Amerikanerin?“

Dieses neun- oder achtjährige oder vielleicht noch jüngere Kind hatte sich direkt an sie gewandt. Es war gefährlich, dass es jemanden gab, der sich klar darüber war, eine Amerikanerin mitgenommen zu haben, die genau dort eingestiegen war, wo das Auto auf dem Grund des Kanals lag, vielleicht war es Schicksal, vielleicht auch nicht, eigentlich sollte sie verschwinden, sich in Luft auflösen, statt unauslöschliche Spuren zu hinterlassen. Doch dieser Acht- oder Neunjährige, wie auch immer, hatte es genau auf den Punkt gebracht, sie hat gencili gesagt und nicht gentili, nun gab es kein Entrinnen mehr, die ganze sorgfältig erdachte Konstruktion konnte wegen der Pedanterie und dem guten Gehör dieses Jungen in sich zusammenbrechen.

„Ja, ich bin Amerikanerin“, bestätigte sie, einen Erwachsenen kann man hinters Licht führen, Kinder nicht.

„Sie sprechen aber sehr gut Italienisch, ich hätte nie gemerkt, dass Sie Ausländerin sind“, staunte die aufgeschlossene Langobardin.

„Ich habe einen sechsmonatigen Schallplattenkursus gemacht“, erwiderte sie. Eine Grundregel jedes Kriminalistiklehrgangs ist, die Neugier des Gesprächspartners auf ein unverfängliches Thema zu lenken, um zu vermeiden, dass er sich auf andere, gefährliche Aspekte konzentriert.

Signor Piero – eben noch ganz argwöhnisch und gereizt wegen dieser Fremden in seinem Auto, ihr Mantel war ja ganz nass, wer weiß aus welchem Grund, er würde ihm das Auto beschmutzen, bei all dem Pack, das sich so herumtrieb, konnte nur jemand so Naives wie seine Frau dieses Mädchen einsteigen lassen – war plötzlich Feuer und Flamme. „Nein wirklich, in nur sechs Monaten, hast du das gehört, Ester? Dann stimmt es also, was alles über die Vorzüge dieser Lernmethode verbreitet wird.“

„Natürlich stimmt es“, bestätigte sie. Und beschloss, wärmstens für diese Schallplattenmethode zu werben. „Vor sechs Monaten konnte ich nichts als O sole mio sagen.“

„Hör mal, Ester, wir sollten uns für Robertino wirklich mal nach diesen Platten erkundigen, bei Malsughi bekäme ich sicher Rabatt“, verkündete Signor Piero. Sie hatten das Zollhäuschen inzwischen hinter sich gelassen und fuhren nun die Conca Pallata entlang, wo sich der Südliche Lambro in zwei Arme teilt, die hinter dem Naviglio Pavese wieder zusammenfließen. Während er so redete, warf sie einen Blick auf die Uhr; es war noch nicht ganz fünf vor elf, ihren Zeitplan hatte sie also perfekt eingehalten. Ein paar Minuten unterhielten sich die anderen noch über den Vorteil von Schallplatten beim Erwerb von Fremdsprachen, während sie durch lange, fast verlassene, in violettes Neonlicht getauchte Alleen fuhren, bis sie unversehens bat: „Hier würde ich gern aussteigen, auf diesem Platz.“

„Wie Sie wünschen“, entgegnete Signor Piero, er hätte wirklich in einem Theater auftreten können, so gut war sein Bedauern gespielt, sie hier schon absetzen zu müssen, er hätte sich doch glücklich geschätzt, sie noch viel, viel länger mitzunehmen, wohin auch immer sie wollte.

„Molte grazie“, sagte sie, und kaum war das Auto zum Stehen gekommen, hatte sie auch schon die Tür geöffnet und war ausgestiegen, damit sie ihr Gesicht nicht so genau sahen, „grazie, grazie“, sie winkte noch einmal und tauchte dann schnell in den Schatten eines großen Baums, um sich vor dem bleichen Licht der Straßenlaterne zu schützen, unter der der Langobarde angehalten hatte.

Es war eine gefährliche Fahrt gewesen, doch auch daran war nichts zu ändern. Ganz allein stand sie nun auf diesem riesigen Platz an der äußersten Mailänder Peripherie, in dem sanften, wenn auch kühlen Aprilwind. Sie hatte Angst, aber Angst haben hilft nichts, und so unterdrückte sie sie. Auf dem Platz gab es einen Taxistand, das wusste sie, sie hatte sich den Ort genau eingeprägt, und so ging sie nun in die entsprechende Richtung und sah schon von Weitem das Freizeichen der beiden Taxis, die verschlafen unter den großen Bäumen standen.

„Hotel Palace.“

Der Taxifahrer nickte zufrieden, das ist mal eine ordentliche Fahrt, die ganze Stadt durchqueren und dann in der Nähe des Bahnhofs herauskommen, wo sich zu jeder Stunde Kundschaft findet, und es musste auch ein ordentliches Mädchen sein, wenn sie im Palace wohnte. Im Auto war es dunkel, doch sie nutzte das Licht einer vorbeihuschenden Straßenlampe, um erneut einen Blick auf ihre Uhr zu werfen: sieben nach elf, sieben Minuten früher als geplant.

„Würden Sie bitte kurz an dieser Bar halten?“

Sie waren nun in der Via Torino. Es war ruhig, diese tote Zeit, bevor die Leute aus dem Kino quellen, kaum Passanten, keine Autos, doch auch zu dieser Stunde durfte man in der Via Torino nicht am Straßenrand halten. Der Taxifahrer schien sich hier allerdings wie zu Hause zu fühlen, er fuhr auf den Bürgersteig, als handle es sich um die Auffahrt zu seiner Privatvilla, und hielt genau vor der Bar.

„Einen Gin.“ In dieser merkwürdigen Bar musste nicht ein Innenarchitekt, sondern wohl eher ein Miniaturkünstler am Werk gewesen sein, alles hatte er in einem schmalen Gang untergebracht, von der Jukebox über das Telefon bis zum Flipper-Automaten. Auch einen Gin zu bestellen war ein Fehler gewesen, eine junge Frau, die um diese Zeit allein eine Bar betritt und einen so exotischen Drink bestellt! Die vier Männer, die sich außer dem Barkeeper im Lokal befanden, betrachteten sie jetzt noch eingehender, sie mussten einfach ihren angelsächsischen Typ bemerken, die noch feuchten Schuhe und Strümpfe, sie hinterließ Spuren über Spuren, doch glücklicherweise wimmelte die Stadt von Fremden, die zur Messe gekommen waren, und abends hatten die meisten von ihnen getrunken und benahmen sich exzentrisch. Im Taxi zündete sie sich eine Zigarette an, auch das verlieh ihr Kraft, wie der Gin. Sie war fertig, sie hatte es geschafft. Nicht länger als drei Minuten blieb sie in ihrem Hotelzimmer im Palace, zwei reichten aus, um Schuhe und Strümpfe zu wechseln und den Regenmantel überzuziehen, eine weitere, um die bereits gepackten Koffer zu schließen. Die Rechnung lag schon bereit, und auch das Geld war schon abgezählt. Eine Minute benötigte sie noch, um Trinkgelder zu verteilen und auf das bestellte Taxi zu warten. In weiteren zwei Minuten brachte das Taxi sie zum Bahnhof.

Auch diesen babylonischen Tempel kannte sie schon, sie war bestens vorbereitet. „Zum Settebello“, wies sie den Gepäckträger an, der die beiden Koffer und den Lederbeutel auf seinen Karren lud. Während sie dem Gepäckträger folgte, wurde sie von einem Süditaliener angesprochen, der ihr seine männliche Begleitung anbot und sie mit einem unglaublichen Pferdegebiss anlächelte, die Oberlippe von einem Schnurrbart gesäumt, der ihm wohl unwiderstehlich erschien. Doch auf dem Bahnsteig, an dem der Settebello bereits wartete, flanierten zwei Carabinieri auf und ab, deren Anblick der kleine Eroberer wohl überhaupt nicht schätzte, sodass er sie in Ruhe ließ.

Die Fahrkarte hatte sie schon gelöst und auch einen Sitzplatz reserviert. Vier Minuten nachdem sie eingestiegen war, verließ der Settebello den Bahnhof, morgens um acht würde sie in Rom-Fiumicino ins Flugzeug nach New York steigen. Der Zeitplan war exakt ausgearbeitet und fest in ihrem Gedächtnis verankert: Um drei Uhr nachmittags Ortszeit würde sie in Phoenix landen und sich unter die anderen hundertfünfundneunzig Millionen Amerikaner mischen, endgültig, unwiederbringlich weit entfernt vom Alzaia Naviglio Pavese.

* In Mailand gab es damals einen Stadtzoll, den dazio, auf transportierte Waren, der an Zollhäuschen am Stadtrand erhoben wurde.

2

Die Haustürklingel schrillte. Es klang sehr höflich. Und doch gibt es Situationen, in denen Klingeln einfach stört, egal, wie es sich anhört, in denen es besser ist, wenn überhaupt niemand kommt, weil alle Menschen einem verhasst sind. Der Mann, dem er schließlich die Tür öffnen musste – schließlich hatte er ja so höflich geklingelt –, war noch widerwärtiger, als er befürchtet hatte.

„Doktor Duca Lamberti?“

Sogar seine Art zu sprechen war unangenehm, dieses perfekte Italienisch, diese vollkommene Höflichkeit, diese überdeutliche Aussprache, der Mann hätte gut und gern eine Sprachausbildung anbieten können. Duca hasste alles, was so vollkommen war.

„Ja.“ Er blieb in der Tür stehen, ohne den Mann hereinzubitten. Auch seine Art, sich zu kleiden, war ihm verhasst. Natürlich, es war bereits Frühling, aber dieser Mann lief jetzt schon in einer Strickjacke herum, und zwar ohne Blazer darüber. Die Jacke war hellgrau, die Bündchen aus dunkelgrauem Wildleder. Damit aber niemand auf die Idee kam, er habe vielleicht nicht genug Geld, um sich ein Jackett zu kaufen, hielt der Mann ein Paar elegante, hellgraue Lederhandschuhe in der Hand, wie sie im Allgemeinen zum Autofahren benutzt werden; allerdings nicht diese geschmacklose Sorte ohne Handrücken, sondern ganz normale Handschuhe, Handrücken und Finger inklusive. Auf der Innenseite waren ein paar schmale, geflochtene Längsstreifen eingearbeitet, das sah man sofort, denn er hielt die Handschuhe demonstrativ vor sich hin, damit man gleich merkte, dass er ein Auto besaß, das zu diesen Handschuhen passte.

„Darf ich eintreten?“ Seine Stimme floss über vor Höflichkeit, vor falscher Höflichkeit und falscher Spontaneität.

Der Mann gefiel ihm nicht, und er gab es ihm zu verstehen, ließ ihn aber trotzdem herein, denn unergründlich sind die Wege des Schicksals. Er öffnete die Tür zu dem Raum, in dem sich seine Praxis befand – dieses längst gestorbene oder nie geborene oder eigentlich, um genau zu sein, abgetriebene Projekt –, und ließ ihn an sich vorbeigehen.

„Worum geht es?“ Er bat ihn nicht einmal, Platz zu nehmen, wandte ihm den Rücken zu und setzte sich aufs Fensterbrett. Wer ein offenes Fenster zum Piazzale Leonardo da Vinci hat, durch das er auf die Bäume im frischen Frühlingsgrün schauen kann, hat eigentlich alles, was das Herz begehrt.

„Darf ich mich setzen?“ Trotz der kalten Reaktion seines Gegenübers ließ der Mann, der nicht älter als dreißig sein konnte, sich keineswegs von seiner abstoßenden Umgänglichkeit und Herzlichkeit abbringen.

Er antwortete nicht. Um elf Uhr vormittags gleicht der Piazzale Leonardo da Vinci einem verschlafenen Platz der Peripherie, über den sogar Kinderwagen mit unschuldigen Geschöpfen darin geschoben werden und der nur hin und wieder von einer seltsam leeren Straßenbahn überquert wird. Zu dieser Stunde, in dieser Jahreszeit, an einem so milden Apriltag konnte man Mailand tatsächlich noch lieben.

„Vielleicht hätte ich Sie lieber vorher anrufen sollen“, sagte der Unbekannte, ohne Ducas Unfreundlichkeit zu beachten. „Aber über bestimmte Dinge lässt sich am Telefon nicht gut reden.“ Er lächelte weiterhin unbeirrt und versuchte sogar, eine komplizenhafte Stimmung aufkommen zu lassen.

„Worum geht es?“, fragte Duca erneut von seinem Fensterbrett aus und blickte einer ehrbaren Hausfrau nach, die ihren prall gefüllten zweirädrigen Einkaufswagen hinter sich herzog.

„Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Silvano Solvere. Sie kennen mich nicht, aber Sie sind mit einem guten Freund von mir bekannt, der mich übrigens hierhergeschickt hat.“

„Und wer wäre dieser Freund?“ Eigentlich verspürte er nicht die geringste Neugier, das zu erfahren. Das Einzige, was ihn vielleicht ein wenig interessierte, war, welche Sorte von stinkendem Gebräu sich wohl in dem Fläschchen befand, das dieser Herr sich offenbar zu entkorken anschickte, denn er wirkte tatsächlich wie ein Händler, der stinkende Flüssigkeiten aller Arten vertrieb. Das ging nicht nur aus seinem Gesicht hervor, sondern auch aus seiner Eleganz, seinen vorbildlichen Manieren und der peinlichen Sauberkeit, die sich aber offensichtlich nur auf seinen Körper bezog. Was das wohl für eine Schweinerei war, die er ihm vorzuschlagen hatte?

„Advokat Sompani. Sie erinnern sich doch, oder?“ Er zwinkerte ihm zwar nicht zu, denn dazu gab er sich viel zu vornehm, aber etwas in seiner Stimme zwinkerte, falls so etwas möglich ist. Er schien eifrig bemüht, eine verschwörerische Vertraulichkeit zwischen ihnen beiden entstehen zu lassen. Wie plump verschlagene Menschen doch sind!

„Ja, ich erinnere mich.“ Und ob er sich erinnerte. Die schlimmste Strafe waren nicht die drei Jahre Gefängnis an sich gewesen, sondern die Haft zusammen mit Turiddu Sompani. Die anderen Zellengenossen waren ja noch erträglich gewesen, das waren einfach nur Dreckfinken, Diebe, angehende Mörder, Turiddu Sompani aber war von einem besonderen Kaliber, er war regelrecht widerlich, so fett und schwabbelig, wie er aussah, und auch weil er ein Rechtsanwalt war, und Rechtsanwälte, die im Gefängnis landen, haben einerseits etwas Lächerliches, andererseits aber auch etwas Beängstigendes. Zwei Jahre hatte Sompani absitzen müssen, obwohl er eigentlich zwanzig verdient hatte, denn er hatte sein Auto einem Freund überlassen, der keinen Führerschein besaß und noch dazu betrunken war, und dieser Mann war mit dem Auto und seiner Freundin im Lambro versunken, in der Nähe der Conca Fallata, während er, Turiddu, am Ufer gestanden und um Hilfe gerufen hatte – eine seltsame, undurchsichtige Geschichte, aus der ihm jedoch nicht einmal der hartnäckige Staatsanwalt einen Strick hatte drehen können, auch wenn alle im Saal, die Richter, die Geschworenen und das Publikum, gespürt hatten, dass Turiddu Sonipanis Freund nicht zufällig im Lambro gelandet war.

„Der Advokat hat mir gesagt, dass Sie mir vielleicht einen Gefallen erweisen könnten“, fuhr der glatte Silvano fort und tat dabei etwas verlegen, doch das war reine Schauspielerei, denn eigentlich machte er den Eindruck, als schäme er sich vor nichts und niemandem und würde es sogar fertigbringen, zur Zeit des Aperitifs das Denkmal auf dem Largo Cairoli zu besteigen und sich nackt zu Garibaldi aufs Pferd zu setzen.

„Von welchem Gefallen sprechen Sie?“, fragte er geduldig – entweder man ist geduldig, oder man ist ein Mörder –, rutschte vom Fensterbrett herunter und setzte sich auf einen Hocker vor den Händler; und dabei war ihm, als könne er all die Fläschchen mit den stinkenden Flüssigkeiten sehen, von denen eines jetzt gleich entkorkt werden würde. Ein Arzt wie er, dem die Zulassung entzogen worden ist, übt auf bestimmte Leute eine große Faszination aus. Tatsächlich hätte es ihm nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis an Arbeit nicht gemangelt. Zunächst hatten sich alle Mädchen der Gegend an ihn gewandt, die glaubten oder wussten, dass sie schwanger waren. Sie waren zu ihm gekommen, hatten geweint und manchmal sogar mit Selbstmord gedroht, doch vergeblich. So viele waren es gewesen, dass er schließlich das Schild mit der Aufschrift „Dr. Duca Lamberti“ unten am Hauseingang abgeschraubt hatte; nur zwei Löcher waren übrig geblieben. Viel geholfen hatte das allerdings nicht. Als Nächstes waren die Drogensüchtigen gekommen, ein weiteres potenzielles Arbeitsfeld. Ihrer Ansicht nach ist ein Arzt, dem die Berufserlaubnis entzogen worden ist, eher mal bereit, bestimmte Rezepte auszustellen; den Rezeptblock hat er ja noch, und mit seiner Karriere ist es ohnehin vorbei. Damit konnte man doch ein gutes Geschäft machen, und sogar ganz ohne Risiko, suggerierten ihm die Drogensüchtigen mit den blassen Fingernägeln und den blauen Flecken auf den Handrücken, und das Leben ekelte ihn an. Im Schlepptau der Drogensüchtigen kamen die Prostituierten mit ihren Infektionen. „Zu normalen Ärzten gehe ich nicht, die zeigen mich doch nur an, und dann werde ich unter irgendeinem Vorwand wieder eingelocht.“ Er aber war eben kein normaler, sondern ein ganz besonderer Arzt, der drei Jahre wegen Euthanasie gesessen hatte; da musste er die Syphilis doch wohl zu behandeln wissen, im Gefängnis San Vittore hatte er sich sicherlich darauf spezialisiert, oder?

Endlich zog sein Besucher das Fläschchen hervor, auf das Duca die ganze Zeit gewartet hatte, und öffnete es: „Es handelt sich um eine ziemlich delikate Angelegenheit. Advokat Sompani hat mir gesagt, dass Sie ein Mann von äußerst strengen Prinzipien sind und vermutlich Ihre Bedenken haben werden, aber dies ist wirklich ein ganz besonderer Fall, ein sehr menschliches Problem. Es geht um eine junge Frau, die gern heiraten möchte und …“ Aus dem Fläschchen quoll ein ekelerregender Gestank hervor, der sich mit der vollkommenen Stimme dieses vollkommenen Überbringers von Giftgasen im Raum verbreitete. Der Mann war wegen einer Hymenalplastik gekommen. Der besondere Fall, das sehr menschliche Problem betraf ein Mädchen, das heiraten wollte, und dessen Bräutigam überzeugt war, sie sei noch vollkommen intakt. Das Mädchen, und das war ja tatsächlich sehr menschlich, hatte nicht den Mut gehabt, ihrem Bräutigam zu beichten, dass sie ihre Intaktheit in einer – weit zurückliegenden und längst vergangenen – Episode blinder Leidenschaft verloren hatte, war sich aber sicher, dass ihr Verlobter imstande sei, sie umzubringen, wenn die Wahrheit ans Licht kommen sollte. Mit einer Hymenalplastik nun könnte man das Problem elegant und ohne großes Drama lösen; der Bräutigam wäre glücklich über die Integrität seiner Braut, diese wiederum wäre glücklich über die Heirat, und er, der Arzt, Duca Lamberti, Ausführer der Hymenalplastik, würde mit einem einfachen Eingriff eine runde Million verdienen, dreihunderttausend sofort und siebenhunderttausend nach gelungener Operation. Natürlich in bar.

„Verlassen Sie sofort dieses Haus, und zwar binnen zehn Sekunden, denn in der elften schlage ich Ihnen den Schädel ein!“ Duca stand langsam, aber entschieden auf und griff mit einer dramatischen Geste nach dem Hocker, auf dem er saß. Auch er hatte inzwischen gelernt, Theater zu spielen, er wollte keineswegs, dass der andere ging.

„Moment, lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen“, fuhr sein Gegenüber ohne den geringsten Anflug von Angst fort. „Vielleicht wären Sie ja daran interessiert, Ihre Approbation zurückzubekommen, ich kenne da jemanden …“

3

Er ging zu Fuß zum Kommissariat. Carrua aß gerade. Auf seinem Schreibtisch stand ein Teller mit nichts als einem trockenen Brötchen und ein paar schwarzen Oliven. Und ein Glas Weißwein. Duca redete, während Carrua seine Oliven aß, indem er das Fruchtfleisch sorgfältig mit den Zähnen vom Kern löste, und zum Schluss legte er ihm die dreißig Zehntausendlirescheine auf den Tisch, die der Händler mit den stinkenden Fläschchen ihm gegeben hatte. In der dunkelsten Ecke des Büros – dort im Kommissariat wurde deutlich, was ihm sein Vater einmal erklärt hatte: „Je heller draußen die Sonne scheint, desto dunkler ist es drinnen“ – saß Mascaranti und hatte alles mitgeschrieben, er war einfach nicht daran zu hindern.

„Er hat gesagt, er wolle dafür sorgen, dass du deine Approbation wiederbekommst?“, fragte Carrua, wobei er fleißig an einer Olive arbeitete.

„Ja, er hat mir sogar erklärt, wie er vorzugehen gedenkt, und es war offensichtlich, dass er sich da auskennt.“

„Glaubst du, er könnte es schaffen?“

„Ich glaube schon, wenn er wollte. Außerdem hat er Beziehungen zu einem mächtigen Politiker, der dir und mir nicht unbekannt ist und der seinen Einfluss bestimmt geltend machen könnte.“ Er nannte den Namen des Mannes.

„Glaubst du, dass er dir die Zulassung verschaffen möchte?“

„Ich glaube, dass er das absolut nicht will.“ Die Begegnung mit diesem Mann war eine widerwärtige, schmutzige Angelegenheit gewesen, aber jetzt befand er sich bereits mittendrin, und da konnte er nicht hoffen, mit Leuten aus der High Society zu tun zu haben.

„Mascaranti, du musst den Leuten an der Bar wirklich mal sagen, sie sollen mir nicht immer diese alten Oliven schicken.“

„Das habe ich bereits getan.“

„Sollten sich schämen, jetzt verkaufen sie ihr vergammeltes Zeug sogar schon an die Polizei“, bemerkte Carrua, der nun, wo die Oliven aufgegessen waren, an dem Brötchen zu knabbern begann und dabei den Stapel Zehntausendlirescheine vor sich auf dem Tisch betrachtete. „Bist du sicher, dass du dich auf diese Geschichte einlassen willst?“

„Ich brauche Geld“, antwortete Duca.

„Und du meinst, als Polizist Geld verdienen zu können? Du hast ja komische Ideen.“ Er nippte an dem Weißwein. „Mascaranti, hol mir bitte mal die Akte Sompani.“ Er trank noch einen Schluck Wein, während Mascaranti den Raum verließ. „Weißt du, etwas ist merkwürdig an dem Mann, der dir diese vorhochzeitliche Flickarbeit angeboten hat, und zwar, dass er dir gesagt hat, Turiddu Sompani habe ihn geschickt. Turiddu Sompani ist nämlich vor ein paar Tagen ertrunken, und zwar zusammen mit einer Freundin, sie wurden in ihrem Fiat 1300 aus dem Naviglio Pavese gefischt. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass dein Mann mit dem außergewöhnlichen Anliegen nicht wusste, dass Turiddu tot ist, und ich verstehe nicht, warum er mit der Empfehlung eines Verstorbenen zu dir gekommen ist, vor allem, weil du ja schließlich auch wissen konntest, dass Turiddu nicht mehr lebt.“

„Ich wusste es auch.“ Duca beugte sich vor und nahm sich die letzte, zerdrückte Olive, die Carrua auf dem Teller hatte liegen lassen. Er war hungrig. In diesen Tagen wohnte er allein und hatte niemanden, der ihm mal eine Mahlzeit zubereitete, und essen gehen war teuer. Die Olive schmeckte gar nicht so schlecht. „Und ich weiß noch etwas anderes, und dazu brauchen wir nicht einmal in Sompanis Akte zu schauen: Vor dreieinhalb Jahren hat Turiddu sein Auto einem Freund und dessen Mädchen überlassen, der Freund hatte keinen Führerschein und war betrunken, und so sind die beiden im Lambro gelandet, bei der Conca Fallata. Ich hasse solche Wiederholungen: Erst ertrinken Sompanis Freund und sein Mädchen elendiglich – so sagt man doch, oder? – in einem Auto an der Conca Fallata, und ein paar Jahre später passiert das Gleiche auch Sompani und einer Freundin, diesmal am Naviglio Pavese. Hasst du sie nicht auch?“ Er meinte die Wiederholungen.

Carrua nahm noch einen Schluck Wein. „Ich glaube, allmählich beginne ich, dich zu verstehen.“ Er setzte das Glas ab. „Ärzte sind Polizisten des Körpers. Fast immer ist die Krankheit ein Verbrecher, den es aufzuspüren gilt, indem man alle vorhandenen Spuren verfolgt. Ich glaube, du warst ein guter Arzt, weil du im Grunde ein Polizist bist wie dein Vater.“ Er trank den letzten Schluck. „Ja, auch mich hat diese Wiederholung gestört, aber wenn wir recht haben mit der Vermutung, dass es sich nicht um einen Zufall handelt, ist das eine lange, komplizierte Geschichte – und nicht ungefährlich.“

Duca stand auf. „Na gut, wenn du mir die Arbeit nicht geben willst, so lass es eben bleiben. Dann gehe ich jetzt.“

Endlich kam der wahre Carrua zum Vorschein. Bisher hatte er mit einer beunruhigend normalen Stimme gesprochen, aber jetzt begann er zu brüllen: „Nein, ich will dich hier nicht sehen. Du bist mir viel zu reizbar, und auch diese Arbeit machst du mit geradezu unnatürlicher Anspannung, mit Hass. Du willst die Verbrecher nicht etwa verhaften und der Justiz übergeben, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen, nein, du willst sie fertigmachen! Du hast eine Schwester, und deine Schwester hat eine kleine Tochter, und eigentlich müsstest du dich um die beiden kümmern. Stattdessen kommst du her und legst deine Hand leichtfertig auf diese Mine, als wolltest du sagen, da bin ich, ich mach das schon, ich entschärfe das Ding gern, und wenn ich dabei in die Luft fliege.“ Er griff nach den Zehntausendlirescheinen und fuchtelte ihm damit wütend vor der Nase herum. „Glaubst du etwa, ich hätte nicht kapiert, warum du das Geld von diesem Kerl angenommen hast? Um mitspielen zu können. Und wenn ich dich dann in irgendeinem Graben wiederfinde, mit durchschnittener Kehle, was sage ich dann deiner Schwester, bitte schön? Du weißt ganz genau, dass der Staat ihr nicht mal zehn Lire zahlt, wenn du stirbst, weil du im besten Fall als Informant behandelt wirst, das ist die höchste Qualifikation, die ich dir zugestehen kann, und nach Informanten kräht kein Hahn, wenn sie krepieren. Wieso fährst du nicht lieber als Pharmareferent durch die Lande und verdienst dein Geld auf anständige Weise?“

Duca hatte keine Lust, sich das anzuhören. Eigentlich mochte er Carrua, wenn er brüllte, aber der Frühling machte ihn reizbar, in jeder Hinsicht. „Vielleicht hast du recht, und ich bin zu nervös, um Polizist zu sein. Nicht jeder ist mit einer so beispielhaften Gelassenheit gesegnet wie du.“ Er ging zur Tür.

„Nein, Duca, komm zurück!“ Carruas Stimme, die auf einmal ganz leise klang, rührte ihn. Er ging zum Schreibtisch zurück.

„Setz dich.“

Er setzte sich.

„Es tut mir leid, dass ich so gebrüllt habe.“

Er schwieg.

„Wie bist du denn mit diesem werten Herrn verblieben? Ich hab vergessen, wie er heißt.“

Mascaranti war gerade mit der Akte Turiddu Sompani in das Büro getreten und hatte den Rest ihres Wortwechsels mit angehört. „Er heißt Silvano Solvere. Ich habe bereits im Archiv nachgeschaut, aber nichts gefunden. Man könnte natürlich mal mithilfe der Fingerabdrücke suchen, denn der Name klingt ja schon etwas seltsam. Dafür habe ich die Akte der Frau gefunden, die mit Sompani zusammen war, eine merkwürdige Akte, Beamtenbeleidigung, Beleidigung, Beleidigung, Beleidigung und dann Trunkenheit und Randale, Trunkenheit, Trunkenheit, mit Einweisung in die Psychiatrie natürlich, und dann kommt Stürmen einer Parteizentrale zusammen mit anderen Streikenden. Wissen Sie noch, als die sogar Feuer gelegt haben?“ Er holte Luft. „Und dann noch Prostitution und Landstreicherei.“

„Und wie heißt dieses Unschuldslamm?“

„Adele Terrini.“

„Gut. Aber kommen wir noch mal auf meine letzte Frage zurück: Wie bist du mit diesem Silvano Solvere verblieben, bei dem ich immer an Soda Solvay denken muss?“ Was für eine alberne Assoziation, dachte Carrua selbstkritisch, das musste wohl daran liegen, dass er ständig in diesem Büro hockte.

„Er holt mich ab und bringt mich zu der jungen Frau.“ Ganz einfach.

„Das heißt, du musst mit ihm dorthin gehen?“ Ja, das verstand sich wohl von selbst. „Und wenn du dann bei dem Fräulein bist, musst du sie operieren? Ist das eine riskante Operation? Dauert sie lange?“

Duca erklärte ihm den Eingriff in einer sehr sachlichen Sprache. Er und Carrua verabscheuten vulgäre Ausdrücke, wenn sie nicht nötig waren. „Ohne Approbation darf ich natürlich nicht mal ein Pflaster aufkleben, aber mit polizeilicher Erlaubnis könnte ich die Operation schon durchführen.“

„Und wenn es zu einer Infektion kommt und das Mädchen stirbt, was machen wir dann?“, fragte Carrua.

„Du weißt genau, dass es keine Antwort auf diese Frage gibt“, entgegnete Duca gereizt. „Entweder du willst Verbindung zu diesen Leuten aufnehmen und bist bereit, ein entsprechendes Risiko einzugehen, um dadurch etwas Entscheidendes aufzudecken, oder du lässt die Akten von Turiddu und seiner Freundin hübsch im Schrank liegen, tust so, als hättest du den Namen Silvano Solvere noch nie gehört, und ich gehe wieder nach Hause.“

„Ich habe eigentlich an dich gedacht“, sagte Carrua leise. „Wenn das Mädchen stirbt oder wenn es ihr sehr schlecht geht und etwas davon an die Öffentlichkeit dringt, dann bist du am Ende, selbst wenn du es im Auftrag der Polizei gemacht hast.“

„Wieso, bin ich nicht sowieso schon am Ende?“

Carrua starrte auf den Sonnenflecken in der Nähe des Fensters. Er klang richtig traurig, als er feststellte: „Also hast du dich schon entschieden.“

„Ich dachte, ich hätte das bereits klargestellt.“ Selbst so intelligente Menschen wie Carrua sind manchmal schwer von Begriff.

„Na gut.“ Carrua liebte und hasste diesen Mann gleichzeitig, wie er auch den Vater von Duca Lamberti wegen seiner Verbissenheit und Unbeugsamkeit gehasst und gleichzeitig bewundert hatte. Obwohl Duca kein Geld besaß, seine berufliche Laufbahn ein jähes Ende genommen hatte und er für seine Schwester und deren kleine Tochter sorgen musste, dachte er nicht etwa an seine eigenen Probleme und versuchte, so gut wie möglich über die Runden zu kommen, sondern ließ sich auf die aussichtsloseste Arbeit ein, die es gibt: die Arbeit des Polizeibeamten, und zwar des italienischen Polizeibeamten. Als englischer oder amerikanischer Polizist hätte er es vielleicht noch etwas besser gehabt, aber ein italienischer Polizist steckt immer nur ein und bekommt alles Mögliche ab: die fliegenden Steine streikender Demonstranten, die Kugeln und Messerstiche der Verbrecher, die bösen Worte seiner Mitbürger, das Brüllen seiner Vorgesetzten. Und das alles für eine Handvoll Lire. „Na gut. Aber du hältst dich dabei an meine Anweisungen. Mascaranti kommt mit.“

Ja, das war eine ausgezeichnete Idee.

„Er folgt dir in einem Auto mit Funkgerät.“

Von diesem Vorschlag war Duca hingegen ganz und gar nicht begeistert. „Ein Auto mit Funkgerät ist viel zu auffällig“, warf er ein. „Es ist doch klar, dass sie mich nicht aus den Augen lassen, seit sie mir das Geld gegeben haben. Deshalb bin ich ja auch zu Fuß gekommen. Wenn sie merken, dass das Auto über ein Funkgerät verfügt, ist sofort alles aus.“

„Das überlass nur Mascaranti, er muss eben dafür sorgen, dass er nicht entdeckt wird. Aber das ist noch nicht alles. Ich werde dir außerdem unsere Spezialeinheit, die S an die Fersen heften.“ Er begann zu brüllen. „Und sag ja nicht, dass dir das zu viele Leute sind. Wenn du ein bisschen Ahnung von dieser Arbeit hast, sollte dir nämlich längst klar sein, was dir passieren könnte.“

Nein, er protestierte nicht, er wusste, dass Carrua recht hatte.

„Außerdem wird Mascaranti dir einen Revolver geben.“ Sein Ton war bestimmt, auch wenn er nicht viel Hoffnung hatte, dass Duca auf seinen Vorschlag eingehen würde. „Mit einer provisorischen Spezialerlaubnis natürlich, denn einen Waffenschein kann ich dir nicht verschaffen.“

„Nein, bitte, keinen Revolver, ich laufe nicht gern bewaffnet herum.“

„Aber diese Leute laufen bewaffnet herum.“

Doch Duca weigerte sich kategorisch und sagte ein wenig eitel: „Ich brauche keine Waffe, ich bin auch ohne gefährlich genug.“ Eigentlich wollte er noch etwas anderes hinzufügen, nämlich dass er sehr schnell, viel zu schnell abdrücken würde, aber das sagte er nicht, Carrua wusste es sowieso.

„Na gut, dann lassen wir das.“ Carrua gab nach. „Das heißt, dass Mascaranti auf dich aufpassen muss. Und noch etwas: Diese Leute könnten dich anrufen, deshalb werden wir dein Telefon überwachen und alle Gespräche aufzeichnen.“

Er hatte nichts dagegen.

„Ach ja, noch etwas: Ich muss den Polizeichef informieren, dass ich auf diesem Gebiet ermittle.“ Er stand auf. „Ich hoffe, eins ist klar: Wenn dir etwas passiert, verliere ich augenblicklich meine Stelle und werde nach Sardinien zurückgeschickt, und dann muss ich mich mit Brot und Oliven begnügen.“

„Was anderes isst du hier doch auch nicht.“

„Lass deine Witze“, erwiderte Carrua, „und versuch zu verstehen, dass ich absolut keine Lust habe, meine Stelle zu verlieren, und dass dir deshalb nichts passieren darf. Im Grunde ist mir egal, ob bei unseren Ermittlungen etwas herauskommt oder nicht, denn ob dieses Unkraut verschwindet oder nicht, liegt bestimmt nicht an uns. Hauptsache, du bleibst unversehrt und wir kommen nicht allesamt in die Zeitung.“

Duca stand auf. Er war jetzt nicht mehr so angespannt wie vorher. „Mascaranti, gehen wir!“

„Ja, Doktor Lamberti“, antwortete Mascaranti.

Auch Carrua stand auf. „Er mag es nicht, wenn man ihn mit ‚Doktor‘ anspricht“, klärte er Mascaranti auf. Er selbst war jetzt wesentlich angespannter als vorher. Er nahm den Stapel Zehntausendlirescheine und schob ihn zu Duca hinüber. „Und die hier behältst du. Gib sie ruhig aus, als gehörten sie dir. Diese Leute könnten dich durchsuchen, und dann müssen sie ihre Scheine bei dir finden.“

Ja, natürlich. Unten im Hof saß eine Taube, eine einzige. Sie hockte vollkommen unbeweglich auf der Erde, als sei sie eine Skulptur aus Stein. Das Auto mit dem Funkgerät, das Mascaranti gerade geholt hatte, fuhr mit nicht einmal einem Meter Abstand an der Taube vorbei, aber sie rührte sich nicht von der Stelle.

4

Die Haustürklingel schrillte, und zwar sehr, sehr höflich. Mascaranti verschwand in die Küche, zog die Tür hinter sich zu, nahm den Revolver aus dem Gürtel und steckte ihn in seine Jackentasche. Duca ging zur Haustür und öffnete. Natürlich verhielten sie sich nicht jedes Mal so, wenn es klingelte, aber da seine Schwester sich mit ihrer Tochter in der Brianza aufhielt und deshalb niemand klingelte – es hatte wirklich seit vier Tagen nicht mehr geklingelt, und erst recht nicht so höflich, allzu höflich –, wussten sie, dass der Moment gekommen war, auf den sie warteten. Kaum hatte er die Tür geöffnet, als Ducas Blick auch schon auf das Köfferchen fiel – es war tatsächlich ein richtiger kleiner Koffer, nicht eine große Tasche – und dann auf die schönen, langen Beine der Frau; sehr junge Beine, und auch ihr Gesicht war sehr jung und der ganze Körper, der in einer leuchtend roten Redingote steckte.