Verschollene Spuren - Harald Görlich - E-Book

Verschollene Spuren E-Book

Harald Görlich

4,8

Beschreibung

Der Pensionär, Kriminaldirektor Rudolf Meissner, kehrt in das Dorf seiner Kindheit zurück. Schon nach kurzer Zeit macht er sich an die Aufklärung eines ungelösten Kriminalfalls, der ihn seit seiner Kindheit nicht mehr loslässt. Damals verschwand ein reicher Fabrikantensohn 1963 spurlos. Bei seinen Nachforschungen im Dorf stößt Meissner auf massiven Widerstand und tappt zunächst im Dunkeln. Erst als Meissner Dokumente zugespielt bekommt, die in die NS-Vergangenheit des Dorfes verweisen, findet sich möglicherweise eine Lösung. Er wird auf den Ort Grafeneck und das „Hotel Silber“ aufmerksam, wo weit mehr als zehntausend behinderte Menschen im Rahmen der Aktion T4 umgebracht worden sind. Abgesehen von der „Aktion T4“ und den Verbrechen in Grafeneck und dem „Hotel Silber“ markieren drei tatsächlich sich ereignete, bis heute allerdings nicht geklärte Schwerverbrechen in einem Dorf am Rande der Schwäbischen Alb die Basis für den Roman.

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Über dieses Buch

Rudolf Meissner könnte seinen Ruhestand genießen. Doch der pensionierte Kriminaldirektor sticht in seinem Dorf am Fuß der Schwäbischen Alb in ein Wespennest, als er mit Nachforschungen zu einem Jahrzehnte zurückliegenden, bis heute unaufgeklärten Verbrechen beginnt. An einem Herbstabend 1963 ist der damals zwanzigjährige Herbert Hoeger, Sohn der wohlhabendsten und einflussreichsten Familie des Dorfes, spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Der Vorfall hat Meissner in Kindertagen Angst eingeflößt und ihn seither nicht mehr losgelassen. Bei seinen Recherchen stößt der pensionierte Kriminaldirektor unerwartet auf weitere beharrlich verschwiegene Kapitalverbrechen in der vermeintlich heilen Sechzigerjahre-Welt seines Dorfes. Es dauert einige Zeit, bis ihm klar wird, dass zwischen den erschreckenden Ereignissen ein Zusammenhang bestehen muss. Doch wie könnte der aussehen?

Erst als ihm ein anonymer Absender Dokumente zuspielt, die noch weiter zurückweisen, in die NS-Vergangenheit, beginnt Meissner zu ahnen, wo er den Ausgangspunkt für all das Unheil suchen muss …

Ein sympathisch-sturer Unruheständler als Hauptfigur, ein so kenntnisreich wie fesselnd dargestellter historischer Hintergrund, lebendiges Lokal- und Zeitkolorit sowie gekonnt verwobene Handlungsfäden, die den Leser unbezwingbar in ihren Bann ziehen – so sieht geistreich unterhaltende Kriminalliteratur aus.

Harald Görlich,

1955 im Kreis Göppingen geboren, arbeitet als Leiter eines Studienseminars seit vielen Jahren in der Lehrerbildung. Mit seinen Romanen will der Historiker und promovierte Pädagoge den Menschen die deutsche Geschichte nahebringen, eingebunden in eine spannende fiktive Handlung. Die Idee zu »Verschollene Spuren« kam ihm bei einem Besuch der Gedenkstätte Grafeneck, die er als Mahnung zum bedingungslosen Einsatz für Humanität und Menschenwürde versteht. Einen Teil seines Honorars für dieses Buch spendet der Autor der Gedenkstätte.

Harald Görlich

Verschollene Spuren

Oertel+Spörer

Abgesehen von den historisch belegten Hintergründen und den damit verbundenen Personen sind Handlung und Figuren des Romans frei erfunden, ebenso wie das Dorf, in dem die Handlung angesiedelt ist. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2016

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag:

Titelbild: © Jürgen Meyer

Gestaltung: Oertel + Spörer Verlag

Lektorat: Elke Schäle-SchmittLayout + Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-88627-699-8

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Meinem Max, von den meisten Fabian genannt, dem – wie allen jungen Menschen seiner und der nachwachsenden Generation – ein Leben in Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gesichert sein soll.

Gnadenlos

Endlich! Schrill durchschnitt das Klingeln des Telefons die beunruhigende Stille. Das Ehepaar zuckte zusammen, die Frau riss die Augen auf. Sie zitterte beim Abstellen des gut gefüllten Cognacglases. Ihr Mann wirkte beherrschter. Er wollte die Kontrolle behalten, sich die übergroße Nervosität nicht anmerken lassen. Dieses quälende Warten. Wochenlang war nichts geschehen. Nicht das Geringste. Kein Lebenszeichen, so lange Zeit. Kaum auszuhalten.

Dann endlich der graue Briefumschlag, der vor wenigen Stunden zugestellt worden war. Die Buchstaben einer offensichtlich nicht mehr korrekt funktionierenden Schreibmaschine gaben Anlass zur Hoffnung und zugleich zu äußerster Sorge.

Das Warten hat demnächst ein Ende. Ich melde mich. Telefonisch. Alsbald.

Der Fabrikant wollte sofort zur Polizei damit. Seine Frau heulte und flehte.

»Bleib doch hier! Mein Gott, wer weiß, wann er anruft? Du kannst mich jetzt nicht allein lassen!«, kreischte sie geradezu hysterisch, von brutaler Angst gequält.

Die Angst plagte ihn nicht weniger als sie, doch nach außen konnte er den Schein wahren. Seine Gerissenheit als Geschäftsmann kam ihm dabei zugute. Er galt als knallhart, wusste seinen Einfluss zu nutzen, seine Ellbogen zu gebrauchen. Wer sich mit ihm einließ, musste nach seinen Regeln spielen. Wer ihm in die Quere kam, geriet nicht selten rasch in eine aussichtslose Position.

Der Erfolg gab ihm recht. Die Maschinenbaufirma, die er zu Beginn des Krieges von seinem plötzlich verstorbenen Vater übernommen hatte, expandierte. Bereits in den ersten Nachkriegsjahren gelangen ihm hervorragende Geschäfte mit den Amerikanern. Kaum eine Unternehmung im weiten Umkreis hatte Kunden in Übersee – für ihn waren Geschäftsreisen dorthin völlig normal.

Auf Initiative seiner amerikanischen Freunde, nachdrücklich unterstützt von der Landesregierung, hatte ihn das Auswärtige Amt vor drei Jahren sogar zum Honorarkonsul ernannt. Seither grüßten ihn die alteingesessenen Einwohner des Dorfes ehrfürchtig mit »Herr Konsul«, und seinen Mercedes zierte ein CC-Schild. Er gehörte zum Corps consulaire, das musste für jedermann sichtbar dokumentiert werden. Eigentlich stand einem Honorarkonsul so ein Schild gar nicht zu, genau genommen handelte es sich um einen Rechtsverstoß. Doch selbst die beiden Ortspolizisten salutierten, sobald sie seiner gewahr wurden.

Regelmäßig erwähnte er ganz beiläufig seine hervorragenden Kontakte in höchste politische Kreise der Landeshauptstadt. Er wusste bestens Bescheid, wie er seine Mitmenschen beeindrucken konnte. Hauptsache, sie kuschten und tanzten nach seiner Pfeife. In dem Dorf geschah nichts von Bedeutung, was er nicht abgesegnet hatte. Der Bürgermeister sah es als Ehre an, einmal im Monat zu ihm eingeladen zu werden. Er besprach dann alles Wesentliche mit ihm. Erzählte von den Gemeinderatssitzungen und von Ratsmitgliedern, die Dinge forderten, die nicht im Interesse des Fabrikanten sein konnten. Von kritischen Stimmen, die sich gegen ihn und seinen Einfluss richteten. Der Fabrikant hörte sich alles mit einem freundlichen Nicken an, und schon bei seinem nächsten Besuch konnte der Bürgermeister oft erleichtert berichten, alles habe sich zum Guten entwickelt. Man müsse sich wegen der Quertreiber keine Sorgen mehr machen.

Der Fabrikant verfügte über Mittel und Möglichkeiten, das wusste der Bürgermeister nur zu gut. Wie er es aber genau anstellte, jedes Mal seine Interessen durchzusetzen, das fragte er sich doch. Sicher, es gab Gerüchte, zuhauf sogar. Hinter vorgehaltener Hand wurde so manches gemunkelt, aber zum Schwur wollte es niemand kommen lassen. Eindeutig und öffentlich Stellung beziehen, nein, das hätte keiner gewagt.

Der Fabrikant genoss seine herausragende Position, und seine Frau stand ihm darin wenig nach. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit zeigte sie, wie sehr sie sich allen überlegen fühlte. »Frau Wichtig« oder »Madame Arroganz«, mit diesen Namen wurde sie im Dorf belegt. Natürlich niemals offen, sondern auch nur hinter vorgehaltener Hand.

Einmal wagte eine über Siebzigjährige in der Schreibwarenhandlung die Äußerung, die Frau des Fabrikanten habe keinen Anlass, so aufzutrumpfen; eher sollte sie sich schämen für ihre heimliche Sauferei. Noch am selben Tag wurde die alte Frau verhaftet. Der Vorwurf: Beleidigung, Verleumdung, üble Nachrede. Einen Tag später durfte sie die Gefängniszelle zwar wieder verlassen, und es kam auch nicht zu einer Anklage. Doch die Frau war kaum wiederzuerkennen, so verängstigt und eingeschüchtert wirkte sie.

Was sich abgespielt hatte, wie mit ihr verfahren worden war, wusste niemand genau. Wüste Spekulationen machten die Runde. Der Fabrikant freute sich darüber und fachte die Gerüchte mit der einen oder anderen wie zufällig fallenden Bemerkung über Wochen immer wieder aufs Neue an. Danach wagte nie wieder jemand ein abfälliges Wort.

Der sonntägliche Gottesdienstbesuch geriet für den Fabrikanten und seine Frau zum großen Auftritt. Mit ihrem CC-Mercedes fuhren sie bis fast vor die Kirche, was eigentlich verboten war. Selbst der Pfarrer ließ seinen alten Opel stets unten beim Pfarrhaus stehen. »Zum Herrgott muss man aufschauen. Wer zu ihm will, soll sich ruhig ein bisschen anstrengen« – so seine Worte, wenn jemand über den steilen gepflasterten Weg meckerte. Der Fabrikant dagegen steuerte seinen Mercedes über das Pflaster, und die Menschen traten beiseite. Er brauchte nicht zu hupen, musste nicht einmal seine Fahrt verlangsamen. »Er hat eine eingebaute Vorfahrt«, hieß es im Dorf, eine Redensart, in der sich Neid, Furcht und Bewunderung mischten.

Immer war die Frau des Fabrikanten vornehm und teuer gekleidet: ein extravaganter Hut, Schuhe aus bestem Leder, schick gearbeitet. Wer konnte da mithalten? Die meisten Kirchgänger waren einfache Leute. Ihre Röcke, Anzüge und Mäntel stammten teils noch aus der Kriegszeit. Zwar wurde die Kleidung sorgfältig gepflegt, der Sonntagsstaat wirklich nur zum Kirchgang getragen, aber die Jahre hinterließen eben doch ihre Spuren, und manchmal waren die gestopften Löcher unübersehbar. Geld für eine Neuanschaffung? Woher denn? Die meisten Familien waren froh, wenn sie einigermaßen über die Runden kamen. Ein Auto gar oder ein eigenes Telefon? Was für ein Luxus.

Für die Frau des Fabrikanten war beides eine Selbstverständlichkeit. Wie sie immer angab, wenn sie aus dem Auto stieg! Gönnerhaft winkte sie der einen oder anderen Bekannten zu und lächelte herablassend dabei. Nur sie allein wusste, wie viel Mühe sie diese Auftritte kosteten. Zwei, drei Schnäpse, eine halbe Stunde zuvor rasch hinuntergestürzt, gaben ihr den nötigen Halt. Ohne Alkohol hätte sie nicht die Überlegene spielen können.

Selbstbewusst geleitete ihr Mann sie die wenigen Schritte zum Hauptportal der Kirche. Den Eingang schmückte eine große Skulptur: Sankt Martin, der von seinem Umhang ein Stück abschnitt und es einem Bettler zu seinen Füßen reichte. Eine schöne Figur, dachte der Fabrikant jedes Mal gerührt. Auch er selbst zeigte sich gern großzügig. Wer nicht aufmuckte, sondern ihm zu Diensten war, durfte durchaus mit seiner Unterstützung rechnen. Gönnerhaft half er, wenn jemand unversehens in Not geriet. Und so gab es im Dorf etliche Familien, die größten Respekt vor ihm hatten, weil er teure Medikamente für ihr krankes Kind bezahlt hatte oder ihnen einen zinslosen Kredit gewährte, damit sie ihr Haus renovieren konnten. Ohne seine Spende hätte der örtliche Turnverein die Sporthalle nicht angemessen ausbauen können. Auch vieles andere wäre ohne seine Unterstützung nicht möglich gewesen. Deshalb ließen es sich der Musik- und der Gesangverein auch nicht nehmen, an seinem Geburtstag abends vor der Villa aufzumarschieren und ein mindestens halbstündiges Konzert zu geben. Danach durften beide Vereine sicher sein, dass er das gesamte Jahr über für sie sorgen würde.

Einen Moment lang ließ der Fabrikant die Hand über dem schrillenden Telefon schweben. Er zögerte.

»Nimm doch ab!«, kreischte seine Frau. Sie war ein einziges Nervenbündel.

Als der Apparat zum vierten Mal klingelte, griff der Fabrikant endlich nach dem schwarzen Hörer. Er räusperte sich, schluckte und führte den Hörer zum Ohr. Seine Frau, die neben ihm stand, neigte den Kopf in seine Richtung.

»Ja? Mit wem spreche ich?« Er bemühte sich, seine Stimme fest und energisch klingen zu lassen, wollte demonstrieren, dass er das Heft in der Hand hielt, dass man sich vor ihm in Acht nehmen musste. »Hallo? Hallo! Wer ist da?«

Keine Antwort.

»Wieso sagt er denn nichts?«, schrie die Frau wie von Sinnen. Ihr Mann schob sie zur Seite.

»Hallo? Hören Sie?«

Immer noch keine Antwort.

»Nun reden Sie doch endlich!« Seine Stimme klang schrill und viel zu laut. Das Feste, das Energische, das er ihr verleihen wollte, verflüchtigte sich.

Es knackste in der Leitung. Der Fabrikant hielt den Hörer von sich weg und starrte ungläubig auf die Sprechmuschel.

»Was ist?«, fragte seine Frau aufgeregt.

Immer noch den Hörer im Blick, sagte er leise: »Aufgelegt. Einfach aufgelegt.«

»Das kann nicht sein. Das gibt es nicht!«, kreischte die Frau völlig außer sich.

»Sei still! Ich kann doch nichts dafür«, versuchte er sich zu rechtfertigen.

»Warum hat er aufgelegt? Warum denn?« Die Fragen seiner Frau gingen in einem Weinkrampf unter. Er zuckte mit den Schultern.

Ratlos ging er im Wohnzimmer der großen, überaus vornehmen Villa auf und ab, die geschickt an den Hang gebaut war. Kein Gebäude weit und breit konnte mit dem Haus mithalten. Das riesige Panoramafenster, vor dem er gedankenverloren stehen blieb, gab bei Tag den Blick über das wunderschöne Tal frei. Jeden Besucher versetzte diese Aussicht in Erstaunen.

Jetzt, wo die Sonne schon vollständig untergegangen war, herrschte dort draußen Dunkelheit. Dazwischen funkelten die Lichter der Häuser unten im Dorf und die Laternen an der Hauptstraße. In der Ferne, in südlicher Richtung, dort wo auch der Bahnhof auszumachen war, konnte er seine mittlerweile vier Fabrikgebäude und das nagelneue Bürohaus erahnen, in dessen oberen Stockwerken ebenfalls noch Licht brannte.

Die Frau lag auf dem Sofa und weinte erbärmlich.

»Sei still! Ich kann nicht nachdenken.« Der Fabrikant zeigte Nerven. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal derart die Fassung verloren hatte. »Ruhe, mein Gott!«, herrschte er seine Frau an, die sich einfach nicht beruhigen wollte. Er ging zum Couchtisch und schob ihr, ganz gegen seine Gewohnheit, das Cognacglas hin. »Da, trink etwas. Nun mach schon!«

Voller Wut ballte er die Faust und schüttelte den Kopf, als ob er dadurch besser hätte denken können. Er fuhr sich mehrmals mit der Hand durch das nach wie vor dichte Haar. Sein Gesicht glühte. Er griff in die Hosentasche und zog sein Taschentuch heraus, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Doch bevor es dazu kam, klingelte erneut das Telefon.

Mit einem Stöhnen erhob sich seine Frau vom Sofa. Als er den Hörer ans Ohr führte, stand sie wieder dicht hinter ihm. Er roch ihren schlechten Atem und drehte sich ein wenig zur Seite.

»Ja? Wer spricht?« Seine Stimme klang viel zu leise, fast resignierend. Er merkte es selbst, konnte aber nichts dagegen tun.

Am anderen Ende der Leitung ein Räuspern. »Ich bin es. Auf diesen Moment musste ich so viele Jahre warten. So furchtbar lange. Verstehen Sie?«

Dem Fabrikant wurde noch heißer. Wie konnte das sein? Kaum drei Stunden hielten sie den Brief in Händen, da rief dieser Verbrecher auch schon an. Beobachtete er sie? War er irgendwo in der Nähe? Aber von wo sollte er anrufen? Die einzigen beiden Telefonzellen standen unten im Dorf.

In seinem Kopf drehte sich alles. Er suchte Halt an der Fensterbank.

»Was ist denn?«, rief seine Frau wieder. Er schob sie mit einer groben Handbewegung von sich.

»Ihr Sohn ist am 15. Oktober verschwunden. Und er ist jetzt zwanzig Jahre alt, nicht wahr?«

Der Fabrikant schluckte. Übelkeit stieg in ihm auf. »Dich mache ich fertig, du mieses Schwein! Ich weiß, wer du bist. Ich erkenne dich an der Stimme.« Die Übelkeit ließ nach. Endlich schien er sich wieder zu fangen.

Seine Frau starrte ihn verständnislos an. »Sag mir endlich, was los ist!«

Wieder wischte er das Geplärre rüde beiseite.

»Das Schwein sind eher Sie. Ich musste so viele Jahre warten, aber ich wollte es unbedingt erleben. Mitbekommen, wie Sie leiden. Damit ich ganz sicher sein kann, dass Sie wissen, wie sich das anfühlt.« Der Anrufer atmete tief durch. »Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es ist vollbracht.«

»Was redest du denn da?«, schrie der Fabrikant in den Hörer. »Was hast du mit meinem Sohn gemacht?« Seine Stimme überschlug sich.

»Es ist vorbei«, gab der Mann seelenruhig zur Antwort. »Sie können zur Polizei gehen und mich anzeigen. Es ändert nichts mehr.«

Eine Weile lauschte der Fabrikant dem Anrufer wortlos. Dann verlor er die Beherrschung. »Was ist vorbei, du Dreckskerl?«, brüllte er.

Ein paar Sekunden Stille. Dann: »Ihr Sohn ist tot. Sie werden nie erfahren, was geschehen ist. Sie werden ihn auch nicht beerdigen können. Asche, verstehen Sie? Ich habe damals eine Urne mit Asche erhalten. Sie bekommen nicht einmal das. Zeigen Sie mich an. Bringen wir es zu Ende.«

Der Fabrikant hörte fassungslos zu. Als es erneut in der Leitung knackste, blickte er konsterniert den Hörer an.

»Nun sag endlich, was passiert ist!« Seine Frau ging mit Fäusten auf ihn los. Sie schlug ihm an die Brust, traf ihn im Gesicht.

Er warf den Telefonhörer auf die Gabel, packte die Frau und stieß sie aufs Sofa zurück. Eine Schwäche erfasste ihn. Er ging in die Knie. Wie paralysiert stierte er vor sich hin.

»Sag doch bitte, bitte etwas«, flehte seine Frau.

Er schüttelte ein wenig den Kopf. »Es ist vorbei«, murmelte er. »Vorbei.«

Ein heftiger Weinkrampf schüttelte die Frau. »Nein, bitte nicht! Sag, dass das nicht wahr ist. Bitte, bitte!« Sie flehte und flehte, doch er konnte nichts tun.

Der Fabrikant war am Ende. Der Anrufer … Das Datum … Kein Scherz … Kein Fünkchen Hoffnung … Seit Jahren hatte er nicht mehr an den Anrufer gedacht. Ein Fehler. Tödlich! Keine Chance mehr.

Es fiel ihm schwer, aber er musste aufstehen.

»Bitte, bitte«, hörte er zum wiederholten Mal seine Frau, die zusammengekauert auf dem Sofa saß.

»Moment. Warte. Ich bin gleich zurück.« Er sagte das so, als würde er nur kurz auf die Toilette gehen. Als würden sie gleich in Ruhe ein Gespräch fortsetzen. Seine Frau weinte leise vor sich hin.

Als er nach nicht einmal zwei Minuten das schöne, mit edlen antiken Möbeln ausgestattete Wohnzimmer wieder betrat, hörte sie ihn nicht kommen. Der teure Teppich schluckte seine Schritte. Als er abdrückte und die großkalibrige Kugel in ihren Hinterkopf drang, sah er sie noch vornüberfallen. Doch da schob er sich bereits die Pistole in den Mund und drückte ein zweites Mal ab.

Heimkehr

Die ausgiebigen Spaziergänge tun mir nach wie vor gut. Wie oft bin ich nun schon den Höhenweg im Dreiviertelrund um das Dorf gegangen, seit ich vor über einem Jahr mein Domizil wieder hier aufgeschlagen habe? »Höhenweg« ist ein wenig übertrieben, aber so nennen alle den schön angelegten Wanderweg, der in einigem Abstand oberhalb der letzten Häuser in weitem Bogen um das Dorf führt. Der höchste Punkt des Weges liegt bei etwas mehr als vierhundert Metern über Normalnull; am Rathaus, ziemlich genau in der Ortsmitte, ist ein Schild mit der Aufschrift »370 m ü. NN« angebracht. Keine große Differenz also, aber »Höhenweg« hört sich eben gut an.

Ich benötige etwa fünfzig Minuten für die Runde und dann noch mal fünfzehn Minuten bis zu meiner Wohnung. Manchmal verweile ich eine Zeit lang an einer Stelle, die eine besonders schöne Sicht in das weite Tal eröffnet, oder ich komme mit einem anderen Spaziergänger ins Gespräch. Dann kann die Tour schon mal eine halbe oder gar ganze Stunde länger dauern. Am liebsten gehe ich aber allein und hänge meinen Gedanken nach.

Ich liebe dieses Dorf, habe es nie richtig aus dem Sinn bekommen. Hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich eine schöne Kindheit und Jugend verbracht. Als ich mit achtzehn Jahren zur Bundeswehr musste, sehr weit weg, in den Norden Deutschlands, spürte ich Heimweh; an manchen Tagen in der Kaserne in Schleswig-Holstein plagte es mich über alle Maßen. Hin und wieder bin ich dort am Wochenende mit meinen Kameraden nach Hamburg gefahren, obwohl ich der Großstadt nichts abgewinnen konnte. Nur ein Besuch in der »Honka-Stube« auf St. Pauli weckte damals mein Interesse. Ein Mann namens Fritz Honka hatte mehrere Prostituierte auf grausame Art umgebracht und zerstückelt. Im Sommer 1975 wurden die Leichenteile entdeckt, der Mörder war rasch überführt. Seine Stammkneipe »Zum Goldenen Handschuh« wurde im Volksmund fortan nur noch »Honka-Stube« genannt.

Ich glaube, in dieser Zeit begann ich mich für den Polizeiberuf zu erwärmen, doch ansonsten wäre ich lieber heute als morgen wieder in meinem schwäbischen Dorf gewesen. Für ein freies Wochenende lohnte der weite Weg nach Hause nicht. Nach Dienstende am Freitagnachmittag war ich ewig lange mit der Bahn unterwegs, kam mit dem letzten Zug kurz nach Mitternacht in der Kreisstadt an. Irgendjemand musste mich dort abholen und die letzten zehn Kilometer ins Dorf bringen. Oder ich musste mir ein Taxi nehmen, was unverschämt teuer war. Sonntags galt es dann bereits um zehn Uhr morgens wieder aufzubrechen, nach gerade mal einem Tag zu Hause! Und wenn ich Sonntagnacht wieder in meinem Bett in der Kaserne lag, war das Heimweh schlimmer denn je.

Nach der Wehrdienstzeit bin ich dennoch nur kurz in mein Dorf zurückgekehrt. Ich entschied mich endgültig für den Polizeidienst und landete zur Ausbildung zunächst bei der Bereitschaftspolizei in Göppingen – immerhin auch noch ein wenig Heimat, knapp siebzig Kilometer von meinem Dorf entfernt. Die Ausbildungszeit war nicht von Pappe, aber Heimweh hatte ich kaum. Ich fühlte mich gut, zweifelte keinen Tag an meiner Berufswahl. Nach der Ausbildung kam ich im ganzen Land herum, wurde immer wieder versetzt, besuchte Lehrgänge, auch außerhalb Baden-Württembergs. Meine Arbeit erledigte ich offenbar erfolgreich. Ich stieg auf und übernahm eines Tages meine erste leitende Position bei der Kriminalpolizei in Tübingen. Als ich einen Monat nach meinem zweiundvierzigsten Geburtstag vom Präsidenten der Landespolizeidirektion zum Gespräch eingeladen wurde, war mir etwas mulmig zumute. Doch keine vier Wochen später saß ich an einem Schreibtisch auf dem Stuttgarter Pragsattel, und nach einem Jahr wurde ich zum Kriminaldirektor befördert.

Ich habe nie geheiratet, bin kinderlos geblieben. Der Beruf war über Jahrzehnte mein Ein und Alles. Erst in der Nacht nach der ausgiebigen Feier zu meinem fünfundfünfzigsten Geburtstag kamen Gedanken anderer Art auf: Wie sollte es weitergehen? Was fehlte eigentlich? Sollte ich nicht noch dies oder jenes … Irgendwie änderte sich mein Wertesystem, anfangs unmerklich. Als bald darauf eine neue Landesregierung gewählt und eine umfassende Polizeireform in Angriff genommen wurde, wusste ich von Anfang an, dass meine Zeit bei der Polizei zu Ende ging. Mit gerade einmal neunundfünfzig Jahren nutzte ich die Möglichkeit, vorzeitig in Ruhestand zu gehen. Dass meine Beamtenpension wegen des frühen Ausscheidens um ein paar Prozent gekürzt wurde, störte mich nicht. Ich muss für niemanden sorgen, keinem Kind das Studium finanzieren, keine Raten für einen Baukredit zurückzahlen. Bis auf meine schöne Eigentumswohnung und zwei, drei Wochen Urlaub im Jahr leiste ich mir nichts, was mich überfordern würde. Mein 3er BMW ist schon neun Jahre alt. Bei jedem Besuch in der Werkstatt versucht mein Händler vergeblich, mich vom Kauf eines neuen Modells zu überzeugen. Ich muss schmunzeln, als ich jetzt daran denke. Mit einem Kunden wie mir kann man keine Geschäfte machen.

Das Frühlingswetter heute – ein wahrer Genuss! Es ist der erste Mai, und ich stehe an meiner Lieblingsstelle des Höhenwegs. Die Lücken zwischen den Baumgruppen vor mir geben den Blick auf das Dorf frei, das so friedlich daliegt an diesem frühen Sonntagmorgen: das Rathaus, die Kirche und im Süden der ehemalige Bahnhof, der, hervorragend saniert, seit einigen Jahren als Kulturzentrum dient. Die Einwohnerzahl hat sich seit meiner Kindheit mehr als verdoppelt. Die Neubaugebiete, die Ende der Sechziger- und dann wieder in den Achtzigerjahren erschlossen wurden, kann man von hier oben ohne Mühe vom alten Dorfkern unterscheiden, der längst ebenfalls saniert und gefällig hergerichtet wurde. Dort, in den alten Häusern, die seit Jahrzehnten an ihrem Platz stehen, hat sich alles abgespielt.

Heute noch kann ich mich als Vier- oder Fünfjährigen sehen, Anfang der Sechzigerjahre, als die Straßen im Dorf noch nicht geteert waren und mit Schlaglöchern übersät. Noch deutlicher sind die Bilder, die sich mir wenige Jahre darauf eingeprägt haben, als große Bagger anrückten und die Hauptstraße aufrissen, um den Ort zu kanalisieren. Stundenlang konnten wir Kinder fasziniert zusehen, wie die tiefen Gräben ausgehoben wurden, in die später riesige Betonröhren hineinkamen. Es dauerte einige Jahre, dann waren alle Häuser angeschlossen. Bis dahin kam in regelmäßigen Abständen ein Tankwagen, der die Sickergruben leerpumpte. Unvorstellbar heutzutage. Ich erinnere mich noch an das Plumpsklo meiner Großeltern. Neben dem »Donnerbalken« stand eine große Kanne mit Wasser, das war die Spülung. Und statt weichem Toilettenpapier gab es einen Stapel Zeitungen, in Rechtecke von angemessener Größe zerschnitten. Druckerschwärze hatte man nach der Benutzung nicht nur an den Händen.

Mein Blick wandert Richtung Süden, zu der Brachfläche neben dem umgebauten Bahnhof. Die Fabrikhallen und das Bürogebäude des Fabrikanten, die dort einst standen, sind schon vor Jahren abgerissen worden. Bis Ende der Siebzigerjahre hatte das Unternehmen noch floriert, doch die wirtschaftlichen Folgen der ersten und zweiten Ölkrise brachen der Firma das Genick. Wie wir damals – war es 1973 oder 1974? – begeistert johlten, als das Fernsehen die Bilder von den leeren Autobahnen zeigte, auf denen Spaziergänger unterwegs waren! Die Scheichs hatten den Ölhahn zugedreht, um die westliche Welt unter Druck zu setzen, die Israel im Jom-Kippur-Krieg unterstützte. Für uns junge Leute war das alles weit, weit weg. Uns interessierte nur, wie wir am Sonnabend oder Sonntag in die Kreisstadt kommen sollten. Wenn wir in die Disco oder ins Kino wollten, waren wir auf den Omnibus angewiesen, und der fuhr nicht am autofreien Sonntag. Wirtschaftskrise? Nullwachstum? Das tangierte uns nicht!

Als einige Jahre später der Schah von Persien gestürzt wurde und ein gewisser Ajatollah Chomeini die Macht im Iran übernahm, ging es wieder vor allem ums Öl. Und wieder gab es eine schlimme Wirtschaftskrise. Gleichzeitig rüsteten die Großmächte gewaltig und gewalttätig auf. Da lag meine Jugendzeit schon hinter mir, und diesmal machte ich mir Sorgen. War der Weltfrieden in Gefahr? Sowjetische SS-20-Raketen bedrohten Deutschland. Im Gegenzug stationierten die Amerikaner Pershing-Raketen in unserem Land. Es kam zu Protestbewegungen, vor allem gegen den NATO-Doppelbeschluss. Darüber stürzte letztlich sogar der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt.

Alles Geschichte: die Ängste, die Wut, die Sitzblockaden vor Kasernen, die Lichterketten – kilometerlang. Das Aufeinanderprallen der politischen Lager. Was wohl ein heute Zwanzigjähriger darüber denkt? Das alles geht mir an meinem Aussichtspunkt durch den Kopf.

Fast zwangsläufig muss ich wieder an das Dorf meiner Kindheit denken. Was haben die Menschen aus den Erfahrungen der furchtbaren Zeit davor gelernt? Kann unsere heutige Jugend begreifen, welch ungeheures Unrecht damals verübt wurde? Und dass es nicht selbstverständlich ist, in Frieden und Freiheit zu leben? Die Menschen dort unten sind gut situiert, etliche wirklich wohlhabend. Es gibt auch ein paar, die es nicht geschafft haben, doch die meisten kommen gut oder gar sehr gut über die Runden. Manche gehen sonntags in die Kirche, viele sind in Vereinen aktiv. Sie engagieren sich in der Jugendarbeit, setzen sich für ihr Gemeinwesen ein, feiern Feste. Es ist ein schönes Dorf, mit guten Menschen.

Tatsächlich? Gute Menschen? Wie wären sie – wie wäre ich selbst – in anderen Zeiten? Wenn ein Regime an der Macht wäre, das Terror und Angst verbreitet. Das vor schlimmster Gewalt nicht zurückschreckt. Wer sich wehrt, wird aus dem Weg geräumt. Alle tun begeistert, übertreffen sich im »Heil«-Schreien. Der Arm kann nicht hoch genug gereckt werden. Jeder soll sehen, dass man dazugehört, auf der richtigen Seite steht.

Mein Gott, was für Gedanken! Ich musste diese Zeit nicht miterleben, habe erst später davon erfahren. Aber ich erinnere mich, wie sehr mich eine vierteilige Fernsehserie über den Holocaust mitgenommen, ja gequält hat. Das Schicksal einer jüdischen Familie in der Nazizeit, ein Spielfilm, der auf Tatsachen beruhte. Ich war erschüttert, wollte es erst gar nicht glauben. Wann war das? 1979? Bis dahin hatte ich nicht einmal den Begriff Holocaust gekannt. Unvorstellbar.

Im Jahr zuvor war der Ministerpräsident in Stuttgart zurückgetreten. Als Marinerichter hatte er unter den Nazis Todesurteile gefällt, noch in den letzten Kriegstagen, als schon alles verloren war. Was dachte er über den Matrosen, an dem er das Urteil auch vollstrecken ließ? Hatte er kein Mitgefühl? Keine Einsicht, nicht einmal nach so vielen Jahren? »Was damals rechtens war, kann heute kein Unrecht sein«, so konnte man es lesen. Und die Moral? Der Anstand? Nur Gefühle, die stören? Weg damit? Kann jemand, der sich formal im Recht wähnt, jedes Gespür für die persönliche Schuld verlieren?

So wie der Fabrikant, den ich deutlich in Erinnerung habe. Ich bin schließlich aufgewachsen in diesem Dorf, in dem ohne seine Zustimmung nichts Wesentliches geschehen durfte. Die beiden waren etwas ganz Besonderes, der Herr Konsul und seine Frau. Ich habe sie beneidet, ebenso wie ihren Sohn Herbert, in meiner Erinnerung ein groß gewachsener, schlaksiger Jugendlicher, deutlich älter als ich. Immer in Anzug und Krawatte, jeden Sonntag. Ich habe mir ausgemalt, wie das wohl wäre, wenn ich selbst in einer so reichen Familie aufwachsen würde. Schon als Kind hat man ein Gespür für soziale Unterschiede.

Mein Vater hatte Maurer gelernt, wollte sogar die Meisterprüfung in Angriff nehmen. 1944 durfte er dann für das Tausendjährige Reich kämpfen. Irgendwo auf dem Balkan wurde er schwer verletzt, kehrte aber immerhin nach Hause zurück. Kriegsgefangenschaft blieb ihm erspart, an schwere Arbeiten war jedoch nicht mehr zu denken. Er trug einige Granatsplitter im Rücken mit sich herum, lief immer ein wenig gebückt.

Der Fabrikant sorgte für ihn. Er stellte meinen Vater als Pförtner ein, der am Wochenende zudem die Aufgaben eines Nachtwächters versah. Meine Mutter verdiente als Büglerin mit Heimarbeit ein wenig hinzu. Auch für sie sorgte der Fabrikant. Körbe voll Hemden standen bei uns im Wohnzimmer. Ich habe heute noch den Geruch frisch gewaschener, getrockneter Hemden in der Nase, die mit Wasser eingesprüht und dann mit dem heißen Eisen geglättet werden. An vier Nachmittagen in der Woche bügelte meine Mutter. Wir hatten unser Auskommen. Zudem wohnten wir günstig zur Miete in einem der Häuserblocks, die der Fabrikant Mitte der Fünfzigerjahre bauen ließ. Wer bei ihm Arbeit fand, erhielt über kurz oder lang auch eine Wohnung. Er sorgte sich um seine Leute, nicht nur uns ging es gut deswegen. Wenn wir ihm begegneten, zog mein Vater sogleich den Hut und verbeugte sich. Auch mir wurde Respekt vor dem Herrn Konsul beigebracht. Wenn er auf der Bildfläche erschien, verspannte sich allerdings etwas bei meinem Vater, daran erinnere ich mich deutlich. Dann, nach dem Gruß – der Fabrikant war schon zehn Meter weitergegangen –, gab sich mein Vater wieder fröhlich, ganz locker. Alles war gut.

Mein Dorf – ich bin sehr gern wieder hierher gezogen. Mit zwanzig Jahren war ich damals weggegangen, als Neunundfünfzigjähriger habe ich im vergangenen Jahr eine nagelneue Eigentumswohnung im Dachgeschoss eines vierstöckigen Gebäudes bezogen, ganz in der Nähe des ehemaligen Bahnhofs. Vom Balkon aus überblicke ich fast den gesamten Höhenweg, viel Wald, viele Wiesen, viel Grün. Ich fand manche meiner ehemaligen Schulkameraden wieder. Auch im FSV, in dem ich bis zur A-Jugend begeistert Fußball gespielt hatte und dem ich sofort wieder beitrat, begegnete ich Freunden und Mitspielern von früher. Ich war rasch integriert, gerade so, als wäre ich nie weg gewesen.

Am ersten Osterfest in der alten Heimat besuchte ich den Gottesdienst, der vom Kolping-Chor musikalisch gestaltet wurde. Es war wunderschön. Da ich selbst gern singe, bin ich gleich in der folgenden Woche in den Chor eingetreten. Auch dort war ich herzlich willkommen. Auf die Singstunde am Donnerstagabend freute ich mich jedes Mal. Die Menschen waren freundlich, nett und zuvorkommend. Ich fühlte mich daheim.

Dann allerdings veränderte sich etwas, ich habe es gar nicht gleich bemerkt. Erst als zum wiederholten Mal Gespräche abbrachen, wenn ich den Raum betrat oder mich am Spielfeldrand zu einer Gruppe Fußballkenner gesellte, spürte ich die Distanz, die sich eingeschlichen hatte. Dann bekam ich plötzlich keine Einladungen mehr – nicht zur Hauptversammlung, obwohl die Satzung das zwingend vorschrieb, nicht zum Jahresausflug oder sonstigen Unternehmungen. Ein Versehen. Bedaure, da ist ein Fehler passiert. Kommt nicht wieder vor. Solche Antworten musste ich mir anhören, wenn ich auf das Versäumnis hinwies.

Was war da los? Ich konnte es mir nicht erklären – bis mich mein ehemaliger Polizeikollege Josef Reiber zur Seite nahm. Wir kannten und schätzten uns seit ewigen Zeiten. Josef war auch in unserem Dorf aufgewachsen, doch im Gegensatz zu mir nie weggezogen. Acht Jahre älter als ich, genoss er schon seit einigen Jahren seinen Ruhestand. Auf dem Weg zum Fußballplatz trafen wir zufällig aufeinander. Ein Freundschaftsspiel unserer Kreisklassekicker gegen eine Mannschaft aus der Zweiten Bundesliga stand auf dem Programm. Von der Begrüßung abgesehen, redete Josef zunächst nichts mit mir. Er wirkte irgendwie befangen.

»Lass dir mal was sagen von einem, der es gut mit dir meint«, begann er schließlich das Gespräch.

Ich stutzte, sah ihn wohl etwas überrascht an.

»Nun guck nicht so. Es ist mir ernst. Da läuft etwas schief, und zwar gewaltig.«

Wir blieben beide stehen. Immer noch schaute ich ihn fragend an.

»Hör auf mit deinen Nachforschungen, Rudolf. Das sorgt nur für Ärger.«

»Ach herrje, was mach ich denn Schlimmes?«

Natürlich hatte er recht: Ich betrieb seit einigen Wochen Nachforschungen im Dorf. Anfangs hatte ich gedacht, das Ganze sei bald erledigt. Doch zu meiner Überraschung gestaltete sich die Angelegenheit zäh und alles andere als einfach.

»Hm«, brummte Josef, »schlimm ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber du bringst die Menschen durcheinander. Du reißt alte Wunden auf.«

»Jetzt mach mal halblang. Erstens ist das alles mehr als ein halbes Jahrhundert her. Und zweitens handelt es sich um ungeklärte Kriminalfälle. Schwerstkriminalität – du weißt, was ich meine.«

Josef verzog das Gesicht. »Herrgott noch mal, Rudolf! Lass es einfach sein. Du bist im Ruhestand. Bist rüstig, dir fehlt nichts. Genieße deine Tage. Von den alten Geschichten will niemand etwas wissen.«

»Ich will es wissen. Immerhin gibt es da eine Spur. Ich bin eben Polizist.«

»Du warst Polizist, Rudolf. Du bist seit über einem Jahr in Pension. Du musst nichts mehr aufklären, brauchst dich um nichts zu kümmern. Noch einmal: Lass die Finger davon!«

»Aber was soll denn so schlimm daran sein? Von den Beteiligten lebt keiner mehr, niemand muss etwas befürchten. Keine Bestrafung, kein Gefängnis, nichts.«

»Da sieht man, dass du keine Ahnung hast. Unser Dorf ist zwar gewachsen, die Hälfte der Einwohner ist erst in den Sechzigerjahren oder noch viel später zugezogen. Es gibt aber einen Kern von Familien, die schon immer hier gelebt haben. Nachkommen und Verwandte, die denselben Namen tragen. Die wollen ihre Vorfahren nicht in den Dreck ziehen lassen, wollen auch selbst nicht mit den ollen Kamellen in Verbindung gebracht werden, verstehst du? Da gibt es immer noch Menschen, die betroffen sind. Und die wollen ihre Ruhe!«

Ich schwieg.

»Bist du jetzt etwa überrascht?«, unterbrach Josef die Stille. »Du hast vielleicht Nerven. Rührst in einer alten Suppe, die keinem schmeckt, und wunderst dich, wenn du dich damit unbeliebt machst.«

»Was heißt hier olle Kamellen?«, versuchte ich einigermaßen hilflos eine Antwort. »Mord bleibt Mord, selbst wenn noch so viele Jahre vergangen sind. Da sollte es doch ein Interesse an Aufklärung geben.«

»Bei dir vielleicht – bei sonst niemandem. Täusch dich da bloß nicht. Kein Mensch will von diesen Geschichten etwas wissen. Das interessiert keinen.«

»Mich interessiert es aber …«

»Schon klar, dich interessiert’s. Aber warum? Was geht dich das an? Wie kommst du überhaupt auf das Thema? Mensch, Rudolf, mach das Fass wieder zu! Du hast es doch gut hier bei uns. Setz das nicht leichtfertig aufs Spiel. Wofür denn?«

»Ich will es einfach wissen. Und wenn du fragst, wie ich darauf komme: Ich habe seit Kindertagen ein Bild im Kopf. Eine Szene, die mich als Sechsjährigen verwirrt und beunruhigt hat. Mein ganzes Leben lang kam sie mir immer wieder in den Sinn. Jetzt habe ich Zeit, dem nachzugehen.«

»Sturer Bock! Ein Bild im Kopf! Was für eine Szene denn?«

Ich erzählte Josef davon. Er hörte skeptisch, aber doch aufmerksam zu und deutete dann immerhin Verständnis an. Nicht dass meine Absichten seine ungeteilte Zustimmung fanden – er riet mir nach wie vor, Rücksicht zu nehmen und Ärger zu vermeiden. Andererseits sprach er vom Fingerspitzengefühl, das man in so einer Angelegenheit walten lassen müsse. Und als er schließlich meinte: »Tu, was du nicht lassen kannst«, wusste ich ihn wenigstens ein Stück weit auf meiner Seite.

Ich wende mich vom Ausblick auf das Dorf ab, das friedlich in der Frühlingssonne ruht, und gehe langsam weiter. Das Gespräch mit Josef liegt jetzt auch schon wieder ein Jahr zurück. Ach ja, die guten, lieben Menschen. Sind meistens freundlich, kaum einer sucht Streit. Sie wollen friedlich leben, die Ruhe am Wochenende oder nach Feierabend genießen, gut mit den Nachbarn auskommen. Leben und leben lassen. Was aber geschieht, wenn sich die Umstände ändern? Wie reagieren die Menschen dann? Schlummert da in jedem von uns etwas Böses, Zerstörerisches? Jahrelang hat man keine Ahnung davon. Der Mensch weiß sich zu benehmen, tritt ordentlich auf, gibt keinen Anlass zu Klagen. Doch mit einem Mal kommt etwas zum Vorschein, was man nicht für möglich gehalten hätte. Etwas Abgründiges, ein Zorn, der auf Vernichtung aus ist. Zerstörerisch. Hat jeder von uns so einen Anteil in sich? Meistens gebändigt, weggeschlossen, unbemerkt?

Die friedlichen Bewohner des Dorfes, die miteinander singen, sich einsetzen, um gute Lösungen ringen – wenn sie sich gestört fühlen, verhalten sie sich ganz anders. Nicht mehr freundlich und friedlich, sondern feindselig und unduldsam.

Ich freue mich noch immer an meinem Dorf. Es ist sehr schön gelegen, bietet viel Lebensqualität. Die Menschen jedoch sehe ich jetzt anders. Aus den beiden Vereinen bin ich ausgetreten. Zwar wagt es niemand, offen gegen mich vorzugehen, aber ich habe einen Scherbenhaufen hinterlassen, den sie mir nicht nachsehen, die alteingesessenen Familien. Ich gehöre nicht mehr dazu. Sie wollen mich nicht in ihren Reihen.

Es lässt sich trotzdem ganz gut leben hier. Von vielen Zugezogenen habe ich sogar Lob bekommen. Die Neubürger, die nicht involviert sind, zeigen sich aufgeschlossen und interessiert, wollen mehr wissen. Was aber ist mit den Menschen, die zwar nicht unmittelbar betroffen sind, doch irgendwie Berührungspunkte zu dem schrecklichen Geschehen haben? Und was ist mit denjenigen, die tatsächlich Schuld auf sich geladen haben? Die genau wissen, was sie getan haben? Wie können sie die Schuld ertragen? Wie einfach so weiterleben? Keine Demut zeigen. Nicht um Verzeihung bitten. Geradezu rachsüchtig handeln, wenn jemand unliebsame Fragen stellt. Wie sehr muss man diese Menschen fürchten?

Kindheitstage

Siebzehn Jahre bei der Landespolizeidirektion – was habe ich da alles mit ansehen müssen! Welchen Dreck. Welches Elend. War ich zunächst für Bandenkriminalität zuständig, danach für Mord und einige Zeit für Staatsschutzaufgaben, leitete ich die letzten sechs Jahre das Rauschgiftdezernat. Wer als Normalbürger durch seine Stadt spaziert, ahnt ja nicht, was sich in manchen Vierteln abspielt, in Hinterhäusern und Kellerwohnungen, aber auch in der einen oder anderen Villa in Halbhöhenlage.

Oder in der Stuttgarter Königstraße: schicke Kleider, elegante Schuhe, ausgefallener Schmuck, alles in bester Qualität. Dazu Straßencafés und Restaurants, das gläserne Kunstmuseum, der durchaus beeindruckende Schlossplatz. Wer will da wissen, was hinter den Fassaden läuft? Wo Geld gewaschen oder ein Restaurantbesitzer gnadenlos erpresst wird? In welcher Tiefgaragenecke sich die Süchtigen ihre Spritze setzen?

Und wer ahnt schon, welch grausame Verbrechen vor Jahrzehnten in dem Gebäude verübt wurden, das keine fünf Minuten Fußweg von der Königstraße entfernt liegt und bis vor wenigen Jahren dem Innenministerium als Hauptgebäude diente? Wie oft war ich dort im dritten Stock zur Dienstbesprechung. Erst nach Jahren habe ich eher zufällig mitbekommen, was sich früher in den Kellerräumen des Gebäudes abgespielt hat. Welche Qualen und Schmerzen hier Menschen zugefügt wurden! Und dass die dafür Verantwortlichen keinerlei schlechtes Gewissen oder gar Mitleid hatten, wenn sie Menschen kaputt machten, Familien zerstörten, Angst und Schrecken verbreiteten. Dieses »Hotel Silber« in der Dorotheenstraße sollte mich nach meiner Pensionierung noch beschäftigen.

Meiner Einladung zum Abschiedsfest waren fast alle gefolgt. Nur wer Bereitschaftsdienst hatte, krank oder im Urlaub war, ließ sich entschuldigen. Der Polizeipräsident hielt eine mir schmeichelnde Rede, alle gratulierten mir. Das Fest dauerte vom späten Nachmittag bis weit in den Abend hinein, der harte Kern hielt mit bester Laune bis gegen Mitternacht durch. Dann war nur noch mein Freund und Kollege da, Kriminaldirektor Ralph Wissmann, sicherlich einer der härtesten Burschen in der gesamten Direktion. Ralph machte sich keinerlei Illusionen mehr über die menschliche Natur. Er schüttelte nur den Kopf, wenn ich neben dem Bösen auch das Gute im Menschen sehen wollte.

Als sich die letzten Gäste verabschiedet hatten, füllte er zwei Weingläser, setzte sich mir gegenüber und schob mir eines der Gläser zu. »Lass mich mit dir anstoßen, Rudolf. Ich werde dich vermissen.« Er lächelte melancholisch.

»Wie lange willst du denn noch machen?«

»Fünf Jahre, dann bin ich sechzig. Dann soll Schluss sein.« Er hob das Glas. »Salute! Auf dein Wohl!« Wieder dieses melancholische Lächeln. Wir stießen an.

»Danke dir, Ralph. Auch dir alles Gute!« Mir wurde irgendwie sentimental zumute.

»Was machst du denn ab morgen? Wird dir nicht langweilig?«

»Da mach dir mal keine Sorgen. Ich bin gesund und noch einigermaßen gut beieinander. Einen Pensionsschock wirst du bei mir nicht erleben. Ich freue mich, ehrlich.«

»Gut. Und hast du dich irgendwie auf den Ruhestand vorbereitet?«