Verreisen mit Urne - Sandra Schipper - E-Book
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Verreisen mit Urne E-Book

Sandra Schipper

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Beschreibung

Humorvoller Chick-Lit-Roman um eine abgebrannte Journalistin und einen hochnäsigen Millionär, die gemeinsam eine Reise quer durch Europa antreten müssen, um ans Erbe zu kommen. »Ich bin Tracy!« »Sagten Sie nicht eben, dass Sie keine Prostituierte sind?« »Stimmt!« »Also doch eine Stripperin!« »Nein!« »Aber Sie heißen Tracy.« »LOUISE!« Louises Leben ist eine Katastrophe. Sie wohnt in einer WG, ihr Ex hat ihr einen Haufen Schulden hinterlassen und im Job läuft es auch nicht rund. Als ihr Nachbar Archie stirbt, erlebt sie eine Überraschung: Der alte Mann hat ihr 200.000 Pfund vermacht. Doch die Sache hat einen Haken: Rick, Archies entfremdeter Sohn und Millionenerbe des Familienvermögens. Erst, wenn der die Asche seines Vaters im Meer verstreut hat, bekommen beide das Geld. Widerwillig begeben sie sich auf eine turbulente Reise quer durch Europa und lernen dabei Archies Vergangenheit und einander kennen. »Die Geschichte ist noch viel skurriler als die Beschreibung vermuten lässt und ich habe beim Lesen echt Tränen gelacht und dafür schiefe Blicke aus meinem Umfeld geerntet.« ((Leserstimme auf NetGalley)) »Eine sehr humorvolle Geschichte mit Tiefgang.« ((Leserstimme auf NetGalley)) »›Verreisen mit Urne‹ ist ein sympathischer, wendungsreicher und positiver Sommerroman. Der Roman war für mich ein großer Lesespaß. Eine Auszeit vom Alltag.« ((Leserstimme auf NetGalley)) »Ich habe mich bei manchen Auseinandersetzungen köstlich amüsiert. Es ist ein Buch, welches man einfach gelesen haben muss. So witzig und unterhaltend sind die beiden dargestellt. Sehr empfehlenswert.« ((Leserstimme auf NetGalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Birgit Förster

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: depositphotos.com (IgorTishenko) und PNGTree

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

1

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Epilog

Danksagung

Prolog

»Ich brauche keine weitere Suppe, Tracy. Wie oft denn noch?«

Er fühlte sich miserabel, sie sah es deutlich. An den Augen, die milchiger waren als sonst. An seiner Stimme, die an Vehemenz und Ausdruckskraft verloren hatte.

Die Zeichen waren unverkennbar: Archie Wyndham starb.

Andere Menschen hätten diese Information nicht sonderlich aufgeregt aufgefasst. Mr Wyndham war fünfundachtzig Jahre alt, er hatte ein Leben voller materieller Erfüllungen hinter sich. Häuser in den beliebtesten Orten des Planeten, Autos und selbst ein Flugzeug hatte er besessen. Jetzt war er alt, und seine Zeit war gekommen.

Doch Louise war nicht wie die meisten Menschen. Ihre Gefühle für den alten Mann im Krankenbett, der sie mit sturer Präzision Tracy nannte, übertrafen ein normales Nachbarschaftsverhältnis.

»Kein Problem, Archie. Ich werde sie in den Kühlschrank stellen, und die Pflegerin kann sie Ihnen dann später aufwärmen.«

»Spreche ich Chinesisch, Tracy? Ich. Will. Keine. Suppe. Das kann nicht so schwer zu verstehen sein, noch nicht mal für Sie!«

Wie für gewöhnlich ignorierte Louise seine Worte und brachte die Schüssel in die Küche. Sie stellte das Gefäß auf der großen Arbeitsplatte ab und öffnete den Kühlschrank. Alle Regale waren voll, hauptsächlich mit anderen Suppenschüsseln.

Louise zog die Lippen kraus, während ihre Augen von rechts nach links über die sieben bunten Schüsseln wanderten. Sieben. So oft war sie in der vergangenen Woche hier gewesen und hatte ihm Suppe gebracht. Keine davon hatte er angerührt.

Leise seufzend schüttelte sie den Kopf und griff nach einer großen, roten Schüssel mit einer fröhlich lachenden Mickey Mouse darauf. Das war die Suppe vom letzten Sonntag. Louise öffnete den Deckel. Die Geruchswolke von einer sieben Tage alten Kohlsuppe schwappte ihr entgegen. Angewidert verzog sie das Gesicht und schnappte nach Luft. Würgend schloss sie den Deckel so schnell wieder, wie sie ihn geöffnet hatte. Nein, niemals würde Archie das essen. Er lag zwar im Sterben, aber so eilig, diese Welt zu verlassen, hatte er es nicht.

Louise kannte den alten Mann seit fünf Jahren. So lange lebte sie hier im Gebäude, nachdem ihr Ex-Freund sie damals Knall auf Fall verlassen hatte. Sie hatte andere Sorgen, zum Beispiel, wie sie, eine freischaffende Autorin, von jetzt auf gleich eine bezahlbare Behausung in London finden sollte. Schlussendlich mietete sie sich in einer WG ein. Fünf Leute teilten sich eine Wohnung. Doch mehr als ein kleines Zimmer konnte sie sich nicht leisten.

Für ihre Mitbewohner war Archie nur der knurrige, alte Mann, der die viel zu große Penthouse Wohnung besaß. Ein Typ, der ständig den Aufzug blockierte, wenn die Wasserkisten bis in den fünften Stock gebracht werden mussten. Louise traf Archie zum ersten Mal, als er einen Herzanfall im Treppenhaus hatte. Sofort rief sie den Notarzt, der ihn zurück ins Leben holte. Aus einem unerklärlichen Grund fühlte sie sich für den alten Mann verantwortlich. So wie für ihre beiden Stubentiger Peanut und Butter. Peanut hatte sie auf der Straße gefunden, er war angefahren und allein dem Tod überlassen worden, ihre Katze Butter hatte sie bei der Tierrettung entdeckt. Irgendwelche Vollidioten hatten es für witzig gehalten, das arme Wesen anzuzünden und als lebende Fackel zu missbrauchen. Das ehemals weiße Fell war völlig verkohlt, und das linke Ohr war so stark beschädigt, dass nichts als ein kläglicher Stummel davon übrig geblieben war. Doch Butter lebte. Dank Louises Pflege.

Ähnlich ging es ihr mit Archie Wyndham. Er ließ selten ein gutes Wort an den Menschen. Zudem nannte er sie unaufhörlich Tracy. Obwohl sie ihn schon so oft korrigiert hatte.

»Heute war ein anstrengender Tag, aber ich habe endlich die Zusage für die Reportage bekommen, von der ich Ihnen erzählt habe. Meine Chefin war von meinem Pitch offenbar doch beeindruckt.« Munter plapperte Louise drauflos. Laut genug, damit Archie sie im Nebenraum hören konnte. Er mochte ihre Geschichten, dessen war sie sich sicher.

»Grundgütiger, Tracy, sind Sie immer noch da?«

Er hatte nur eine sehr spezielle Art dies zu zeigen. Louise rollte mit den Augen und lächelte. Sie drehte sich um und öffnete zielstrebig den oberen Küchenschrank. Kopfschüttelnd schob sie das Sammelsurium an Bechern und Gefäßen zur Seite, bis sie eine schlanke, weiße Tasse aus Meißner Porzellan mit kitschigem, dunkelblauem Zwiebelmuster in den Händen hielt. Ein Lächeln spielte über ihre Lippen, sie hatte Archies Lieblingstasse gefunden. Sie musste noch mal mit der neuen Haushaltshilfe sprechen, dass die Sachen nicht immer bis in die hinterste Ecke geschoben wurden. Archie mochte seinen Tee aus dieser einen Tasse.

Für sich brühte sie ebenfalls einen Becher auf, war aber bei der Auswahl des Bechers weniger wählerisch. Die Tasse, die sie griff, war aus billiger Keramik, schwarzer Tee hatte im Laufe der Jahre die helle Innenseite beigebraun verfärbt. Am Rand war die grüne Farbe abgeplatzt.

Mit den beiden dampfenden Tassen in der Hand ging sie zurück zu ihm. Sie stellte beide auf einem kleinen Beistelltisch neben seinem Bett ab.

Archies Blick haftete auf den Tassen. Er öffnete die Lippen, als wollte er etwas sagen. Schloss sie aber sofort wieder, ohne die Augen abzuwenden.

Louise wusste, dass er sich zu gerne aus eigener Kraft aufgesetzt hätte, doch seine Muskeln ließen es nicht mehr zu. Doch um Hilfe würde er nicht bitten. Eher hätte er sich die Zunge abgeschnitten.

Ohne einen Kommentar drückte Louise den Knopf, der das Kopfteil des Bettes automatisch sanft nach oben beförderte. Archie beugte sich leicht vor, sodass sie ihm schnell das Kopfkissen aufschlagen konnte. Laut seufzend lehnte er sich wieder an. Er hatte die Augen geschlossen und atmete schwer durch den offenen Mund. Diese kleine Aktion hatte ihn viel wertvolle Energie gekostet.

Louise wartete, bis sich seine Atmung beruhigt hatte und er die Augen wieder öffnete. Behutsam reichte sie ihm die zarte Porzellantasse. Sie ließ ihm Zeit, drängte ihn nicht. Sie wartete, bis seine dünnen, knochigen Finger die Tasse ganz umfassten. Erst dann lockerte sie vorsichtig den Griff. Immer darauf bedacht, im Notfall einschreiten zu können, zog sie ihre Hand weg.

Sie rückte den Stuhl näher an das Bett heran, nahm ihre grüne, ramponierte Tasse und setzte sich neben ihren alten Nachbarn. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Der graue Star hatte seine blauen Augen milchig und trüb werden lassen, doch Louise konnte sich vorstellen, welche enorme Ausdruckskraft sie mal gehabt haben mussten. Noch immer brachte er, ohne ein Wort zu sagen, Pfleger und Haushälter zum Schweigen, indem er sie anschaute.

Archie verzog seine schmalen, rissigen Lippen zu einem dezenten Lächeln.

»Was macht dieser … dieser Fred?« Zitternd nippte er an seinem Tee.

»Frank,« korrigierte sie ihn. »Ist immer noch verschwunden und ein Idiot. Aber ich möchte nicht über ihn reden, davon bekomme ich schlechte Laune.«

Louise seufzte laut auf und setzte die Tasse ab. Frank hatte sie im letzten Sommer sitzen lassen. Pünktlich zu ihrem Geburtstag. Als Geschenk waren ihr einhundertfünfzigtausend Pfund Schulden geblieben. Der Mistkerl hatte auf ihren Namen windige Geschäfte betrieben und bei Buchmachern illegale Sportwetten abgeschlossen. Die wiederum klopften jetzt regelmäßig an ihre Tür, um das Geld einzutreiben, das sie nicht besaß.

Sie hatte alles versucht, um da rauszukommen, doch weil überall ihr Name auftauchte, sah es so aus, als hätte sie bis zum Hals mit dringesteckt.

Ein Anwalt hatte ihr dazu einen Tipp gegeben: »Suchen Sie sich einen neuen Namen aus. Wählen Sie ein Land ohne Auslieferungsabkommen, und holen Sie sich im Darknet einen gefälschten Pass. Dann verschwinden Sie, dorthin, wo es schön ist. Auf die zweitausend Pfund Schulden mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr drauf an.«

Doch abzuhauen kam für Louise nicht infrage. Schließlich war sie nicht so eine feige Ratte wie Frank. Sie schwor sich, den dubiosen Kreditgebern das Geld zurückzuzahlen, und malte sich gleichzeitig in Gedanken aus, wie sie ihren Ex eines Tages dafür bluten lassen würde. Wenn sie ihn denn jemals fand.

»Auf ewig Single bleiben« stand jetzt auf ihrer To-do-Liste ganz weit oben.

»Na, dann sind wir ja schon zwei mit schlechter Laune«, grummelte Archie und riss Louise aus ihren Gedanken.

Bitter lachte sie auf. Archie verzog keine Miene, aber er zwinkerte ihr zu. Ein leichtes Funkeln erhellte seine milchigen Pupillen, die sonst so voller Traurigkeit waren.

Eine Nachbarin hatte Louise erzählt, dass Archie noch einen Sohn hatte, doch der Kontakt war vor Jahren bereits abgerissen. Oft fragte sie sich insgeheim, was wohl vorgefallen war, dass Vater und Sohn es nicht in einem Raum zusammen aushielten, ja, nicht ein einziges Wort miteinander wechseln konnten. Innerlich zerriss ihr der Gedanke, nie wieder mit ihren Eltern zu sprechen, das Herz. Selbst wenn das Verhältnis zu ihrer Mutter schon bessere Tage erlebt hatte.

»Ich muss los. Wir sehen uns morgen, in Ordnung?« Louise drückte vorsichtig seine pergamentartige Hand. Er erwiderte den Druck erstaunlich stark.

»Um Gottes willen, bringen Sie mir etwa wieder diese grässliche Suppe vorbei?«

»Bis morgen, Archie.«

»Wenn es sich nicht vermeiden lässt.«

1

»Kommen Sie rein, und setzen Sie sich, Miss Moore.« Martin Bigsby war ein fülliger Notar mit grauem, schütterem Haar. Eine zu kleine Brille für den großen, runden Kopf saß schief auf seiner Nase. Er deutete auf einen von zwei Stühlen vor seinem Schreibtisch.

Louise setzte sich hin und strich dabei mehrfach die Falten ihrer Jeans glatt.

»Warum genau bin ich noch mal hier?« Sie spitzte die Lippen und sah sich um.

Alles hier bestand aus dunklem Holz. Die Wände, die Regale, die mit dicken juristischen Wälzern gefüllt waren, der Boden, der bei jedem Schritt knarzte, der Schreibtisch. Martin Bigsby zählte offenbar nicht zum ordentlichen Teil der Bevölkerung, denn die Arbeitsplatte war übersät mit Zetteln und überquellenden Ordnern.

Juristisches Stillleben, schoss es ihr durch den Kopf, und sie biss sich auf die Lippe.

Mittendrin lugte ein Aschenbecher unter einem Buch hervor. Der penetrant blumige Geruch des Raumsprays, das Kopfschmerzen hervorrief. In Kombination mit einem Hauch von Nikotin, verriet er ihr, dass er heimlich geraucht hatte.

»Geduld, Miss Moore. Wir warten nur noch auf Mr Wyndham, und dann können wir Ihre Neugierde stillen.«

»Mr Wyndham? Habe ich nicht erst letzte Woche seine Beerdigung besucht?«

»Wie meinen? Ach so, nein, ich spreche nicht von Sir Archibald Wyndham Senior, sondern von seinem Sohn. Rick.«

»Geht es hier etwa um das Testament?«

»Letzter Wille, ganz recht.« Bigsby stolperte hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in seinen weinroten Ledersessel fallen. Der Stuhl ächzte mit dem voluminösen Körper des Notars um die Wette.

»Ich fürchte, dass hier ein Missverständnis vorliegt.« Louise kratzte sich verlegen an der Lippe. »Sehen Sie, Archie, ich meine Mr Wyndham, konnte mich nicht besonders gut leiden.«

Bigsby zuckte mit den Schultern und tupfte sich schwer atmend Schweißperlen von der Stirn. Sich hinzusetzen hatte ihm zugesetzt. Keine Frage, sein Sportpensum war für heute überschritten.

»Offensichtlich hielt er mehr von Ihnen, als Sie glauben.«

»Ja, aber nichts Gutes.«

Bigsby beachtete sie nicht weiter, sondern blätterte indes in einem Ordner hin und her.

Louise knetete ihre Finger. Sie hatte ihre langen Beine übereinandergeschlagen und wippte mit dem rechten Fuß, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. In sekündlichen Abständen schaute sie auf die Uhr an ihrem Handgelenk.

»Verzeihen Sie, Sir, ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen, aber ich habe eine Arbeitsstelle. Und zwar eine, die ich besser nicht verlieren sollte. Meinen Sie, dass das hier noch lange dauern wird?«

Louise lächelte ihn an und spielte mit einer Haarsträhne.

Der Notar sah nicht auf.

»Minuten«, sagte er, »es kann sich nur um Minuten handeln.«

»Ja, das dachte ich mir schon. Aber können Sie mir auch die Anzahl der Minuten mitteilen?«

Bigsby schüttelte gedankenverloren den Kopf.

»Können wir nicht einfach schon anfangen? Ich bin mir sicher, was immer mir Mr Wyndham vermacht hat, lässt sich in meiner Handtasche verstauen. Ich werde es auch keinem verraten.«

Immer noch in den Ordner vertieft, hob der Notar die Hand und wog sie kurz hin und her.

Stirnrunzelnd biss sich Louise auf die Unterlippe. Sie konnte diese Geste nicht deuten. Was wollte er ihr damit sagen? Ja, ich habe sie gehört? Ja, wir fangen sofort an? Nein, wir fangen niemals an? Ja, ich weiß, Sie haben etwas ganz Wichtiges vor, aber ich sitze hier schon drei viertel meines Lebens und werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in diesem Stuhl irgendwann sterben, also hören Sie auf, mir auf den Geist zu gehen?

Louise umfasste ihr Knie und wippte weiter mit dem Fuß. Was ihr der alte Mann vererben wollte? Den grünen Teebecher? Oder er ließ ihr nur mal offiziell ausrichten, dass er ihre Suppe gehasst hatte. Abgrundtief.

Die Minuten zogen unbarmherzig langsam vorbei. Louise starrte auf den Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr. Förmlich konnte sie den Schlag einer jeden Sekunde spüren. Ihre Augenlider wurden schwer, die Welt um sie herum rückte weit in den Hintergrund. Sie sah nur den Zeiger, wie er tickte. Tickte. Tickte.

Laut polternd wurde die Tür aufgerissen, und Louise wurde abrupt aus ihrer Trance aufgeweckt.

Sie fuhr auf und sah sich mit schreckgeweiteten Augen um.

»Der Verkehr hier in der Gegend ist eine einzige Katastrophe.«

Das war alles. Kein Wort der Entschuldigung, keine Begrüßung. Nichts.

»Guten Morgen«, murmelte sie.

Wie Louise Unhöflichkeit hasste. Sie musterte den Mann im dunkelblauen Anzug, der sich auf den Stuhl neben sie setzte. Groß und schlaksig war er. Sein leicht kantiges Gesicht wurde umrahmt von rotblonden Locken, die ein wenig zerzaust aussahen. Er war Mitte dreißig, vielleicht aber auch Anfang vierzig, Louise hatte immer Schwierigkeiten, das Alter von Männern zu schätzen. Seine Haut sah jugendlich aus, was an den vielen Sommersprossen lag, die sich unterhalb der grüngrauen Augen verteilten. Er saß etwas schräg auf dem Stuhl, die Hände im Schoß verschränkt. Wie ein Messdiener während der großen Andacht, schoss es Louise durch den Kopf, und sie grinste breit.

»Foto gefällig?«

Der Mann hatte seinen Kopf in ihre Richtung gedreht und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.

»Wie bitte?«, schrak Louise hoch.

»Möchten Sie ein Foto von mir haben, oder glotzen Sie mich einfach nur so an?«

»Nur so«, brummelte sie unverständlich vor sich hin. Sie hätte sich ohrfeigen können, dass ihr keine schlagfertigere Antwort einfallen war.

Bisher hatte Louise nur eine Person kennengelernt, die Menschen mit wenigen Worten peinlich berührt zurücklassen konnte. Und dieser jemand war letzte Woche beerdigt worden. Keine Frage, sie musste neben Archies Sohn sitzen.

»Mr Wyndham, wie schön, dass Sie es geschafft haben.« Martin Bigsby war aus seiner Lethargie erwacht und erhob sich schwerfällig von seinem thronähnlichen Bürosessel.

»Wenn wir das Ganze bitte schnell hinter uns bringen könnten, ich habe es etwas eilig, Mr Bigsby.«

Um seine Worte zu unterstreichen, streckte Wyndham Junior seinen Arm aus und tippte mehrfach auf seine funkelnde Rolex.

»Aber sicher doch, Mr Wyndham.«

So schnell es Bigsby möglich war, kam er hinter seinem Schreibtisch hervor und griff nach einer Dokumentenmappe aus rotbraunem Leder. Leicht räuspernd schlug er sie auf, bevor er zu reden begann.

»Wir haben uns heute hier versammelt, um den Letzten Willen von Sir Archibald Wyndham zu verlesen. Im Namen meines Mandanten freue ich mich, dass Sie beide, Mr Wyndham und Tracy, in Anbetracht der traurigen Ereignisse erschienen sind. Sir Wyndham hat mich beauftragt, Ihnen diese Videobotschaft zu zeigen.

Genervt rollte Louise mit den Augen. Tracy!

»Tracy?« Rick Wyndham schaute sie abschätzig von der Seite an. »Wer sind Sie eigentlich? Eine Prostituierte?«

Louise schnaubte entsetzt.

»Wie bitte? Ich bin keine Prostituierte!«

»Also sind Sie eine Stripperin?«

Wyndham zog eine Augenbraue hoch.

»Ich bin auch keine Stripperin!«

»Warum heißen Sie dann Tracy?«

»Ich heiße Louise!«

Verwirrt blinzelte der rothaarige Sprössling Martin Bigsby an.

»Also warten wir auf diese Tracy?«

»Ich bin Tracy!«

»Sagten Sie nicht eben, dass Sie keine Prostituierte sind?«

»Stimmt!«

»Also doch eine Stripperin!«

»Nein!«

»Aber Sie heißen Tracy.«

»Louise!«

Der Rotschopf runzelte die Stirn und schürzte die Lippen.

Bigsby räusperte sich laut.

»Sosehr ich es bedaure, Ihr reizendes Gespräch zu unterbrechen, aber wir haben noch einiges auf dem Programm stehen, und meine nächsten Mandanten warten schon.«

Der Notar wirkte in diesem Moment wie ein strenger Lehrer vor einer Klasse hormongesteuerter Jugendlicher, die zur Ordnung gerufen werden mussten. Leise brabbelnd presste Louise »Entschuldigung« hervor. Rick Wyndham verschränkte derweil stumm die Arme vor der Brust.

Bigsby wartete, bis sich die Stille im Raum ausgebreitet hatte. Bevor er den Laptop auf seinem unordentlichen Schreibtisch umdrehte, damit seine beiden Gäste auf das Display schauen konnten.

Mit seinen dicken Fingern drückt er wahllos ein paar Tasten. Auf dem Bildschirm geschah aber nichts.

Seine Gesichtsfarbe änderte sich von einem ungesunden Blassgrau hin zu Rosarot. Nach weiteren vergeblichen Versuchen erbarmte sich Louise. Sie gab ihm Tipps, wie er den Mediaplayer auf dem Computer zum Laufen bringen konnte. Kurze Zeit später wurde Mr Wyndham eingeblendet.

Louise schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte.

»Wie funktioniert das verdammte Ding denn hier? Was soll das überhaupt sein?«

»Sie müssen einfach hier in die Linse schauen und reden.« Der Mann stand zwar nicht im Blickfeld der Kamera, aber Louise erkannte sofort Martin Bigsbys Stimme.

»Und Sie stehen die ganze Zeit nur dumm da und hören mir zu, oder wie?«

»N-Nein, n-natürlich nicht, S-Sir.«

Beim Lauschen von Archies gewohnt passiv-aggressiver Art rollte sie mit den Augen. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie vermisste den grummeligen alten Mann.

Im Video war eine Tür zu hören. Louise mutmaßte, dass Bigsby den Raum verlassen hatte.

»Sohn«, begann Archie wieder zu sprechen, »wenn du das hier siehst, dann ist dein Traum wahr geworden. Ich bin tot.« Er lachte bitter auf. »Aber ob du es glaubst oder nicht, ich bereue, dass ich in deinem Leben keine Rolle mehr spiele. Oder sollte ich besser sagen ›spielte‹?«

Der alte Mann kicherte über seinen eigenen Witz, bevor er fortfuhr.

»Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Du bist da, und ich bin tot. Glaube es mir, ich hätte es auch gerne anders. Ich wollte immer Hundertzwanzig werden, der älteste Mensch der Welt sein. Aber auch diesen Titel müssen nun andere an meiner Stelle tragen.«

Rick Wyndham verdrehte die Augen.

»Dauert dieser Spuk hier noch lange, Mr Bigsby?«

Der Notar zuckte mit den Schultern und deutete auf den Bildschirm.

»… wahrscheinlich verdrehst du gerade die Augen und fragst dich, ob dieser Spuk hier überhaupt kein Ende nimmt. Ich jedenfalls würde es tun …«

Louise lachte auf, doch als sie von den beiden Männern missbilligend angeschaut wurde, täuschte sie kurzerhand einen Hustenanfall vor.

»Können Sie das nicht vorspulen?«

»Bedaure, Sir. Ihr Vater hat klare Anweisungen hinterlassen.«

»Sohn«, fuhr Video-Archie unbeirrt fort, »mir ist durchaus bewusst, dass die Aussicht auf ein Dreißig-Millionen-Pfund-Erbe das Einzige ist, was dich noch an meiner Person interessiert. Ich beklage mich nicht, mein Junge, ich habe es mir selbst zuzuschreiben. Du hast mich nie als guten Vater angesehen. Aber ich wollte immer nur dein Bestes! Und es ist immerhin etwas aus dir geworden …«

Wyndham Junior schnaubte verächtlich. Aus den Augenwinkeln sah Louise, wie sich seine Augen verengten und sein Gesicht rot wurde.

»… um es kurz zu machen, denn wir haben alle noch viel zu tun. Du musst arbeiten, und mich besucht gleich eine junge Dame, die mich dazu zwingen wird, irgendeine widerliche Brühe, die sie Suppe nennt, in mich hineinzuwürgen …«

Louise verdrehte die Augen. Arsch blieb Arsch. Auch im Tod.

»… um es kurz zu machen, Sohn: Du bekommst dreißig Millionen Pfund, das Chalet in Zürich und das goldene Medaillon. Mach damit, was du willst, es soll mir alles recht sein …«

Postwendend sprang Wyndham Junior von seinem Sitz und klatschte einmal in die Hände.

»Wickeln Sie den Vorgang so schnell wie möglich ab, Mr Bigsby. Meine Daten haben Sie ja.«

»… doch vorher musst du eine Bedingung erfüllen …«

Rick hielt inne und starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm.

»… Du wirst eine Reise unternehmen. Mit mir!«

Archie war näher an die Kamera gerückt, was die Falten unter seinen Augen unwirklich groß erscheinen ließ. Doch Rick achtete nicht auf die Hautstruktur seines Vaters, er starrte mit offenem Mund weiterhin auf das Display.

»Wie soll das gehen? Du bist tot!«, sprach er zu Archies digitalem Bild auf dem Monitor und richtete sich dann sofort an Bigsby: »Oh, bitte sagen Sie mir, dass er nicht mehr lebt!«

Der Notar legte den Zeigefinger an seinen Mund und deutete mit der anderen Hand auf den Laptop.

»… natürlich nicht mich persönlich, wenn du das jetzt befürchtet hast, keine Sorge, ich lebe nicht mehr, sondern meine Asche!«

Rick plumpste zurück auf den Stuhl. Schadenfroh bemerkte Louise, dass ihr alter Nachbar es zum Abschluss seines Lebens geschafft hatte, ein letztes Mal alle durcheinanderzubringen. Sie war so fasziniert von diesem Schauspiel, dass sie kurz vergaß sich zu fragen, warum sie eigentlich hier saß.

»… ich habe meine Urne bereits bestellt. Sie ist aus einem enorm leichten Material gefertigt, sodass du sie ohne Probleme transportieren kannst. Ich werde dir mehrere Orte nennen und auch die Art und Weise, wie du dorthin reisen wirst. Alles wird für dich organisiert werden. Auf dieser Reise wirst du verschiedene Menschen treffen, von denen ich mich nicht mehr persönlich verabschieden konnte. Am Ende werden sich auf Mallorca unsere Wege trennen. An einer bestimmten Stelle auf der Insel, die ich dir zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen werde, wirst du die Urne öffnen und meine Asche über das Mittelmeer verstreuen. Du hast dafür genau sieben Tage Zeit. Solltest du zu spät auftauchen, dann erbst du keine einzige Münze. Gleiches gilt selbstverständlich auch, falls du überhaupt nicht in Erscheinung trittst. Kommst du auf die Idee, eine Abkürzung nehmen zu wollen, dann vergiss es gleich wieder, denn – du wirst da möglicherweise ein Muster erkennen – so wirst du nichts erben und mein gesamtes Vermögen geht an den Tierschutzverein. Kennst du den Laden? Zauberhaft. Sie haben sich darauf spezialisiert, kranke Viecher zu retten. Sie mögen keine Menschen. Sehr sympathisch, sage ich dir, sehr sympathisch.«

Archie seufzte und rückte wieder weiter von der Kamera fort.

»Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Du wirst reisen, bla, bla, bla, verschiedene Orte ansteuern, bla, bla, bla, sieben Tage Zeit, bla, bla, bla, keine Abkürzungen, et cetera, et cetera. Versuche auch erst gar nicht, mich zu verscheißern, und ich weiß, dass dir das durch den Kopf geht, immerhin bist du mein Sohn. Tracy wird schon dafür Sorge tragen, dass du dich an die Absprachen halten wirst …«

Wie vom Donner gerührt richtete Louise sich auf. Sämtliche Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen.

»Wie bitte?«

»Tracy«, fuhr Archie fort und sprach unumwunden mit Louise. Ihr war, als starrte er mit seinen wachen blauen Augen direkt durch die Kamera in ihre. »Drei Jahre lang habe ich jeden Tag Ihre verdammte Suppe essen müssen. Lassen Sie es mich Ihnen schonend beibringen: Sie sind eine hundsmiserable Köchin! Manche Suppen waren so grauenhaft, dass ich kurz davor war, das Amt für Seuchenschutz zu informieren!«

»Und dafür wollen Sie mich jetzt bestrafen?«

»… Sie begleiten meinen reizenden Sohn auf der Reise und passen auf, dass er keine krummen Dinger dreht …«

»A-aber, ich habe Termine! Eine Arbeitsstelle! Ich muss Geld verdienen, damit …«

»… Und damit Sie die Schulden loswerden, die Ihnen dieser Bastard von Fred oder Frank hinterlassen hat, bekommen Sie als Gegenleistung dafür zweihunderttausend Pfund von mir. Rechnen Sie, Tracy! Sie können doch wohl rechnen? Es bleibt etwas übrig, falls Sie noch mal so einen Verlierer beherbergen wollen. Für jetzt wäre erst mal alles gesagt. Wir sprechen uns nach der ersten Station wieder. Martin wird alles Weitere organisieren. Gute Reise!«

Archie stand auf und verließ das Blickfeld der Kamera.

Kreidebleich starrte Louise auf den Bildschirm, der das leere Wohnzimmer ihres Nachbarn zeigte. Zweihunderttausend Pfund. Zweihundert. Tausend. Pfund. Sie konnte nicht glauben, was sie da gehört hatte. Zwar wusste sie schon vorher, dass Archie etwas zu vererben hatte, doch nie im Leben hatte sie damit gerechnet, dass er sie berücksichtigen würde. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Zahl, die ihr so unglaublich groß erschien. Zweihunderttausend Pfund. Mit einem Schlag wäre Louise alle ihre Probleme los. Nie wieder müsste sie an Frank denken.

»Vielleicht könnte ich es einrichten«, hörte sie sich selbst sagen.

»Habe ich es doch geahnt. Sie sind ein Gold Digger!« Verächtlich stieß Rick Wyndham die Luft aus. Mit dieser Abwertung im Blick war die Ähnlichkeit zu seinem verstorbenen Vater nicht mehr zu übersehen. Er war die junge Kopie eines Archie Wyndhams. Nur mit grünen anstatt blauen Augen.

»Wie nennt man noch mal Kinder, die sich nicht um ihre Eltern kümmern, aber das ganze Geld trotzdem abstauben wollen? Ich komme gerade nicht drauf …«, theatralisch fuchtelte Louise mit ihrer Hand vor seinem Gesicht, bis sie innehielt und sagte: »Ich hab es: Undankbare Brut!«

Triumphierend grinsend starrte sie ihm in die Augen. Sie verengten sich, und seine Lippen zitterten, aber er hielt dem Blick stand.

»Warum sind Sie hier?« Ansatzlos drehte er sich zu Martin Bigsby um und zeigte auf Louise. »Warum ist die hier?«

Schulterzuckend schüttelte der Notar mit dem Kopf.

»Weil Ihr verehrter Herr Vater sich dies so gewünscht hat.«

»Wer sagt denn, dass ich die dabeihaben will?«

»Wie bereits erwähnt, es handelt sich hier um den letzten Willen Ihres Vaters. Ich befürchte, dass ein Fernbleiben von Miss Tracy indiskutabel ist.«

»Warum denken Sie eigentlich, dass ich überhaupt mit Ihnen verreisen will?«

»Na, Sie sind doch hinter meines Vaters Geld her!«

»Und Sie sind doch hinter Ihres Vaters Geld her!«

Aufrecht setzte sich Louise auf die Kante des Stuhls, naserümpfend hob sie den Kopf und äffte dabei Ricks Tonfall nach.

Er stutzte.

»Machen Sie mich etwa nach?«

»Mache ich das?«, entgegnete sie leicht lispelnd.

Rick presste die Lippen zusammen und atmete hörbar durch die Nase. Die Farbe in seinem Gesicht war fast schon karmesinrot. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und erwiderte nichts mehr. Innerlich kochte er, Louise konnte es deutlich sehen. Vor ihrem inneren Auge sah sie Dampf aus seinen Ohren aufsteigen wie in alten Tom-und-Jerry-Episoden. Die lächerliche Vorstellung brachte sie zum Grinsen.

Laut räuspernd rief sich Bigsby den beiden in Erinnerung.

»Wenn ich Sie darauf aufmerksam machen dürfte, dass Ihr Zug zur ersten Destination morgen früh um zehn Uhr fünfzig von King’s Cross abfährt.«

»Morgen?«, riefen Wyndham Junior und Louise im Chor.

Bestätigend nickte Bigsby den beiden zu.

»Richtig. Wir treffen uns eine halbe Stunde vor Abfahrt in der großen Halle. Dort werde ich Ihnen die Fahrkarten überreichen. Mister Wyndham hat mir einen ganz genauen Ablaufplan diktiert. Sie werden an jedem Ort Menschen treffen, von denen er wollte, dass Sie beide sie kennenlernen. Am Ende wird mich Miss Moore kontaktieren und mir mitteilen, ob alles nach Plan verlaufen ist. Weder bei der Wahl der Verkehrsmittel darf geschummelt werden, noch dürfen Treffen ausgelassen werden. Nur wenn alles so durchgeführt wurde, wie es Mister Wyndham Senior gewünscht hat, werden Sie – Mister Wyndham Junior – das Erbe antreten können. Miss Moore, Sie bekommen Ihren Anteil in voller Höhe ausschließlich dann, wenn Mister Rick Wyndham das Ziel auf Mallorca erreicht hat.«

»A-aber, ich kann mir nicht einfach so spontan freinehmen«, stotterte Louise.

»Gehen Sie einfach zu Ihrem Boss, und sagen Sie ihm, Sie tanzen heute nicht an der Stange.«

»Zum letzten Mal: Ich bin keine Stripperin!«

»Den Gegenbeweis sind Sie mir bisher schuldig geblieben.«

Unbeachtet von den beiden war der Notar zur Tür gegangen und räusperte sich wieder lautstark.

»Vielen Dank, dass Sie zwei zu dieser frühen Stunde vorbeigekommen sind. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen mögen, auf mich wartet ein weiterer Termin.«

Bigsby öffnete die schwere, hölzerne Tür, die knarzend über den Boden schleifte, und deutete mit einer Armbewegung nach draußen.

»Wir sehen uns morgen früh.«

2

»Du willst Urlaub nehmen? So spontan? Das geht nicht, Schätzchen, wir brauchen dich hier!«

Wie Louise es befürchtet hatte, lehnte Karen Bolder ihren Vorschlag ab. Die ständig überdrehte Chefredakteurin des Magazins Women’s Comfort schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, und ich würde dich auch nicht fragen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«

»Schätzchen, wie stellst du dir das denn vor? Ganz ehrlich, wir haben eine Ausgabe zu füllen.«

»Aber ich arbeite doch eh die meiste Zeit von zu Hause aus. Ich könnte dir meine Texte von unterwegs schicken.«

Karen blinzelte Louise über den Rand ihrer quietschbunten Brille, die vom Stil her sonst vor allem Fünfjährige im Kindergarten trugen, an.

»Aber du kannst nicht von unterwegs recherchieren. Wie stellst du dir das vor?«

Louise trat von einem Fuß auf den anderen. Sie mochte keine Konfrontationen. Um Ärger machte sie am liebsten immer einen großen Bogen. So auch jetzt. In der U-Bahn hatte sie sich den ganzen Weg über die Worte zurechtgelegt, die sie Karen sagen wollte. Ihre Strategie war es, zu erklären, dass nicht die Redaktion ihr Arbeitsplatz sei, sondern die gesamte Welt.

Solange sie nur einen funktionierenden Laptop und eine ordentliche WLAN-Verbindung hätte. Die Tatsache, dass sie als Vergütung für die Reise mal eben zweihunderttausend Pfund kassieren würde, wollte Louise vorerst lieber für sich behalten. Die Sache mit der Recherche hatte sie sich nicht vorher überlegt. Jetzt hieß es Improvisieren.

»Ich – ich könnte heute vorarbeiten. Es sind nur zwei Interviews nötig, die kann ich notfalls auch per Handy machen.«

Das war ein wenig gelogen, denn Louise hatte die Gespräche schon geführt. Vor Wochen hatte sie in der Redaktionskonferenz eine Idee zu einem Artikel gepitcht, die ausnahmsweise mal nicht in der Luft zerrissen wurde: Nutzgärten auf Londons Stadtbalkonen. Hierzu hatte sie alle Informationen gesammelt und musste diese nur in die Tasten hauen. Louise spielte mit den Fingern und hielt den Blick gesenkt. Karen schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre Locken durch die Luft schwangen.

»Nein, nein, Louise, so läuft das nicht bei uns. Wir arbeiten hier in der Redaktion oder gar nicht. Ich möchte nicht, dass die Qualität unserer Zeitschrift darunter leidet, wenn du über den halben Kontinent reist.«

Women’s Comfort war ein kleines Magazin. Hauptsächlich bestand es aus Modetipps, Promigeschichten und Kochrezepten. Ein paar Seiten Kreuzworträtsel rundeten das Blatt ab.

Die Auflage war so gering, dass Louise manchmal zweifelte, ob es überhaupt von Leuten gelesen wurde.

Nachdem ihr erster Artikel abgedruckt worden war, sprang sie damals morgens aufgeregt zum Zeitungskiosk um die Ecke, um die Ausgabe zu kaufen.

Drei Mal fragte der Verkäufer nach dem Titel. Letztendlich hatte er eine Ausgabe des Magazins bestellt, da er die Zeitschrift nicht kannte. Selbst jetzt hatte er immer nur ein Exemplar exklusiv für Louise parat. Die meisten skandalösen Enthüllungen über Celebritys waren von vorne bis hinten anhand von Paparazzi-Fotos ausgedacht. Von welcher Qualität Karen sprach, war Louise ein Rätsel.

Oft hatte sie sich gefragt, warum die Redaktion nicht laufend von Unterlassungsklagen überschüttet wurde.

Teilweise waren die Geschichten hart an der Grenze des guten Geschmacks. Im Falle eines jungen europäischen Prinzen, der nach einem Wasserskiunfall ins Koma gefallen war, schlug Karen zu.

Gleich mehrfach verfasste sie eine Titelstory über dessen tragisches Ableben. Zwei Jahre später aber erwachte er und erholte sich prächtig. Louise fragte Karen, ob sie es nicht moralisch verwerflich fände, einen echten Menschen quasi sterben zu lassen. Daheim bangte seine Familie um das Überleben.

»Emotionen, Schätzchen, stell dir vor, wie die Eltern und Geschwister trauern würden. So etwas interessiert die Leserin von heute. Nicht die Wahrheit. Realität haben die Menschen zu Hause genug, die müssen wir ihnen nicht noch erzählen.« Auf diese Antwort hatte Louise nichts mehr zu erwidern. Sie beschloss, dass Women’s Comfort nur eine Station auf der Durchreise ihrer hoffnungsvollen journalistischen Karriere sein würde.

Jetzt, zehn Jahre später, schrieb sie immer noch Diättipps und dachte sich Horoskope aus.

»Wenn ich nicht mitreisen darf, dann verliert Rick Wyndham sein gesamtes Erbe, und er hing so sehr an seinem Vater.«

Louise setzte auf eine neue Taktik, denn Karen hatte mit ihr kein Mitleid. Aber vielleicht mit einem wildfremden Mann, der um seinen kürzlich verstorbenen Papa trauerte.

»Sagtest du Rick Wyndham?« Karen schaute auf und ließ den Stift in ihrer Hand fallen.

»Ja, er soll seines Vaters Asche mit auf die Reise nehmen und sie dann irgendwo im Mittelmeer verstreuen. Wieso, kennst du ihn etwa?«

»Schätzchen, die erste Frage lautet: Wieso kennst du ihn? Und zweitens: Er soll was machen?«

»Du erinnerst dich an den alten Mann, den ich regelmäßig besucht habe? Das war Archie, sein Vater. Und ja, es war sein Letzter Wille, dass seine sterblichen Überreste vor Mallorca im Meer verstreut werden. Von seinem Sohn.«

»Archie? Du meinst, dein merkwürdiger alter Nachbar war Archibald Wyndham? Warum hast du das denn nie erzählt?«

Verwirrt von Karens Reaktion zuckte Louise mit der Schulter.

»Ich wusste nicht, dass es irgendwie wichtig wäre.«

»Aber sein Sohn ist Rick! Wynd! Ham!«

Enthusiastisch betonte Karen jede Silbe dieses Namens. Es kostete Louise ihre komplette Konzentration, um nicht mit den Augen zu rollen.

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Karen.«

Jetzt war es die Chefredakteurin, die ungeduldig an die Decke starrte.

»Du hast echt keine Ahnung, wer das ist, oder?«

Louise kaute auf ihrer Unterlippe herum und schüttelte leicht den Kopf.

»Unfassbar! Da hat man eine Reporterin beschäftigt, die auf einer Goldgrube sitzt, und sie weiß nichts davon! Instinkt, Schätzchen, du brauchst besseren Instinkt!«

Schuldbewusst zupfte Louise an ihrem Ärmel.

»Vielleicht sollte ich häufiger einen Blick in das Magazin werfen«, schoss es ihr durch den Kopf.

Wie wild tippte Karen auf die Tastatur ihres Laptops ein, bis sich ihr Gesicht erhellte. Sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte.

»Da!«

Triumphierend drehte sie das Notebook herum, damit Louise den Bildschirm sah.

Zwischen blinkenden Pop-ups war ein Foto von einer Jacht.

An Deck stand ein großer, schlanker Mann in einem weißen Hemd, der damit beschäftigt war, zu telefonieren. Neben ihm rekelte sich eine blonde Modelschönheit im Bikini. Die Qualität des Bildes war unterirdisch, wie Fotos von Paparazzi es im Regelfall immer waren. Dennoch erkannte Louise den Mann sofort. Sie hatte ihn vor wenigen Stunden im Büro des Notars getroffen.

»Verlobung unter Palmen: Finanzgenie Rick Wyndham und Bloggerin Nora Paxton in Love!«

Laut las Louise die Überschrift vor.

»Finanzgenie«, echote es in ihrem Kopf, und sie unterdrückte ein abschätziges Kichern, »ja, so siehst du auch aus.«

Karen stand auf. In einem Satz sprang sie um ihren Schreibtisch herum.

»Weißt du, was? Das wird deine Story!«

»Äh, was genau?«

Louise schaute ihre Chefin an, dabei musste sie den Kopf senken, denn Karen ging ihr nur bis zur Brust. Sie mochte es nicht, wenn sie so nah vor ihr stand, es gab ihr das Gefühl ein tollpatschiger Riese zu sein.

»Na, Rick Wyndham ist jetzt deine Story. Wie ist er drauf? Wann wird er Nora heiraten? Gibt es irgendwelche dunklen Geheimnisse? Wie war sein Verhältnis zu seinem Vater?«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Was mache ich mit dem Pflanzenartikel?«

Der bloße Gedanke bereitete ihr Unbehagen. Wyndham war ein Idiot, keine Frage, aber im Gegensatz zu Karen fühlte sich Louise an journalistische Standards gebunden.

»Vergiss die Pflanzen. Ehrlich, ich war von Anfang an der Meinung gewesen, dass es sich dabei um ein langweiliges Thema handelt. Ein Zeilenfüller, nichts weiter. Aber Rick Wyndham, das ist es, was unsere Leserinnen interessiert.«

Mit einer Hand zeichnete sie imaginäre Worte in die Luft.

»Ich kann es förmlich schon vor mir lesen, Schätzchen. Ein begehrter Junggeselle, reich und erfolgreich, auf den Spuren seines geliebten Vaters, dessen letzten Wunsch er ihm erfüllen will. Und am Ende wartet seine große Liebe auf ihn. Diese Geschichte hat alles, was wir bei Women’s Comfort benötigen. Tragik, Liebe, Sex.«

»Sex? Warum sollte ich mit ihm über sein Sexleben sprechen?« »Warum soll ich überhaupt mit ihm über irgendwas sprechen?«, fragte sich Louise, behielt es jedoch für sich.

»Klar doch, jeder spricht über Sex. Damit werden wir unsere Auflage durch die Decke gehen lassen! Aufgepasst, Welt! Women’s Comfort übernimmt von jetzt an!«

Karen hatte ihre winzigen Hände um Louises Arme gelegt und kniff eifrig zu. Für so eine kleine Person hatte sie eine erstaunliche Kraft, und Louise unterdrückte mit Mühe einen Schmerzensschrei.

»Also gibst du mir frei, wenn ich dir eine Story über Rick Wyndham liefere?«

Karen schüttelte so heftig mit dem Kopf, dass ihre Haare durch die Luft schwangen, wie in einer Shampoowerbung.

»Nein, ich gebe dir nicht frei, du wirst schließlich arbeiten. Und ich erwarte nicht weniger als vier Seiten Text. Plus Fotos, natürlich! Damit machen wir groß auf! Ganz groß!«

Louise presste die Lippen zusammen und nickte leicht. Sie wusste nicht, was sie von diesem Deal halten sollte, in den sie eingewilligt hatte. Allerdings wollte sie Karen nicht vor den Kopf stoßen, denn sie erhielt Archies Geld nur dann, wenn das Finanzgenie keinen Mist baute. So wie sie Wyndham einschätzte, war er unberechenbar. Dementsprechend empfand sie es als unklug, den Job bei der Zeitschrift zu riskieren.

»Einverstanden,« hörte sie sich sagen, und ihre Chefin klatschte, aufgeregt auf und ab hüpfend, in die Hände.

3

»Du musst nach Mallorca? Aber wir wollten auf die Malediven fliegen.«

Schmollend schob Nora die Unterlippe vor.

»Ich weiß«, entgegnete Rick, »aber mein Vater hatte offensichtlich ganz andere Pläne für mich.«

»Ricky, du hast es mir aber versprochen. Ich brauche dich für die Insta-Story.«

Rick wusste mit den Begriffen, die Nora den ganzen Tag über von sich gab, nichts anzufangen. Ständig lag sie ihm mit der sogenannten ›Insta-Story‹ in den Ohren, aber er hatte keinen blassen Schimmer, was das war.

»Flieg doch einfach schon mal vor, und ich komme dann in einer Woche nach.«

»Aber ich habe schon überall gepostet, dass wir gemeinsam hinfliegen. Wie sieht das denn jetzt aus?«

»Wie soll es schon aussehen? So, als würdest du allein fliegen und ich würde nachkommen.«

Nora verdrehte die Augen und legte den Kopf schief. Sie fügte sich perfekt ein in den lichtdurchfluteten Wohnraum mit seinen strahlend weißen Möbeln. Mit ihrem weißen Hosenanzug, der hellen, fast durchsichtig schimmernden Haut und den blonden Haaren sah sie aus wie gemalt.

»Ich verstehe nicht, warum du nicht direkt mitkommen kannst. Dein Vater ist tot, seine Asche kannst du auch in zwei Wochen noch in den Atlantik kippen.«

»Mittelmeer.«

»Wie bitte?«

»Mallorca liegt nicht im Atlantik. Es liegt im Mittelmeer.«

»Das ist Mansplaining, Darling!«

»Nein, das ist Geografie.«

Rick mochte vieles an Nora, ihre Allgemeinbildung brachte ihn aber des Öfteren an den Rand der Verzweiflung.

»Ich habe dir außerdem doch schon erklärt, dass ich nur Vaters Geld erbe, wenn ich diese Reise jetzt antrete. Glaubst du etwa, dass ich mich darum reiße?«

Rick ließ sich auf die weiße Coach fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Dieser Tag war zu viel für ihn.

»Aber das kann er doch nicht machen.« Wenn Nora maulte, klang sie wie eine Katze, die um Futter bettelte. »Ich bin sicher, dass es nicht legal ist, was er von dir verlangt. Du solltest das dringend von einem Anwalt prüfen lassen.«

Sie setzte sich zu Rick und strich ihm sanft über den Rücken. Durch den dünnen Stoff seines Seidenhemdes spürte er ihre kühlen Finger.

»Nora, glaubst du etwa, das wäre nicht das Erste gewesen, was ich getan habe? Es ist nichts zu machen, das Erbe gilt als abgewiesen, wenn ich seinen bescheuerten Plan nicht befolge.«

»Und was wird aus unserer Hochzeit am Strand? Ich habe den Fotografen schon gebucht.«

Rick hob den Kopf und sah seiner Verlobten in die Augen.

»In einer Woche besitzen wir dreißig Millionen Pfund. Ich bin mir sicher, dass wir dem Fotografen ein Ausfallhonorar zahlen und umbuchen können.«

Nora seufzte.

»Da hast du recht. Egal, ich werde dich begleiten. Auf Mallorca wird es bestimmt auch den ein oder anderen Spot für ein Foto geben.«

Rick schürzte die Lippen.

»Ja, weißt du, da wäre noch etwas. Du kannst nicht mitkommen.«

»Wie meinst du das? Dein Vater will, dass du allein dorthin fliegst?«

»Nicht ganz, ich soll eine Frau mitnehmen. Sie war seine Freundin oder was auch immer. Und wir fliegen auch nicht direkt nach Mallorca, sondern reisen vorher durch halb Europa.«

Nora zog ihren Arm zurück und rückte ein Stück zur Seite.

»Was denn für eine Frau?«

»Keine Ahnung, sie und mein Vater hatten irgendeine abartige Beziehung. Er hat sie ebenfalls in seinem Testament bedacht, und sie soll aufpassen, dass ich mich auch wirklich an die Anweisungen halte. Sogar nach seinem Tod vertraut er mir nicht, ist das zu fassen?«

Bitter lachte Rick auf.

»Wie sieht sie aus?«

»Gewöhnlich, absolut gewöhnlich.« Er zuckte die Achseln. »Glaube mir, ich hätte viel lieber dich an meiner Seite als diese vulgäre Person.«

Pünktlich um zehn Uhr zwanzig trafen Louise und Rick fast zeitgleich am Bahnhof King’s Cross im Herzen der Londoner City ein. Sie hatte den schlaksigen Mann mit den rotblonden Locken sofort erkannt, der mit einem kleinen Trolley durch die Menschenmenge huschte. Um nicht mit ihm reden zu müssen, verringerte sie ihr Tempo und schlenderte langsam in Richtung des Treffpunktes.

Sie würde sich früh genug mit ihm unterhalten, aber in diesem Moment benötigte sie ihre Ruhe vor den Kommentaren des Aristokratensohns. In einer Ecke erspähte sie Martin Bigsby. Der Notar schaute abwechselnd ungeduldig auf seine Uhr und suchend in die Menge.

So wie Louise ihren verstorbenen Nachbarn kannte, bekam auch Bigsby sein Honorar erst zum Schluss.

Sie stellte sich vor, dass das finanzielle Risiko des Notars einzig an Wyndham Junior lag. Einem Menschen, der mit seinem Vater schon vor ewigen Zeiten abgeschlossen hatte.

Rick erreichte Bigsby als Erster. Zur Begrüßung nickte er ihm stumm zu.

Sie umklammerte den Griff ihres Koffers fester. Alles in ihr hätte am liebsten sofort wieder kehrtgemacht.

»Zweihunderttausend Pfund, Louise, zweihunderttausend Pfund!«

Wie ein Mantra murmelte sie diese Worte vor sich hin.

Kurz schloss sie die Augen. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Als sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, ging sie auf die beiden Männer zu. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Guten Morgen!«

Der beleibte Notar strahlte sie an. Wyndham Junior blinzelte kurz in ihre Richtung und musterte sie mit einem geringschätzigen Blick von oben bis unten, bevor er sich an Bigsby wandte.

»Also los. Wir sind hier, Mr Bigsby. Jetzt lassen Sie die Katze aus dem Sack. Wo schickt mich mein seniler, alter Vater hin?«

»Nicht so schnell, Mr Wyndham.«

Der Notar bückte sich und hob eine weinrote Baumwolltasche hoch, auf der mit fetten weißen Buchstaben 7h3 B17ch! geschrieben stand. Louise biss sich auf die Lippen. Ihr Ex Frank hatte die meiste Zeit des Tages damit verbracht, im Internet zu surfen. Sichere Passwörter bestanden seiner Meinung nach immer aus Zahlen, Groß- und Kleinbuchstaben. »Am besten suchst du dir ein Wort aus, an das du dich leicht erinnern kannst. Dann ist die Gefahr geringer, dass du es im Laufe der Zeit vergisst. Dann wandelst du einige Buchstaben in Zahlen um. Zum Beispiel schreibst du 3 anstatt E. Auf diese Weise merkst du dir sichere Passwörter spielend.« Das hatte er ihr oft erklärt.

Inzwischen war ihre Wut auf Frank grenzenlos. Diesen Tipp aber hatte sie weiterhin beherzigt. Das Passwort für ihr E-Mail-Programm lautete seither P47h371cL053r – Pathetic Loser, erbärmlicher Verlierer. Somit fiel es ihr nicht schwer, die Ansammlung von Ziffern und Buchstaben auf der Tasche zu entziffern: The Bitch!

Louise bezweifelte, dass dem Notar die Bedeutung bewusst war. Feierlich überreichte er die Tasche an Rick.

»Bitte, Mr Wyndham. Hier sind die Überreste Ihres Vaters.«

Mit Widerwillen im Blick nahm Rick den Beutel an sich und öffnete ihn.

»Eine Urne«, kommentierte er mit einem Hauch Enttäuschung in der Stimme und zog die Lippen kraus.

Louise verdrehte die Augen.

»Was haben Sie denn erwartet? Dass Archie wie eine Origami-Serviette gefaltet wurde, damit er in den Beutel passt? Als Schwan zum Beispiel?«

Rick zog scharf die Luft ein, doch bevor er etwas erwidern konnte, sprang Bigsby dazwischen.

»Der erste Punkt Ihrer Reise wird Brighton sein. Hier sind Ihre Tickets. Vor Ort werden Sie im Firefly Inn absteigen. Ihr Vater hat verfügt, dass Sie von dort aus Annie’s Café aufsuchen.«

Der Notar reichte ihnen die Fahrkarten.

»Firefly Inn, Annie’s Café. Verstanden«, wiederholte Louise eifrig nickend. Kurz stutzte sie. »Was genau war noch mal meine Rolle bei dem Ganzen?«

»Sie bleiben an Mr Wyndhams Seite, bis er die Aufgabe abgeschlossen hat. Sie dokumentieren. Wie Sie das machen, da hat Ihnen Mr Wyndham Senior freie Hand gelassen. Bilder, ein Video, ein schriftlicher Bericht; was immer Sie wünschen. Stellen Sie nur sicher, dass die Regeln nicht verletzt werden.«

Unauffällig deutete er auf Rick, der damit beschäftigt war, die Urne mit Archies Asche gründlich zu inspizieren. Louise hatte nicht den Eindruck, dass er dem Gespräch folgte.

»Welche Regeln?«, wollte sie von dem Notar wissen.

»Nun, die sind schnell erklärt. Erstens, die Art der Verkehrsmittel ist von Sir Wyndham genau vorgegeben worden. Abweichungen davon oder von der Route sind nicht erlaubt.«

Louise zückte ihr buntes Notizbuch. Hastig schrieb sie alles auf.

»Zweitens, die Unterkunft wird nicht geändert. Egal aus welchen Gründen. Hier gibt es klare Anweisungen. Drittens besuchen Sie alle Menschen, die ich Ihnen im Laufe der Reise nenne, persönlich. Ausnahmslos! Viertens ist der Zeitplan einzuhalten. Wenn Sie nicht am Mittwoch um 22 Uhr am Hafen in Barcelona auftauchen, gilt die Mission als gescheitert.«

Louise und Rick schauten ihn wortlos an.

»Keine Sorge! Ihr Vater hat alles perfekt geplant. Es wird nichts schieflaufen.« Bigsby strahlte über das ganze Gesicht. »Und jetzt ist es an der Zeit, dass ich Ihnen eine gute Reise wünsche. Viel Erfolg, wir werden uns bald wiedersehen. Beeilen Sie sich, denn Ihr Zug verlässt den Bahnhof in genau zehn Minuten.«

Der Notar dackelte davon. Louise schaute ihm nach, bis er in der Menge verschwand.

»Sie wollen, dass ich mich hier hinsetze? Soll das ein Witz sein?«

Kaum hatten Louise und der Millionenerbe in spe den Zug betreten, ging sie los, die Beschwerde-Arie. Sie rollte mit den Augen. Zu voll, zu übelriechend, zu dreckig. Sie hörte nur mit halbem Ohr hin.

»Was passt Ihnen denn jetzt schon wieder nicht?«

»Sehen Sie das etwa nicht?«

Mit weit aufgerissenen Augen deutete er auf die Sitze vor ihnen. Egal, wie lange sie auf das starrte, worauf Rick zeigte, sie hatte keinen blassen Schimmer, was er meinte. Alles, was sie sah, waren zwei gepolsterte Sitzflächen.

»Ich befürchte, ich benötige etwas mehr Information.«

»Na, da! Da!« Rick nahm jetzt beide Hände zu Hilfe, um ihr sein Anliegen zu verdeutlichen. Verständlicher wurde es für Louise nicht.

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn an. Hinter den beiden vergrößerte sich die Schlange von ungeduldigen Passagieren, die zu ihren Plätzen drängten, aber nicht vorbeikamen. Von dem missmutigen Gemurmel um ihn herum ließ sich Rick nicht stören.

»Wieso sehen Sie das nicht? In welcher Scheune sind Sie denn großgezogen worden?«

Genervt stemmte Louise einen Arm in die Hüfte.

»Entweder setzen Sie sich jetzt, oder Sie bleiben stehen. Wofür Sie sich entscheiden, ist mir gleichgültig. Aber lassen Sie mich mit Ihren Allüren in Frieden, und gehen Sie beiseite. Andere Menschen möchten vorbei, die haben weniger Verständnis für Ihre Befindlichkeiten als ich! Grundgütiger!«

Das Blut pumpte sich seinen Weg durch Louises Halsschlagader. Sie formte ihre Hände zu Fäusten. Tief grub sie die Fingernägel in die Handfläche. Es erforderte ihre gesamte Willenskraft, um den eingebildeten Schnösel nicht lauthals anzubrüllen. Zu ihrem Erstaunen setzte er sich prompt hin.

Seine Augen wurden groß, und er starrte sie mit einer Mischung aus Überraschung und Entrüstung an. Innerlich mutmaßte sie, dass nicht allzu viele Menschen bisher den Mumm hatten, sich gegen ihn aufzulehnen.

Jetzt saß er. Am Fenster, wo sonst? Auf Louises Lieblingsplatz. Sie liebte es, nach draußen zu schauen und die Landschaft vorbeiziehen zu sehen. Durch die Glasscheibe sah die Welt so friedlich aus. Von der harten Realität war nichts zu erkennen. Für ein paar Stunden war sie frei.

Doch sie war froh, dass ihr unfreiwilliger Reisepartner für einen Augenblick die Klappe hielt. Dies zu zerstören, war kein Fensterplatz der Welt wert.

Seufzend ließ sie sich auf dem Sitz neben ihm nieder.

Die Stille hielt nicht lang an. Der Zug hatte noch nicht den Bahnhof verlassen, da beschwerte er sich weiter. Über den Zustand der Sitze, den Zug und alle Mitreisenden. Doch nuschelte er seinen Unmut jetzt leise vor sich hin. Zwischendurch schnappte sie einzelne Wörter auf.

»Viehtransporter … noch nie so anspruchslos gereist … Bazillenschleuder …«

Ende der Leseprobe