Kellerkind und Kaiserkrone - Harald Görlich - E-Book

Kellerkind und Kaiserkrone E-Book

Harald Görlich

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Beschreibung

Stuttgart um 1848. Bruno Kohler wächst in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Mutter auf. Alles ändert sich, als er einem jüdischen Jungen das Leben rettet. Dessen Vater, ein reicher Stuttgarter Kaufmann, erkennt Brunos Talent und ermöglicht ihm das Studium in Berlin und den Aufstieg in die höchsten politischen und wirtschaftlichen Kreise. Auch privat scheint er seine große Liebe gefunden zu haben. Doch das Schicksal schlägt unerbittlich zu. Alsbald wirft der deutsch-französische Krieg seine Lebenspläne über den Haufen. In Versailles verliebt er sich ausgerechnet in eine Französin und muss hierfür einen hohen Preis zahlen …

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Harald Görlich

Kellerkind und Kaiserkrone

Historischer Roman

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© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2012

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Die Andacht des Großvaters«

Prolog

Der Schlag traf ihn völlig unvorbereitet. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Vom Schmerz überwältigt, konnte er ein gequältes Aufstöhnen nicht unterdrücken. Reflexartig war seine Hand zum Nacken gezuckt, wo die Weidenrute so unvermittelt seine Haut aufgerissen hatte. Er spürte das warme, klebrige Gefühl des austretenden Blutes. Die Wunde brannte, und die Tränen ließen sich trotz aller Anstrengung nicht zurückhalten. Verschwommen nahm er durch den Schleier vor seinen Augen seine Klassenkameraden wahr. Einige von ihnen grinsten und freuten sich augenscheinlich über die ihm widerfahrene Pein – eine weitere Demütigung für den kleinen Jungen, der in der letzten Bank sitzen musste. Vor ihm stand sein Lehrer. Wiesner lächelte ihn böse an, strich dabei fast zärtlich über die Rute, mit der er ungeheuerlich gemein zugeschlagen hatte. Mit voller Wucht war sie von hinten auf den Kinderhals niedergeknallt. Fast sah es so aus, als würde der Lehrer die Rute für den Dienst loben, den sie ihm soeben erwiesen hatte.

Vater hilf mir, hilf mir, bitte!, flehte der Junge in Gedanken. Er konnte gar nicht verstehen, was mit ihm geschah. Mit einem einzigen, scharfen Kommando brachte in diesem Augenblick Wiesner die Klasse zur Ruhe. Niemand wagte mehr ein Lachen, alle warteten nur noch gespannt, was als Nächstes folgen würde. Wiesner blickte den Jungen mit gehässigem Lächeln an. Sein spitzes Gesicht, das so gar nicht zu seinem fülligen Körper passen wollte, beugte sich zu ihm hinunter. Weil es ganz still war, empfand der Junge sein leises Schluchzen als besonders peinlich. Alle sahen, dass er weinte. Er schämte sich dafür und senkte den Kopf.

»Schau mich gefälligst an, wenn ich mich mit dir befasse«, sprach Wiesner mit zischend leiser Stimme. Dabei hielt er die Weidenrute unter das Kinn des Jungen und tätschelte mit ihr leicht dagegen. Der Junge schaute auf, die Hand immer noch auf den schmerzenden Nacken gedrückt. Mit einer fast sanft klingenden Stimme fragte nun Wiesner:

»Mein lieber Junge! Ist dir klar, weshalb ich dich bestrafen musste?« Der Junge fürchtete sich. Er war sich keines Vergehens bewusst und schüttelte leicht den Kopf. Das verärgerte den Lehrer, der anfing, ihn mit der Rute zu stoßen.

»Unser Bruno weiß es nicht! Er weiß es anscheinend nicht!« Zur Klasse gewandt fragte er: »Na, wer von euch kann es ihm erklären?«

Die Buben rührten sich nicht. Tatsächlich konnte keiner einen Grund angeben. Sie schwiegen. Einige von ihnen waren sich in diesem Augenblick durchaus im Klaren, dass einer von ihnen ungerecht behandelt worden war. Und dabei geschah dies Bruno nicht zum ersten Mal. Sie erlebten dieses Schauspiel fast schon das ganze Jahr über. Wiesner hasste Bruno. Und er ließ es sich nicht nehmen, seinen Hass in aller Regelmäßigkeit auszuleben. Heute war er besonders brutal vorgegangen. Der Schulmeister hatte – seine Klasse aufmerksam beobachtend – an der Rückwand des Klassenzimmers gelehnt. Dann war er, die Rute sachte auf seine Hand schlagend, Schritt für Schritt auf Brunos Platz zugegangen. Völlig überraschend hatte Wiesner dann ausgeholt und die Rute von oben auf Brunos Hals niedersausen lassen. Es klatschte hässlich, als der elastische Stock die Haut und das Fleisch getroffen hatte.

»Du bist nicht gerade gesessen, Bruno!«, hörten sie Wiesner sagen, der dabei mit einem leichten Kopfschütteln ihren Mitschüler ansah. »Und du weißt doch: Es ist in deinem Fall ganz, ganz wichtig, dir Haltung beizubringen. Sonst missrätst du wie dein Vater. Und das möchtest du doch keinesfalls, oder?«

Da war wieder die Anspielung auf seinen Vater, die sich Bruno schon so oft anhören musste. Bruno war neun Jahre alt, sein Vater bereits seit über einem Jahr tot. Wie sehr er ihn vermisste! Kein Tag verging, an dem Bruno nicht an ihn dachte. Peter Kohler, sein Vater, hatte sich gegen den König erhoben, so versuchte ihm seine Mutter zu erklären, weshalb er nicht mehr bei ihnen war. Und in der Tat hatte sich Peter Kohler in den Revolutionsjahren 1848 und 1849 als überzeugter Republikaner auf die Seite der Aufständischen gestellt. Er war mit Überzeugung für die demokratische Sache eingestanden. Als die Revolution zusammenbrach, kämpfte er Seite an Seite mit den badischen Revolutionären gegen die Preußen. Bei der Schlacht von Rastatt musste er gestorben sein, soviel wusste sein Sohn. Seither sagten alle, er wäre das Kind eines Revoluzzers. Lehrer und Pfarrer erklärten, gerade er dürfe nicht geschont werden. Zwar zählte man bereits das Jahr 1850, aber die Demütigungen hatten ständig zugenommen. Der schlimmste Peiniger von allen war zweifellos Ernst Wiesner, sein bösartiger Lehrer, der ihn jede Woche mit sadistischer Lust quälte.

Der Vater

1841 – 1849

1

Die Residenzstadt von König Wilhelm I. war noch ausgesprochen kleinstädtisch geprägt. Stuttgart zählte kaum fünfzigtausend Einwohner. Das Königreich Württemberg bot den Menschen nur eher bescheidene Erwerbsmöglichkeiten. Viele Menschen verließen deshalb das Land, wanderten nach Amerika aus und hofften dort auf ein besseres Leben. Auch Peter Kohler überlegte seit geraumer Zeit, ob er nicht in die Neue Welt aufbrechen sollte. Er hatte in der Sonntagsschule zwar nur Lesen, Rechnen und Schreiben gelernt, doch galt er als kluger Kopf. Wie etliche andere, fühlte er sich eingeengt und ohne Chance auf ein Vorankommen. Auch der Transportunternehmer Schnitzler, bei dem er in Lohn und Brot stand, wusste nur zu gut um seine Fähigkeiten, die ungenutzt brachlagen. Zudem schätzte er Peter Kohlers Zuverlässigkeit und seinen Fleiß. Deshalb sah Schnitzler ihm auch manche Äußerung nach, mit der er immer wieder einmal aneckte. Peter Kohler sprach nicht selten allzu offen aus, was er dachte. Sein kritischer Geist prangerte dabei sowohl die wirtschaftlichen Zustände als auch die politischen Verhältnisse an. Allzu rasch konnte man dafür allerdings im Kerker landen. Nur weil Schnitzler selbst liberalem Gedankengut nahe stand, war Peter bisher davongekommen. Einmal hatte ihn ein Tagelöhner bei der Polizei angeschwärzt. Dort musste er sich dann dafür rechtfertigen, dass er über den Bau des Wilhelmspalais gemeckert und die fürstliche Geldverschwendung angekreidet hatte. Mit dem Palais wollte König Wilhelm einen überaus ansehnlichen städtebaulichen Akzent setzen, der jedoch enorme Steuergelder verschlang. Peter war jeden Tag an der Baustelle vorbeigekommen. Die kleine Kellerwohnung, die ihm und seiner Frau zur Verfügung stand, lag keine dreihundert Meter entfernt. Auf dem Weg zur Arbeit konnte er Tag für Tag die Baufortschritte bis zur Fertigstellung im Jahr 1840 verfolgen. Er stand jeden Morgen kurz nach vier Uhr auf, um gegen sechs Uhr an seiner Arbeitsstelle in Cannstatt sein zu können. Dort war er zuständig für das Entladen der Kohlefrachtkähne. Peter mochte Schnitzler. Vor allem konnte er ihm vertrauen. Der Fuhrunternehmer ließ selbst hin und wieder anklingen, dass es an der Zeit sei, die Herrschaft eines Monarchen durch eine ordentliche Volksvertretung einzuschränken. Doch Schnitzler hatte ihm bei derartigen Gelegenheiten auch immer wieder zu großer Vorsicht geraten. Allzu rasch konnte man sich mit einer unbedachten Äußerung den Mund verbrennen. Peter Kohler wurde bei solchen Gelegenheiten noch mehr in seinen Auswanderungsgedanken bestärkt. Immer wieder hörte er von dem Glück, das so mancher, der nach Amerika ausgewandert war, gemacht haben sollte. Zwar konnte selten jemand diese Meldungen bestätigen. Wie jeder andere, der vom großen Glück in der anderen Welt träumte, glaubte aber auch Peter an ein besseres Leben in Amerika. Seine fünf Jahre jüngere Frau Magdalena, mit der er gerade erst ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, wollte zunächst von den Amerikaplänen gar nichts wissen. Ja, sie sträubte sich regelrecht dagegen. Trotz ihrer ärmlichen Lebensverhältnisse hing sie an Stuttgart und ihrer schwäbischen Heimat. Zudem hatte sie eine gewaltige Furcht vor dem Abenteuer, das sie in ein neues, unbekanntes, gar wildes Land führen würde.

»In Amerika sind alle Menschen gleich, und jeder ist seines Glückes Schmied«, begann Peter Kohler in einer Samstagnacht das Gespräch mit seiner Frau. Er lag mit ihr bereits unter der Decke in dem aus Strohmatten hergerichteten Bett. Peter genoss wie schon so oft die Wärme, die der Körper seiner Frau ausstrahlte. Er streichelte und liebkoste sie, doch verspürte er eine gewisse Abwehrhaltung. Magdalena hatte ihren Kopf von ihm weggedreht. Er wusste dieses Zeichen zu deuten. Sie war dann nicht bereit für sein Liebeswerben. Heute konnte er sein Verlangen ohne große Mühe beherrschen. Amerika ging ihm ständig durch den Kopf. So redete er in einem fort über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

»Wir könnten zum Beispiel ein eigenes Transportgeschäft eröffnen«, träumte er laut vor sich hin. »Stell dir vor! Wir arbeiten hart, aber ich werde dabei mein eigener Herr sein. Ein Haus würden wir uns bauen können. Ein eigenes Haus! Vielleicht mit einem kleinen Garten. Alle unsere Anstrengungen würden sich für uns lohnen. Was wäre das für eine Zukunft!«

Doch seine Frau reagierte nicht. Auch das war etwas ungewöhnlich, hatte sie sich doch in letzter Zeit ein wenig auf seine Träumereien eingelassen. Seither hoffte er mehr und mehr, sie für seine Pläne gewinnen zu können. Ein klein wenig ernüchterte ihn deshalb Magdalenas Haltung in dieser Nacht. Er wollte aber noch nicht aufgeben und unternahm einen zweiten Anlauf.

»Mit einer eigenen Kutsche werde ich dich sonntags durch die Stadt fahren. Und dabei wirst du ein schönes Kleid tragen. Du wirst schon sehen, wir werden es uns leisten können. Du hast längstens hübsche Kleider verdient, so schön wie du bist.« Peter schmeichelte seiner Frau. »Und es geht dabei nicht nur um unsere eigene Zukunft«, fuhr er fort. »Denke einmal an unsere Kinder. Auch sie werden es dann besser haben. Was können wir uns mehr wünschen, als dass sie in einer besseren Welt groß werden?«

Doch kaum hatte er seine Frage beendet, bemerkte er verwirrt ein Seufzen bei seiner Frau. Sie schien gar zu weinen. Erschrocken richtete er sich auf. Es war stockdunkel in dem Raum, sparten sie sich doch das Kerzenlicht für ganz seltene Augenblicke auf.

»Was ist? Was ist mit dir?«

Magdalena drehte sich zu ihm um. Er wollte sie sogleich trösten. »Tut dir etwas weh? Hast du Schmerzen?« Trotz der Dunkelheit entging ihm nicht das leichte Kopfschütteln. Er sprang nun auf, tastete sich zum nahe stehenden Tischchen und griff nach der Kerze. Schließlich konnte er sie anzünden. Seine Frau saß im Bett. Auf ihre Arme gestützt weinte sie leise mit gesenktem Kopf. Peter Kohlers Nervosität nahm zu. Mit einem unguten Gefühl setzte er sich zu seiner Frau. Er wollte gerade noch einmal fragen, was ihr fehle, da kam sie ihm zuvor.

»Weißt du, Peter«, begann sie, »ich hätte dir so gern die Reise nach Amerika gegönnt.« Innerlich reagierte Peter mit Enttäuschung auf diese Worte. Hatte er doch gehofft, nein, er war sich in letzter Zeit sogar sicher gewesen, dass Magdalena doch noch mit ihm nach Amerika aufbrechen würde. Leise sprach seine Frau weiter.

»Vielleicht müssen wir die Reise nur ein wenig verschieben. Vielleicht geht es später, in zwei, drei Jahren.«

Peter blickte sie verwundert an. Er konnte sich keinen Reim auf ihre Worte machen.

»Peter, lieber Peter!« Magdalena fasste ihn an der Hand. Sie führte seine Hand zu ihrem Bauch und drückte sie sanft dagegen.

»Peter, wir werden bald einen Sohn oder eine Tochter haben.« Sie hätte es nicht sagen müssen. Peter Kohler hat es in dem Moment gewusst, als sie seine Hand auf ihren Bauch gelegt und ihn auf eigenartige Weise angeschaut hatte. Ihm war ganz heiß dabei geworden. Jetzt strahlte er sie an. Amerika spielte in diesem Augenblick keine Rolle mehr. Er umarmte seine Magdalena, drückte sie an sich und kämpfte mit den Tränen.

»Amerika kann warten«, sagte er leise. Er küsste seine Frau erst auf den Mund, dann auf die Stirn. »Ich werde ein guter Vater sein, Magdalena. Bestimmt! Ein guter Vater.«

2

Gegen halb elf Uhr morgenserschrak Magdalena heftig. Ihr Mann saß neben ihr auf dem Bett, er lächelte. Sie rechneten jetzt jede Stunde mit dem Einsetzen der Wehen.

»Drei Kanonenschüsse! Der Festzug setzt sich nun in Bewegung.«

An diesem Tag, man schrieb den 28. September 1841, sollten am späten Vormittag die Wehen beginnen. Es war der Tag des fünfundzwanzigsten Regierungsjubiläums von König Wilhelm I. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Allein der Festzug umfasste mehr als zehntausend Personen. Zudem hatten sich mehr als zweihunderttausend Menschen in Stuttgart eingefunden. Eine geradezu riesige Zahl! Der Lärm, der von draußen in das Zimmer im Erdgeschoss des noch aus Holz gebauten Hauses in der Canalstraße drang, war deshalb gewaltig. Peter Kohler konnte leicht auf das Spektakel verzichten. Schon seit etlichen Jahren war er mit der Fürstenherrschaft nicht mehr einverstanden. Seiner Meinung nach sollte endlich das Volk selbst bestimmen dürfen. Dass dieses Volk nun zu Tausenden dem König huldigte und ihn bejubelte, konnte er gar nicht verstehen.

Magdalena hielt sich den Bauch. Sie stöhnte zum wiederholten Male auf. Die Wehen wurden heftiger.

»Wo sie nur bleibt?«, Peter dachte an die nebenan wohnende Dienstmagd, mit der sie sich so gut verstanden. Schon vor zwei Stunden war sie losgeschickt worden, um die Hebamme zu holen, die nicht weit entfernt gleich hinter der Leonhardskirche ein heruntergekommenes Häuschen besaß.

»Wenn Lisbeth nicht bald zurückkommt, gehe ich selbst los und schaue nach der Hebamme.« Kaum hatte er den Satz beendet, stürzte Lisbeth ins Zimmer.

Ziemlich außer Atem und mit einem von der Anstrengung geröteten Gesicht erklärte sie aufgeregt, sie könne die Hebamme nicht finden. Peter wurde immer nervöser. Wahrscheinlich hielt sich die Hebamme beim Festzug auf. Er machte sich Sorgen wegen der bevorstehenden Geburt, wusste er doch nicht, wie er sich dabei verhalten sollte.

»Sei so gut, Lisbeth. Versuche es drüben beim Schloss noch einmal. Und schaue vorher bei Dr. Mussler vorbei. Wenn wir Glück haben, ist er vielleicht zu Hause.« Zwar mochte er den Armenarzt des Viertels nicht besonders, da dieser Arzt wirklich grob mit seinen Patienten umging. Zudem war er allgemein wegen seiner Trunksucht bekannt. Doch Mussler schien immer noch besser zu sein, als gar niemanden zu haben.

Auf Lisbeth konnten sich die Kohlers verlassen. Sicherlich wäre sie allzu gern zum Festzug gegangen. Einen Blick auf den leibhaftigen König werfen – das wäre auch für sie ungemein spannend gewesen. Aber Magdalena und Peter waren ihr wichtiger. Sie machte sich rasch auf den Weg. Das Stadtviertel schien wie ausgestorben. Schon nach wenigen Minuten stand Lisbeth vor Musslers Haus, das als einziges Steinhaus in der Gegend besonders auffiel. Die umstehenden Holzhäuser sahen teilweise recht mitgenommen aus. Auf den ersten Blick konnte jedermann die ärmlichen Verhältnisse, die in dem Viertel vorherrschten, erkennen. Die meisten Menschen, die hier wohnten, lebten mehr schlecht als recht von Gelegenheitsarbeiten. Doch waren sie auch froh über Mussler, dem auch seine Neigung zum Alkohol nachgesehen wurde. Die miserablen Wohnverhältnisse, die unzureichende Ernährung und mangelhafte Hygiene sorgten für einen hohen Krankenstand in dem Viertel. Der Armenarzt hatte in mancher Familie nicht nur einmal Schlimmeres verhindert. Väter und Mütter waren ihm schon oft dankbar gewesen, wenn er ihre fiebernden und hustenden Kinder wieder gesund gemacht hatte.

Nach dem dritten energischen Klopfen wusste Lisbeth, dass sie kein Glück haben würde. Sie stampfte enttäuscht mit dem Fuß auf, klopfte noch einmal wütend mit der Faust gegen die Tür, resignierte dabei aber bereits und rannte kurz darauf wiederum zum Haus der Hebamme. Aber auch dieser neuerliche Versuch endete enttäuschend. Die Frau Barbara, wie die Hebamme von allen genannt wurde, war zwischenzeitlich nicht zurückgekehrt. Lisbeth musste erst eine Pause einlegen und verschnaufen. Sie hatte sich ziemlich verausgabt. Als sie wütend und deprimiert zugleich an der Leonhardskirche vorbei ging, bekreuzigte sie sich und flehte den Herrgott um Hilfe an. Beim Waisenhaus fing sie wieder zu rennen an. Doch als sie am äußeren Schlossplatz ankam, konnte sie wegen der vielen Menschen nur noch mühsam vorwärts gelangen. Inständig hoffte sie, die Hebamme durch bloßen Zufall anzutreffen. Die Menschenmassen drängten sich jedoch derart dicht, dass an ein Vorwärtskommen nicht mehr zu denken war. Lisbeth kämpfte sich noch eine Zeit lang tapfer durch die Reihen. Sie wurde dabei beschimpft, kaum jemand wollte ihr freiwillig Platz machen. Ein alter Mann, den sie angerempelt hatte, packte sie mit erstaunlicher Kraft an ihrem Oberarm und drückte ordentlich zu. Ihren schmerzenden Arm mit der anderen Hand haltend zog sich Lisbeth weinend zurück. Sie lief bald darauf die hintere Reihe entlang, bis sie fast die Königstraße erreichte. Doch weit und breit keine Frau Barbara! Plötzlich brach ein tosender Jubel aus. Die Menge klatschte, donnerte Hochrufe. Hüte wurden in die Luft geworfen. Lachen und ein begeistertes Jauchzen – eine ungeheure Szene, wie sie Lisbeth noch nie erlebt hatte. Neugierig stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Sie konnte aber trotzdem nicht sehen, was sich auf dem Schlossplatz abspielte. Die dicht gedrängten Reihen versperrten die Sicht. Sicherlich, ging es ihr durch den Kopf, ist der König erschienen und zeigt sich seinem Volk. Sie war etwas abgelenkt. Zu gern hätte sie auch den Monarchen sehen wollen.

Hoch zu Ross war der König tatsächlich mit seinen Prinzen zur Mitte des Schlossplatzes geritten. Seine Gemahlin zeigte sich derweil auf dem Hauptbalkon des Schlosses unter einem reich verzierten Baldachin. Der Festzug mit seinen vielen Musikabteilungen zog am König vorbei. Die Musikgruppen wollten sich offensichtlich gegenseitig übertreffen. Jedes Mal hob König Wilhelm grüßend seine Hand. Die Liederkränze aus dem ganzen Land stellten sich auf dem großen Platz auf. Sie sangen ihre Festlieder mit heller Begeisterung. Am Ende von jedem Lied wurde ein dreifaches Lebewohl ausgerufen, in das die Bevölkerung stürmisch einstimmte. Lisbeth war fasziniert. Allzu gern hätte sie selbst mitgejubelt. Sie liebte ihren König und konnte Peter nicht verstehen, der ab und an über die Fürsten mit ihrer Machtfülle abfällige Bemerkungen gemacht hatte. Lisbeth sah in ihrem König einen edlen Fürsten, der das Beste für seine Untertanen erreichen wollte. Die jubelnde Menge bestätigte sie in ihrer Überzeugung. Dann erinnerte sie sich aber wieder an ihren Auftrag. Sie ließ von ihren Träumen ab, verdrängte rasch die Gedanken an den König und machte sich wieder auf die Suche.

Peter Kohler legte zu dieser Zeit seiner Frau feuchte Tücher auf die Stirn. Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen. Die Fruchtblase war bereits geplatzt. Beide wurden sie deshalb immer aufgeregter. Magdalena hatte sich zwar in den zurückliegenden Wochen auf den Geburtsvorgang vorbereitet. Häufig hatte sie mit Frau Barbara und Frauen, die schon Kinder zur Welt gebracht hatten, gesprochen. Trotzdem bekam sie es wie ihr Mann nun mit der Angst zu tun. Sie empfand die Anwesenheit ihres Mannes zwar als Trost, doch beide wussten nicht so recht, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten. Vorsorglich hatte Peter Wasser zum Kochen gebracht, einige saubere Tücher lagen neben dem brodelnden Kessel bereit. Aber auch er fühlte sich eher hilflos.

Magdalena stöhnte auf. Voller Sorge beugte sich ihr Mann über sie. Sie atmete heftig und hielt sich ihren Leib. Peter wollte ihr über den Bauch streicheln, doch seine Frau wies ihn ab. Die Schmerzen wurden stärker und als die Presswehen einsetzten fast unerträglich. Magdalena stützte sich instinktiv auf ihre Arme. Sie stieß selbst die Decke weg und lag nun mit angezogenen und gespreizten Beinen auf dem Bett.

»Das Kind kommt!«, keuchte sie. »Das Kind kommt, Peter. Hilf mir, hilf mir!«

Ihr Mann kniete jetzt vor dem Bett. Wiederholt stöhnte Magdalena auf. Mit geschlossenen Augen und angespanntem, verkrampftem Gesicht presste sie bei jeder neuerlichen Wehe.

»Hole Wasser und lege ein Tuch auf das Bett«, hörte Peter seine Frau undeutlich sagen. Er stürzte zu dem heißen Topf, verbrannte sich in seiner Hast die linke Hand an dem Eisendeckel. Er tauchte das Tuch ins Wasser und ignorierte den Schmerz, den das siedende Wasser verursachte. Als er es ausgewrungen hatte, schob er das dampfende Tuch hastig und ungelenk unter das Gesäß seiner Frau. Er zuckte unwillkürlich zurück, als er den Kopf des Kindes erstmals wahrnahm. Die Schädeldecke kam bei der nächsten Presswehe vollständig zum Vorschein. Peter Kohlers Gedanken rasten nun wie wild, seine Ängste wechselten sich mit einer noch nie empfundenen Freude ab. Völlig konfus registrierte er die schwarzen Haare. Wieder stöhnte Magdalena auf. Der Kopf schob sich weiter vor.

3

Lisbeth war zutiefst betrübt gewesen. Sie hatte die Hoffnung bereits aufgegeben. Um sie herum lachten und strahlten die Menschen. Kein bekanntes Gesicht! Kein Dr. Mussler! Keine Frau Barbara! Sie fühlte sich vollkommen verlassen, einsam und allein. Enttäuscht hatte sie die Suche nach Frau Barbara aufgegeben. Sie wollte wenigstens den Kohlers helfen, auch wenn sie keinerlei Erfahrung mit Geburten besaß. Nachdem sie über die Eberhardstraße zurückgegangen war, kam sie schneller voran. Die Menschen standen nicht mehr so gedrängt, und ohne große Behinderung gelangte sie bis zum Leonhardsplatz. Da erkannte sie Frau Barbara. Die Hebamme schien auf dem Weg zu ihrer Wohnung zu sein. Sie war geradezu festlich gekleidet und sah in ihrem Gewand ganz ungewöhnlich aus.

»Frau Barbara! Frau Barbara!«, rief Lisbeth lauter als es an und für sich notwendig gewesen wäre. Verwundert drehte sich die Hebamme um. Sie sah Lisbeth auf sich zurennen und wusste augenblicklich, worum es ging.

4

»Oh, herrje!«, rief Frau Barbara händeklatschend. Sie schob Peter unsanft beiseite.

»Den Topf mit dem heißen Wasser, sofort!«, befahl sie ihm. Sie gab Lisbeth ebenfalls knappe Befehle. Peter, ziemlich durcheinander und außerordentlich gerührt, erledigte alle ihm auferlegten Aufgaben. Er wollte es unbedingt richtig machen. So bemerkte er zunächst gar nicht, dass seine Magdalena wieder ruhiger atmete. Als er den Schrei hörte, geriet er ganz aus dem Häuschen. Es war ein kurzer, hell klingender Schrei, der in ein kräftiges Weinen überging. Er stellte sich neben Frau Barbara, die mit geschickten Händen die Nabelschnur durchtrennte. Peter musste mit den Tränen kämpfen. Er sah auf seinen Sohn, der klebrig und blutverschmiert von Frau Barbara hochgehalten wurde. Als sie ihm seinen Sohn entgegenstreckte und er erstmals den kleinen Wurm in seinen Händen hielt, weinte er vor Glück.

5

Als der erste Geburtstag von Bruno gefeiert wurde, war der Händler und Fuhrunternehmer Ernst Schnitzler wieder einmal großzügig zu Peter Kohler gewesen. Er durfte früher mit der Arbeit Schluss machen. So konnte er noch vor Sonnenuntergang zu Hause bei Magdalena und seinem Sohn sein. Der Arbeitstag war allerdings nicht besonders gut für ihn verlaufen. Zusammen mit dem Tagelöhner Lukas Blaschke hatte er Kohlen in Stuttgarts Tübinger Vorstadt ausgeliefert. Diese Vorstadt war ursprünglich für diejenigen Handwerker geplant worden, deren Arbeit derart Geruchsbelästigungen verursachte, dass sie in anderen Stadtteilen nicht mehr geduldet wurden. Insbesondere die Gerber hatten sich deshalb hier niedergelassen, weshalb man auch vom Gerberviertel sprach. Der geruchsempfindliche Schnitzler schimpfte dann auch ständig über die schlechte Luft. Tatsächlich stank es in manchen Straßenzügen ekelhaft, doch davon ließ sich Peter nicht seine gute Laune verderben. Er freute sich über den Geburtstag seines Sohnes. Kaum konnte er seinen Stolz über den Jungen verbergen. Bruno hatte sich prächtig entwickelt. Im Gegensatz zu den anderen Kindern trotzte er den Krankheiten, und nur einmal im vergangenen Februar mussten sie den Armenarzt kommen lassen. Der Doktor hatte auf der Stelle entschieden, dass der Junge auf keinen Fall mehr im Kellerraum schlafen durfte. Fortan benutzten die Kohlers die ›gute Stube‹ im Erdgeschoss als ständigen Wohn- und Schlafraum. Die Rechnung des Arztes hatte Schnitzler bezahlt. Auch ihm war der Sohn seines Arbeiters längstens ans Herz gewachsen.

Seit dem vergangenen Jahr gingen Schnitzlers Geschäfte ungemein gut. Mehr und mehr verbreitete sich die Verwendung von Steinkohle für die Zimmerbeheizung in Stuttgart. Wegen der vielen Arbeit beschäftigte Schnitzler ständig irgendwelche Tagelöhner, die häufig nur zwei oder drei Tage mit anpackten, um dann ihren Lohn möglichst rasch in den verschiedenen Kneipen durchzubringen. Auch heute half wieder ein Tagelöhner aus. Zwar mochte Schnitzler Lukas Blaschke nicht besonders wegen dessen Unzuverlässigkeit. Da aber in dieser Woche niemand anderes als Aushilfe gefunden werden konnte, wurde Blaschke notgedrungen beschäftigt. Er war ein ziemlich grober, unsauberer und streitsüchtiger Mensch, doch kräftig gebaut und daher – soweit er willig war – für die schwere Arbeit mit den Kohlensäcken gut zu gebrauchen.

Trotz des strengen Geruchs gefiel Peter die Tübinger Vorstadt. Im Vergleich zum Viertel, in dem seine Wohnung lag, waren die Fortschritte unübersehbar. Alle aus Stein gebauten Häuser, zum Teil drei Stockwerke hoch, machten einen vornehmen Eindruck. So auch das Haus des Kommerzienrats Ostertag, dem in der Paulinenstraße ein großes Mittelgebäude gehörte, das links und rechts ein Einfahrtstor und ein kleines Nebengebäude besaß. Peter dachte über die im Vergleich zu seiner Wohngegend großzügig angelegten Straßen und Trottoirs nach, als im Hauseingang des Kommerzienrats ein wüstes Schimpfen ausbrach. Gleich darauf kam Blaschke aus der Haustür gelaufen. Ihm folgte ein Hausdiener, der mächtig fluchte.

»Sauerei! Verdammte Sauerei! Du Tagedieb hast alles schmutzig gemacht.« Blaschke stand jetzt verlegen neben Schnitzler, der vom Diener gleich als Chef erkannt wurde. Er kam auf ihn zu, wies auf Blaschke und schimpfte heftig weiter.

»Er hat einen ganzen Kohlensack fallen lassen. Stolpert einfach über eine Stufe im Hauseingang, obwohl ich ihn noch darauf aufmerksam gemacht habe! Schauen Sie sich einmal die Schweinerei an.« Schnitzler musterte erst Blaschke, dann blickte er zu dem Hausdiener.

»Wir bringen das in Ordnung.«

»Der Dreck ist nicht einfach wegzuwischen. Da wird was los sein, wenn erst der Herr Kommerzienrat heimkommt«, antwortete der Diener unversöhnlich. Blaschke wollte etwas sagen, doch Schnitzler hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Schau es dir an«, forderte er zunächst Peter auf, worauf er selbst ebenfalls zum Hauseingang ging. Kohlen und Kohlenstaub lagen im ganzen Eingangsbereich verstreut. Bei jedem Schritt musste man achtgeben, damit der Boden nicht noch mehr verschmutzt wurde.

»Idiot«, knurrte er Blaschke an, der vorsichtig zur Haustür hereinkam. Dieser zuckte nur mit den Achseln, was Schnitzler mächtig in Wut versetzte.

»Los, los! Mach voran. Hole den Besen und bringe das hier sofort in Ordnung.« Peter war derweilen bereits mit dem Einsammeln der größeren Kohlenstücke beschäftigt. Ein Dienstmädchen war auch schon mit einem Wassereimer und Putzlappen aufgetaucht.

»Mann, Blaschke. Da hast du dir etwas geleistet. Das kostet uns mindestens zwei Stunden Arbeit.« Blaschke blickte böse, er machte keine Anstalten mitzuhelfen.

»Blaschke! Fange mit dem Putzen an. Steh doch nicht bloß blöde herum«, maulte Schnitzler, der bereits selbst Kohlenstücke wegräumte. Widerwillig griff Blaschke nach einem Kohlensack. Der Hausdiener musterte ihn abschätzig und meinte dann, Schnitzler zugewandt: »Da haben Sie sich einen schönen Lumpen aufgeladen. So einen würde ich gleich wieder zum Teufel jagen.«

Blaschke hielt inne, ging dann zwei, drei Schritte auf den Diener zu und warf ihm den Kohlensack vor die Füße. Die makellose Kleidung wies augenblicklich Rußflecke auf. Einen Moment lang stand dem Diener vor Überraschung der Mund offen. Schnitzler packte Blaschke am Hemd und zerrte ihn nach draußen.

»Bist du völlig übergeschnappt?« Doch Blaschke ließ sich nicht beeindrucken. Er wollte Schnitzler wegstoßen, worauf dieser zornig an Blaschkes abgewetztem Hemd zerrte, das sogleich einriss. Blaschke wehrte sich dagegen. Gerade wollte er zu einem Schlag ausholen, da ging Peter dazwischen. Er schnappte ihn an beiden Armen und zog ihn zurück.

»Du Lump, du kannst gehen. Mit dir will ich nichts mehr zu schaffen haben. Lass dich nicht mehr bei mir blicken.« Schnitzler geriet ziemlich außer sich.

»Ich bekomme noch Lohn«, erwiderte Blaschke frech.

»Was? Lohn? Du hast dir doch nichts verdient. Ärger haben wir wegen dir. Scherereien, die uns zusätzliche Arbeit bereiten. Verschwinde! Ich sage es dir nicht noch einmal.«

Blaschke wollte nicht klein beigeben: »Ich habe den ganzen Morgen gearbeitet. Dafür steht mir Lohn zu.«

Peter stand bei Schnitzler und wollte ihn beruhigen. »Geben Sie ihm drei, vier Kreutzer«, versuchte er auf seinen Chef einzuwirken. Doch Schnitzler ließ sich nicht umstimmen.

»Er soll verschwinden. Von mir bekommt er nichts.« Peter wusste, dass es im Moment zwecklos war. Er sagte zu Blaschke: »Schau zu, dass du uns heute nicht mehr unter die Augen kommst. In ein paar Tagen sehen wir weiter. Dann melde dich, und wir werden sehen, was sich machen lässt.«

Blaschke schüttelte leicht den Kopf. Er dachte gleichzeitig an die Drohung Schnitzlers, der die Polizei einschalten wollte. Das durfte er nicht unterschätzen. Hatte er doch in letzter Zeit wegen zweier Schlägereien Ärger mit der Polizei gehabt. Also trat er den Rückzug an. Nach wenigen Schritten drehte er sich aber noch einmal um und drohte Schnitzler mit geballter Faust. Der Fuhrunternehmer wollte schon auf ihn losgehen, doch Peter hielt ihn zurück.

»Lassen Sie den Kerl doch ziehen«, meldete sich da der Hausdiener ebenfalls zu Wort. »Und überlegen Sie sich beim nächsten Mal, wen Sie für sich arbeiten lassen. Vor so einem Lumpenpack ist man sich ja nicht einmal seines Lebens sicher.« Und nach einer kurzen Pause rief er Blaschke nach: »Einsperren sollte man so einen wie dich! Einsperren wäre genau das Richtige!«

Blaschke verschwand hinter der nächsten Straßenecke. Schnitzler beruhigte sich derweil langsam. Zusammen mit Peter und dem Dienstmädchen machte er den Hausflur sauber. Erst eine Stunde später konnten sie die Reinigung beenden.

»Du hilfst mir noch zwei Stunden. Dann gehst du aber zu deiner Familie«, erklärte Schnitzler Peter, nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten.

6

Am nächsten Morgen machte sich Peter in aller Frühe auf zum Cannstatter Hafen. Als er ankam, herrschte dort bereits ein geschäftiges Treiben. Zwei mit Baumwolle voll beladende Schiffe, die am Vorabend angedockt hatten, wurden bereits gelöscht. Peter und Schnitzler beluden derweil ihren Kohlenwagen. Überraschend tauchte dann trotz der frühen Stunde Blaschke auf. Angetrunken kam er unsicher auf Schnitzler zu und erklärte lallend, er sei zu jeder Arbeit bereit. Schnitzlers gute Laune war sofort wie weggeblasen. Er herrschte den Tagelöhner an: »Ich habe dir doch gestern deutlich gesagt, dass du bei mir keine Arbeit mehr finden wirst. Und schon gar nicht in einem solchen besoffenen Zustand. Du verschwindest also besser wieder.«

Blaschke blähte die Backen auf. Er wollte zu einer Erwiderung ansetzen. Schnitzler drohte ihm aber bereits mit der Polizei. Daraufhin spuckte ihm Blaschke verächtlich vor die Füße. Peter fuhr dazwischen, stieß den Tagelöhner zurück und wurde dann seinerseits von Schnitzler zurückgehalten.

»Mach dir an dem Saufkopf nicht die Finger schmutzig. Lass ihn ziehen.« Und zu Blaschke gewandt fuhr er fort: »Bei mir brauchst du niemals mehr vorbeischauen. Mit dir bin ich fertig.«

Zwar hatte er befürchtet, die eigentliche Auseinandersetzung stände erst noch bevor. Aber zu seiner Überraschung machte Blaschke kehrt und trottete sich fluchend und schimpfend davon.

Nachmittags gegen 15 Uhr kehrten sie noch einmal zu Schnitzlers Kohleschuppen zurück. Wiederum beluden sie den Wagen. Die Fuhre musste heute noch zum Weißenhof gebracht werden. Der Weißenhof lag auf einer der nördlichen Höhen von Stuttgart, mindestens eine gute Stunde von ihrem Standort am Cannstatter Hafen entfernt. Über einen breiten Feldweg, der zur Hälfte durch die Cannstatter Rebhänge führte, gelangten sie später mit dem schwer beladenen Wagen sehr mühsam zu dem sehr beliebten Ausflugsziel der Bevölkerung. Schnitzler und Peter freuten sich auf die Ankunft, wussten sie doch, dass sie nach getaner Arbeit noch ein wenig in der Gartenwirtschaft Platz nehmen und sich ein Vesper schmecken lassen würden. Nachdem an diesem Tag ein wolkenloser Himmel mit einer kräftig scheinenden Sonne das Wetter bestimmte, stand dem gemütlichen Ausklang des ansonsten anstrengenden Arbeitstages nichts im Wege. Als sie schließlich mächtig schwitzend an der Rückseite des stattlichen Gebäudes ankamen, wurden sie vom Besitzer des Weißenhofes fröhlich empfangen. Der Weißenhof-Beck, wie er von allen genannt wurde, öffnete die Tür zum Kohlenkeller. Doch vor dem Entladen der Kohlensäcke mussten die beiden Männer erst einmal verschnaufen. Zudem galt es zunächst, ihr Pferd, ein ausgesprochen gutmütiges und kräftiges Tier, zu versorgen. Sie erledigten eine Arbeit nach der anderen. Und endlich konnten sie aus dem Kellerraum, in dem sie die Kohlen deponieren mussten, heraustreten. In einiger Entfernung sahen sie am Himmel erste dunkle Wolken. Obwohl beide ahnten, dass ein Gewitter am Heraufziehen war, wollten sie sich nicht stören lassen. Nachdem sie sich ordentlich am Brunnen gewaschen und erfrischt hatten, lud Schnitzler Peter zu einem deftigen Abendessen ein. Sie nahmen in der Gartenwirtschaft Platz. Zwischen den Bänken und Tischen standen uralte Bäume. Zudem hatte man einen herrlichen Ausblick. Weit unten im Tal sahen sie rechter Hand die Häuser Stuttgarts, die klein und irgendwie unwirklich erschienen. Blickten sie nach links, konnten sie unschwer Cannstatt und die Biegungen des Neckars mit dessen glitzerndem und die Sonnenstrahlen reflektierendem Wasser erkennen.

Später saßen sie unter einem Schatten spendenden Nussbaum. Sie aßen kräftiges Bauernbrot mit Griebenwurst und Käse, dazu wurde Birnenmost getrunken. Zeitweilig setzte sich der Wirt zu ihnen. Ihre Gespräche drehten sich um Gott und die Welt. Erst als die dunklen Wolken näher gekommen waren und erstes Donnergrollen ein ordentliches Gewitter ankündigten, standen sie auf und begaben sich in das Wirtshausgebäude. Rasch verdunkelte sich nun der Himmel, erste dicke Regentropfen fielen. Mit einem Mal war das Unwetter über ihnen. Ein Wolkenbruch ergoss sich, der Regen platschte gewaltig zu Boden, grelle Blitze und krachende Donnerschläge wechselten sich in rascher Folge ab. Peter und Schnitzler saßen am Fenster, von wo aus sie teils fasziniert, teils voller Sorge die Naturgewalten beobachteten. Solche Gewitter waren nicht zu unterschätzen. Allein in diesem Sommer hatten Blitze in zwei Stuttgarter Bauernhöfe eingeschlagen, die völlig abbrannten. Auch lag es noch keine drei Wochen zurück, dass ein Bauer zusammen mit seinem Sohn und einer Magd auf dem Feld vom Blitz erschlagen worden waren, als sie ihren mit Heu beladenen Wagen unter einer riesigen Eiche in Sicherheit bringen wollten. An einigen Tischen des Gasthauses waren bereits Kerzen angezündet worden. Und das nicht nur, weil es zwischenzeitlich recht dunkel im Gastraum geworden war. Die Menschen hatten Angst und beteten zu ihrem Herrgott um Schutz und Beistand.

7

Peter ging zur Sicherheitvorn am Fuhrwerk. Mit der einen Hand hatte er das Halfter des gutmütigen Pferdes gefasst, in der anderen hielt er eine Laterne, die wenigstens ein bisschen Licht spendete. Es war eine fast rabenschwarze Nacht. In weiter Ferne konnten sie die Lichter der Stuttgarter und Cannstatter Häuser sehen. Sie machten ihnen nur allzu bewusst, welch weiten Weg sie zurücklegen mussten. Peter achtete sehr darauf, dass das Gefährt nicht zu schnell werden würde. Nachdem sie eine knappe Viertelstunde Wegstrecke hinter sich gebracht hatten, hörten beide ein Geräusch schräg vor ihnen auf der rechten Seite. Es war nichts zu erkennen. Sie hielten kurz inne, lauschten angestrengt, aber als nichts weiter geschah, setzten sie ihren beschwerlichen Weg fort. Einige Minuten später konnten sie die Glockenschläge der Stuttgarter Stiftskirche hören, zwar schwach, aber doch so laut, dass sie mitzählen konnten. Es war elf Uhr am Abend. Im nächsten Moment knackte es wiederum hinter irgendwelchem Gebüsch, viel zu laut, als dass es sich nur um einen Vogel oder einen Feldhasen hätte handeln können. Noch einmal stoppten sie, hielten inne und lauschten angestrengt. Peter ging dann zu Schnitzler zurück, der auf dem Bock saß. Sie besprachen die Situation leise. Als sich eine Zeit lang nichts mehr rührte, machten sie sich wieder auf den Weg.

Sie waren bereits wieder ein gutes Stück vorangekommen, da flog völlig überraschend etwas durch die Luft. Es knallte gegen den Kopf des Pferdes. Peter, der unmittelbar daneben stand, hörte den klatschenden Aufprall und zuckte instinktiv zurück. Fast zeitgleich wieherte das Pferd erschrocken. Es bäumte sich auf und brach augenblicklich aus. Peter nahm noch wahr – dem Pferd und dem Fuhrwerk mit einem Sprung ausweichend –, wie Schnitzler das Zaumzeug zurückriss. Doch damit ließ sich das Tier nicht unter Kontrolle bringen. Außer sich stürzte es ziellos davon. Das Letzte, was Peter schemenhaft erkennen konnte, war ein hochgeschleudertes Fuhrwerk, das sich scheinbar in der Luft drehte. Es tat kurz darauf einen furchtbaren Schlag. Danach konnte er Schnitzler vor Schmerz brüllen hören. Sein Schreien durchdrang entsetzlich die Nacht. Mit seiner Laterne stürzte sich Peter in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Er stolperte über ein abgerissenes Rad. Die Laterne entglitt ihm, sie erlöschte augenblicklich. Als er wieder auf die Beine kam, hörte er nur noch ein leises Wimmern. In der Dunkelheit musste er sich ungeheuer konzentrieren. Er tastete sich voran, bis er einen Baum berührte, um den sich der Wagen gewickelt haben musste. Dann bemerkte er Schnitzler, der nur noch röchelte. Als er nach ihm griff, spürte er etwas Warmes, Klebriges. Er ahnte sofort, dass es Blut sein musste. Schnitzlers zittrige Hand fasste ihn am Ellenbogen. Peter griff zu. Er geriet ganz außer sich und musste sich zwingen, nicht die Nerven zu verlieren. Mehrfach sprach er den Fuhrunternehmer an, der aber nicht antworten konnte. Er machte sich los, denn die einzige Chance, die es noch gab, war Hilfe vom Weißenhof zu holen. Als er völlig aufgelöst vor dem Gasthof ankam, rief er laut um Hilfe. Den Herbeieilenden schilderte er nach Luft schnappend in knappen, hastig herausgeschleuderten Worten, was für ein Unglück sich ereignet hatte. Unverzüglich machten sich sowohl Gäste als auch Knechte des Weißenhofwirtes auf den Weg. Jeder Zweite führte eine Laterne mit, so konnten sie immerhin einigermaßen gut sehen.

Der Weißenhof-Beck entdeckte das kaputte Fuhrwerk abseits des Feldweges als Erster. Kurz darauf beleuchteten die Laternen die Szene gespenstisch. Das Pferd stand etwas abseits. Es schnaubte leise. Für einen Moment fühlte sich Peter sogar an ein friedliches Bild erinnert. Im nächsten Augenblick erkannte er aber das ganze Ausmaß des Unglücks. Ein Teil des Fuhrwerks war weggebrochen und lag etliche Meter entfernt in einem Graben. Die zwei Vorderräder waren zerschellt und bildeten jedes für sich ein eigenartiges V, darüber stand fast senkrecht der Kutschbock. Der andere Teil des Fuhrwerks hatte sich um einen dickstämmigen Baum gewickelt, dessen Rinde bei dem Aufprall weggerissen worden war. Als er Schnitzler sah, blieb ihm fast das Herz stehen. Schnitzler lag eingeklemmt und gänzlich unnatürlich verbogen über einer Baumwurzel. Auf ihm lastete fast das ganze Gewicht des schweren, noch übrig gebliebenen Fuhrwerks. Sein Hals und sein Kopf waren über und über mit Blut verschmiert. Das Gras auf seiner rechten Körperseite war ebenfalls dunkel von seinem Blut verfärbt. Einige Knechte leuchteten Schnitzler ins Gesicht. Seine Augen standen offen, auf der linken Schädeldecke klaffte eine schreckliche Wunde. Sein Mund war verzerrt, eine Hand griff völlig unnatürlich in die Dunkelheit. Peter nahm mit Tränen in den Augen den geschundenen Kopf in beide Hände. Er streichelte vorsichtig über die blutverschmierten Wangen. Nach einer Weile ließ er Schnitzler wieder los. Vorsichtig legte er ihn auf den Boden. Als er sich aufrichtete, sah er die vielen Menschen, die helfen wollten, aber nun nur mit gesenkten Köpfen schweigend dastanden. Ernst Schnitzler war tot.

Es war nach Mitternacht, als von Stuttgart der Wachtmeister mit zwei Polizeisoldaten herbeigeeilt kam. Peter musste ihnen mehrfach den Hergang des Unglücks schildern. Dabei stellte er aber erstmals die Frage, ob es überhaupt ein Unfall gewesen sein konnte. Voller Trauer und Verbitterung dachte er ständig an Schnitzler. Ein Arzt hatte zwischenzeitlich die Leiche untersucht. Auch bei sofortiger Hilfe wäre der Fuhrunternehmer nicht mehr zu retten gewesen. Schon allein die schlimmen Kopfverletzungen hätten jede ärztliche Kunst überfordert. Die zerfetzte Halsschlagader, der völlig eingedrückte Brustkorb, schwerste Verletzungen im Bauchbereich – kein Mensch hätte ihm mehr helfen können.

8

Peter und Magdalena waren zutiefst deprimiert. Sie nahmen an der Beerdigung auf dem Hoppenlaufriedhof teil. Der kleine Bruno wurde derweil von Lisbeth gehütet. Es war nicht nur der Verlust und das Abschiednehmen von Ernst Schnitzler, was den Kohlers große Sorgen bereitete. Sie mussten sich Gedanken um ihre Zukunft machen. Der Erbe des Fuhrunternehmers, ein in Heilbronn ansässiger Neffe, hatte schon vor der Beerdigung mit Peter gesprochen und ihm das Unternehmen zum Kauf angeboten. Doch das wenige Ersparte hätte niemals gereicht, um den verlangten Preis auch nur annähernd bezahlen zu können. Peter war nun ohne Arbeit, er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Mitte September war bereits eine Jahreszeit, in der nur schwer eine Arbeit gefunden werden konnte. Im Herbst erhöhte sich jedes Jahr fast ganz automatisch die Zahl der Arbeitssuchenden. Wer noch im Sommer in Lohn und Brot gestanden hatte, musste häufig wenige Wochen später ernsthaft um seine Existenz kämpfen. Peter wusste nur zu gut von Fällen, in denen Väter ihre Familien nur mehr mühsam ernähren und versorgen konnten. Und Schnitzlers Erbe wollte natürlich rasch das Fuhrunternehmen verkaufen. Was aus Peter Kohler dabei werden würde, interessierte ihn nicht.

Am Abend des dritten Tages nach Schnitzlers Beerdigung wollte Peter wieder unter die Leute kommen. Deshalb suchte er nach längerer Zeit erstmals wieder den ›Goldenen Bären‹ auf. Dieses Wirtshaus lag in der Esslinger Straße und war von seiner Wohnung aus die nächstgelegene Kneipe. In ihr verkehrten vor allem Gerbergesellen. Auch kannte er den Wirt ziemlich gut. Mit Heinrich Gutfleisch hatte er vor Jahren im Straßenbau zusammengearbeitet. Jeder wusste in der Zwischenzeit von dem brutalen Mordanschlag auf Schnitzler. Voller Neugierde wollten die Gerber von Peter Einzelheiten über das Geschehen wissen. Zunächst fühlte sich Peter dabei überhaupt nicht wohl. Er spürte aber, wie es ihm auch gut tat, über den schrecklichen Abend zu reden. Blaschke wurde längstens mit Haftbefehl als mutmaßlicher Mörder gesucht. Für Peter war es nur eine Frage der Zeit, bis der Tagelöhner aufgegriffen und seiner gerechten Strafe zugeführt werden würde. Für diese Informationen aus erster Hand ließen sich die Gerbergesellen nicht lumpen. Nachdem ihm Gutfleisch bereits ein Bier spendiert hatte, hielten ihn die Gerber mit Most frei.

Die meisten Gäste waren bereits gegangen, als der Wirt mit dem Schließen der Fensterläden anfing. Er musste noch zwei-, dreimal ein paar Gerber ermahnen, schaffte es dann aber doch, dass sie friedlich abzogen. Ihr Gegröle konnte allerdings noch eine Zeit lang gehört werden. Sie zogen die Esslinger Straße hinunter. Erst als sie sich in irgendwelchen Seitengassen verstreuten, wurde es ruhig auf der Straße.

Heinrich Gutfleisch kam mit einem Schnaps an den Tisch. Er legte seinen Arm kurz auf Peters Schulter und stellte ihm das Glas hin.

»Für dich ist es jetzt auch nicht einfach«, begann er das Gespräch.

Peter zuckte mit der Schulter, schüttelte den Kopf und zog noch einmal mit einem Seufzer die Schulter hoch. Er atmete tief durch und klagte dann sein Leid.

»Ich muss vor allem Arbeit finden. Morgen früh will ich losgehen und schauen, ob es etwas für mich gibt.«

Eine Weile überlegte der Wirt. Dann sagte er: »Vielleicht kann ich dir einen Tipp geben.«

Erstaunt und interessiert schaute ihn Peter an.

»Ja«, fuhr Gutfleisch fort, »ich bekomme doch mein Bier von der Brauerei Deininger. Und der Bierausfahrer hat mir erst gestern Morgen gesagt, sie würden noch einen kräftigen Mann suchen. Ihr Chef will anscheinend das Geschäft ausweiten.«

Peter, obwohl nicht mehr ganz nüchtern, war sofort hellhörig geworden. Er schöpfte Hoffnung. »Das wäre natürlich ein Glücksfall. Was meinst du? Ob ich bei der Brauerei einfach morgen früh vorbeischauen kann?«

»Ja, sicher. Fragen kostet doch nichts. Je rascher du die Sache angehst, umso besser. Ich würde da nicht lange abwarten. Falls du mit Deininger selbst sprechen kannst, berufe dich auf mich. Ich habe ein ganz passables Verhältnis zu ihm. Er stand mir sogar mit Rat und Tat zur Seite, als wir vor drei Jahren den Goldenen Bären einrichteten. Ich war damals einer seiner ersten Großkunden. Und er ist bis heute mit dem Umsatz zufrieden.«

Peter lächelte. Endlich eine gute Nachricht! Er nahm das bis zum Rand vollgefüllte Schnapsglas, prostete Gutfleisch zu, dankte ihm für den Hinweis und kippte den Schnaps in einem Zug hinunter.

»Es wird schon klappen. Jedenfalls hättest du es verdient«, meinte der Wirt. Er schenkte Peters Glas noch einmal randvoll ein, behielt die Schnapsflasche in der Hand und stieß damit mit Peter an.

»Ich muss dich jetzt schnellstens hinauswerfen. Die Stadtpolizei achtet äußerst streng auf die Einhaltung der Sperrstunde. Nimm es mir nicht übel, aber wir müssen uns verabschieden.«

9

Die Deiningersche Brauerei lag an der Ecke Tübinger und Christophstraße. Peter hatte sich schon ganz früh am Morgen auf den Weg gemacht. Die frische Luft ließ ihn ein wenig frösteln. Er marschierte energisch um das große Gebäude herum. An einem achteckigen Brunnen an der Westseite des Brauereiareals sah er zu, wie ein Kutscher die Pferde tränkte. Ein weiterer Kutscher striegelte ein mächtiges Haflingerpferd, bis dessen Fell glänzte. Er schaute kurz neugierig auf, Peter nickte ihm zu, doch machte er sich sogleich auf den Weg zum Eingang des stattlichen Hauses. Er trat in einen Kontor, der vollständig mit Holz vertäfelt war. Es roch fast penetrant nach Bier in dem ansonsten sehr gemütlich wirkenden Raum. Peter betrachtete die kunstvoll gearbeitete Stuckdecke, als eine von zwei Seitentüren aufging und ein älterer Mann mit einer großen, dunkelbraunen Lederschürze hereinkam. Er hatte schneeweißes, dichtes Haar und ein zerfurchtes, aber ausgesprochen freundliches Gesicht.

Peter stellte sich ihm vor. Er beschrieb knapp das ihm widerfahrene Unglück und fragte höflich mit Hinweis auf den Bärenwirt, ob er eine Anstellung finden könne.

»Ah so. Du warst der Arbeiter von Schnitzler. Natürlich habe ich von der Teufelstat gehört«, antwortete der alte Herr, der sich als Seniorchef des Brauhauses zu erkennen gab.

»Hat man den Übeltäter schon hinter Schloss und Riegel gebracht?«, fragte der alte Deininger. »Man kennt doch den Verbrecher, oder?«

»Sie werden den Gauner schon fassen.« Mit diesen Worten trat ein großer, kräftig gebauter Mann in den Raum. Er trug ebenfalls eine Lederschürze, die feucht glänzte und den Biergeruch noch verstärkte.

»Du bist also Peter Kohler«, meinte er weiter und machte damit auch klar, wer das Sagen hatte. »Man hat deinen Namen im Zusammenhang mit dem Verbrechen gehört. Du musst ja froh sein, dass dir dabei nichts geschehen ist.«

Peter nickte dem Sohn des alten Deininger zu. Der Alte meldete sich an seinen Sohn gewandt zu Wort: »Georg, Kohler sucht Arbeit. Er kann geschickt mit Pferden und Fuhrwerken umgehen. Er wäre doch der ideale Bierkutscher für uns.«

»Wir benötigen sowieso Verstärkung. Das passt gerade recht.« Die Stimme des Juniorchefs hörte sich freundlich an.

»Du machst auch einen kräftigen Eindruck. Kraft brauchst du nämlich. Die Arbeit ist nicht einfach. Aber wenn du schon Kohlensäcke geschleppt hast, wirst du auch Bierfässer stemmen können.«

Der junge Deininger hatte sich bereits entschieden. Peter konnte es kaum fassen. So einfach hatte er es sich nicht vorgestellt. Ohne viel Hin und Her boten ihm die Deiningers die Arbeitsstelle an.

»Um ehrlich zu sein: Wir haben von dir als zuverlässigen Arbeiter gehört. Solche Leute können wir natürlich brauchen. Aber damit eines auch klar ist: Wir stellen dich für eine Woche zur Probe ein. Dann entscheiden wir, ob du länger bei uns bleiben kannst. Gearbeitet wird von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Und wenn es erforderlich ist, auch einmal bis acht oder neun Uhr. Dabei hast du eine Mittagspause von einer halben Stunde. Wenn du abends länger arbeiten musst, kannst du noch einmal eine halbe Stunde Pause einlegen. Dein Tageslohn beträgt vierzig Kreutzer. In der Mittagspause darf sich jeder Arbeiter einen Krug Bier nehmen. In der Sommerzeit von Mai bis September kann man sich sogar drei Maß genehmigen. Einverstanden?«

Peter stimmte sofort zu. Alles hörte sich bestens an.

»Was wir überhaupt nicht dulden, ist jede Art von Widerspruch«, fuhr Georg Deininger mit ernsterer Stimme fort. »Wir wollen keine Aufmüpfigen oder Besserwisser. Die Arbeit wird getan und damit basta. Im Übrigen wirst du zunächst hauptsächlich als Bierkutscher arbeiten. Aber ab und zu brauchen wir dich auch im Brauhaus. Genaueres besprechen wir nach deiner Probewoche. Heute wirst du Gustav zugeteilt. Er ist unser ältester Arbeiter und kann neben sich einen starken Mann gebrauchen.«

Georg Deininger reichte Peter die Hand, damit war die Sache besiegelt. Sein Vater begleitete ihn nach draußen, führte ihn zum Brunnen und stellte ihm den Mann vor, den er vorher beim Pferdestriegeln gesehen hatte. Mit einem Blick erkannte er, dass er mit Gustav Nagel ein gutes Gespann bilden würde.

10

Die Probewoche brachte Peter ohne Probleme hinter sich. Es dauerte nicht lange, da gehörte er fest zur Stammmannschaft der Brauerei. Wie Deininger bereits beim ersten Gespräch mit ihm bemerkt hatte, wurde er hin und wieder auch zu Arbeiten im Brauhaus eingesetzt. Diese Tätigkeit machte ihm besonders viel Freude. Mit großem Interesse versuchte er möglichst viel über das Bierbrauen zu lernen. Nach und nach begriff er, wie die verschiedenen Biersorten hergestellt werden mussten und welch sorgfältiges Handwerk dafür notwendig war. Fasziniert bemerkte er eine Menge von Umständen, die Einfluss auf den Geschmack des Getränkes nahmen. Da war zunächst die Beschaffenheit des Getreides. Dann die Art, wie es gemalzt wurde. Aber auch die Gerüche, denen man es aussetzte, wirkten sich auf den Geschmack aus. Vor allem aber besaß das Wasser eine ganz erhebliche Bedeutung. Darüber hinaus durfte der Einfluss der Luft, der das Bier auf der Kühle ausgesetzt war, nicht unterschätzt werden. Die Art des Einmaischens und des Kochens wiederum spielten eine Rolle. Und nicht zuletzt hatten die Behandlungsart und die Beschaffenheit des Hopfens, die Natur der Hefe, die Gärung, die Güte der Keller und die örtlichen klimatischen Verhältnisse ihren Anteil an der Geschmacksbildung.

All das lernte Peter. Er sammelte rasch Erfahrungen. Nach kaum einem halben Jahr konnte er neben dem Bierausfahren zu etlichen anderen Arbeiten herangezogen werden. Alsbald machte er bereits Verbesserungsvorschläge. Noch vor der Sommerzeit wurde sein Lohn aufgebessert. Mit Gustav Nagel verband ihn in der Zwischenzeit eine Freundschaft. Sie verstanden sich blendend, Gustav wurde bei den Ausfahrten nicht müde, aus seinem arbeitsreichen Leben zu erzählen. Von ihm erfuhr Peter einiges über die politischen Verhältnisse in der Zeit vor dem Regierungsantritt Wilhelms I. Dessen Vater Friedrich, der im Jahr 1806 von Napoleon die Königswürde erhalten hatte, duldete keinerlei Mitsprache oder gar Mitbestimmung seiner Untertanen. Er war ein absolutistischer Monarch, der Freidenkende in den Kerker werfen ließ. Besonders interessierten Peter die Ereignisse um den Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart, der von Herzog Carl, dem Vorgänger des ersten Königs, über zehn Jahre lang auf dem Hohenasperg gefangen gehalten worden war. Peter konnte zu dieser Zeit nicht ahnen, dass dieses württembergische Zuchthaus für ihn alsbald ebenfalls eine schlimme Bedeutung bekommen sollte. Jetzt fand er die Erzählungen Gustavs über das ›düstere Schubartloch‹, in dem sich nichts befand als ein Strohlager, ein Ofen und ein in die Wand eingemauerter Ring, an welchem auf Befehl des Herzogs der Gefangene beim geringsten Vergehen angekettet werden sollte, unglaublich. Schubarts Vergehen bestand in einer allzu kecken Auffassung über die Regenten seiner Zeit, die er – oft genug gewürzt mit satirischen Ausfällen – ungeniert kundgetan hatte.

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