Verschworen - Eva Björg Ægisdóttir - E-Book

Verschworen E-Book

Eva Björg Ægisdóttir

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Beschreibung

Ein brutaler Mord in den stillen Fjorden Islands wird zum Echo einer uralten Sünde. Für Kommissarin Elma beginnt ein Wettlauf gegen einen Mörder, der fünfundzwanzig Jahre auf seine Rache gewartet hat. Für Kommissarin Elma soll es nach ihrer Babypause ein ruhiger Wiedereinstieg werden. Die winterliche Gemütlichkeit in dem kleinen isländischen Städtchen Akranes wird jedoch brutal zerstört, als eine Leiche in einem abgelegenen Sommerhaus entdeckt wird. Der vierzigjährige Þorgeir wurde mit sieben Messerstichen ermordet. An der Holzwand über seinem Bett hat der Täter eine rätselhafte Nachricht hinterlassen – eine Zeile aus einem alten Kirchenlied, geschrieben mit dem Blut des Opfers. Elmas Ermittlungen führen sie tief in die Vergangenheit von Þorgeir und seinen Jugendfreunden. Die Spur endet im Sommer 1995 in einem christlichen Ferienlager in Vatnaskógur. Ein dunkles Geheimnis verbindet die damalige Clique, denn der angebliche Unfalltod eines Jungen wirft fünfundzwanzig Jahre später tödliche Schatten auf die Gegenwart. Elma stößt auf eine Mauer des Schweigens und erkennt, dass sie einen Mörder jagt, der für seine Rache über Leichen geht. Eva Björg Ægisdóttir verbindet in diesem fesselnden Island-Krimi die trügerische Ruhe der Kleinstadt mit einem unbarmherzigen Rachefeldzug. Ein Pageturner, der zeigt, dass die schlimmsten Verbrechen oft aus den tiefsten Wunden der Jugend erwachsen. Alle Fälle der Krimi-Reihe »Mörderisches Island«: - Verschwiegen - Verlogen - Verborgen - Verlassen - Verschworen Die Bücher erzählen eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 450

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Eva Björg Ægisdóttir

Verschworen

Ein Island-Krimi

Aus dem Isländischen von Freyja Melsted

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Eva Björg Ægisdóttir

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Eva Björg Ægisdóttir

Eva Björg Ægisdóttir ist Jahrgang 1988 und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Reykjavík. Sie ist in Akranes geboren und aufgewachsen, der Stadt, in der ihre Krimis spielen. Nach ihrem Abschluss in Soziologie zog sie nach Trondheim in Norwegen, wo sie einen Master in Globalisierung machte. Für ihren ersten Krimi wurde sie mit dem renommierten isländischen Blackbird-Award ausgezeichnet.

Die Übersetzerin

Freyja Melsted ist in Österreich und Island aufgewachsen. Sie übersetzt aus dem Englischen, Spanischen und Isländischen.

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Über dieses Buch

Im fünften Teil der preisgekrönten isländischen Krimireihe kehrt Kommissarin Elma aus dem Mutterschutz zurück ins Polizeirevier von Akranes. Und sofort muss sie sich mit einem neuen, hochkomplexen Mordfall auseinandersetzen.

Elma bleibt nach der Geburt ihrer Tochter kaum Zeit zum Durchatmen: Ein Mann wird in seinem Ferienhaus ermordet aufgefunden. Die Leiche weist eine große Anzahl Messerstiche auf, auf der Wand darüber steht ein Bibelvers. Die Ermittlungen werden aufgenommen und schnell weisen die Spuren in die Vergangenheit, in eine Zeit, als das Opfer als Jugendlicher die Ferien in einem Sommercamp verbracht hat.

Inzwischen renoviert Sævar das gerade erworbende Eigenheim und stößt dabei auf einen Karton mit Unterlagen, die entscheidende Hinweise liefern könnten. Offenbar gibt es jemanden, der kein Interesse daran hat, dass die Wahrheit über die aktuellen und die damaligen Ereignisse ans Licht kommt. Doch auch in Sævars Vergangenheit scheint es ein paar dunkle Stellen zu geben ...

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Impressum

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln

Titel der Originalausgabe: Strákar sem meiða

© 2022 Eva Björg Ægisdóttir

Aus dem Isländischen von Freyja Melsted

© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: © nadtochiy, Skovsgaardphotos, Smartha/shutterstock

gezeichnete Islandkarte: Christl Glatz | Guter Punkt, München

 

ISBN978-3-462-31340-6

 

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Inhaltsverzeichnis

Akranes 1995 

Fünfundzwanzig Jahre später Dienstag, 8. Dezember

Davor

Þorgeir

Jetzt Dienstag, 8. Dezember

Davor

Þorgeir

Jetzt Mittwoch, 9. Dezember

Davor

Þorgeir

Jetzt Mittwoch, 9. Dezember

Einen Monat davor

Þorgeir

Jetzt Mittwoch, 9. Dezember

Donnerstag, 10. Dezember

Davor

Þorgeir

Jetzt Donnerstag, 10. Dezember

Davor

Þorgeir

Jetzt Donnerstag, 10. Dezember

Davor

Þorgeir

Freitag, 11. Dezember

Davor

Þorgeir

Jetzt Freitag, 11. Dezember

Davor

Andrea

Jetzt Freitag, 11. Dezember

Samstag, 12. Dezember

Davor

Andrea

Jetzt Samstag, 12. Dezember

Sonntag, 13. Dezember

Davor

Andrea

Jetzt Sonntag, 13. Dezember

Montag, 14. Dezember

Davor

Andrea

Jetzt Montag, 14. Dezember

Davor

Andrea

Jetzt Montag, 14. Dezember

Davor

Andrea

Jetzt Montag, 14. Dezember

Davor

Andrea

Jetzt Dienstag, 15. Dezember

Mittwoch, 16. Dezember

Vatnaskógur 1995 

Mittwoch, 16. Dezember

Donnerstag, 17. Dezember

Samstag, 19. Dezember

Mittwoch, 23. Dezember

Personenregister

Akranes 1995 

Sie sitzen im Wohnzimmer auf dem schwarzen Ledersofa, das langsam zerfällt. Er hält die Kassette in der Hand, sie kaut auf ihren spröden Lippen.

»Ich will es nicht sehen«, flüstert sie.

Er steht trotzdem auf und schiebt entschlossen die Kassette in das Gerät.

Erst erscheint ein weißes Rauschen auf dem Bildschirm, und ein Piepton bohrt sich in ihr Bewusstsein. Dann blinkt ein schwarzer Strich auf, und das Video beginnt.

Die Kamera ist nach unten gerichtet. Sie sehen Füße. Sneaker. Hören jemanden flüstern und lachen. Dann schwenkt der Bildausschnitt nach oben auf eine weite hellblaue Jeans. Ein kariertes Hemd und ein weißes T-Shirt. Doch bevor das Gesicht zu erkennen ist, wird die Kamera wieder nach unten auf den Holzboden gerichtet. Immer wieder erscheinen die Socken der filmenden Person, schließlich eine verschlossene Tür.

Plötzlich wird der Bildschirm schwarz. Dann sind Bettfüße aus Holz zu sehen und kurz darauf die Bettwäsche. Die Kamera schwenkt schnell nach oben auf die Person, die im Bett liegt. Ihre Arme ruhen schlaff neben dem Körper, das Gesicht ist von der Kamera abgewandt, und obwohl kein Licht brennt, sind die hellbraunen schulterlangen Haare im Schimmer, der vom Fenster hereinfällt, gut zu erkennen.

Jemand zieht vorsichtig die Decke zurück. Die Person ist spärlich bekleidet, trägt nur ein schwarzes Oberteil und eine weiße Unterhose. Die Arme sind dünn und die Finger ausgesprochen zartgliedrig.

»Nimm die Füße«, sagt eine Stimme, »dann nehme ich die Hände.«

Die Person, die nicht filmt, tut wie befohlen und greift nach den schlaffen Beinen.

»Seid leise«, sagt jemand, aber die Stimme wird von einem Rascheln übertönt. Wie das Störgeräusch einer instabilen Telefonverbindung.

»Mach das aus«, sagt die Frau plötzlich und steht auf. »Mach sofort aus.«

Doch der Mann bleibt auf dem Sofa sitzen und starrt weiter auf den Bildschirm, als hätte er sie nicht gehört.

Dann geht sie weg, eine Tür fällt zu, aber selbst jetzt reagiert er nicht. Wie immer muss er alles regeln.

Die Sache aus der Welt schaffen.

Fünfundzwanzig Jahre später Dienstag, 8. Dezember

Das Sommerhaus in Skorradalur war deutlich größer, als Elma erwartet hatte, mit riesigen Fenstern und einer stattlichen Sonnenterrasse. Es war umgeben von Birken, von denen manche sogar das Haus überragten. Eine derart imposante Ferienresidenz in einer beliebten Gegend wie dieser hatte bestimmt ihren Preis, aber Elmas Nachbarin, der das Anwesen gehörte, wirkte eigentlich gar nicht so, als könne sie sich das leisten.

Seit Elma und Sævar in ihr neu erworbenes Eigenheim gezogen waren, hatten sie Kristjana regelmäßig mit einem Einkaufstrolley auf dem Weg zum Supermarkt gesehen. Immer mit einem Kopftuch, in einem hellbeigen Mantel und Gummistiefeln. Kristjana war in ihren Siebzigern, wirkte aber älter. Sie hatte kaum zwei Worte mit ihnen gewechselt, aber Elma war aufgefallen, dass sie sich manchmal hinter den Gardinen versteckte und sie heimlich beobachtete.

Kristjana hatte am vergangenen Freitag zuletzt mit ihrem Sohn gesprochen, das war vor vier Tagen. Als man sie gestern angerufen hatte, weil Þorgeir nicht zur Arbeit erschienen war, verständigte sie die Polizei.

Þorgeir war einundvierzig Jahre alt, Softwareingenieur und alleinstehend. Kristjana hatte nichts von seinen Plänen gewusst, übers Wochenende ins Sommerhaus zu fahren, aber nachdem sie ihn mehrmals vergeblich angerufen hatte, kam ihr der Gedanke, dass er dort sein könnte. Zwei Polizisten aus Borgarnes waren nach Skorradalur gefahren und hatten seinen Wagen in der Einfahrt gesehen, ihn selbst aber nicht. Als sie klopften, machte niemand auf, und auch durch die Fenster war er nicht zu sehen. Offenbar hatte sich aber vor Kurzem jemand im Haus aufgehalten, denn die Polizisten bemerkten durch eines der Fenster Geschirr auf dem Tisch, und in den Whirlpool auf der Terrasse rann immer noch heißes Wasser.

Þorgeir war also vermutlich im Haus oder in der Umgebung unterwegs, und vielleicht war tatsächlich etwas vorgefallen, oder er hatte aus irgendeinem Grund beschlossen, sich zu isolieren. Elma fiel noch eine weitere Möglichkeit ein, aber sie wollte nicht sofort vom Schlimmsten ausgehen. Doch als sie die Tür zum Sommerhaus mit dem Schlüssel öffnete, den sie von Kristjana bekommen hatte, kam ihr sofort ein süßlicher Geruch entgegen. Der Geruch eines verwesenden Körpers.

***

Von innen wirkte das Sommerhaus eher konventionell, es war bis an die Decke mit vergilbtem Föhrenholz verkleidet. Die Küche lag rechts, das Wohnzimmer links. Das Bücherregal war derart vollgestellt, dass sich die meisten Regalbretter in der Mitte ein wenig durchbogen. Außerdem standen dort noch ein klobiges Sofa und ein Röhrenfernseher, an den Wänden hingen ein Gletschergemälde und ein Jesusbild unter einem metallenen Kreuz.

Offenbar gab es zwei Schlafzimmer, und als Elma die Tür zum ersten öffnete, fand sie, wonach sie gesucht hatte.

Auf dem Bett lag Þorgeirs Leiche. Die Decke verhüllte nur die untere Hälfte seines Körpers, und seine Füße hatten sich darin verheddert, als wäre ihm mitten in der Nacht warm geworden. Die weiße Bettwäsche war überzogen von trockenem Blut und die Todesursache bei genauerem Hinsehen ziemlich offensichtlich.

Þorgeir war mit einem scharfen Gegenstand erstochen worden, vermutlich einem Messer. Sein Oberkörper war nackt, und Elma zählte mindestens fünf Einstichstellen auf Brust und Unterleib. Dazu noch zwei am Hals.

Helle Leichenflecke wiesen darauf hin, dass er seit dem Tod in dieser Position gelegen hatte. Aufgrund der Schwerkraft hatte sich das Blut im unteren Körperbereich gesammelt. Elma war keine Forensikerin, aber nach etwa einem Jahrzehnt bei der Polizei hatte sie ein paar Dinge gelernt. Die helle Farbe kam vermutlich daher, dass er sehr viel Blut verloren hatte, das jetzt die Decke und die Matratze überzog.

An manchen Stellen, vor allem am Unterleib, war die Haut jedoch schon blaugrün. Der Körper begann bereits zu verwesen, weshalb die Haut sich mit Gasen füllte und stellenweise aufquoll und einriss. Die Haare und Fingernägel lösten sich ab, und aus seinem Kopf war eine rotbraune Flüssigkeit ausgetreten. Die Augenlider waren zur Hälfte geschlossen, und darunter konnte man die hellen und matten Augen erkennen. Sie waren eingetrocknet und sahen aus wie Kontaktlinsen, die man vergessen hatte, in Flüssigkeit einzulegen.

Diese Leiche war seit einigen Tagen nicht bewegt worden.

»Ich zähle sieben Stichwunden«, sagte Hörður, der hinter ihr stand. »Ganz schön brutal.«

Er hatte recht. Elma hatte noch nie einen derart schauderhaften Tatort gesehen. Sie stellte sich vor, wie das Messer erhoben und in den Unterleib gerammt worden war. Nicht nur einmal, sondern gleich siebenmal hintereinander. Während ihrer Elternzeit hatte sie es sich mit ihrer kleinen Tochter gemütlich gemacht und beinahe vergessen, wie grausam die Welt sein konnte.

»Stellt sich die Frage, ob er mit seinen Freunden hier war«, fuhr Hörður fort.

»Eine Party mit verhängnisvollem Ausgang?«, führte Elma den Gedanken fort, aber die Theorie schien ihr nicht ganz aufzugehen. Würde Þorgeir dann nicht woanders liegen als ausgerechnet im Bett? Und müsste es dann nicht noch weitere Anzeichen für eine Auseinandersetzung geben? Sie hatte weder Hinweise auf eine Party noch auf einen Kampf bemerkt.

Elma fiel auf, dass beide Decken des Doppelbetts so aussahen, als hätte jemand darin geschlafen. Vielleicht brauchte Þorgeir viel Platz, aber möglicherweise hatte auch jemand neben ihm gelegen. Auf dem Nachttisch stand ein Kontaktlinsenbehälter. Elma zog sich Handschuhe an und öffnete ihn. Die Linsen schwammen in der Flüssigkeit wie kleine Quallen.

»Er hat vor seinem Tod seine Kontaktlinsen rausgenommen«, sagte Elma. »Sagt uns das etwas?«

»Also hatte er sich bereits schlafen gelegt.«

»Hm?«

»Ich nehme meine Linsen raus, bevor ich ins Bett gehe«, erklärte Hörður.

Elma starrte auf seine Brille, die er eigentlich immer aufhatte. »Wann trägst du denn jemals Kontaktlinsen?«

»Ja, also in den seltenen Fällen, in denen ich Lust habe, mir statt der Brille welche einzusetzen«, räumte er ein. »Aber Gígja hat oft Linsen benutzt. Und das Letzte, was sie abends gemacht hat, war, sie rauszunehmen.«

Gígja war Hörðurs Frau, die vor etwa einem Jahr nach einem kurzen Kampf gegen den Krebs verstorben war. Niemand, der sie gekannt hatte, war darüber hinweg, am wenigsten Hörður. Während der Elternzeit hatte Elma zwar genug andere Dinge im Kopf gehabt, aber jetzt war ihre Tochter sieben Monate alt, und als sie Anfang Dezember wieder angefangen hatte zu arbeiten, waren viele Erinnerungen an Gígja aufgekommen. Zum Beispiel hatte sie oft die Polizeistation besucht und meist irgendwelche selbst gebackenen Köstlichkeiten mitgebracht.

Doch in diesem Moment hatte Elma definitiv keinen Appetit auf Kuchen oder Gebäck. »Okay, Þorgeir war also bereits schlafen gegangen, und dann hat ihn plötzlich jemand überrascht«, überlegte sie laut vor sich hin.

»Wahrscheinlich ist er während des Angriffs aufgewacht.«

»Oder er war mit jemandem hier im Haus, und es kam zu einer Auseinandersetzung.«

»Mit Freunden?«

»Wenn, dann können es wohl kaum gute Freunde gewesen sein«, antwortete Elma.

»Würde ein Freund ihm das antun? Warten, bis er einschläft, bevor er zur Tat schreitet?«

»Unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar. Þorgeir ist groß. Vielleicht hätte der Freund sonst keine Chance gehabt.«

»Was könnte es noch sein?«

»Vielleicht eine Partnerin?«, schlug Elma vor.

»Vielleicht.«

Elma betrachtete die Blutflecken auf der Wandverkleidung aus Föhrenholz, die ihre eigene Geschichte erzählten. Die Spur führte nach oben. Wahrscheinlich hatte Þorgeir im Bett gelegen und der Angreifer über ihm gestanden oder gekniet, als er ihn in die Brust stach. Das Blut war fast bis zur Decke gespritzt.

Dann bemerkte sie an der Wand eine Inschrift mit schwarzem Filzstift. Nicht besonders auffällig, nur kleine, schwer lesbare Buchstaben. Sie lehnte sich vor und versuchte, nicht an die verwesende Leiche unter ihr zu denken.

»Was ist das?«, murmelte sie zu sich selbst.

»Ist das nicht einfach eine Kritzelei?«, fragte Hörður.

»Oder ein Mentekel.«

Die Buchstaben waren klein und gingen ineinander über, wie bei einer schlechten Schreibschrift, aber für Elma sah es ganz klar danach aus, als wäre der Text erst auf die Wand geschrieben worden, nachdem das Blut darauf gespritzt war. Als wäre er in Þorgeirs Blut geschrieben worden:

Mit Blut nimm hinweg die Vergehen und Sünden, o Jesu.

Davor

Þorgeir

Þorgeir legt gerade eine Packung Haferflocken in den Einkaufswagen, als er sie bemerkt. Sie steht auf den Zehenspitzen und streckt sich nach etwas im obersten Regal, einer Packung Müsli, die nach hinten gerutscht ist. Sie trägt eine armeegrüne Jacke, Jeans und ein T-Shirt, das nach oben rutscht, sodass ihre schmale Taille hervorblitzt. Die Haut ist so weiß wie Milch.

»Brauchst du Hilfe?«, fragt er.

Sie lächelt. »Ja, bitte, das wäre nett.«

Þorgeir greift nach der Packung und reicht sie ihr, sie bedankt sich, legt sie in ihren Einkaufskorb und ist im Begriff, sich abzuwenden, als er sie aufhält.

»Ich … ähm, kennen wir uns?« Laut ausgesprochen klingt die Frage längst nicht mehr so clever wie zuvor in seinem Kopf. Natürlich nur eine leere Phrase. Sie wissen beide, dass sie sich noch nie zuvor begegnet sind. An diese langen Haare, die schneeweiße Haut und die großen Augen würde er sich erinnern.

»Nein, ich glaube nicht«, sagt sie. »Ich wohne nicht in Akranes, bin nur zu Besuch hier.«

»Ah, okay.« Normalerweise spricht er keine Unbekannten an, eigentlich gehört er zu den Menschen, die in der Öffentlichkeit jeglichen Augenkontakt mit anderen vermeiden, und doch überlegt er jetzt verzweifelt, was er noch sagen könnte, während er auf ihren Einkaufskorb starrt. Er fragt sich, warum darin nur eine Banane und eine Kekspackung liegen. Hat sie vor, wandern zu gehen? Wird sie in Akranes übernachten? Wen besucht sie überhaupt?

Letztendlich ist sie diejenige, die das Schweigen bricht. »Ich heiße Andrea.«

»Þorgeir«, sagt er und reicht ihr die Hand, als wäre er ein alter Mann und nicht erst Anfang vierzig. Sie dürfte um einiges jünger sein, kaum dreißig, aber ganz sicher ist er nicht. Er war noch nie gut darin, das Alter von Personen einzuschätzen.

Sie lacht und nimmt seine Hand. »Freut mich, Þorgeir, danke für die Hilfe mit dem Müsli.«

»Bleibst du lange? Hier in Akranes, meine ich.« Er hält immer noch ihre Hand fest, und als es ihm bewusst wird, lässt er sie schnell los. Sofort vermisst er die Berührung.

»Ich weiß es nicht«, sagt sie. »Ich plane meist nicht weit in die Zukunft.«

»Abenteuerlustig?«

»Kann sein.« Sie beißt sich auf die Unterlippe, wie um ein breites Lächeln zu unterdrücken, und ihm geht es ähnlich, er versucht angestrengt, ein dämliches Grinsen zurückzuhalten, das sich auf seine Lippen drängt.

Wie gerne würde er etwas Schlaues sagen. Etwas, das ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubert, sie laut auflachen lässt, aber letztendlich sagt er nur ein Wort. Ein ziemlich blödes Wort: »Cool.«

Sie nickt. Das Lächeln verschwindet.

»Also gut, danke noch mal für die Hilfe.« Andrea geht weg, und er starrt auf ihren langen Pferdeschwanz in einer schwer definierbaren Farbe, irgendwie brünett, aber auch rötlich. Plötzlich kann er sich nicht zurückhalten.

»Hey«, ruft er ihr hinterher, etwas zu laut und etwas zu verzweifelt. Andrea dreht sich um und wartet ab.

»Also, falls du was brauchst … jemanden brauchst … dann kann ich gerne …« Er klingt wie damals, als er ein Teenager war und nicht wusste, wie man mit Mädchen spricht. Ihm wird ganz warm im Gesicht, besonders auf den Wangen. Er, der dachte, er hätte diesen Teenagerjungen längst hinter sich gelassen. Der gezielt an sich gearbeitet hat, Kurse besucht und Übungen gemacht hat, um so aufzutreten, wie er es gerne würde. So zu sein, wie er will.

Um nicht zu zeigen, wer er eigentlich ist.

Die Sekunden vergehen und fühlen sich an wie Stunden, doch dann antwortet sie.

»Wie ist deine Nummer?«

Nach einem missglückten Versuch stammelt er die richtige Nummer hervor. Sie tippt sie in ihr Handy ein, und er spürt ein Vibrieren in der Tasche.

»Hier«, sagt sie. »Jetzt hast du auch meine.«

»Was? Ach so, klar.« Er nimmt sein Handy und sieht ihre Nummer auf dem Display. Möchte noch etwas Gewieftes sagen, sie fragen, wie sie gerne in seinem Telefonbuch heißen würde, aber als er wieder aufblickt, ist sie verschwunden.

Erst dann fällt Þorgeir auf, dass die Müslisorte, die er ihr vom obersten Regal geholt hat, auch weiter unten steht. Eigentlich auf allen Regalen und nicht zu übersehen. Andrea hätte seine Hilfe gar nicht gebraucht.

Jetzt Dienstag, 8. Dezember

Sie warteten vor der offenen Eingangstür auf die Spurensicherung und den Gerichtsmediziner. Elma fühlte sich im Sommerhaus nicht wohl, was nicht nur am Gestank lag, sondern auch am Kreuz und an dem Bild von Jesus, der sie von der Wand aus anzustarren schien. Eigentlich war sie nicht gläubig, jedenfalls glaubte sie nicht an Gott und den Heiligen Geist, aber dort drinnen, umgeben vom schweren und stickigen Verwesungsgeruch, wirkte der Anblick von Jesus Christus irgendwie erdrückend. Vermutlich trug der Spruch an der Wand ebenfalls dazu bei.

»Kristjana ist tatsächlich streng gläubig«, sagte sie zu Hörður. »Sie betreut die Sonntagsschule für Kinder oder hat es zumindest jahrelang gemacht.«

Diese Details wusste Elma von ihrer Mutter. Als sie und Sævar umgezogen waren, hatte sie ihnen alles erzählt, was sie über ihre neuen Nachbarn wissen sollten, und noch mehr. Deshalb war Elma auch darüber informiert, dass das Paar in dem Haus hinter ihnen zusammengezogen war, nachdem beide vorherigen Ehen gescheitert waren. Manchmal sah Elma durchs Fenster eines der sechs Kinder der neuen Patchworkfamilie. Sie wusste auch, dass der Mann im Haus links nebenan ein herausragender Student gewesen war, doch zu schwer an dem vielen Wissen zu tragen gehabt hatte und jetzt als Bademeister im Schwimmbad arbeitete. Er lebte allein, aber hatte einen Sohn, der offenbar manchmal zu Besuch kam, auch wenn Elma ihn bisher noch nicht gesehen hatte. Und ihre Mutter hatte eben auch erzählt, dass Kristjana zutiefst gläubig und ziemlich sonderbar war. Sie hatte nur den einen Sohn und nicht wieder geheiratet, nachdem ihr Mann vor einigen Jahrzehnten bei einem Unfall verstorben war.

»Ja, ich kenne sie ein wenig«, sagte Hörður.

»Aber diese Kritzelei passt nicht wirklich ins Bild«, fuhr Elma fort. »Alles ist so ordentlich, das ist kein Haus, in dem mit schwarzem Filzstift auf die Wände gekritzelt wird.«

»Was ist mit Þorgeir?«

»Meinst du, ob er an Wände gekritzelt hat?«

»Ist er gläubig?« Hörður blickte sich um und holte tief Luft.

»Keine Ahnung.«

»Könnte es sein, dass er diesen Spruch noch kurz vor seinem Tod geschrieben hat? Hätte er die nötige Zeit und Kraft dafür gehabt?«

Elma machte einen Schritt in Richtung Hörður und der frischen Luft.

»Also eine Art Bitte um Sündenerlass?«, fragte sie. »Nimm hinweg die Vergehen und Sünden … welche Vergehen und welche Sünden?«

»Haben wir nicht alle unsere Sünden?«

»Doch, ich schätze schon.« Elma sah durch die offene Tür ins Wohnzimmer und auf das Jesusbild an der Wand. Sein Blick war nicht verurteilend, aber etwas daran löste dennoch Unbehagen in ihr aus. Vielleicht dieser Gesichtsausdruck von absoluter Unschuld und Güte. Niemand war vollkommen unschuldig und gut.

»Ich würde trotzdem davon ausgehen, dass keiner der beiden diese Textzeile geschrieben hat«, sagte Elma. »Sie wurde auf das Blut geschrieben. Nach dem Mord.«

»Das sollen die Kriminaltechniker beurteilen«, sagte Hörður. »Ich rufe mal in Reykjavík an und frage nach, wann mit ihnen zu rechnen ist.«

Elma wäre am liebsten mit ihm nach draußen gegangen, doch sie wollte sich das Haus noch vor der Ankunft der Spurensicherung etwas genauer ansehen. Vielleicht könnte sie herausfinden, ob Þorgeir allein gewesen war. Trotz ihres Unbehagens, oder vielleicht gerade deshalb, weckte dieses Sommerhaus ihre Neugier.

Die Stille, nachdem Hörður gegangen und die Tür ins Schloss gefallen war, fühlte sich an wie ein angehaltener Atem. Deshalb erschrak Elma auch, als der Kühlschrank plötzlich ein lautes Surren von sich gab.

Bevor sie durchs Haus ging, zog sie gewissenhaft Schuhüberzieher und Handschuhe an. Im Vorraum sah sie nur Schuhe, die vermutlich Þorgeir und seiner Mutter gehörten, alte Gummistiefel, ausgefranste Hausschuhe und ein Paar neue Sneaker.

Wenn irgendwelche Freunde mit Þorgeir gekommen waren, hatten sie ihre Schuhe beim Rausgehen wieder angezogen, was nicht weiter ungewöhnlich war. Die meisten Menschen verließen ein Haus schließlich in den Schuhen, in denen sie gekommen waren.

An einem Haken hingen eine moosgrüne Wachsjacke und ein karierter Schal. Außerdem waren da noch ein gelber Regenhut und jede Menge Strickmützen und Kopftücher.

Im Waschbecken in der Küche befand sich Geschirr, zwei Wassergläser und zwei Weingläser. Auf der Arbeitsplatte stand eine Weinflasche, in der nur noch etwas Bodensatz zu sehen war.

Þorgeir hatte anscheinend nicht irgendwelche Freunde zu Besuch gehabt, sondern eher eine Frau, überlegte Elma. Könnte natürlich auch ein Mann gewesen sein, aber es sah definitiv nach einem romantischen Abend aus. Ein Gläschen Rotwein im Whirlpool.

Elma betrachtete das Wohnzimmer, das ziemlich ordentlich wirkte, und auf den ersten Blick fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf. Höchstens ein Teppich, der etwas seltsam zwischen Sofatisch und Fernseher platziert war. Er lag schief und an einer willkürlichen Stelle auf dem Boden, zu weit vom Sofa entfernt und zu weit links vom Fernseher. Sævar hätten sich beim Anblick die Haare gesträubt, er rastete schon aus, wenn Elma aus Versehen eine Cerealienbox von der falschen Seite öffnete.

Im Badezimmer gab es nichts, das ihr weiterhalf. Die Dusche war typisch für ein Sommerhaus, eine kleine Plastikkabine und ein simpler Duschkopf. Sie öffnete den Schrank und entdeckte eine Zahnpastatube und zwei Zahnbürsten, eine Hautcreme und Kontaktlinsenflüssigkeit.

Neben dem Schlafzimmer, in dem Þorgeir lag, gab es noch ein weiteres, kleineres. Dort standen ein Einzelbett mit einer Matratze und eine Wandlampe, auf dem Boden lag ein großer Stapel Bücher, vor allem Romane. Eine bunte Mischung aus Krimis und Liebesgeschichten.

In diesem Raum war die Luft sogar noch schlechter als im restlichen Haus, modrig, feucht und irgendwie faulig. Die Matratze hatte auch schon bessere Zeiten gesehen, und es war kaum zu erkennen, ob sie von Anfang an beige oder vielleicht früher einmal weiß gewesen war. Elma wollte es gar nicht so genau wissen.

Aber irgendetwas nagte an ihr, sie wusste nur nicht genau, was es war. Etwas, das sie gesehen oder vielleicht übersehen hatte.

Als ihr Handy vibrierte, kam sie darauf: Wo war das von Þorgeir? Fast alle, wenn nicht sogar alle Menschen, hatten ihr Smartphone immer bei sich, aber seines war ihr nirgendwo aufgefallen.

Sie holte ihr Handy hervor und sah, dass Sævar ein Selfie von sich und Adda geschickt hatte. Still lächelte sie in sich hinein und steckte das Telefon zurück in die Tasche, atmete tief durch und betrat noch einmal das große Schlafzimmer. Sie ignorierte die Leiche und konzentrierte sich stattdessen auf alles darum herum. Þorgeir hatte seine Kleidung auf einem Sessel in der Ecke abgelegt. Die Jeans und der dunkelblaue Pullover waren fein säuberlich zusammengefaltet und kontrastierten mit dem Horror im Bett.

Elma stellte sich vor, wie Þorgeir sich bettfertig machte, seine Kleidung sorgfältig ablegte, die Kontaktlinsen rausnahm und schlafen ging. Hatte er bis zum ersten Messerstich geschlafen?

Die meisten Menschen legten ihr Handy vor dem Schlafen auf einen Nachttisch. Elma beugte sich unters Bett, in der Hoffnung, ein Handy zu sehen, das bei der Auseinandersetzung auf den Boden gefallen war.

Dort lag etwas Schwarzes, aber nicht das Handy, es sah viel eher aus wie eine zusammengeknüllte Socke.

Elma holte das Kleidungsstück hervor, keine Socke, sondern eine stoffarme Seidenunterhose mit Spitze, die wohl kaum Kristjana gehörte.

***

Matthías blieb starr im Bett liegen, während Hafdís aufstand, sich anzog und das Schlafzimmer verließ. Als er lauschte, wie Mutter und Tochter frühstückten und sich fertig machten, brachen seine Tränen hervor und tropften auf das Kissen. Er dachte darüber nach, dass er bald das letzte Mal neben Hafdís aufwachen würde, dass sie bald nicht mehr als Familie zusammenleben würden, doch auch jetzt lag er bereits allein da und konnte sich nicht vorstellen, es mit dem kommenden Tag aufzunehmen.

Hafdís wollte die Scheidung.

Das hatte sie ihm am Wochenende bei der Weihnachtsfeier der Bank mitgeteilt. Seitdem hatte sie so getan, als wäre nichts gewesen, obwohl bereits feststand, dass sich alles verändern würde. Ihrer Tochter zuliebe wollte Hafdís bis nach Weihnachten mit der Ankündigung warten. Ein neues Jahr für ein neues Leben. Vielleicht war das der Hintergedanke.

Er stand erst auf, als er hörte, dass sie und Ólöf gegangen waren. Auf Frühstück hatte er keine Lust, er holte nur einen Sechserpack Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich ins Auto.

Die Fahrt von Akranes zu den Pferdeställen bei Æðaroddi dauerte nur wenige Minuten. Dort war Matthías mehr oder weniger aufgewachsen, früher war er jeden Tag mit seinen Eltern oder Geschwistern hingefahren. Momentan hatten sie fünf Pferde, um die sie sich gemeinsam kümmerten. Sein Vater half auch oft, aber zum Glück war gerade niemand da. Niemand außer den Tieren.

Er öffnete eine Bierdose und ging zu Garpur, ihrem ältesten Pferd, der im Frühjahr fünfundzwanzig wurde. Er hatte ihn zu seinem siebzehnten Geburtstag bekommen. Garpur war vielleicht kein edles Ross und auch nicht besonders wertvoll, aber trotzdem sein Lieblingspferd.

Das Handy vibrierte in seiner Tasche, und er sah Kristjanas Namen auf dem Display aufleuchten, die Mutter von Þorgeir, mit dem er seit der Kindheit befreundet war. Er ließ es klingeln, hatte keine Lust, jetzt mit ihr zu reden, sondern wollte einfach seine Ruhe.

Er streichelte über Garpurs Nüstern, und die großen braunen Augen des Tieres sahen ihn eindringlich an. In diesen Augen hatte er schon oft Trost gesucht, wenn ihn etwas bedrückte. In seinem Blick hatte er Wärme und Mitgefühl gespürt, als würde das Pferd ihn verstehen.

Wie konnte Hafdís ans Aufgeben denken, nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten? Er hielt es für einen Scherz, als sie nach der Feier im Hotelzimmer die Scheidung aufgebracht hatte. Wie zur Strafe, weil er sich danebenbenommen hatte.

Sie hätte allen Grund dazu gehabt, schließlich hatte sie sich lediglich mit einem Kollegen unterhalten, und er hatte sich furchtbar darüber aufgeregt und sie blamiert. Ihr vorgeworfen, es stecke mehr dahinter als ein harmloses Gespräch.

Matthías war schon immer ein eifersüchtiger Mensch gewesen. Er hatte eine schöne Frau und konnte manchmal nicht damit umgehen, wie andere sie ansahen. Und dass sie diese Blicke einfach so zuließ.

Nie hätte er aber damit gerechnet, dass Hafdís ihn verlassen würde. Sie waren zusammen, seit sie sechzehn waren, kannten sich also schon ihr halbes Leben lang. Aber die letzten Monate hatten sie offenbar an die Grenzen ihrer Geduld gebracht. Sie hatten all ihre Ersparnisse und ein ganzes Jahr ihres Lebens in die Eröffnung eines kleinen Cafés im Ortskern gesteckt, das eine Weile ganz gut gelaufen war, für das sie dann aber Schulden aufnehmen mussten, die ihnen mit der Zeit über den Kopf wuchsen. Alles ging den Bach hinunter, es gab immer mehr Kredite, die Raten stiegen in schwindelnde Höhen, bis sie sie nicht mehr stemmen konnten. Ihr gesamtes Geld, alles, was sie über die Jahre angespart hatten, verpuffte von einem Augenblick zum nächsten.

Matthías bekam schnell einen Job bei einem Bauunternehmen, aber der raubte ihm beinahe alle Lebensenergie. Deshalb war er sofort ganz Ohr gewesen, als Þorgeir von seiner Idee für eine Software erzählt hatte, die sie an viele Firmen verkaufen könnten. Sie hatten viel Arbeit in das Projekt gesteckt, Fördermittel aus einem staatlichen Start-up-Fonds bekommen und vielen potenziellen Geldgebern ihre Ideen präsentiert. Alles wirkte ziemlich vielversprechend. Þorgeir hatte das nötige Kapital zusammenbekommen, und Matthías war sicher, dass alles besser werden würde, dass er sich und Hafdís aus dem Schuldensumpf retten könnte und sie bald so leben würden, wie sie es sich immer erträumt hatten.

Eiskalter Schweiß brach auf seinem Rücken aus, und er trank sein Bier in einem Zug leer. Vor seinen Augen sah er sie, wie sie am Waschbecken des Hotelzimmers stand und ihre Zähne putzte, ganz normal. Etwas, das sie seit Jahrzehnten jeden Abend zusammen machten.

»So kann es nicht weitergehen«, hatte sie gesagt und die aufgeschäumte Zahnpasta ins Waschbecken gespuckt.

»Was kann so nicht weitergehen?«, hatte er gefragt, völlig unvorbereitet auf das, was danach kommen würde.

»Das hier. Wir.« Hafdís hatte eine Tube Gesichtscreme geöffnet und trug sie mit kreisförmigen Bewegungen auf die Wangen auf.

Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte, starrte sie nur verwirrt an.

Sie fuhr fort: »Es funktioniert schon seit einer Weile nicht mehr, und ich denke, es bringt nichts, das noch länger hinauszuziehen.«

»Seit einer Weile … hinausziehen …« Matthías kam sich vor wie eins dieser Spielzeuge, die einen nachäfften.

Hafdís drehte sich um. »Ich will die Scheidung.«

Erst lachte Matthías auf. Dann musste er sofort an ihre Tochter denken.

Seit sie an ihren Innenschenkeln und auf den Oberarmen Verletzungen bemerkt hatten, ging Ólöf zu einem Psychologen. Sie war zeitweise nicht sie selbst gewesen, hatte kaum geredet und sich meist in ihrem Zimmer verschanzt. Sie war vierzehn, und Matthías hatte es für normales Teenagerverhalten gehalten. Er hätte nie gedacht, dass sich Ólöf selbst etwas antun würde. Die Sache war ans Licht gekommen, weil ihre Schulfreundinnen eine Lehrerin informierten, nachdem sie beim Umziehen vor dem Sportunterricht die Wunden bemerkt hatten. Ein halbes Jahr lang waren sie als Familie alle vierzehn Tage zur Therapie gegangen, um ihre Beziehung zu stärken und die schlechten Gedanken aus der Welt zu räumen. Um Ólöf wieder in Ordnung zu bringen.

Manchmal wünschte sich Matthías, sie wäre einfach nur körperlich erkrankt. Etwas, das man mit einer Operation beheben konnte.

»Sie kommt schon zurecht«, hatte Hafdís gesagt, als er es ansprach, und massierte weiter die Creme ein, jetzt am Hals. »Wir werden weiterhin für sie da sein, auch wenn wir nicht zusammen sind. Sie ist kein kleines Kind mehr.«

Matthías folgte Hafdís zurück ins Zimmer, und sie setzten sich nebeneinander aufs Bett. »Hast du einen anderen kennengelernt?«, fragte er und überlegte, ob das nicht etwas Gutes haben könnte. Er könnte sie wieder zurücknehmen. Ihr alles verzeihen.

Aber Hafdís behauptete, da sei kein anderer. Sie gähnte, während er noch immer versuchte, die Situation zu verstehen. Kurz darauf lauschte er ihrem ruhigen Atem. Sie schlief, während er die ganze Nacht wach lag.

Seitdem waren drei Tage vergangen, und Hafdís hatte ihre Ansichten nicht geändert, hatte noch immer keine Träne geweint und über die Scheidung gesprochen, als wäre es etwas ganz Alltägliches, wie zu beschließen, was es zum Abendessen geben sollte.

Matthías war so verletzt, er spürte den Schmerz im ganzen Körper. »Was zur Hölle soll ich jetzt tun?«, flüsterte er Garpur mit Tränen in den Augen zu. »Was zur Hölle?«

***

Hannes, der Rechtsmediziner, hob die Decke und zog Þorgeirs Unterhose hinunter, um das Thermometer in den After einzuführen. Das war die gängigste und genaueste Methode, um am Tatort die Temperatur einer Leiche zu messen.

»Leicht über der Raumtemperatur«, sagte Hannes. »Also liegt er schon über zwei Tage hier, aber das hätte ich mit Blick auf den Grad der Verwesung auch geschätzt. Die Nägel sind noch vorhanden, aber lösen sich langsam ab, genau wie die Haare. Etwa drei bis vier Tage, würde ich sagen. Die Totenstarre ist bereits vorüber und die Leiche wieder schlaff.«

»Also ist er am Freitagabend oder in der Nacht auf Samstag gestorben«, sagte Elma.

»Ja, das könnte passen«, sagte Hannes. »Ich würde annehmen, dass er um diese Zeit herum ermordet wurde.«

»Wann hat Kristjana zuletzt von ihm gehört?«, fragte Hörður.

»Am Donnerstag.«

»Sieben Stichwunden«, fuhr Hannes fort. »Wie ihr seht. Offenbar alle mit derselben Waffe. Habt ihr ein Messer gefunden?«

»Noch nicht«, sagte Hörður.

»Es muss eine breite Klinge gewesen sein. Ein Küchenmesser vielleicht, jedenfalls eher groß.«

Elma machte eine Notiz, sich die Messer in der Küche anzusehen. Oft waren sie Teil eines Sets. Einige unterschiedlich große Messer, die man zusammen kaufte.

»Þorgeir lag während der Attacke auf dem Rücken. Der Angreifer stand direkt vor ihm, saß möglicherweise auf ihm. Ich muss mir das morgen genauer ansehen, aber die Wunden lassen darauf schließen. Sie sind oben tiefer als unten, aber auch insgesamt ziemlich tief, da hat jemand ordentlich zugestochen. Vielleicht sogar mit beiden Händen.«

»Hat er geschlafen?«, fragte Elma.

»Ich sehe jedenfalls keine Hinweise, dass er sich gewehrt hat. Keine Wunden an den Händen, also hat er nicht versucht, das Messer abzuwenden. Jedenfalls nicht um die Klinge gegriffen, wie man es oft sieht.«

»Er hat also geschlafen …«

»Wenn er geschlafen hat, könnte er es nicht sofort gemerkt haben. Sieben Stiche, das kann schnell gehen. Wenige Sekunden.«

»Aber wie lange dauert es, bis man stirbt?«

»Tja, das kommt auf die Blutung an. Seht hier.« Hannes zeigte auf die Wunde am Hals. »Dort hat er am meisten Blut verloren. Möglicherweise wurde die Halsschlagader getroffen. Falls ja, war er nicht lange bei Bewusstsein. Ein schneller Tod. Die anderen Stiche haben das Ganze nur beschleunigt, wenn er also geschlafen hat, blieb ihm kaum eine Möglichkeit, sich zu wehren.«

Elma wusste nicht, ob sie das als gute oder schlechte Nachrichten auffassen sollte. Ein schneller Tod war besser als ein langsamer, aber jemanden wehrlos im Schlaf zu ermorden war erbarmungslos und grausam. Wahrscheinlich machte es aber letztendlich keinen Unterschied.

Irgendjemand hatte jedenfalls gewollt, dass Þorgeir den Angriff unter gar keinen Umständen überlebte.

***

Elma hatte das Gefühl, der Spurensicherung überall nur im Weg zu stehen, also ging sie nach draußen. Obwohl es windstill war, bahnte sich die Kälte trotzdem einen Weg durch ihre Jacke. Sie betrachtete die mit den Fahrzeugen der Polizei, der Spurensicherung und des Rechtsmediziners zugeparkte Einfahrt. Nicht alle hatten auf der kleinen Fläche Platz, die anderen standen am Rand der Schotterpiste, die zum Haus führte.

Auch Streifenpolizisten aus Akranes waren gekommen, darunter Begga und Kári, die gerade die anderen Sommerhäuser in der Umgebung nach möglichen Zeugen abklapperten. Einige Mitarbeiter der Spurensicherung arbeiteten zudem in der Umgebung des Hauses.

Elma war bereits seit einigen Stunden vor Ort und kurz davor, Schnee zu essen, so sehr knurrte ihr Magen. Plötzlich hörte sie die Tür und blickte auf.

Líf trat aus dem Haus und holte tief Luft, als käme sie nach einem langen Tauchgang zurück an die Oberfläche. Sie trug einen weißen Overall, wie sie die Mitarbeiter der Spurensicherung immer anhatten, wenn sie einen Tatort untersuchten, der nicht verunreinigt werden durfte.

»Warm da drinnen?«

»Mhm.« Líf öffnete eine Wasserflasche und trank sie beinahe in einem Zug leer. Sie arbeitete bereits seit vielen Jahren als Kriminaltechnikerin, und Elma kannte sie ganz gut.

»Aber wir sind noch lange nicht fertig«, sagte sie. »Bisher haben wir vor allem Fingerabdrücke von den meisten Flächen gesichert.«

»Ist euch etwas Besonderes aufgefallen?«, fragte Hörður.

»Ja und nein.« Líf straffte die Schultern und verzog das Gesicht. »Im Bett haben wir ein paar lange Haare gefunden, die genauer untersucht werden müssen, und auf den Weingläsern waren Fingerabdrücke. Außerdem haben wir etwas Interessantes gefunden, das mit dem Fall aber vielleicht gar nichts zu tun hat.«

Sie bat Elma mit einer Handbewegung, ihr ins Haus zu folgen, und hielt im Wohnzimmer inne. An der Stelle, wo der große braune Teppich gelegen hatte, war jetzt das Parkett zu sehen und darauf ein dunkler, beinahe schwarzer Fleck.

»Der Teppich war nicht ohne Grund so seltsam platziert«, sagte Líf. »Ich denke, das ist Blut. Altes Blut und viel davon. Als wäre hier jemand regelrecht verblutet.«

»Lässt sich das nicht genau sagen?«, fragte Elma.

»Nein, mit hundertprozentiger Sicherheit vermutlich nicht, aber das muss eine schwere Verletzung gewesen sein, wenn die Person nach einem derartigen Blutverlust noch am Leben ist. Und das Blut muss ganz schön lange da gewesen sein, um sich so ins Holz zu fressen.«

»Lässt sich irgendwie feststellen, wie alt der Fleck ist?«

»Schwierig«, sagte Líf. »Erwarte kein genaues Datum, aber wir nehmen mal eine Probe.«

»Was ist mit Erbgut?«

»Daraus? Nein, ich glaube nicht, dass das noch geht.« Elma überlegte, ob Kristjana ihr möglicherweise mehr über den Fleck erzählen könnte als Líf und ihre Kollegen. Offenbar hatte sie versucht, das Blut mit dem Teppich zu überdecken, was die seltsame Anordnung erklärte.

Hinter ihr schoss jemand Bilder, und sie blickte über die Schulter ins Schlafzimmer.

»Gibt es hier außer der Leiche noch weitere Hinweise auf eine Auseinandersetzung?«, fragte sie.

»Ich habe keine Scherben oder dergleichen gefunden«, sagte Líf. »Kein Blut, außer dem um die Leiche herum.«

»Was ist mit diesem Spruch an der Wand?«

»So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte Líf. »Ein Mörder, der eine Nachricht hinterlässt … der kann nicht ganz heil im Kopf gewesen sein.«

»Das ist jedenfalls keine Kneipenschlägerei mit Todesfolge.« Líf zuckte mit den Schultern. »Wobei möglicherweise trotzdem Drogen im Spiel waren, vielleicht war es auch eine Art religiöse Offenbarung, ich weiß es nicht.«

»Du denkst also, der Mörder hat das geschrieben?«

»Komm mal mit.«

Elma folgte Líf zurück ins Schlafzimmer, in dem Þorgeir lag. Sie gingen so nah zur Wand, wie sie konnten, ohne die Leiche zu berühren. »Siehst du diese dunklen Streifen hier?«, fragte Líf. »Das Blut war noch nicht trocken, als das geschrieben wurde, sonst wären nicht diese dunklen Striche um die Buchstaben herum entstanden. Der Filzstift hat das Blut ein wenig verschmiert.«

Elma schüttelte den Kopf. »Wer kommt auf die Idee, so etwas nach einem Mord an die Wand zu schreiben?«

»Jemand, der fand, dass Þorgeir es nicht anders verdient hatte?«, schlug Líf vor. Sie lächelte und fügte hinzu: »Ich bin nur hier, um die Tatsachen festzustellen und Daten zu sammeln. Das Spekulieren ist deine Aufgabe.«

Elma trat in den Flur und ging Richtung Küchenfenster. Von dort aus war der Dampf des Whirlpools zu sehen, in dem ein paar Blätter schwammen. Birken standen direkt an der Windschutzwand, und ein paar Spatzen hüpften auf den weißen Ästen umher. Hier war es wesentlich ruhiger als im ewig stürmischen Akranes.

Elma verspürte den plötzlichen Wunsch, sich abends mal wieder in einen warmen Whirlpool zu setzen. Seit Addas Geburt konnte sie kaum noch in Ruhe allein ins Schwimmbad gehen. Vielleicht sollte sie versuchen, Begga zu überreden, an einem der nächsten Abende den Pool auf ihrer Terrasse zu füllen.

Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken, jemand rief von draußen nach ihr. Elma ging mit den anderen vors Haus, um nachzusehen, was los war.

»Wir haben hier unten was gefunden«, sagte einer der Mitarbeiter der Spurensicherung, an dessen Namen sich Elma nie erinnern konnte.

Er winkte sie zu sich und brachte sie zu einer kleinen Tür in der Terrassenverkleidung, die unters Haus führte. Dort befand sich ein ziemlich großer Stauraum, und Elma konnte beinahe aufrecht stehen. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie eine Mähmaschine, die aussah wie aus dem vergangenen Jahrhundert, und einige Werkzeuge. Holzbretter und eine schwarze Wellblechplatte, die vermutlich beim Bau des Hauses übrig geblieben waren. Dort unten wehte kein Wind, aber aus irgendeinem Grund war es dennoch kälter als draußen, und der Untergrund roch nach feuchter Erde.

»Hier«, sagte der Mann und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf ein großes Küchenmesser, das auf dem Boden neben den Holzbrettern lag.

***

Kristjanas Wimmern war wie ein hoher Piepton, der verklang und dann erneut einsetzte, laut und schrill. Elma hatte noch nie jemanden so weinen hören, ohne Tränen, aber mit hochroten Augen und triefender Nase.

Kristjana lehnte sich gegen die Schulter des Pfarrers, den Elma auf dem Weg abgeholt hatte. Er hieß Bjartur und arbeitete kaum noch, seit ein jüngerer Kollege übernommen hatte, aber war mitgekommen, weil er Kristjana schon lange kannte.

Weder Elma noch der Pfarrer sagten etwas über Kristjanas starke Alkoholfahne. Das schien ihnen in dem Moment unpassend.

Als sie eine Weile zusammengesessen hatten, griff Elma nach ihrem Handy und las Kristjana vor, was am Tatort gestanden hatte. Das Bild von der Wand, die mit dem Blut ihres Sohnes beschmiert war, wollte sie ihr lieber nicht zeigen.

»Hast du das schon einmal irgendwo gehört?« Elma hatte die Textstelle im Internet gesucht und einiges darüber gefunden, was sie aber letztendlich nicht wirklich weitergebracht hatte.

Kristjana kniff die geschwollenen Augen zusammen. »Was ist das?«

»Ein isländisches Kirchenlied. Es wurde im Sommerhaus an die Wand über dem Bett geschrieben.«

»Wie bitte?«

Elma las den Satz noch einmal, und Kristjana schien sich zu verkrampfen.

»Ja, ich kenne das Lied«, sagte Kristjana nach einem kurzen Moment der Stille. »Nimm hinweg die Vergehen und Sünden, o Jesu … und beschere mir ein reines Herz.«

»Hat es für dich oder Þorgeir eine besondere Bedeutung?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»War Þorgeir gläubig?«

Kristjana antwortete nicht, sondern starrte nur auf den Saum ihres Pullovers. Als Elma die Frage wiederholte, schien sie wieder zu sich zu kommen.

»Als er jünger war, ja. Aber in letzter Zeit kaum noch. An Weihnachten wollte er mich nicht einmal mehr in die Messe begleiten.« Kristjanas Mund wurde schmal und verkniffen, sie sah den Pfarrer an, als müsste sie sich bei ihm entschuldigen.

»Hat außer Þorgeir und dir noch jemand Zugang zu dem Sommerhaus?«

Kristjana verneinte, und Elma steckte ihr Handy wieder in die Tasche. Selbst wenn Þorgeir den Kirchgang mit seiner Mutter verweigerte, könnte sein Glaube in der Stunde seines Todes doch wieder entfacht worden sein. Rein theoretisch könnte Þorgeir die Worte selbst geschrieben haben, aber aufgrund des hohen Blutverlustes nach den Messerstichen war das eher unwahrscheinlich, und Líf hatte gesagt, der Text sei auf das Blut geschrieben worden. Nimm hinweg die Vergehen und Sünden klang außerdem nach einer Bitte um Sündenerlass. Der Gedanke, dass damit der Mord gemeint war, lag nahe, aber vielleicht bezog es sich auch auf Þorgeir. Vielleicht war er der Sünder.

»Weißt du, ob Þorgeir in letzter Zeit Probleme oder Konflikte mit jemandem hatte?«, fragte Elma.

Kristjana nahm sich Zeit zu überlegen. »Nein, da fällt mir nichts ein.«

»Wann hast du zuletzt mit ihm gesprochen?«

»Er war letzten Montag zum Essen hier, also vor etwa einer Woche. Ich habe Fisch gekocht. Schellfisch mit Pellkartoffeln und Butter. Das hat er geliebt, mein Þorgeir. Die guten alten isländischen Gerichte.«

»Und war an dem Abend etwas anders als sonst?«

Kristjana schüttelte den Kopf.

»Hat er erwähnt, dass er ins Sommerhaus fahren wollte?«

»Nein, ich …« Kristjana zuckte zusammen, und ihr Tonfall wurde plötzlich schärfer. »Ich kann nicht glauben, dass jemand meinem Jungen das angetan hat.«

»Fällt dir jemand ein, der ihm vielleicht etwas Böses wollte?«

»Meinem Þorgeir?« Kristjana schien beinahe erzürnt, dass Elma überhaupt auf eine solche Idee kam. »Nein, auf keinen Fall. Alle mochten Þorgeir. Er hat nie einer Menschenseele etwas getan.«

Wahrscheinlich konnte Kristjana das nicht beurteilen, dachte Elma und bat sie, die Namen von Þorgeirs engsten Freunden aufzuschreiben.

»Hatte er mit jemandem aus der Familie regelmäßig Kontakt?«, fragte sie.

»Nein, wir sind nur zu zweit. Nach dem Tod seines Vaters waren wir immer nur zu zweit. Und was jetzt?«

Elma hatte keine Ahnung, wie Kristjanas Leben weitergehen würde, und zog es vor, ihre Frage wörtlich zu nehmen. »Zunächst wird Þorgeir morgen früh obduziert, und hoffentlich erfahren wir dadurch mehr. Die Spurensicherung arbeitet im Sommerhaus, und wir werden unser Bestes geben, den Fall möglichst schnell aufzuklären.«

»Ich wusste immer, dass er jung sterben würde. Das ist … das war so ein Gefühl. Das hatte ich schon bei seiner Geburt, seit ich ihn zum ersten Mal im Arm hielt.« Kristjana nestelte an einem Taschentuch und blickte dann zu Elma auf. »Ich will ihn sehen.«

»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte Elma.

»Ich will aber«, sagte Kristjana. »Ich will mein Kind sehen. Das kannst du mir nicht verbieten.«

Der Pfarrer legte seine Hand tröstend auf Kristjanas Schulter, als ihr Wehklagen wieder einsetzte, laut und schrill und scheinbar immerwährend.

***

Als Elma gegen acht Uhr nach Hause kam, saß Sævar mit ihrer etwa sieben Monate alten Tochter Adda auf dem Boden. Er hatte bereits gekocht, selbst etwas gegessen und Adda gefüttert und gebadet. Gedankenverloren summte er ein Lied, die Titelmelodie von Spongebob, Schwammkopf, wie ihm später bewusst wurde, weil die Sendung am Morgen im Fernsehen gelaufen war.

»Hallo, mein Spatz.« Elma beugte sich hinunter und nahm ihre Tochter auf. »Hast du deine Mama vermisst?«

Adda legte den Kopf kurz an Elmas Brust, bevor sie sich losriss und zu ihrem Kuscheltier krabbelte, einem Einhorn, das dieser Tage ihr absolutes Lieblingsspielzeug war. Das Einhorn und die Umzugskartons, die noch ungeöffnet an der Wand standen und in denen sie andauernd kramen wollte.

Sie hatten vor etwa einem Monat ein Haus auf der Vogabraut gekauft, einer Straße mit Einfamilienhäusern, die zum Teil etwas in die Jahre gekommen waren, aber die Gegend war beliebt bei jüngeren Käufern, die sich in den Neubauvierteln nichts leisten konnten. Die Familie richtete sich nach und nach ein, was seine Zeit dauerte. Die Fliesen im Vorraum waren zur Hälfte herausgerissen, eine spontane Idee, die sie dann nicht durchgezogen hatten, und überall im Haus standen noch volle Umzugskartons herum. Zu Beginn seiner Elternzeit hatte sich Sævar voller Tatendrang darangemacht, sie auszupacken, fand es dann aber schwierig, ohne Elma zu entscheiden, wo alles hinkommen sollte.

Obwohl es bereits Dezember war, hatten sie keinerlei Weihnachtsdekoration angebracht, aber mitten im Umzug sahen sie auch keinen Sinn darin. Lichterketten und Deko aufzuhängen, während immer noch Farbproben an der Wand zu sehen waren, fühlte sich an, als würde man einen Weihnachtsbaum in einen Kuhstall stellen. Es passte einfach nicht.

»Für Adda kann ich nicht sprechen, aber ich habe dich jedenfalls vermisst.« Sævar stand auf und verzog das Gesicht, als seine Gelenke knackten. »Du musst ziemlich hungrig sein.«

»Ja, das bin ich, aber ich hab keine Lust, aufzustehen und mir was zu essen zu holen.« Elma ließ sich aufs Sofa fallen und streckte den Arm nach Birta aus, die zu ihren Füßen am Boden lag. Sævars Labradorhündin war nicht mehr die Jüngste und machte in letzter Zeit wenig anderes, als herumzuliegen und zu schlafen.

»Was für ein Glück, dass du einen persönlichen Butler hast«, sagte Sævar und verschwand in der Küche. Kurz darauf kehrte er mit einem Teller Nudeln in Sahnesoße wieder, die er zum Abendessen gekocht hatte, und dazu ein paar Scheiben Knoblauchbrot. Während Elma aß, erzählte sie von ihrem Tag.

»Du fängst an zu arbeiten, und sofort passiert etwas«, sagte er. »Es kommt mir vor, als hätte ich die Geschichte schon einmal gehört.«

Elma sah ihn müde an. »Ich hatte auf einen ruhigeren Wiedereinstieg gehofft.«

»Du wirst den Fall bestimmt schnell aufklären.«

»Meinst du?«

»Du etwa nicht?«

»Doch, hoffentlich.« Elma unterdrückte ein Gähnen und wickelte sich in die Wolldecke ein.

»Soll ich dir einen Tee machen?«, fragte Sævar.

Elma murmelte etwas, das er als Zustimmung interpretierte, also ging er in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Er entschied sich für einen Kamillentee und gab noch etwas Honig hinein. Draußen hatte der Wind zugelegt, sodass der Schnee aufwirbelte und sich auf dem Fenster sammelte.

»Wie hat Kristjana es aufgenommen?«, fragte er, als er Elma die Tasse reichte.

»Na ja, du weißt schon.« Elma richtete sich auf und nahm den Tee mit beiden Händen entgegen. »Das ist nie einfach. Und sie scheint nichts darüber zu wissen, ob er in letzter Zeit Probleme hatte oder mit Freunden ins Sommerhaus gefahren war, vielleicht sogar mit einem Mädchen.«

Sie erzählte Sævar vom Spruch über dem Bett und dem Damenslip darunter.

»Also denkst du, er war mit einem Mädchen dort?«

»Ja, vielleicht.« Elma pustete auf den heißen Tee. »Wahrscheinlich.«

»Und gehst du davon aus, dass sie den Text geschrieben hat?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und ihn also auch umgebracht hat?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Elma wieder, zu müde, um noch länger darüber nachzudenken.

»Sie könnte bereits weg gewesen sein, als es passiert ist«, sagte Sævar.

»Dann müssten sie mit zwei Autos gekommen sein.«

»Ja, vielleicht.« Sævar überlegte, wie ein Date ein derart schreckliches Ende nehmen konnte. Ein Streit, der völlig ausartete. Messerstiche, das klang jedenfalls ziemlich dramatisch. »Vielleicht hatte sie einen Freund«, schlug er vor.

»Der in einem mörderischen Furor hier reinplatzt und sogar noch vorher anklopft?« Elma zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Ich sehe mir das morgen besser an. Aber wir haben nirgendwo Þorgeirs Handy gefunden, und seine Mutter scheint nichts von einem Mädchen gewusst zu haben.«

»Ja, das hast du vorhin schon gesagt. Aber ist Þorgeir nicht über vierzig? In dem Alter erzählt man seiner Mutter vielleicht nicht unbedingt von jeder neuen Bekanntschaft«, sagte Sævar. »Vor allem, wenn es nichts Ernstes ist.«

»Nein, vermutlich nicht.« Elma trank einen Schluck Tee. »Kristjana ist sehr speziell. Ich musste schon öfter Angehörige über einen Mord informieren, aber noch nie hat eine Mutter zu mir gesagt, sie hätte schon immer gewusst, dass ihr Kind jung sterben würde.«

»Uff, mit dem Wissen würde ich nicht leben wollen.«

»Nein, das ist ja auch Unsinn. So etwas kann niemand wissen.«

»Es sei denn, sie ist eine Hellseherin.«

»Ich würde die Augen verdrehen, wenn ich nicht so müde wäre. Und durchgefroren.«

»Soll ich dir ein Bad einlassen?«, fragte Sævar.

In dem neuen Haus gab es zwei Badezimmer, eins mit Dusche und ein weiteres mit Badewanne. Das zweite erinnerte nur leider an einen Horrorfilm aus den Siebzigerjahren, mit braunen Fliesen, einer grünen Wanne und Möbeln aus Kirschholz. Aber das Schlimmste war die Badewanne, sie war winzig, fast wie eine Kinderwanne.

»Ach, nein, das muss nicht sein. Ich vermisse die Wanne aus meiner alten Wohnung.« Elma seufzte. »Und wahrscheinlich bin ich ohnehin zu müde für ein Bad.«

Sie klopfte mit der Hand sanft neben sich aufs Sofa, und Birta hüpfte zu ihr hoch und schmiegte sich an sie, als wüsste sie genau, wie gut ihre Wärme in diesem Moment tat.

Elma stellte die leere Tasse ab und zeigte Sævar das Foto vom Spruch an der Wand. »Das ist die Textzeile.«

Sævar runzelte die Stirn, während er las.

»Mhm«, sagte Elma. »Ziemlich seltsam.«

»War Þorgeirs Mörder vielleicht extrem gläubig?«, fragte Sævar.

»Er selbst war es jedenfalls nicht«, sagte Elma und nahm Adda auf, die ihre kleinen Arme nach ihr ausstreckte. »Sehr zum Bedauern seiner Mutter. Sie schien sich fast dafür zu schämen.«

»Soll ich Adda ins Bett bringen?«

»Nein, ich mach schon«, sagte Elma. »Ich möchte ein bisschen mit ihr kuscheln. Außerdem platzen meine Brüste gleich.«

 

Sævar blieb auf dem Sofa sitzen und hörte, wie Elma auf dem Weg ins Zimmer mit Adda redete. Er wusste, dass die beiden wahrscheinlich zusammen im Bett einschlafen würden, nachdem Adda fertig getrunken hatte.

Eigentlich war er nicht wirklich müde und freute sich, ein bisschen Zeit für sich zu haben. Er holte seinen Laptop und tippte den Spruch, den Elma ihm gezeigt hatte, in die Suchmaschine ein.

Er wurde schnell fündig, es handelte sich um eine Textzeile aus einem isländischen Kirchenlied, das auf der Webseite der Staatskirche keinen anderen Titel trug als einfach Lied 594. Es wurde auf die Melodie eines schwedischen Volksliedes gesungen, und der isländische Text stammte von Magnús Runólfsson. Das Lied tauchte auch noch auf anderen kirchlichen Seiten auf, darunter der des Christlichen Vereins Junger Menschen, weil es immer bei den Sommercamps in Vatnaskógur gesungen wurde.

Sævar klappte den Laptop wieder zu und verstand immer noch nicht, welche Bedeutung das Lied an einem Mordschauplatz haben könnte. Er betrachtete noch einmal das Bild auf Elmas Handy.

Mit Blut nimm hinweg die Vergehen und Sünden, o Jesu.

Die Wand war blutverschmiert, und man musste kein Experte sein, um zu sehen, dass die Worte zur Situation passten, egal, ob sie sich auf Þorgeir oder den Täter bezogen.

Davor

Þorgeir

Für den Rest des Tages fühlt sich Þorgeir wie aus der Bahn geworfen, und als er nach Hause kommt und den Kühlschrank öffnet, hat er keinen Appetit, also geht er ins Wohnzimmer und schaltet die Playstation ein. Er spielt eine Runde FIFA, bei der er ungewohnterweise verliert und deshalb wütend die Konsole von sich wirft. Sie springt einmal auf dem Sofa auf und landet dann mit einem Knall auf dem Boden.

Þorgeir ist einundvierzig Jahre alt, er lebt allein und das schon, seit er sich vor siebzehn Jahren eine Wohnung gekauft hat. Wenn er den Drang verspürt, seine Spielkonsole auf den Boden zu werfen, dann macht er das auch. Trotzdem hat er das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Nicht nur über das Spiel, sondern über alles.

Er klappt seinen Laptop auf, doch in diesem Moment klingelt sein Handy. Auf dem Display erscheint die Nummer seiner Mutter, und er lässt es klingeln, hat keine Lust, jetzt mit ihr zu sprechen. Er tippt den Namen in die Suchmaschine ein und findet jede Menge Andreas. Keine davon ist seine Andrea. Dann sucht er auf Facebook nach ihr. Auch dort gibt es kein Mädchen, das passen würde, also klappt er den Laptop verärgert wieder zu und schaltet den Fernseher ein. Es läuft eine schlechte Sitcom, die er zwar schon oft gesehen hat, aber trotzdem noch ein wenig schaut, bis er auf dem Sofa einschläft.

Gegen Abend, als er bereits im Bett liegt, schickt er ihr eine Nachricht.

Hi, ich bin’s, der Typ, der dir im Laden geholfen hat. Hat das Müsli geschmeckt?

Er bereut die Nachricht sofort, aber sie ist bereits gesendet. Sie wirkt zu aufgesetzt, als würde er zwanghaft versuchen, witzig zu sein, was zwar stimmt, aber gehörig schiefgegangen ist. Je länger er auf die Antwort wartet, desto schlechter fühlt er sich. Irgendwann hält er es nicht mehr aus und schleudert das Handy von sich, sodass das Display zerspringt. Er steht auf und sammelt die Scherben ein, reibt sie zwischen den Händen, bis sein Daumen von knallrotem Blut überströmt ist, das nach Eisen schmeckt und sich in der Nacht auf seinem Bettzeug verteilt. Er kann kein Blut sehen, bekommt davon immer flachen Atem und ein Schwindelgefühl. Früher ist er sogar häufiger in Ohnmacht gefallen.