Verschaukelte Liebe - Barbara Schlüter - E-Book

Verschaukelte Liebe E-Book

Barbara Schlüter

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Beschreibung

Hannover im Herbst 1891. Die eigensinnige Elsa Martin, Ziehtochter in der Architektenfamilie von Elßtorff, ist verliebt. Allerdings stehen dem Glück der Zwanzigjährigen zahlreiche Hindernisse im Weg. Dass auch andere junge Frauen große Probleme bewältigen müssen, erfährt sie hautnah durch Kontakte zum Magdalenium, dem Asyl für gefallene Mädchen. Eine exklusive, ausgedehnte Lustreise zur See in den Orient im Januar 1892 verspricht erholsame und abwechslungsreiche Wochen. Familie von Elßtorff ist mit von der Partie, aber Schmuckdiebstähle, gefährliche Unfälle bei einem Mitglied ihrer Reisegruppe, vor allem aber Elsas ureigene heikle Situation, lässt die gesamte Familie nicht zur Ruhe kommen. Der vierte spannende Gesellschaftsroman um die hannoversche Architektenfamilie – mit vielen historischen Details zu den damals modernen Orientreisen!

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Impressum
Autorin
Hinweis
Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt
Cord: eine Liebe mit Hindernissen
Ein klärendes Gespräch
Sophie von Elßtorff und der Magdalenen-Verein
Ein aufgeregter Großvater
Der Familienrat
Neue Köchin dringend gesucht
Elsa und Cord
Wilhelm Jacob trifft Siegmund Seligmann
Besuch im Magdalenium
Die neue Köchin Bertha
Wilhelm Jacob erkrankt schwer
Ungewöhnliche Vorschläge
Sophie und Edelgarde
Weitere Reisevorbereitungen
In Hannover
Kleiderfragen
Siegmund Seligmann spricht mit Ehepaar Breuer
Amor vincit omnia – besiegt Liebe alles?
Bertha und Elsa
Bertha in Not
Die Schauspielerin Roberta Stein
Eine Abtreibung
Streit unter Liebenden
Ein offizieller Nachmittagskaffee
Im Advent
Das Weihnachtsdiner
Die Reise zur See
Die Reise beginnt
Der neue Schiffsjunge geht an Bord
Die ›Augusta Victoria‹ legt ab
Erste Eindrücke und Bestimmungen für das Bordleben
Zur geflissentlichen Beachtung!
Eine unerwartete Begegnung – auch für Perrita
Das erste Diner an Bord
Wer ist an Bord?
Southampton und ein Mops
Montag, 25. Januar 1892 – Seetag
Dienstag, 26. Januar 1892 – Entlang der portugiesischen Küste
Mittwoch, 27. Januar 1892 – Kaisers Geburtstag
Donnerstag, 28. Januar 1892 - Gibraltar
Freitag, 29. Januar und Samstag 30. Januar 1892 – auf See
Genüssliche Tage auf See
Zwei Todesfälle
Sonntag, 31. Januar 1892 – Genua
Montag, 1. Februar 1892 – auf See
Dienstag, 2. Februar 1892 – auf See
Mittwoch, 3. Februar 1892 – weiterhin auf See
Donnerstag, 4. Februar 1892 – Alexandria und Kairo
Freitag, 5. Februar 1892 – Kairo
Samstag, 6. Februar 1892 – Moscheen, Gräber und Bazare
Sonntag, 7. Februar 1892 – Pyramiden
Eine koptische Hochzeit
Dienstag, 9. Februar 1892 – Rückkehr nach Alexandria
Weitere Reiseplanungen
Mittwoch, 10. Februar 1892 – Jaffa
Donnerstag, 11. Februar – Samstag, 13. Februar 1892 – Jaffa
Sonntag, 14. Februar 1892 – Jaffa
Montag, 15. Februar 1892 – Beirut
Dienstag, 16. Februar 1892 – Beirut
Mittwoch, 17. Februar 1892 – Beirut
Donnerstag, 18. Februar 1892 – Beirut
Freitag, 19. Februar 1892 – Beirut
Edelgarde macht eine schockierende Entdeckung
Opalinski alias …
Samstag, 20. Februar 1892 – Auf See
Über die Inneneinrichtung von Passagierschiffen
Sonntag, 21. Februar 1892 – Auf See
Schlechte Nachrichten
Montag, 22. Februar 1892 – Ankunft in Konstantinopel
Dienstag, 23. Februar 1892 – Konstantinopel
Freitag, 26. Februar 1892 – ›Augusta Victoria‹ am Wendepunkt der Reise
Epilog 1
Epilog 2
Epilog 3
Die wichtigsten handelnden Personen
Literaturhinweise
Historisches und Erdachtes
Danksagung
Weitere Bücher von Barbara Schlüter

 

 

 

 

Barbara Schlüter

 

 

Verschaukelte Liebe

 

 

Gesellschaftsroman um 1891/92

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ELVEA

 

Impressum

 

Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden.

Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder gestorbenen Personen sind rein zufällig.

 

 

www.elveaverlag.de

Kontakt: [email protected]

 

© ELVEA 2021

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf, auch teilweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

weitergegeben werden.

 

Autorin: Barbara Schlüter

 

Bildquelle/Titelbild: mit freundlicher Genehmigung des Archivs der HAPAG

 

Covergestaltung/Grafik: ELVEA

 

Layout: Uwe Köhl

 

Projektleitung

BOOKUNIT

www.bookunit.de

 

 

 

Autorin

 

Barbara Schlüter ist seit 36 Jahren selbständige Kommunikationstrainerin, Coach und Managementberaterin. Als wissenschaftliche Assistentin (damals Barbara Kroemer) am Historischen Seminar der Universität Hannover bot sie als Erste Veranstaltungen zum Thema ›Frauen in der Geschichte‹ an. Mit ihrem Sachbuch Rhetorik für Frauen (1987) hat sie Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet.

Sie lebt nach einigen Jahren im Rheinland seit 2001 wieder in ihrer Heimatstadt Hannover und auf La Palma.

Ihre historische Romanreihe um 1890 Vergiftete Liebe, Verheimlichte Liebe, Gerächter Zorn mit Detektivin Elsa besteht aus jeweils in sich abgeschlossenen Folgen. Außerdem ist Elsa aktiv in der Hannover Erzählung (1889) Wenn der Kaiser kommt, ist Feiertag in Ausgerechnet zum Feiertag – historische Mord(s)geschichten und in Ein eiskaltes Händchen (Hannover 1888/89) in: Joachim Anlauf, Peter Gerdes (Hrsg.) Tod unterm Schwanz, Anthologie zur Criminale 2020 in Hannover, Gmeiner Verlag.

www.dr.b-schlueter.de

 

Hinweis

Dieser Roman führt die historischen Gesellschaftsromane Vergiftete Liebe, Verheimlichte Liebe und Gerächter Zorn fort, ist aber wie diese in sich abgeschlossen. Sie können daher in jede dieser Zeitreisen unabhängig voneinander einsteigen …

Wenn Sie eine chronologische Entstehungsgeschichte bevorzugen und die Entwicklung der Hauptpersonen mitverfolgen möchten, empfehle ich Ihnen zu beginnen mit meinem Beitrag ›Ein eiskaltes Händchen‹ in der Anthologie Tod unterm Schwanz (Gmeiner Verlag) zur leider ausgefallenen Criminale 2020 in Hannover. Um dann mit ›Wenn der Kaiser kommt, ist Feiertag‹ (Hannover 1889) fortzufahren. Das ist eine meiner fünf Erzählungen in Ausgerechnet zum Feiertag – historische Mord(s)geschichten.

Barbara Schlüter

Hannover und La Palma, im Sommer 2021

 

Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt

Hannover, Königstraße im September 1891

In der Königstrasse angekommen, begab sich Elsa sofort in ihre Zimmer und war froh, dass sie außer dem Dienstmädchen niemand gesehen hatte. Ihre Wangen glühten. Während der ganzen Fahrt in der Droschke 1. Klasse von Linden heimwärts waren ihre Gedanken Karussell gefahren – sie war heillos durcheinander.

Nun saß sie in ihrem kleinen, mit Louis Philippe Möbeln eingerichteten Salon und schwebte voller Seligkeit auf Wolke sieben. Mit geschlossenen Augen und einem wohligen Seufzer erinnerte sie sich nochmals an den immer leidenschaftlicher werdenden Kuss, den sie überraschender Weise mit Cord Breuer in der Künstlerklause von Großvaters Möbelfabrik in Linden ausgetauscht hatte. Das hätte noch ewig dauern können! Ein Poltern hatte diese verführerisch nach mehr verlangende Situation leider abrupt beendet. Zum Glück hatte ihr dazukommender Großpapa nichts bemerkt. Allerdings hatte ihr wiederkehrender Verstand blitzschnell vermeldet, welche zahlreichen Schwierigkeiten einer Verbindung mit Cord im Wege standen, sodass sie mit dröhnendem Kopf doch tatsächlich umgekippt war. Aus ihrer kurzen Ohnmacht war sie aber schnell erwacht und hatte eine kleine Unpässlichkeit vorgetäuscht.

Wahrscheinlich stimmt etwas mit mir nicht, sinnierte sie, da ich Männer offenbar körperlich anziehend finde. Das habe ich schon damals bei meinem Flirt mit den flotten Ferdi festgestellt. Und das ziemt sich nicht für eine höhere Tochter, wo doch allgemein behauptet wird, dass Frauen sich nur ihrem Gatten zuliebe hingeben, um Kinder zu bekommen. Aber jetzt mit Cord ist es etwas völlig anderes als mit dem blasierten Offizier. Dennoch verwirrt mich, dass mein langjähriger Jugendfreund, mit dem ich schon so manches detektivische Abenteuer geteilt habe, plötzlich solche Gefühle in mir auslöst.

Sie holte tief Luft und analysierte weiter: Ja, Cord bin ich wirklich gewogen, schätze ihn und vertraue ihm. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Das zeigte sich auch bei unserem kurzen Gespräch unter vier Augen, als wir auf die Droschke gewartet haben, die mich in die Königstraße zu meinen Zieheltern, den von Elßtorffs, bringen sollte.

»Elsa, mein Elschen, mach dir keine Sorgen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben. Und jetzt kann ich es dir ja sagen: Ich verehre dich schon lange – du jedoch hast in mir immer nur den guten Freund gesehen, mit dem du so manches Abenteuer bestanden hast.«

»Ja Cord, das stimmt, aber jetzt, jetzt ist irgendwie alles anders.«

»Wir müssen uns unbedingt bald ungestört unter vier Augen sehen, hier könnte dein Großvater etwas bemerken, der glücklicherweise vorhin nichts mitbekommen hat.«

»Wobei Großpapa große Stücke auf dich hält!«

»Ich glaube, Wilhelm Jacob mag mich und er fördert mich – aber ob ich ihm als Ehemann seiner Enkelin willkommen wäre, das steht auf einem ganz anderen Blatt.«

»War das etwa ein Heiratsantrag, Cord?«

»Ja, zumindest die Verkündung meiner großen Zuneigung sowie meiner ernsten Absichten. Jedenfalls, wenn du einige Jahre mit der Heirat warten kannst und willst.«

Elsa, wohl wissend, dass sie möglicherweise beobachtet wurden, drückte ihm unauffällig fest die Hand.

»Jawohl, ich will, aber bis dahin fließt noch reichlich Wasser die Leine herunter«, meinte sie nachdenklich.

»Eben. Denn es wird mindestens vier oder fünf Jahre dauern, bis ich eine Frau ernähren kann. Und weder in deiner noch in meiner Familie sind Begeisterungsstürme zu erwarten. Am besten wird es sein, unsere Liebe vorläufig geheim zu halten.«

»Du hast Recht. Ich werde mich mit aller Kraft dem Entwerfen und Zeichnen von Möbeln widmen. Dann kann ich einiges zum Nutzen von Großvaters Möbelfabrik wie auch zu unserer Haushaltsführung beitragen.« Sie sah ihn strahlend an und stutzte. »Oder würde dich das stören?«

Cord schluckte – er wollte der Zukunft nicht zu weit vorgreifen. Schließlich hatte Wilhelm Jacob ihn, den mittellosen Sohn eines Volksschullehrers, protegiert. Es schien ungewöhnlich, aber er konnte sich gut vorstellen, eines Tages mit Elsa gemeinsam in der Möbelfabrik ›Solida-Comforta‹ zu wirken.

Nachdenklich meinte er. »Warum nicht? Du bist hervorragend im Entwerfen und hast Freude daran. Und deine Zwillingsschwester Emilie kann vortrefflich rechnen. In einem erfolgreichen Handwerksbetrieb arbeiten oft Familienmitglieder und vor allem Frau und Mann Hand in Hand. Das würde ebenfalls in einer Möbelfabrik funktionieren. Und wer sollte das besser hinkriegen als wir beide?«

»Für solche Perspektiven lohnt es sich, zu warten.«

Das war sozusagen das vorläufige Schlusswort gewesen, denn in diesem Moment fuhr die Droschke vor.

»Wir sehen uns sobald als möglich, Cord«, hatte Elsa unnötigerweise geflüstert.

Nachdem sie sich dieses wichtige Gespräch vergegenwärtigt hatte, ergriff sie an ihrem Louis Philippe-Sekretär entschlossen Papier und Feder und begann ihre abwägenden Gedanken schriftlich zu fixieren:

 

Pro:

Vertrauen zu Cord

Bewährte Freundschaft

Gemeinsame Interessen an Leitung der Möbelfabrik

Küsst hinreißend!

 

Contra:

Beginnt gerade erst Studium

Vater Volksschullehrer und strammer Sozialdemokrat

Keinerlei Vermögen

Unter Stand

Sie legte den Federhalter, den sie schwungvoll in das Tintenfass der Firma Günther Wagner getaucht hatte, beiseite. Unter unserem gesellschaftlichen Stand – nun ja. Die unsägliche Tante Edelgarde, Gräfin von Potocki, würde sich gewiss mokieren. Gerade auch über Cords Vater, den roten Breuer. Aber andererseits, sinnierte sie, sind Emilie und ich unehelich geborene Töchter von Ernestine Jacob und Friedrich Graf von und zu Hohenstein, der im Deutsch-Französischen Krieg fiel. Ob er wegen des enormen Standesunterschiedes Ernestine wirklich geheiratet hätte, sei dahingestellt. Sehr rosig sind unsere Heiratsaussichten nicht, zumal nachdem die Münchener Großmutter so plötzlich verstarb, dass sie uns nicht viel hinterlassen, geschweige denn adoptieren konnte.

Sie seufzte tief und überlegte: Aber es wird nicht leicht sein, solange mit allem zu warten, wonach ich mich sehne. Allerdings müssen sich zahlreiche andere Paare ebenso gedulden, bis sie heiraten können. Und Cord ist der richtige Mann für mich.

Sie schob den Bogen Papier gefaltet in das Geheimfach des Sekretärs unter dem rechten Türchen der aufgesetzten Balustrade, gerade rechtzeitig, bevor ihre Zwillingsschwester eintrat.

 

Cord: eine Liebe mit Hindernissen

Bei Familie Breuer in der Falkenstraße in Linden

Luise Breuer beobachtete ihren Sohn unauffällig von der Seite. Mit leuchtenden Augen und einem seligen Lächeln war er nach Hause gekommen. »Guten Tag, liebe Mutter«, hatte er sie ungewohnt stürmisch begrüßt und ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht. Dabei war er mit Zärtlichkeitsbezeugungen in den letzten Jahren eher sparsam geworden. Er ist verliebt, war ihr erster Gedanke.

»Du siehst aus, als wolltest du die ganze Welt umarmen, mein Sohn! Ist etwas Erfreuliches passiert?«

Da Cord nun errötete, bestärkte sich ihr Verdacht.

»Eigentlich nicht, ich war in der Möbelfabrik von Wilhelm Jacob und habe beim Verladen einiger Schränke in einen Güterwaggon auf dem Bahnanschluss geholfen.«

»Das ist ja kaum ein Anlass, um zu strahlen wie ein Honigkuchenpferd.«

Cord wand sich vor Verlegenheit.

»Nun, es ist doch erfreulich, dass ich auch dort etwas dazuverdienen kann für das Studium – nicht nur in der Continental-Caoutchouc AG, wo Direktor Seligmann mir nach meinem Praktikum wohlgesonnen ist, und im Architektur-Bureau von Maximilian von Elßtorff. Wir können schließlich jede zusätzliche Mark gebrauchen.«

Seine Mutter nickte, ging darauf aber nicht weiter ein.

»Apropos Möbelfabrik, war die von Elßtorffsche Ziehtochter Elsa ebenfalls dort? Sie hat doch so ein großes Talent für den Möbelentwurf.«

»Ja, mit ihr habe ich auch gesprochen.« Cord wich dem fragenden Blick seiner Mutter absichtlich aus.

Was nichts half, denn Luise war sich jetzt sicher – ihr Sohn erschien ihr bereits länger in seine Freundin verliebt, auch wenn ihm das bisher wohl nicht bewusst gewesen war – und Elsa schon mal gar nicht. Aber nun musste etwas geschehen sein. Sie entgegnete sachlich: »Eine ungewöhnliche junge Dame, diese Elsa. Und es ist famos, wenn du mehrere Möglichkeiten hast, etwas dazu zu verdienen. Außerdem profitierst du bei allen dreien, was deine technischen Kenntnisse betrifft.«

Inzwischen trommelte Cord mit den Fingern auf die blankgescheuerte Platte des Küchentisches. Seine gerunzelte Stirn verriet, dass er mit seinen Gedanken gewiss nicht in der blitzsauberen und gemütlichen Breuerschen Wohnküche weilte.

»Hör bitte auf, so ungeduldig zu Klopfen«, bat Luise. »Das Essen ist noch nicht so weit und dein Vater kommt später. Auch wenn du hungrig bist, brauchst du noch etwas Geduld.«

»Geduld«, knurrte Cord, »ja, davon braucht man als junger Mann eine ganze Menge. Es dauert ja ewig, bis man seine Ausbildung fertig hat und endlich auf eigenen Füßen steht und Geld verdient.«

Da er an Elsa dachte, entfuhr ihm ein kräftiger Seufzer – und Luise sah ihren Verdacht erneut bestätigt.

Der Volksschullehrer Hannes Breuer, der in diesem Moment eingetreten war, gab seinem Sohn sofort contra. »Du solltest froh und dankbar sein, dass du studieren darfst und nicht mit spätestens 14 Jahren anfangen musstest zu arbeiten, wie die meisten Lindener Butjer hier. Außerdem stehen dir bereits jetzt Perspektiven bei der Continentalen oder in der Jacobschen Möbelfabrik offen, um die andere dich beneiden. Statt zu maulen, kannst du stolz und glücklich sein.«

Cord zuckte zusammen, schließlich hatten seine Eltern sich krummgelegt, um ihm diese Möglichkeiten zu eröffnen. Von dem Salär eines Lindener Volksschullehrers, der zudem noch einiges an Spenden für die Armenpflege abzwackte, ließen sich keine großen Sprünge machen.

Seine Mutter hielt es für angebracht, das Thema zu wechseln. »Ihr könnt euch die Hände waschen, ich bringe gleich das Essen auf den Tisch. Es gibt einen leckeren Linseneintopf mit Backpflaumen in Wurstbrühe gekocht, die ich extra von der Fleischwaren-Fabrik von Emil Vollrath in der Calenbergerstraße geholt habe.«

Hannes lächelte erfreut, denn es handelte sich um eines seiner Leibgerichte. Es wäre ihm sicherlich lieber gewesen, wenn der Eintopf auch noch die vorzüglichen Vollrathschen Siedewürstchen enthalten hätte, die er sich ebenso wie Rostbratwürstchen traditionell immer mit seiner Familie auf dem Schützenfest gönnte. Aber er war froh, dass seine Frau, die aus einem zur Sparsamkeit verdammten Pfarrershaushalt stammte, mit dem schmalen Kostgeld so leckere Gerichte auf den Tisch brachte.

Besonders stolz war Hannes darauf, dass sein Sohn an der ›Königlich Technischen Hochschule Hannover‹ studieren würde, die sich seit gut zehn Jahren im ehemaligen Welfenschloss befand. Sein geheimer Traum war, dass Cord auch einen Doktortitel erringen sollte, was allerdings bisher in Hannover nicht möglich war. Aber immerhin hatte eine grundlegend neue Verfassung der Hochschule die Organisation in fünf Fachabteilungen gebracht: Architektur, Bauingenieurwesen, Maschineningenieurwesen, Chemie und Elektrotechnik sowie Allgemeine Wissenschaften. Die Anzahl der Lehrfächer nahm beständig zu, entsprechend wuchs der Lehrkörper.

Hannes wandte sich seinem Sohn zu. »Du hast das Glück, in einer Zeit von rasanten technischen Entwicklungen zu studieren. Die Ingenieurausbildung muss einerseits an die unmittelbaren praktischen Bedürfnisse der Industrie angepasst werden. Gleichzeitig ist durch die Akademisierung der Technischen Hochschulen eine Vertiefung der theoretisch-wissenschaftlichen Kenntnisse erforderlich.«

Cord nickte. »Ja, ich freue mich darauf. Sorge macht mir allerdings, dass die steigende Spezialisierung der vielen Fächer die Pflichtveranstaltungen auf bis zu 50 Wochenstunden ansteigen lässt. Da werde ich nebenbei kaum noch etwas verdienen können.«

»Eine Kartoffel nach der anderen, mein Sohn«, meinte Luise. »Erstens haben wir ja gespart und zweitens konnte ich von dem Geld, das du verdient hast, einiges abzweigen, das liegt auf der Sparkasse.«

Vater und Sohn wechselten einen erstaunten Blick.

Luise nickte stolz, klopfte Cord auf die Schulter und sagte: »Es ist dir immer leicht gefallen zu lernen, also wirst du dein Pensum schon schaffen und in den Semesterferien hier und da mit anpacken und etwas dazuverdienen.«

Hannes hob sein Glas Bier und prostete seiner Frau zu. »Luise, du bist ein Ausbund von Tüchtigkeit! Und deine Linsensuppe mundet wieder ganz ausgezeichnet.«

»Schmeckt ein wenig anders als sonst, aber lecker«, meinte Cord.

»Ja, das ist ein Rezept von unserer Lindener Diakonisse Karla.« Sie stockte und ihr traten Tränen in die Augen. »Ich vermisse sie sehr, sie war ein wunderbarer Mensch. Manchmal kann ich trotz ihres Abschiedsbriefes gar nicht glauben, dass sie uns für immer verlassen hat. Auch Marga fehlt sie sehr.«

Erst jetzt wurde es Cord schlagartig in vollem Ausmaß bewusst, welche Konsequenzen das von Elsa bewirkte Verschwinden der Diakonisse für deren Freundinnen hatte. Er verschluckte sich prompt an einer Backpflaume; sein Vater klopfte ihm kräftig auf den Rücken. Cord war froh, dass sein hochroter Kopf fälschlicherweise darauf zurückgeführt wurde.

»Man hat ja nur ihre Haube am Ufer der Ihme gefunden«, fuhr Luise fort. »Kein christliches Begräbnis, kein Abschied nehmen – das ist besonders schrecklich.«

Dass Elsa mich eingeweiht hat, wie sie die Diakonisse vor einem möglichen Zugriff der Polizei entzogen hat, verbindet uns noch mehr miteinander, überlegte Cord. Das ist ein großer Vertrauensbeweis und es erleichtert gewiss, wenn man so etwas mit einem geliebten Menschen teilen kann. Wie gern würde ich ihr das Geheimnis anvertrauen, das mich oft bedrückt und bis in die Träume verfolgt. Aber ich musste Vater auf die Bibel schwören, über die Ereignisse beim Besuch des Kaisers vor zwei Jahren striktes Stillschweigen zu bewahren. Selbst Mutter ahnt nichts davon. Unwillkürlich stöhnte er leise. Luise vermutete, dass er sich Sorgen um die Anforderungen des Studiums machte und sagte beruhigend: »Du wirst das alles schaffen, Cord – und wir helfen dir, wo wir können.«

 

Ein klärendes Gespräch

In der Königstraße

Edelgarde Gräfin von Potocki war der stets gastfreundlichen Einladung ihrer Cousine Sophie von Elßtorff gern gefolgt, obwohl sie ahnte, dass ihr eine Aussprache bevorstand. Zunächst aber genoss sie Kaffee und Gebäck.

Sophie hielt nicht lange hinterm Berg: »Nun sag mir endlich, wie es wirklich um dich steht. Elsa erzählt mir nichts, obwohl du sie ja weiß Gott oft genug gepiesackt hast. Aber ich will jetzt die ganze Wahrheit von dir – nur so ist ein neuer Anfang zwischen uns möglich.«

Edelgarde rang die zerstichelten Finger, die sie stets versucht hatte, in schwarzen Spitzenhandschuhen zu verbergen.

»Es ist alles so unsagbar peinlich, Sophie, und ich schäme mich in Grund und Boden.«

»Zier dich nicht, sondern erleichtere dein Gemüt und sprich frei heraus Cousine, dann wird es dir wieder besser gehen. Wie konnte es dazu kommen, dass du, aus wohlhabendem Hause, heimlich Handarbeiten anfertigen musstest, um etwas Geld zu verdienen?«

»Nun, Vater und ich waren außerordentlich stolz, als er damals für seine zahlreichen Verdienste vom Kaiser mit einer Standeserhöhung geehrt wurde. Du bist ja von Haus aus von Adel, kannst das kaum nachvollziehen, aber für uns war das kleine ›von‹ schon ein Zauberwort, das eitel die Visitenkarten, das Türschild und alles sonst dafür Geeignete zierte.«

Wahrscheinlich auch noch die Bestellung beim Schlachter, vermutete Sophie, schalt sich aber sofort als hochmütig.

»Ja, ich erinnere mich, dass du dann wegen des Grafen von Potocki deine Verlobung mit einem Bürgerlichen gelöst hast.«

Edelgardes Mundwinkel sanken noch mehr herab. »Das war der größte Fehler meines Lebens! Vater und ich waren geblendet von dem glänzenden Namen Potocki. Um es kurz zu machen: Ich heiratete ihn und wir gingen auf Reisen. Bald merkte ich, dass mein Mann ein Spieler war, der zudem auch anderen Frauen nachstellte.« Sie stockte. »Und außerdem fand ich heraus, dass er so manche Stunde im teuersten Edelbordell der jeweiligen Stadt verbrachte.«

Sophie stöhnte auf.

Zusammenzuckend entschuldigte sich Edelgarde. »Bitte verzeih, dass ich die Dinge so wenig zartfühlend beim Namen nenne. Nicht alle Männer sind ihrer Gattin so treu ergeben wie dein Maximilian!«

Sophie riss sich zusammen. Keinesfalls sollte ihre Cousine von ihrem Verdacht im vergangenen Jahr erfahren, dass es noch eine andere Frau im Leben ihres Ehemannes gab.

»Schon gut, Edelgarde«, brachte sie, um eine normale Stimme bemüht, heraus, »unter uns Pastorentöchtern muss auch mal Tacheles geredet werden dürfen.«

Diese seufzte und fuhr fort: »Nachdem wir ein Jahr verheiratet waren, bereute ich diese Ehe bereits zutiefst. Da traf mich, wie du weißt, ein weiterer Schicksalsschlag. Mein Vater, der sich verspekuliert hatte, starb.«

Sie schluckte und brachte es selbst jetzt nicht fertig zu sagen, dass er sich umgebracht hatte. Mitfühlend drückte ihr Sophie die Hand. »Ja, ich erinnere mich genau.«

»Nach der Beerdigung wollte Potocki unbedingt zu seiner Familie zurück. Mir blieb nichts Anderes übrig, als mit ihm zu gehen. Da ich nicht viel Polnisch sprach, worauf er auch gar keinen Wert legte, schließlich könne man sich ja auf Französisch verständigen, fiel es ihm umso leichter, die wahre Situation vor mir zu verschleiern. Kurzum, nach einem weiteren Jahr hatte er meine gesamte Mitgift verprasst. Er hinterließ einen Brief, in dem er mir diese Tatsache mitteilte, außerdem, dass er sich, da es ja keinen echten polnischen Staat mehr gebe, nach Amerika absetzen werde. Möglicherweise werde er sich auch umbringen. Ich solle einfach behaupten, dass er gestorben sei. Obwohl seine Familie ihn verstoßen und enterbt habe, werde man mir gewiss das Reisegeld nach Deutschland zahlen, um mich loszuwerden. So kam es tatsächlich – es war unsagbar peinlich und demütigend!«

Sophie hielt es nicht mehr in ihrem Armlehnstuhl – sie stand auf und beugte sich zu der schluchzenden Edelgarde, die die Erinnerung überwältigt hatte. »Ich fasse es nicht! Es ist also gar nicht sicher, ob du eine Witwe bist?«

»Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört, weiß daher nicht, ob er noch existiert. Vernünftig gelebt hat er nie. Viel Alkohol, Zigarren und ab und zu Drogen sind ja nicht gerade förderlich für die Gesundheit.«

Da sie dem Personal Anweisung gegeben hatte, keinesfalls zu stören, schenkte Sophie eigenhändig zwei Kristallschwenker mit Cognac ein und hielt Edelgarde einen hin. »Wir trinken ein Schlückchen in Ehren, das hält Leib und Seele beisammen!«

Diese schniefte nochmals tief, die beiden nippten am Glas und schwiegen nachdenklich.

»Das einzig Echte an dem Mann war sein Name«, meinte Edelgarde schließlich. »Und den wird er gewiss inzwischen abgelegt haben. Der Zweig der Potockis, der Habsburger Hoflieferant für Wodka, Brandy und Rum ist, stattete mich mit Geld für die Rückreise aus. Immerhin war die Wohnung in Hannover auf meinen Namen registriert und fiel damit nicht in die Konkursmasse. Vor dem völligen Ruin rettete mich einiges an Schmuck, den ich hier im Banksafe gelassen hatte, da es sich um altmodische Stücke handelte, die ich nicht gern trug.«

»Aber das reichte wahrscheinlich nicht ewig«, bemerkte Sophie leise.

»Natürlich nicht. Ich lernte eiserne Sparsamkeit, färbte und änderte die Kleider, die in Hannover hingen, und trug ausschließlich Schwarz, da fiel meine begrenzte Garderobe nicht so auf. Unser altes Dienstmädchen zog wieder zu mir und verlangte kaum Lohn, da sie Erspartes und eine winzige Rente hatte. Vaters und meine Gier nach dem Adelstitel haben mein Leben ruiniert. Eine Erkenntnis, die umso bitterer war, als ich ja halbwegs versuchen musste, den Schein zu wahren. Einladungen zu dir waren mir immer besonders willkommen, da ich mich da endlich mal satt essen konnte. Und zugleich führte mir dein gepflegter Haushalt vor Augen, was ich alles verpatzt hatte.«

Sophie holte tief Luft, trank ein Schlückchen Cognac und meinte: »Kein Wunder, dass du das öfter mit spitzen Bemerkungen kompensiert hast. Aber damit muss jetzt Schluss sein. Wir werden versuchen, diesen Schlamassel etwas erträglicher zu gestalten. Was hältst du davon, wenn du klipp und klar verkündest, dass dein verstorbener Gatte dich leider fast mittellos zurückgelassen hat? Dann hat die ganze Heimlichtuerei ein Ende.«

»Ja, vielleicht wäre es das Beste. Aber die Schande, Sophie! Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll!«

Das leuchtete Sophie ein. Ein solches Geständnis würde reichlich Gerede auslösen. Nicht immer war die ungeschminkte Wahrheit ein geschickter Schachzug. Lange hatte sich die Cousine jetzt nach den Prinzipien und Gepflogenheiten ihres Standes gerichtet, aus Standesgehorsam gehungert und die eigene Verzweiflung vertuscht, weil sie keinesfalls arbeiten durfte – jedenfalls nicht so, dass es jemand merkte. Zunächst galt es, Edelgarde praktisch beizustehen. Dies würde nur mit einer monatlichen Summe gelingen. Die könnte aus ihrem privaten Vermögen fließen, über das sie allein verfügte. Auch wenn sie ihrem Vater in mancherlei Hinsicht gram war, für diese ungewöhnliche Regelung dankte sie ihm außerordentlich! Und dann kam ihr eine geniale Idee, bei der Edelgarde auch ihr Gesicht würde wahren können.

»Also, das Glück ist dir von jetzt an wieder hold. Gerade in den letzten Tagen kam die Nachricht, dass eine entfernte verstorbene Tante aus Süddeutschland uns ein kleines Erbe hinterlassen hat. Es sind hauptsächlich Staatspapiere, die eine monatliche Rente ausschütten. Auf meinen Anteil verzichte ich zu deinen Gunsten. Dann brauchst du für fremde Leute oder gar Geschäfte nicht mehr nähen.«

Edelgarde war sprachlos, was bei ihr selten vorkam. Dann erhob sie sich plötzlich, ergriff Sophies Hand und bedeckte diese mit Küssen. Erneut rollten die Tränen. Sophie sprang rasch auf, fasste sie an den Schultern, drückte sie kurz an sich und sagte: »Also, abgemacht. Es fängt jetzt ein neues Kapitel in deinem Leben an. Aber versprich mir, wenn dich etwas bedrückt, dass du offen mit mir sprichst.«

Ihre Cousine nickte stumm und umarmte Sophie. Dann wischte sie sich die Tränen ab und versprach: »Ich werde alles tun, um deine Güte und Großzügigkeit zu vergelten. Und nun bitte ich dich, mich zu entschuldigen. Ich muss zu Hause erst mal zur Besinnung kommen.«

»In Ordnung, besuche mich nächste Woche, dann besprechen wir alles Weitere.« Sie läutete nach dem Dienstmädchen, das schnell erschien und den Gast hinausgeleitete.

 

Sophie von Elßtorff und der Magdalenen-Verein

In der Königstraße

Sophie sah dem hohen Besuch, wie sie ihrer Ziehtochter Elsa gegenüber etwas ironisch anmerkte, mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Vorsteherin des Magdalenen-Vereins, Frau Abt Uhlhorn, die Oberin des Magdaleniums, die Diakonisse Hermine von Trampe, sowie der Urheber der Einrichtung, der Pastor Dr. Johannes Samuel Büttner, hatten um einen Besuchstermin gebeten. Der Pastor war, wie Sophie wusste, durch die Arbeit seiner Diakonissen zur Vereins-Gründung angeregt worden.

»Ich befürchte, die drei wollen mich bewegen, Mitglied im Vorstand des Magdalenen-Vereins zu werden.«

»Das ist doch sicher eine Ehre, Tante Sophie. Und gewiss nicht zuletzt darin begründet, dass du außer für unsere Dreifaltigkeitskirche stets großzügig für die Henriettenstiftung spendest.«

»Das mache ich gern und bin auch bereit, etwas für den Magdalenen-Verein zu tun. Aber die weiblichen Mitglieder versammeln sich allmonatlich an jedem 2. Donnerstag im Monat im Henriettenstift, wobei Arbeiten für die Zwecke des Vereins und des Asyls angefertigt werden.«

Gerade Elsa gegenüber wollte Sophie keinesfalls zugeben, wie ausgeprägt sie ebenso wie ihre Ziehtochter Handarbeiten verabscheute – hatte sie diese als junges Mädchen stets nachdrücklich dazu angehalten, da dies doch von höheren Töchtern erwartet wurde.

Schnell fand sie den Gesprächsfaden wieder und fuhr fort: »Es wird über die Aufnahme der gefallenen Mädchen und die spätere weitere Fürsorge, vor allem durch geeignete Lebensstellungen beraten. Das Ganze leitet Frau Abt Uhlhorn. Du weißt, wie viele Verpflichtungen ich bereits habe, nicht zuletzt durch die Treffen mit den Schwestern, sprich Ehefrauen der Freimaurer. Maximilian legt großen Wert darauf, dass ich mich dort engagiere und etwas für wohltätige Zwecke organisiere.«

»Die gemeinsame Arbeit mit ihnen für die mildtätigen Werke der Loge schätzt du doch sehr.«

»Gewiss, aber mit zusätzlichen Verantwortlichkeiten im Magdalenen-Verein wird es mir zu zeitaufwändig.«

Insgeheim schreckte Sophie jedoch eher, dass einige weibliche Mitglieder des Magdalenen-Vereins ihre christliche Nächstenliebe für die gefallenen Mädchen, die sie als ›verworfene Geschöpfe‹ ansahen, gern ausgeprägt zur Schau stellten. Sich den selbstgerechten Sermon dieser Damen aus den gehobenen Familien zwei Mal im Monat anzuhören, reizte sie nicht im Geringsten. In diesem Moment meldete das Mädchen die Besucher. Elsa schlüpfte durch die Tür des in gelb und weiß gehaltenen, überwiegend mit Biedermeiermöbeln ausgestattetem Salons zum benachbarten, im englischen Stil gestalteten Speisezimmer hinaus. Sophie, der die schweren dunklen Möbel der Gründerzeit überhaupt nicht gefielen, bevorzugte eine helle und freundliche Atmosphäre.

Die Hausherrin empfing ihre Besucher standesgemäß. Selbstverständlich hatte sie Gebäck und Kuchen vom nahegelegenen Bäcker Fahrenholz bereitstellen lassen und das Dienstmädchen bot knicksend Kaffee und Tee an.

»Liebe Frau von Elßtorff«, Oberin Hermine von Trampe rückte ihre weiße Haube etwas zurecht, obwohl diese samt der stramm unter dem Kinn gebundenen großen Schleife perfekt saß, »ich möchte mich nochmals ausdrücklich bedanken für die getreue Hilfe, die Sie uns stets zukommen lassen.«

»Dass Sie als gebürtige Münchnerin immer wieder ein offenes Ohr für unsere Arbeit haben, rechne ich Ihnen besonders an«, sekundierte Büttner sofort mit seiner wohltönenden Stimme.

»Hannover ist mir inzwischen längst zur zweiten Heimat geworden«, entgegnete Sophie mit liebenswürdigem Lächeln, »und wo ich helfen kann, tue ich es gern.«

»Sie werden sich schon gedacht haben, dass wir Ihnen antragen möchten, unserem Vorstand des Magdalenen-Vereins beizutreten«, kam Frau Abt Uhlhorn schnell auf den Punkt.

»Es wäre mir eine große Ehre, dort mitzuwirken«, entgegnete Sophie geschmeidig, »allerdings bezweifele ich, ob es mir gelänge, genügend beizutragen. Außerdem würde ich gewiss nicht regelmäßig erscheinen können. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist mein Gatte ein überzeugter Freimaurer und wir Ehefrauen bewirken da im Hintergrund einiges an Mildtätigkeit, was ebenfalls viel Zeit in Anspruch nimmt.«

»Das erwarten wir auch nicht. Sie würden so oft kommen, wie es Ihnen möglich ist«, erwiderte Büttner. »Ebenso hat es die Gräfin Waldersee gehalten.«

Damit hatte er Sophie geschickt den Wind aus den Segeln genommen, was er sehr wohl wusste. Denn was für eine Gräfin Waldersee recht war, konnte eine Frau von Elßtorff schlecht ablehnen.

»Ich muss allerdings zu bedenken geben, dass ich über die Einzelheiten Ihrer Arbeit nicht ausreichend informiert bin«, gab Sophie ihre insgeheime Gegenwehr noch nicht auf.

»Gnädige Frau, gerade Sie haben doch dadurch, dass Sie die junge Waise Elsa Martin als Ziehtochter in ihrem Hause großgezogen haben, ihre tätige Nächstenliebe bewiesen.« Hermine von Trampe lächelte süßlich. »Und noch dazu haben Sie im vergangenen Jahr auch deren Zwillingsschwester in ihrer Familie aufgenommen.«

Damit spielte sie darauf an, dass sich mit dem überraschenden Auftauchen von Emilie in Hannover die uneheliche Geburt der Zwillinge rasch herumgesprochen hatte. Büttner zuckte bei dieser Ungeschicklichkeit zusammen und wollte rettend einspringen. Aber Hermine von Trampe war bei Sophie an die Falsche geraten.

»Sie wollen doch nicht etwa meine Pensionats-Freundin Ernestine Jacob in die Nähe der gefallenen Mädchen rücken! Der adelige Vater der Zwillinge fiel für Volk und Vaterland im Deutsch-Französischen Krieg.« Sophie kochte innerlich vor Empörung und wurde deutlich: »Wenn Sie meinen, mich durch Herabwürdigung zur Mitarbeit zu bewegen, sind Sie auf dem Holzweg!«

Nun sprang Büttner ein. »Nie würden wir gestrauchelte Töchter unseres Volkes, gefallene und verwahrloste Mädchen in die Nähe ihrer Freundin Ernestine Jacob rücken, Gnädigste.«

»Uns geht es ja gerade darum, die verlorenen Seelen, die armen Sünderinnen zu retten«, fügte Frau Abt Uhlhorn hinzu.

Die Diakonisse zupfte erneut an der Schleife unter ihrem Kinn und richtete sich kerzengerade auf: »Dazu braucht es schlichte Sachlichkeit, einen klaren Blick, ein brennendes Herz und völlige Selbstlosigkeit. Ehemals, während einer Instruktionsreise, war meine Seele voller Fragen: Wie kann es gelingen, solch tief gesunkene Gemüter zu erschließen und zu leiten? Bei einem Waldspaziergang gab Gott mir leuchtende Klarheit: Du musst ihre Seele auf Deine Seele nehmen.«

Sophie räusperte sich – dieses Pathos befremdete sie. Und sie war nicht gewillt, mit ihrer Meinung hinter dem Berg zu halten.

»Es widerstrebt mir, alle diese unglücklichen jungen Frauen in einen Topf zu werfen. Denn wir wissen doch, dass so manche, die im Magdalenium Hilfe sucht, verführt worden ist. Einige, die hier ahnungslos am Bahnhof ankommen und Arbeit suchen, werden dort regelrecht weggefangen und in die Prostitution gedrückt. Andere im Dienstbotenstand sind vom Hausherrn oder einem Sohn des Hauses bedrängt worden. Und in den Fabriken nutzt so mancher Vorarbeiter seine Position aus. Wir haben durch die Lindener Diakonisse Karla einiges erfahren, was sonst den Damen meiner Kreise nicht so bekannt ist. Oder was sie gar nicht wissen wollen.«

Büttner griff vermittelnd ein. »Ich stimme Ihnen da völlig zu, Frau von Elßtorff. Nicht umsonst wurde die Bahnhofsmission auch hierfür gegründet. Im Magdalenium haben wir deshalb das sogenannte Familiensystem, nach welchem jugendliche und weniger verdorbene Mädchen von tiefer gefallenen und im Laster Verhärteten getrennt werden können.«

Das nahm Sophie mit einem leichten Nicken zur Kenntnis. Den drei Besuchern wurde spätestens jetzt endgültig klar, dass sie hier noch einige Überzeugungsarbeit leisten mussten. Pastor Büttner warf seinen beiden Begleiterinnen schnelle Blicke zu, mit denen er klarmachte, dass es an ihm war, das Wort weiterhin zu ergreifen. »Gnädige Frau, bereits seit den siebziger Jahren setze ich mich für ein Asyl in unserer Stadt ein und für die Gründung eines Magdalenen-Vereins. Der Notschrei eines Mädchens, dem Jammer und Schande über dem Haupte zusammenzuschlagen drohten, war eines Abends auf der Straße an das Ohr einer Diakonisse gedrungen und diese ließ den Schrei bei mir widerhallen …«

Frau Abt Uhlhorn ergänzte: »Der Verein wird von wackeren Männern unterstützt, zum Beispiel von einem Arzt, einem Prediger, einem Rechnungskundigen, einem Handwerker und einem Polizeibeamten. Die Damen des Vorstandes widmen sich der Arbeit des Suchens und Rettens. Alle anderen sammeln Gaben und werben zugunsten des Werkes. Wir Frauen sind berufen für diese Aufgabe, denn uns wohnt die Möglichkeit inne, den Mädchen nahezukommen und ihnen das Vorbild eines glücklichen Weibes darzustellen.«

Wiederum nickte Sophie zum Zeichen des Verstehens. »Für diese unglücklichen jungen Frauen kann gar nicht genug getan werden. Wie Sie wissen, studiert mein Sohn Heinrich in Berlin Medizin an der Charité. Dort bekommt er vieles mit. Besonders imponiert mir, dass Henriette Hirschfeld-Tiburtius sich unter anderem im Vorstand der Heimstätte Berlin einsetzt. Es wird erwerbslosen jungen Frauen mit ihren Kindern Unterkunft und Zuflucht geboten. Außerdem hat sie den Frauenverein zur Rettung minorenner Strafentlassener und verwahrloster Mädchen mitbegründet. Eine ungewöhnliche Persönlichkeit, die ich bewundere und selbstverständlich auch unterstütze.«

»Sehr lobenswert«, meinte Hermine von Trampe, wobei ihr Gesicht keineswegs Begeisterung ausstrahlte, »allerdings kenne ich die Dame nicht. Ist ihr Gatte auch im kirchlichen Dienst?«

»Nein, diese Meisterin ihres Faches studierte in Amerika und hat als erste Frau eine zahnärztliche Praxis in Deutschland eröffnet. Sie behandelt sehr erfolgreich Frauen und Kinder, inzwischen auch aus dem Königshaus. Sie engagiert sich auf sozialem Gebiet, um ihre Geschlechtsgenossinnen zu unterstützen.«

Daraufhin herrschte erst mal Schweigen.

»Diese Dame schätze ich außerordentlich«, fuhr Sophie fort. »Sie hat erkannt, in welchem Teufelskreis sich die Frauen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten oft befinden. Wie Sie sicherlich wissen, gibt es besonders viele Dienstmädchen unter den unehelichen Müttern. Nur allzu oft vernachlässigen die Herrschaften ihre Sorgfaltspflicht gegenüber den oft blutjungen Dingern vom Lande. Das Mädchen soll sauber und pünktlich sein und seine Pflicht tun. Ansonsten hat es ja keine Seele, um die man sich zu kümmern hätte.«

»Aber, aber«, hub Hermine von Trampe an, »wenn alles so schlecht wäre, gäbe es doch gar keine Dienstmädchen mehr.«

Sophie hatte über dieses Thema aus speziellen Gründen immer wieder nachdenken müssen. Gerade vor dem Besuch hatte sie sich damit erneut auseinandergesetzt und war gewillt, sich einer klaren Sprache zu bedienen.

»Ich glaube kaum, dass die Mädchen in den Dienst gehen, weil sie so gern mit Seife und Scheuerbürste hantieren. Meist treibt die Armut die jungen Dinger ins Personalkontor.«

Frau Abt Uhlhorn, allgemein geschätzt für ihr kluges und nüchternes Wesen, fing sich als erste.

»Das Elend ist überall so groß, dass allerorts geholfen werden muss. Unser Asyl ist Heimat und Freistatt. Wie Pastor Büttner schon erwähnte, haben wir ein Familiensystem, etwa 35 Mädchen befinden sich in drei Familien. Die Schwestern leben mit ihnen zusammen. In der Aufnahmefamilie sind die Neuangekommenen bei stiller Näharbeit am besten zu beobachten und kennenzulernen. In kleinen Gruppen kann die Individualität des einzelnen Zöglings nach Möglichkeit berücksichtigt, das Schablonenhafte der Anstaltserziehung vermieden oder zumindest gemildert werden. Grundsätzlich gilt bei uns eine zweijährige Anstaltserziehung, da wir gründlich helfen wollen.«

»Woher stammen die Mädchen?«, fragte Sophie.

»Sie kommen aus Krankenhäusern, Strafanstalten, werden von Eltern und Vormündern sowie Magdalenen-Hilfsvereinen gebracht. Einige finden sich, von der Not ins Heim geführt, aus eigenem Antrieb ein. Die meisten Neuaufgenommenen sind Prostituierte oder Gefallene, ein kleinerer Teil Diebinnen, etliche Trinkerinnen. Das Alter ist unterschiedlich. Circa ein Viertel ist unter 16, knapp die Hälfte zwischen 16 und 20, der Rest zwischen 20 und 30, und die sind häufig erheblich verwahrlost.« Hermine von Trampe seufzte.

Die Gleichsetzung von gefallenen Mädchen und Prostituierten ärgerte Sophie erneut. Aber sie beschloss, jetzt nicht weiter nachzuhaken, sondern sich bald selbst ein Bild zu verschaffen.

Inzwischen sah sich Büttner bemüßigt, den christlichen Charakter der Einrichtung zu betonen, um sich von den weltlichen Vereinen in Berlin abzuheben.

»Bei der schwierigsten aller Erziehungsaufgaben ist Gottes Wort das A und O. An jedem Morgen unterweisen die Schwestern in der Form katechetischen Gespräches in Bibel, Katechismus und Gesangbuch. Dadurch wird der Boden für die vom Seelsorger zu erteilenden Stunden bereitet. Daneben bildet das Haupterziehungsmittel fleißige Arbeit, nicht ohne Wechsel und Mannigfaltigkeit.«

Ihm kam ein rettender Gedanke. »Gnädige Frau, wir laden Sie auf das Herzlichste ein, uns in Kirchrode zu besuchen. Bringen Sie gern die Fräulein Zwillinge mit, die sich so tapfer in Linden bewährt haben. Es wäre uns eine besondere Ehre – vor Ort lässt sich doch alles besser erklären!«

Sophie erkannte, dass sie sich geschlagen geben musste. »Gern, meine Damen und Herr Pastor, wir werden demnächst kommen.« Nachdem noch einige Konversation getrieben worden war, verabschiedete sich, sehr zur Erleichterung der Hausherrin, der Besuch kurz darauf.

 

Ein aufgeregter Großvater

Möbelfabrik Solida-Comforta in der Davenstedter Straße in Linden

Wilhelm Jacob saß an seinem Schreibtisch in der Möbelfabrik und zeichnete mit einem großen Bismarckbleistift Schnörkel und Beschläge für Möbel auf einen Skizzenblock. Dabei grummelte er vor sich hin. »Bei aller Liebe und allem Verständnis – das geht so nicht!« Ein neuer Schnörkel entstand, den er ein wenig schattierte. Unzufrieden betrachtete er das Resultat – das macht Elsa besser! Als sein Tischlergeselle nach kurzem Klopfen eintrat, schwang er den großen Bleistift wie einen Degen, der den Störer zu durchbohren gedachte. »Später! Ich bin nicht zu sprechen, raus!«

So dicke Luft gab es aber beim Alten ewig nicht mehr, dachte der Geselle. Entweder es gibt Probleme mit dem Betrieb, was ich nicht glaube, oder es handelt sich um seine Enkelinnen. Damit lag er goldrichtig.

Wilhelm Jacob hatte den leidenschaftlichen Kuss zwischen Cord und seiner Enkelin Elsa sehr wohl bemerkt. Das kam zum gänzlich falschen Zeitpunkt! Er seufzte schwer. Seine Tochter hatte sich in einen Mann aus hohem Adel verliebt, der im Deutsch-Französischen Krieg gefallen war, bevor er sie hätte heiraten können. Und Elsa verfiel sozusagen in das andere Extrem, indem sie mit Cord, dem Sohn eines stramm sozialdemokratischen Volksschullehrers, ein Gespusi anfing.

Dabei hatte er ernsthafter denn je überlegt, seine Enkelin nach und nach in die Geschäfte der Möbelfabrik einzuweihen. Sie war eine junge Dame mit einem eigensinnigen Charakter. Den hatte sie offenbar von seiner verstorbenen Frau geerbt, ebenso wie das Talent zum Möbel entwerfen. Wilhelm Jacob sinnierte – damals hatte er eine Tischlerei in Zeven geführt und man fand es allgemein normal, dass weibliche Familienangehörige je nach Fähigkeiten in einem Handwerksbetrieb mitarbeiteten.

Aber eine Möbelfabrik an seine Enkelinnen zu übergeben – das war schon ein anderes Kaliber! Immerhin erkannten seine Leute das ungewöhnliche Entwurfstalent von Elsa an. Ihnen jedoch eine Frau als Chefin vor die Nase zu setzen – das würde nicht einfach sein. Man würde die Mitarbeiter in kleinen Schritten daran gewöhnen müssen. Das galt auch für Emilie, deren mathematisches Talent sich in der Buchhaltung nutzen ließe. Und schließlich gedachte er, mindestens weitere zehn Jahre die Fabrik zu führen – bis dahin würde noch reichlich Wasser die Leine hinunterfließen. Es galt, Tatsachen zu schaffen.

Elsa besaß einen klugen Kopf; sie würde sich einige Grundlagen der Kalkulation eines Möbelstückes aneignen können. Und ausschließlich Ehefrau und Mutter zu werden, sah sie im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester Emilie offensichtlich nicht als Lebensideal an. Sie vertrat regelrecht aufmüpfige Ideen, was die Zulassung von Frauen zum Studium oder gar zu den Wahlen betraf! Jacob kratzte sich mit dem großen Bleistift nachdenklich am Kopf. Hauptsache, Elsa würde jetzt nicht in kopflose, verliebte Schwärmerei verfallen, bei der bekanntlich der Verstand dahin war!

Wer sich später um die technische Seite der Möbelfabrik kümmern sollte, das würde man sehen. Cord Breuer war da ein hoffnungsvoller Kandidat – der musste jedoch erst mal studieren und trocken hinter den Ohren werden! Ja, der junge Mann war für seine jungen Jahre erstaunlich erwachsen und vernünftig, aber es lag schließlich noch ein langer Weg vor ihm.

Außerdem war für ihn klar: Mitgiftjäger, die sich ins gemachte Nest setzen wollten, hatten bei ihm keine Chancen! Die Zwillinge würden einen Ehevertrag erhalten, indem ihr Besitz, der am Tage der Eheschließung an ihren Gatten überging, von diesem seiner Gemahlin geschenkt werden musste. Keinesfalls durften Ehemänner in allen Entscheidungen das letzte Wort haben. Den passenden Mann für diese Konstellation zu finden, würde nicht einfach werden. Er runzelte die Stirn. Da benötigte er juristischen Rat. Und bei nächster Gelegenheit wollte er Sophie von Elßtorff dezent befragen, die offenbar über zumindest einen Teil ihrer Mitgift allein verfügen konnte. Es wurde wirklich Zeit, den Frauen mehr Rechte zuzugestehen, damit die, die es wünschten, ihre Talente einbringen konnten.

Nachdem er minutenlang aus dem Fenster gestarrt hatte, kam Wilhelm Jacob zu einem Entschluss. Da die Mutter der Zwillinge, seine Tochter Ernestine, auf La Palma weilte, um sich dort zu erholen und an vertrauten Orten ihre Gedächtnisverluste zurückzuerlangen, konnte er sich mit ihr nicht beraten. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass sich nicht alles planen ließ. Aber zumindest wollte er versuchen, einige Weichen zu stellen! Entschlossen eilte er zum Telefon, welches an der Wand hing. Er war froh, Elsas Ziehvater, den Architekten Maximilian von Elßtorff, in dessen Büro in der Königstraße sofort an den Apparat zu bekommen.

»Herr von Elßtorff, ich brauche Hilfe. Wir müssen einen Familienrat einberufen, ohne dass die Zwillinge etwas merken. Ich schlage vor, dass Sie dabei sind, ebenso Ihre Gattin und die Gesellschafterin Marga. Da meine Tochter Ernestine auf La Palma weilt, benötigen wir umso dringender weibliche Erfahrungen und Meinungen. Wo wollen wir uns treffen?«

»Um Himmels willen, worum geht es denn?«

»Das erkläre ich lieber persönlich. Es ist wichtig und eilig!«

Maximilian hatte den Großvater der Zwillinge mittlerweile so gut kennen und schätzen gelernt, dass er nicht weiter nachbohrte – es musste gravierende Gründe für seinen Wunsch geben.

»Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen Nachmittag in Ihrer Villa auf dem Lindener Berg treffen? Sophie fallen gewiss Besorgungen ein, zum Beispiel in Leinenhaus I.G. von der Linde, womit die Zwillinge hinlänglich beschäftigt sein werden.«

Ein Schmunzeln huschte über Wilhelm Jacobs Züge. »Danke, bis morgen um halb fünf«, entgegnete er kurz und knapp und legte mit einem erleichterten Schnaufer auf. Er war froh, dass der recht standesbewusste Maximilian seinen Wunsch, Marga Lheiß dabei zu haben, ohne Widerspruch akzeptiert hatte. Diese bildete seit über 20 Jahren als Haushälterin den ruhenden Pol im Elßtorffschen Haushalt und genoss hohes Vertrauen. Dies hatte auch für die als Ziehkind heranwachsende Elsa gegolten. Mittlerweile glich ihre Stellung der einer Gesellschafterin. Und Wilhelm Jacob schätzte sie bereits seit längerem sehr.

Ob die Elßtorffs wirklich wissen, was sie an Marga haben, fragte er sich. Gar nicht darüber zu reden, über was für profunde Kenntnisse sie in der Naturheilkunde verfügt. Sie ist ja jung Witwe geworden. Erstaunlich, dass sie nicht wieder geheiratet hat. Der Mann, der eine solch patente Frau an seiner Seite hat, kann sich glücklich schätzen. Und nett aussehen tut sie auch. Er seufzte – und seine Gedanken wanderten zu seiner verstorbenen Gemahlin, die er mal wieder schmerzlich vermisste.

 

Der Familienrat

In Wilhelm Jacobs Villa auf dem Lindener Berg

Während Sophie noch einen Shawl zurechtrückte, meinte Maximilian: »Bin gespannt, was Wilhelm Jacob mit uns so dringend zu besprechen wünscht. Dass Marga Lheiß mit dabei sein soll, ist mir nicht wirklich recht. Denn es wird sich gewiss um familiäre Angelegenheiten drehen. Man sollte mit dem Personal nicht zu vertraulich umgehen.«

Sophie, die in einer heiklen Phase ihrer Ehe Margas klugen Rat gesucht hatte, verzog keine Miene. »Marga ist absolut loyal und diskret. Außerdem ist sie jetzt doch Gesellschafterin und Anstandsdame für die Zwillinge. Ich vermute, dass es um Elsa geht, die Marga ja von Kindesbeinen an gut kennt. Wenn schon die leibliche Mutter nicht dabei sein kann, dann wenigstens die Ziehmutter und die lebenskluge Marga.«

»Ja, das ist schade, dass Ernestine so weit weg ist.«

»Vielleicht ist es besser so. Leider ist meine alte Pensionats-Freundin ja immer noch nicht wirklich belastbar und ihr Gedächtnisverlust hat sich nur teilweise gebessert. Auf La Palma kann sie außerdem im kommenden Winter das angenehmere Klima und die bessere Luft genießen! Gerade gestern, als der Industriequalm aus Linden herüberwehte, hat es hier mal wieder regelrecht gestunken.«

Franz, Kammerdiener und Kutscher in einer Person, fuhr das Ehepaar von Elßtorff und die Gesellschafterin Marga zum Lindener Berg.

Dort standen im Salon schon Erfrischungen, einschließlich einer Kristallkaraffe mit Sherry und Gläsern bereit.

Wilhelm Jacob war kein Freund davon, viel Grün um etwas zu machen. Er schilderte kurz und knapp seine Beobachtungen.

Daraufhin holte Maximilian tief Luft. »Wenn wir so einen Familienrat abhalten, schlage ich vor, dass wir nun zum vertrauensvollen Du übergehen. Wie hier alle wissen, gehöre ich als jüngster von vielen Söhnen aus Adelskreisen zu den Ausnahmen, die nicht aus Standesgehorsam hungern, sondern es vorziehen zu arbeiten. Und damit passen wir vortrefflich zueinander. Wilhelm, du bist zwar der ältere, aber ich hoffe, du bist mit meinem Vorschlag einverstanden!«

Der erhob sich: »Das spricht mir aus der Seele – wir müssen schließlich zusammenhalten. Wer weiß, welche Sträuße wir noch zusammen auszufechten haben werden. Wir sollten mit einem Sherry anstoßen.«

Marga erhob sich und schenkte ein. Dabei krauste sie nachdenklich die Stirn. Sie fühlte sich in ihren Befürchtungen bestätigt, hielt sich jedoch vorerst zurück.

Sie hatte den kurzen, recht intensiven Flirt der jungen Elsa mit dem flotten Ferdi, einem schneidigen Offizier mitbekommen. Sicherlich war diese nicht bis zum Allerletzten gegangen. Aber sie gehörte offenbar zu den temperamentvollen Frauen. Und zu Cord stand sie in einer ganz anderen Beziehung als zu dem oberflächlichen Offizier. Würde das gut gehen, wenn die beiden sich weiterhin öfter sahen?

Nachdem alle miteinander angestoßen und an dem Sherry genippt hatten, meinte Sophie:

»Das überrascht mich. Ich hielt das für eine harmlose kameradschaftliche Freundschaft.«

»Cord hat Elsa immer bewundert. Das war auch bei unserer Reise nach La Palma zu bemerken«, erklärte Marga.

»Bei aller Sympathie für Breuer Junior, der ein tüchtiger Bursche ist, und bei aller Liebe zu Elsa, das Ganze passt mir nicht! Cord ist ein Jahr jünger als seine Angebetete und es wird etliche Zeit dauern, bis er eine Frau zu ernähren vermag. Das tickt wie eine Zeitbombe. Ich sage es jetzt mal in voller Deutlichkeit: Wir brauchen weder ein uneheliches Kind noch eine überstürzte Heirat!« Das Gesicht von Wilhelm Jacob rötete sich.

»Zeit bringt Rat. Wenn es sich um eine große Liebe handelt, nehmen die beiden es auf sich zu warten. Das geht unzähligen anderen Paaren genauso«, meinte Sophie.

»Von denen dann nicht wenige schleunigst den Bund der Ehe eingehen müssen«, brummelte Maximilian.

»Vielleicht wäre es besser, die beiden unverzüglich zu trennen, bevor möglicherweise etwas Unerwünschtes passiert?«, meinte Marga leise. Zustimmend sah Wilhelm Jacob sie an und sagte: »Vernunft ist hier zwingend nötig, wir als Ältere müssen die Fäden zum Wohle der Jüngeren ziehen. Ich habe schon mal in dieser Richtung überlegt. Wie wäre es mit einem unwiderstehlichen Angebot? Eine Ausbildung zum Beispiel, weit weg von hier in der Art eines Werkstudenten, die er unmöglich ablehnen kann?«

»Das klingt gut!«, erwiderte Maximilian sofort. »Eine Probezeit, ob die Gefühle ernsthaft sind, schadet nie. In zwei oder drei Jahren kann viel passieren.«

»Drum prüfe, wer sich ewig bindet! Wir müssen uns einiges ausdenken, damit die Zwillinge an Bällen teilnehmen und auch sonst in Gesellschaft heiratsfähiger Männer sind!« Sophie dachte an die hochfliegenden Pläne, die sie stets an Elsas Verheiratung geknüpft hatte. »Dann wird sich zeigen, ob es eine jugendliche Torheit ist, nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Oder ob die Gefühle so tief sind, dass sie die Trennung überstehen.«

Wilhelm Jacob meinte: »Was haltet ihr davon, wenn ich mal mit Siegmund Seligmann spreche. Der Mann ist vernünftig und hat gewiss internationale Beziehungen, die ich leider kaum habe. Ich würde ihn bei aller Diskretion halb einweihen, denn er hält genau wie ich große Stücke auf Cord.«

»Hervorragende Idee«, entgegnete Maximilian, »der Direktor der Continentalen ist ein sehr tüchtiger Mann. Es wäre fabelhaft, wenn du das bald in die Wege leiten könntest.«

»Bis gestern!«, lautete die knappe Erwiderung.

»Gut so!«, Sophie nickte ihm zu. »Außerdem wird es höchste Zeit, dass die Zwillinge sich verheiraten. Die meisten jungen Damen sind mit 18 Jahren zumindest verlobt. Schließlich sollen sie nicht als alte Jungfern enden.«

»Gewiss nicht. Werde mal überlegen, was für eine Mitgift ich ihnen aussetzen kann. Das wird auf Grund der Tatsache, dass sie unehelich geboren sind, manche Unschlüssigkeit ausräumen.« Wilhelm Jacob trank den Rest seines Sherrys aus. »Man muss realistisch denken.« Dem stimmten alle zu.

 

Neue Köchin dringend gesucht

In der Königstraße

Sophie von Elßtorff befand sich in heller Aufregung. Die Köchin hatte kurzfristig gekündigt, weil sie heiraten wollte! Eine reine Katastrophe, bei den vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen und Einladungen zum Diner, die sie auszurichten hatte. Und bei denen es nicht zuletzt um das Ansehen der Familie und ihres Gatten ging. Dessen 1874 in der Königstraße gebautes, repräsentatives Mehrfamilienhaus war damals sowohl Visitenkarte als auch steinernes Empfehlungsschreiben des jungen Baumeisters gewesen. Die von der Familie bewohnte Belle Etage umfasste circa 250 m², im Hochparterre darunter lagen die Räume des renommierten Elßtorffschen Architektur-Bureaus.

Sie eilte durch das große, überwiegend im englischen Stil eingerichtete Esszimmer, wo reichlich Platz für 20 Gäste war. Ein Aufzug beförderte die Speisen aus der im Souterrain befindlichen Küche. Dort befanden sich ebenfalls die Kammern für die Küchenmädchen, die großzügige Schlafstube der Köchin, der Essplatz für das Personal, diverse Vorratsräume und die Eiskammer. Die zahlreichen Dienstbotenkammern waren auf dem Dachboden untergebracht.

Die Hausherrin seufzte, denn etliche wichtige Einladungen hatte sie bereits schriftlich auf feinstem Bütten verschickt. Eine Lösung musste schnell gefunden werden! Sophie war schon im Begriff, sich vor lauter Verzweiflung die Haare zu raufen. Da fiel ihr im letzten Moment ein, dass ihre Zofe sie heute Morgen in mühevoller Kleinarbeit mit einer Hochfrisur à la Kaiserin Friedrich aufgeputzt hatte.

Ein weiterer Seufzer Sophies galt jetzt nicht mehr der Köchin, sondern Victoria, der Gattin Kaiser Friedrichs, auf deren Regentschaft alle gehofft hatten, die liberalere Ansichten vertraten. Zwar verfocht Sophie nicht so weitreichende Wünsche bezüglich der Rechte und Freiheiten der Frauen wie ihre Ziehtochter Elsa. Die sich beispielsweise vehement wünschte, dass Frauen studieren, einen Beruf ergreifen und wählen dürften. Aber sämtliche derartigen Hoffnungen waren nach der nur 99 Tage währenden Regierungszeit des todkranken Friedrich mit ihm zu Grabe getragen worden. Sein Sohn Wilhelm II, dem ein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter Victoria nachgesagt wurde, gab ebenso wenig Anlass zu besseren Aussichten auf mehr Rechte für die Frauen wie seine Gemahlin.

Das Dienstmädchen hatte auf Sophies Anweisung hin die Zwillingsschwestern Elsa und Emilie sowie Marga Lheiß dringend in ihren Salon gebeten. Die rissen die Dame des Hauses nun aus ihren Gedanken. »Setze dich bitte hin, das ist ungemütlich«, forderte die Hausherrin die langjährige Haushälterin auf, die schon früh die Vertraute der kleinen Waise Elsa gewesen war.

---ENDE DER LESEPROBE---