Versiegelt (Ryder Creed 2) - Alex Kava - E-Book

Versiegelt (Ryder Creed 2) E-Book

Alex Kava

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Beschreibung

Als Ryder Creed zu einem verheerenden Erdrutsch gerufen wird, entscheidet jede Sekunde zwischen Leben und Tod. Mit seinem Spürhund durchkämmt er das verwüstete Gelände und stößt auf die Leiche eines Mannes. Doch der fiel nicht den Naturgewalten zum Opfer, sondern wurde offensichtlich erschossen. Gemeinsam mit FBI-Profilerin Maggie O’Dell ermittelt Ryder Creed in dem Fall – ohne zu ahnen, dass die tödlichsten Geheimnisse noch in der Tiefe auf sie warten …

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Das Buch

In Haywood County wird der Notstand ausgerufen. Schwere Erdrutsche und Schlammlawinen forderten Tote und Verletzte. Ryder Creed wird an den Ort der Katastrophe gerufen. Mit seinem Suchhund soll er das Gelände durchkämmen. Ohne Fragen zu stellen. Plötzlich taucht FBI-Ermittlerin Maggie O’Dell auf, um Ryder Creed bei der mysteriösen Suche zu unterstützen. Schon bald stoßen die beiden auf die Leiche eines Wissenschaftlers. Doch dieser kam nicht in den Schlammmassen ums Leben. Immer näher kommen Ryder Creed und Maggie O’Dell einem Netz aus Lügen, das bis in die höchsten politischen Kreise weist …

Die Autorin

Alex Kavas Debütroman Das Böse war auf Anhieb ein großer Erfolg, seither sind ihre Thriller regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten vertreten. Versiegelt ist nach Todesflehen der zweite Teil ihrer Serie um den charmanten Hundeführer Ryder Creed, der FBI-Profilerin Maggie O’Dell zur Seite steht.

ALEX KAVA

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Sabine Schilasky

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Silent Creed bei G. P. Putnam’s Sons, an imprint of Random House LLC, New York

Deutsche Erstausgabe 12/2016

Copyright © 2015 by S. M. Kava

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heike Hauf

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: © Ten03; Mikadun; Andrey Tiyk/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-17113-1V002

www.diana-verlag.de

Für Deb Carlin und den Rest der Truppe:

Duncan, Boomer und Maggie.

Ihr alle habt einen festen Platz in meinem Herzen.

Und wieder für Scout.

Diese ganze Reihe ist für dich, Kumpel!

1

Haywood County,

North Carolina

Daniel Tate biss die Zähne zusammen und sah in dem Moment weg, als die Nadel seine Armvene durchstach. Er hatte zwei Einsätze im Irak und einen in Afghanistan hinter sich, war angeschossen worden, hatte Sprengstoffanschläge überstanden und war einer Granate ausgewichen. Aber Spritzen – verdammt, er hasste Spritzen.

»Das wird Ihnen helfen zu entspannen«, sagte Dr. Shaw.

Als sie hereingekommen war, hatte Tate sich gefreut, eine Frau zu sehen. Doch sie hatte sich kaum vorgestellt, bevor sie ein Edelstahltablett mit Ampullen, medizinischen Instrumenten und, natürlich, mehreren Spritzen heranrollte. Ihr schwarzes Haar war streng nach hinten gebunden, sodass nur noch lange Ponyfransen bis zum dicken Brillengestell hingen. Sie war jünger, als er erwartet hatte, und ihre Haut war glatt, ohne Fältchen in den Augen- oder Mundwinkeln. Zudem war sie hübsch, doch anstatt sie jetzt anzusehen, ließ Tate seinen Blick durch den Raum schweifen. Er wollte die Spritzen nicht mal sehen, also starrte er lieber an die Wände.

Es war ein seltsamer Raum, mit nichts als einem Untersuchungstisch. Die Wandverkleidung wirkte eigenartig nachgiebig, ähnlich diesen Spezialplatten, die man in Sporthallen unterm Basketballkorb findet, damit die Spieler beim Sprung besser abfederten. Nur, dass sie hier an den Wänden waren – nein, sie waren die Wände –, weiß getüncht und nahtlos. Der Begriff »Gummizelle« lag nahe.

Und rein gar nichts hing an der Wand. Üblicherweise wäre das der Platz, wo Arztpraxen Urkunden oder Diplome zeigten. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Tate konnte sowieso nicht mehr zurück. Das war ihm schon klar gewesen, als er auf Seite sieben des dicken Vertrags unterzeichnet hatte, den sie ihm unter die Nase hielten, als er ankam.

Er wusste nicht einmal, wo genau er hier war, da es auf der anderthalbstündigen Fahrt vom Flughafen hierher Bindfäden geregnet hatte. Das war gestern gewesen, oder zumindest dachte er das. Seine Uhr und das Mobiltelefon waren zwei der persönlichen Gegenstände, die er abgeben musste. Abgesehen davon, dass er nun nicht sagen konnte, wie spät es war, störte es ihn nicht weiter. Allerdings verstand er nicht, warum er weder seine eigenen Schuhe noch seine eigene Unterwäsche tragen durfte. Die Krankenhauskluft war okay, doch die Papierschuhe machten ihn wahnsinnig. Er hatte das Gefühl, nur noch zu schlurfen, und das Geräusch erinnerte ihn viel zu sehr an die alten Leute in dem Pflegeheim, in dem seine Frau arbeitete.

»Nachdem ich Ihnen das Mittel gegeben habe, werde ich Ihnen einige Fragen stellen«, erklärte Dr. Shaw.

Er blickte zu ihr und verzog das Gesicht. Sie zog noch eine Spritze auf. Die Nägel an ihren langen schmalen Fingern waren blutrot lackiert. Und sie trug einen Ring am Daumen. Das war komisch, aber junge Frauen taten das wohl, oder? Winzige Diamanten blitzten an dem Ring. Tate konnte an nichts anderes denken, als dass es ihm recht geschah. Schließlich hatte er die sieben Seiten gestern nicht richtig durchgelesen. Ihm war es nur um die versprochenen dreitausend Dollar gegangen, diesen Absatz hatte er doppelt geprüft.

Er hasste es, dass seine Frau einmal wöchentlich Doppelschichten schob, damit sie über die Runden kamen. Und ihre älteste Tochter hatte angefangen, in einem Coffee-Shop zu bedienen. Sogar Danny junior packte mit an, indem er Zeitungen austrug. Aber Tate hatte keinen Job gefunden.

Stimmt nicht. Er hatte sich seit seiner Rückkehr in keinem Job halten können.

Die Ärzte nannten es »posttraumatische Belastungsstörung«, doch blickte Tate in den Spiegel, sah er einen kerngesunden Mann. Es war egal, dass sein Gehirn immer wieder Informationsbrocken verdrehte und ihn die Schlaflosigkeit nötigte, endlos durch die Straßen seiner kleinen Heimatstadt zu wandern. Er musste endlich seinen Teil beitragen und helfen, die Familie zu ernähren. Selbst wenn es bedeutete, einige Nadelstiche auszuhalten.

Diesmal war es gleich, wohin er sah. Sobald das dünne Metall in seine Vene glitt, fühlte er die Flüssigkeit in seinen Körper rauschen. Eine Hitzewelle kroch seinen Arm hinauf, über die Schulter und in die Brust. Sie raubte ihm den Atem, und er spürte, wie er am ganzen Leib erschauderte.

»Sie könnten ein Engegefühl in der Brust empfinden«, hörte er Dr. Shaw sagen. Nur klang es jetzt, als würde sie vom Nebenzimmer aus mit ihm sprechen.

Er drehte den Kopf, um sie anzusehen, und allein diese Bewegung verursachte ihm Übelkeit. Tate versuchte, ihre Augen inmitten des verschwommenen Bildes auszumachen. Das kleine Rosen-Tattoo, das er vorhin seitlich an ihrem Hals bemerkt hatte, bekam Beine und krabbelte wie ein Insekt über ihre Haut. Tate blinzelte angestrengt, wollte sich konzentrieren. Schweißperlen traten ihm auf Stirn und Oberlippe.

»Nasenbluten ist ebenfalls nicht ungewöhnlich«, fuhr die Ärztin ruhig und gelassen fort. »Ich stelle Ihnen jetzt einige Fragen, Daniel.«

Tate, wollte er korrigieren. Jeder nannte ihn Tate. Doch er war ganz von diesem Käfer gebannt, der sich in ihren Hals bohrte. Sein Herz raste, und das Atmen fiel ihm schwer.

»Daniel, können Sie für mich von hundert rückwärts zählen?«

Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund, und es kostete ihn sehr viel Anstrengung, Lippen, Zähne und Zunge zu bewegen, die seine Stimme zu blockieren schienen.

»Daniel, können Sie von hundert rückwärts zählen?«, wiederholte sie.

Plötzlich hörte er sich sagen. »Das wäre schwierig, denn ich mag keinen Reis.«

Noch während er es aussprach, wurde ihm bewusst, dass es die falsche Antwort war, doch die Frage hatte er schon wieder vergessen. Nichts außer diesem schwarzen Insekt an ihrem Hals war mehr von Bedeutung. Warum merkte sie nicht, wie es sich unter ihre Haut grub?

»Dr. Shaw«, rief eine Stimme von der Tür.

Tates Körper zuckte heftig, als er den Mann sah. Sein Kopf war kahl rasiert und glänzte fast so hell wie sein langer weißer Kittel. Tate musste wegsehen. Die Helligkeit schmerzte in seinen Augen. Kaum fokussierte er wieder, sprühte das Licht Funken wie elektrische Ladungen, und Tate wusste, dass er ihnen nicht trauen konnte.

»Ich bin mitten in einem Test«, sagte Dr. Shaw zu dem Mann.

»Es wird schlimmer.«

»Können Sie bitte ein paar Minuten warten, Richard? Ich habe gerade erst angefangen.«

»Um Himmels willen, Sie haben ihm doch nicht das Serum gegeben, oder? Es dauert zweiundsiebzig Stunden, bis sich das wieder vollständig abgebaut hat! Und wir müssen jetzt hier weg.«

»Beruhigen Sie sich bitte.«

Tate konnte nicht sagen, ob sie mit ihm oder dem Mann redete, denn sie starrte ihn direkt an.

»Die reden von Erdrutschgefahr. Wir müssen unbedingt evakuieren.«

»Ich habe schon Hurrikans miterlebt, Richard. Dies hier ist bloß Regen.«

Allerdings ging sie von Tate weg und zu dem Mann an der Tür. Beide waren nicht bemüht, leise zu sprechen. Vielmehr schienen sie Tate völlig zu vergessen. Sie bekamen offenbar nicht mit, dass er inzwischen keuchte, sich linkisch die Augen rieb, und ihm Schweiß übers Gesicht lief.

»Das Wasser ist fast über die Brücke.« Richard klang panisch, war laut und gestikulierte wild. »Wenn wir jetzt nicht verschwinden, laufen wir Gefahr, hier festzusitzen.«

Dr. Shaw war von Tate abgewandt, sodass er das Insekt an ihrem Hals nicht mehr sah. Er blickte zu seinen eigenen Händen und Armen.

»Wir können nicht einfach unser gesamtes Forschungsmaterial zurücklassen. Und wir sind hier sicher«, sagte Dr. Shaw zu Richard. »Dieses Gebäude ist wie eine Festung.«

Tate versuchte nachzusehen, ob auf dem Mann irgendwelche Insekten waren. Seine Augen beruhigten sich endlich, da sah er ein grün-schwarzes, behaartes Ding hinter den Ärzten vorbeihuschen. Es sah wie ein kleiner Affe aus, der den Flur entlangflitzte.

»Tja, ich verschwinde. Mit oder ohne Sie.«

»Das wäre ein Fehler. Lassen Sie uns das besprechen.« Sie warf einen Blick über ihre Schulter, und als sie Tate etwas zurief, hallte es wie ein Brüllen durch den kleinen Raum. »Ich bin gleich wieder zurück, Daniel. Bleiben Sie hier.«

Sie trat zu dem Mann auf den Korridor und wollte die Tür schließen. Die schien jedoch nicht mehr richtig in den Rahmen zu passen, also ließ Dr. Shaw sie weit offen.

»Sehen Sie! Das ist kein gutes Zeichen«, sagte Richard. »Türen und Fenster klemmen als Erstes. Es ist übel, glauben Sie mir. Wir müssen weg!«

Nun zog sie kräftig an der Tür, sodass sie zuknallte.

Tate saß da und lauschte dem Wummern seines Herzens. Es schlug in seinem Kopf, und er legte die Hände auf seinen Brustkorb, um sich zu vergewissern, dass es noch am richtigen Fleck saß. Er war nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, seit die Ärzte aus dem Raum gegangen waren. Es könnten Minuten gewesen sein. Oder eine Stunde. Dann riss ihn ein lauter Knall vom Untersuchungstisch.

Es klang wie eine Granate. War das möglich?

Tate krabbelte unter den Tisch, wobei es überall an ihm zuckte und krampfte. Er lauschte auf mehr Granaten. Der Raum begann zu schwanken und sich seitlich zu neigen. Lag das am Medikament? Verwirrte es seinen Gleichgewichtssinn? Es ploppte in seinen Ohren, und anstelle seines Herzschlags hörte er nun ein Rumpeln.

Und fühlte es. Eine Vibration brachte die Instrumente zum Klimpern und rüttelte sie von dem Tablett. Die Bodenfliesen hoben und senkten sich unter Tate, und er hielt sich am Untersuchungstisch fest.

In dem Moment sah er Risse in den weiß getünchten Wänden auftauchen. Sie wölbten sich nach innen, als würde sie ein Bulldozer von außen eindrücken. Tate fühlte, dass etwas von der Decke fiel. Er duckte sich wieder ganz unter den Tisch und traute seinen Augen kaum. Es regnete Schutt und Kiesel, und Tate konnte nasse Erde riechen.

Das Rumpeln schwoll zu einem Donnergrollen an. Von wegen Bulldozer. Hier rollte ein Güterzug auf ihn zu. Tate winkelte die Arme über dem Kopf an und rollte sich zusammen.

Noch mehr Krachen. Metall kreischte. Leuchtröhren explodierten.

In der plötzlichen Dunkelheit konnte Daniel Tate nichts mehr sehen. Der Boden wurde zu einer Achterbahn, und er klammerte sich an den Stahltisch über ihm, während die Welt erzitterte, rumpelte und auf ihn herabprasselte.

2

Florida Panhandle

Ryder Creed war bereits seit zwei Stunden auf, als sein Mitarbeiter aus dem großen Wohnwagen stieg. Die Wahrheit war, Creed schlief nicht viel. Heute war er im Dunkeln aufgewacht und hatte festgestellt, dass er unten im Zwinger inmitten seiner Hunde eingenickt war, den Kopf auf dem Bauch seines ältesten, Rufus.

Bei dem Zwinger handelte es sich um ein umgestaltetes Lagerhaus, dessen ersten Stock Creed sich zu einem Loft ausgebaut hatte, sogar sehr luxuriös und komfortabel. Als er es renovierte, hatte er seiner Geschäftspartnerin Hannah Washington erklärt, dass er über dem Zwinger wohnen wollte, um das größte Kapital ihres Unternehmens, K9 CrimeScents, stets im Blick zu haben.

Tatsächlich war Creed einfach gern den Hunden nahe. Manchmal, mitten in der Nacht, wenn ihn Visionen und Bilder im Schlaf heimsuchten, empfand er es als sehr tröstlich, von seinen Hunden umgeben zu sein. Hannah und er hatten jeden Einzelnen von ihnen auf die eine oder andere Art gerettet. Zugleich retteten die Hunde Creed in einer Weise, die er keinem erklären könnte. Nicht einmal Hannah.

Nun beobachtete er, wie Jason Seaver sich den Schlaf aus den Augen rieb. Als er zum Zwinger ging, bemerkte Creed, wie jungenhaft er wirkte. Jason hatte die Welt in die Luft fliegen gesehen, ehe er zwanzig wurde, fast zehn Jahre jünger als Creed. Der Junge war einer von Hannahs Geretteten. Sie sagte, Jason erinnere sie an Creed, und das sei einer der Gründe, weshalb sie ihn angeheuert hatte.

Unter Jasons Arm hing ein verschlafener schwarzer Welpe. Noch keinen Monat war es her, dass Jason den Labradorwelpen Scout taufte, und seitdem hatte sich der Kleine beinahe verdoppelt. Nun brachte Jason den Welpen zum Spielen zu dessen Hundemutter und den Geschwistern, solange er arbeitete. Heute Morgen allerdings setzte er Scout schon ab, ehe sie den Hof erreichten.

»Guck mal«, sagte er zu Creed, während er drei Schritte rückwärtsging und sich hinkniete. »Hierher, Scout. Komm her und gib Küsschen.«

Der Welpe wedelte mit der ganzen hinteren Körperhälfte und drohte vor lauter Begeisterung das Gleichgewicht zu verlieren. Er sprang zu Jason, stellte sich auf die Hinterbeine und gab ihm einen großen Schlabberkuss direkt auf den Mund.

»Das wird sicher praktisch, wenn er auf Kadaversuche ist«, bemerkte Creed, musste aber grinsen.

»Ich dachte eher daran, Chicks anzulocken.«

Jason hob Scout wieder hoch, und als er im Hof war, rannten die anderen Hunde herbei, um ihn zu begrüßen. Sie stupsten sich gegenseitig aus dem Weg und wetteiferten um Jasons Aufmerksamkeit. Keinen von ihnen kümmerte, dass der eine Ärmel des Jungen ab dem Ellbogen leer hinabbaumelte. Als Creed dem jungen Veteranen erstmals begegnete, war er mürrisch, reizbar und so unsicher wegen seines amputierten Arms gewesen, dass er praktisch jeden herausforderte, nur ja ein Wort darüber zu verlieren. Dass er nun daran dachte, Frauen aufzureißen – und sei es, indem er seinen Welpen schamlos ausnutzte –, musste ein gutes Zeichen sein.

Jetzt müsste Creed es bloß noch schaffen, einen anständigen Hundeführer aus ihm zu machen.

»Heute fangen wir mal mit dem echten Zeug an«, sagte er zu Jason und hielt ein fest verschlossenes Einweckglas in die Höhe.

»Was ist das?«

»Ein bisschen Erde und ein Wolldeckenfetzen. Beides lag unter einer Leiche.«

»Cool! Wie bist du darangekommen?«

»Grace und ich haben geholfen, den Kerl zu finden. Weil es kein Mord war, überließen mir die Detectives einige Sachen für das Training.«

»Andy behauptet, dass du einen riesigen Vorrat hast.«

Andy war eine der ersten, die Creed ausgebildet hatte. Zu der Zeit hatte sie mehr über Hunde gewusst als er, weil sie jahrelang als Veterinärtechnikerin gearbeitet hatte. Dies war ihre zweite Laufbahn. Creed war nicht so blöd, eine Frau nach ihrem Alter zu fragen, schätzte Andy aber auf Anfang bis Mitte vierzig.

»Ach ja? Tja, du darfst nicht alles glauben, was Andy dir erzählt. Hier, nimm das.« Er warf Jason das Glas zu und begriff zu spät, dass Jason es womöglich nicht mit einer Hand fangen konnte. Aber es war kein Problem für den Jungen.

»Jetzt versteck es gut.« Creed zeigte zu dem Weg, der in den Wald führte. »Den Deckel öffnest du erst beim Versteck. Der Inhalt ist in Mulltuch eingewickelt. Lass das dran.«

»Soll ich es verbuddeln?«

»Verbuddeln, auf einen Baum werfen, in einem Bach versenken, was immer du willst. Denk nicht zu viel drüber nach. Anschließend kommst du zurück.«

Das Anwesen war fünfzig Morgen groß und zu drei Seiten von Wald umgeben. Die Abgeschiedenheit war einer der Gründe, wegen denen Creed dieses Grundstück im nördlichen Florida Panhandle gekauft hatte. Und die Trainingsmöglichkeiten waren fast unbegrenzt.

Sein Mobiltelefon vibrierte, als er Jason nachblickte, wie er im Wald verschwand. Creed sah auf das Display. Hannah. Vor nicht mal einer Stunde hatten sie zusammen Kaffee getrunken und Hannahs frisch gebackene Zimtbrötchen gegessen.

»Fehl ich dir schon?«

»Ich sollte dir öfter morgens Zucker geben, wenn du davon so süß wirst.« Doch sie kam sogleich zum Geschäftlichen. »Erdrutsch in North Carolina. Irgendeiner vom DoD. Man verlangt explizit nach dir.«

Department of Defense – das Verteidigungsministerium? »Nach mir oder Grace?«

Über den Sommer waren sie recht präsent in den Medien gewesen, wobei sich der Wirbel hauptsächlich auf Grace konzentrierte, ihren fantastischen Jack Russell Terrier. Die struppige kleine Hündin hatte die Herzen der Nation im Sturm erobert, als sie half, mehrere Drogenschmuggler hochzunehmen und einen Menschenhändler auffliegen zu lassen, indem sie fünf Kinder aufspürte und rettete.

»Eher nach dir, nicht nach einem bestimmten Hund.«

»Wann war der Erdrutsch? Reden wir über Rettung oder Bergung?«

»Gestern Abend spät bis in den Morgen. Es regnet immer noch, und wie ich verstanden habe, könnte es noch weitere Erdrutsche geben. Vielleicht Rettung und definitiv Bergung.«

»Dann muss ich sofort los. Wie lange fahre ich dahin? Fünf Stunden? Kannst du herkommen und mit Jason weitermachen?«

»Ich ziehe schon meine Drillichhose an.«

Creed musste schmunzeln. Hannah war der einzige Mensch, den er kannte, der von Jeans als »Drillichhosen« sprach. Sie würde es hassen, als Südstaaten-Schönheit bezeichnet zu werden, aber sie hatte manchmal die Züge von einer. Hingegen würde sie sagen, dass sie eine bodenständige Landfrau war, ganz sicher keine Lady, die sich zum Lunch verabredete.

»Aber du musst nicht fahren«, fuhr sie fort. »Sie schicken einen Jet. Eine Gulfstream 550.«

»Die schicken was?«

»Ja, ich habe das sogar aufgeschrieben. Gulfstream 550. Das ist eine von den schicken Maschinen, oder?«

»Warte mal. Sagtest du nicht, die Anfrage kam vom Verteidigungsministerium?«

»Stimmt.«

»Was haben die mit einem Erdrutsch in North Carolina zu tun?« Creed gefiel das nicht.

»Danach frage ich nicht. Vielleicht hatten sie irgendwelches Trainings-Personal in der Gegend. Der Mann am Telefon hat gesagt, dass er dich kennt, weil ihr zwei vor Jahren mal zusammengearbeitet habt.«

»Ich kenne keinen beim DoD. Und ich habe schon ewig nicht mehr mit einem Militärhund gearbeitet.«

Creed hörte, wie Hannah in Papieren blätterte. Ihre Buchführung war tadellos, und sie holte grundsätzlich mehr Informationen ein, als sie tatsächlich brauchte, ehe sie einen Auftrag annahm.

»Hier ist es«, sagte sie schließlich. »Logan. Lieutenant Colonel Peter Logan.«

Afghanistan. Creed hatte das Gefühl, ihm würde reine Säure in den Magen laufen.

Über sieben Jahre war es her, doch die bloße Erwähnung von Peter Logan genügte, um all die Bilder und Erinnerungen zurückzubringen, von denen er gehofft hatte, sie längst begraben zu haben.

3

Pensacola,

Florida

Emotionen wandern die Leine abwärts.

Das war einer der ersten Sätze, die Creed seinen Leuten einimpfte, und was er sich selbst immer wieder sagte. Als Hundeführer musste man seine Gefühle im Griff haben und sie möglichst aus dem Spiel lassen, weil Hunde sie sofort spüren konnten.

Als Creed den Mittelgang der Gulfstream entlangging, blickte er sich zu Bolo um, der am Ende der Leine praktisch auf Zehenspitzen tippelte. Creed fühlte sich nicht minder unwohl in dieser hypereleganten Kabine – als hätte er hier nichts verloren. Und das spiegelte der Hund wider.

Creed tätschelte den großen Hundekopf, strich Bolo über den Rücken und den dünnen krausen Fellstreifen, der in die entgegengesetzte Richtung verlief. Dieser Streifen war typisch für einen Rhodesian Ridgeback, und aus irgendeinem Grund beruhigte Bolo sich leicht, wenn Creed ihn dort streichelte.

»Hallo«, begrüßte ihn eine Frau vom hinteren Kabinenende, die kurz aufsah, ohne zu unterbrechen, was sie gerade tat.

Geschirr klimperte, und Creed roch frisch aufgebrühten Kaffee. Die Frau trug einen marineblauen Blazer, einen passenden Rock und schwarze Pumps. Wahrscheinlich eine Stewardess.

»Reisen Sie mit Mr. Creed?«

»Ich bin Mr. Creed.«

Sie hielt inne.

Er sah, wie sie einen Schritt zurücktrat, um ihn besser mustern zu können. Da Creed damit gerechnet hatte, dass er direkt nach der Ankunft mit der Arbeit beginnen würde, war er in seiner üblichen Montur: Jeans, Wanderstiefel, T-Shirt und offenes langärmliges Oberhemd. Sein krauses Haar ging fast bis über den Kragen, und er rasierte sich nie richtig glatt, sondern gerade so, dass es nicht aussah, als käme er eben aus dem Bett. Doch vermutlich war es nicht bloß seine Erscheinung, die sie stutzig machte.

»Tut mir leid, ich hatte nur jemand …«

»Jemand Älteres erwartet?«

Ihr Erröten sagte eigentlich schon alles, bevor sie antwortete: »Ja, eigentlich schon.«

Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass sie jünger war, als er zunächst gedacht hatte. Wie er musste sie um die achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt sein. Vielleicht glaubte sie, dass ihre Uniform sie reifer und autoritärer wirken ließ – wie so viele. Creed arbeitete mit allen möglichen Uniformierten, offiziell wie inoffiziell, und mit Leuten mit Titeln. Die Strafverfolgungs- und Regierungsbehörden liebten ihre Titel und Marken, und dauernd ging es um Zuständigkeiten. Creed interessierte ihr bescheuertes Autoritätsgerangel nicht, und was andere von ihm hielten, war ihm erst recht egal.

Nachdem sie begriffen hatte, dass er ihr offizieller Fluggast war und kein sehr lässig gekleideter Lakai, verließ sie die Bordküche und kam ihn richtig begrüßen.

»Ich bin Isabel Klein, Mr. Logans Assistentin«, sagte sie und reichte ihm die Hand.

Nach einem festen Händedruck bot sie Bolo ihre offene Hand an, damit er sie beschnüffeln konnte. Diese kleine Geste bewegte Creed, ihr den anfänglichen Lapsus zu verzeihen. Er sah die Frau genauer an.

Und sie bemerkte es. Er hätte schwören können, als sie in seine Augen sah, war da ein Anflug des Errötens, wenn auch nur kurz. Sie nahm ihm seine kleine Reisetasche ab und schwang sie nach oben ins Gepäckfach. Mehr durfte sie ihm nicht abnehmen, beschloss er und begann, die Träger seines Rucksacks abzustreifen.

»Setzen Sie sich hin, wo Sie mögen«, sagte sie, während sie hinter ihn blickte. »Wie heißt er?«

»Bolo.«

Sie lächelte. »So wie die Abkürzung BOLO?«

»Ja.«

Genau daher kam der Name: Be On the Look Out – sei auf der Hut. Und er passte hervorragend zu dem Hund. Der spitzte jetzt die Ohren, weil sein Name fiel, und Creed bedeutete ihm, Sitz zu machen, während er den Rest ihrer Ausrüstung in den Fächern oben verstaute. Bolo hatte einen extrem ausgeprägten Beschützerinstinkt, was Creed betraf, weshalb Creed achtgab, wie und wo er den Hund einsetzte.

Bolo war muskulös und besaß ein enormes Durchhaltevermögen, was ihn perfekt für die stundenlange Arbeit auf solch wüstem Terrain wie nach einem Erdrutsch machte. Er zählte zu Creeds Multitask-Hunden, die nach Lebenden wie nach Opfern, die weniger Glück gehabt hatten, suchen konnten.

Ridgebacks stammten ursprünglich aus dem heutigen Simbabwe, wo sie meist in Rudeln bei der Löwenjagd eingesetzt wurden. Daher rührte auch der Spitzname »Afrikanischer Löwenhund«. Diese Rasse hielt mühelos die langen heißen Tage wie die feuchtkühlen Nächte aus. Bolo würde sich bei diesem Auftrag prima machen, vorausgesetzt Creed konnte verhindern, dass er jeden umschmiss, der seinem Halter gegenüber die Stimme erhob.

Isabel sah wieder an Creed vorbei, diesmal zum Eingang. »Bringt noch jemand die anderen Hunde?«

»Nein, es gibt keine anderen Hunde. Nur Bolo und mich.«

»Nur ein Hund?«

»Ein Hundeführer, ein Hund.«

»Mr. Logan deutete an, dass es mehrere geben würde.«

Das war noch so ein Klassiker: Die Leute rechneten immer mit mehr – mehr Hunden, mehr Zauber.

Creed nahm sein Tablet und ein Taschenbuch aus seiner Umhängetasche und legte alle drei Sachen auf den Sitz, neben dem er sitzen wollte. Bolo wies er an, sich neben dem großen Sessel auszustrecken, wo er zu seinen Füßen wäre.

Beim Start wollte er ihn so nahe wie möglich haben.

Dann holte er das Hundegeschirr hervor und legte es dem Ridgeback an. So konnte Creed den Hund halten, ohne ihn an die Leine zu nehmen, falls ihn das Fliegen nervös machte. Bolo war noch nie geflogen. Einer seiner anderen Hunde, Grace, hatte den ersten Flug vor einem Monat an Bord eines Coast-Guard-Helikopters absolviert, und sie hatte es geliebt. Diese Luxusmaschine fände Grace sicher langweilig, dachte Creed, als er die Lüftungsdüsen so einstellte, dass die kühle Luft über Bolos Rücken wehte. Und der Hund legte sich hin.

Isabel stand allerdings immer noch neben Creed, als wartete sie auf jemanden oder etwas. Und so wandte er sich fragend zu ihr, ehe er sich hinsetzte.

»Kann ich Ihnen beiden noch etwas bringen? Wein? Scotch? Der Jet hat eine sehr gut bestückte Bar.«

»Ein paar Flaschen Wasser wären super.«

»Ah, sicher doch! Natürlich.«

Endlich drehte sie sich um und ging nach hinten in die Bordküche. Offensichtlich war sie dazu angehalten, sehr zuvorkommend zu sein, was Logan ähnlich sah.

Creed schaute sich in der holzvertäfelten Kabine um und sank in das weiche Leder. All dies hier schien ein bisschen übertrieben für jemanden, der in Afghanistan lediglich ein Kompanieführer gewesen war. Wahrscheinlich versuchte Logan, ihn zu beeindrucken. Und Creed konnte nicht umhin sich zu fragen, wie viel diese Extravaganz den Steuerzahler kostete.

Hannah hatte gesagt, dass Logan jetzt Lieutenant Colonel war, aber Creed, den solche Dinge gewöhnlich nicht kümmerten, hatte vergessen zu fragen, was Logans Titel bedeutete oder wen oder was er neuerdings anführte. Fraglos hatte Hannah ihm einiges an Infomaterial in seine Tasche gepackt, und dort würde es auch bleiben. Creed fand es besser, zunächst nur das Wesentliche zu wissen.

Verstrickte sich ein Hundeführer in Einzelheiten, konnte er die Hunde leicht falsch anleiten und nach Signalen oder Zielen suchen lassen, die unwichtig waren. Viel zu oft jagten Hundeführer ihre Hunde auf Dinge los, die von der Polizei oder irgendeiner anderen Behörde erwartet wurden. Und in diesem Fall wollte Creed nicht mal wissen, wie viele Leute vermisst wurden. Er wollte nicht über die statistische Überlebensrate bei solchen Erdrutschen nachdenken oder wie viel Zeit den Opfern unter Schlamm und Schutt noch blieb.

Fakten waren super, aber Creed ließ lieber Raum für die wenigen Fälle, die sämtlichen Statistiken und Vergleichswerten widersprachen. Das mochte wenig pragmatisch sein – ja, manch einer würde es als albern abtun –, aber Creed hätte die letzten sieben Jahre in diesem Geschäft nicht überstanden, würde er nicht an Wunder glauben.

Trotzdem beschloss er zu fragen, als Isabel ihm das Wasser brachte.

»Was genau ist Logans Job dieser Tage beim DoD?« Er bemühte sich, es beiläufig klingen zu lassen, als seien sie alte Bekannte, die sich einfach aus den Augen verloren hatten.

Sie war sichtlich überrascht, antwortete jedoch ohne zu zögern: »Er ist der stellvertretende Direktor der Defense Advanced Research Projects Agency.«

Creed nickte gelassen, nahm dankend die Wasserflaschen entgegen und wartete, dass Isabel Klein sich wieder ihren Aufgaben zuwandte. Gleichzeitig überlegte er, was der stellvertretende Direktor der DARPA mit einem Erdrutsch in North Carolina zu tun haben könnte.

Zehn Minuten nach dem Start war Isabel wieder da. Ohne zu fragen oder eine Einladung abzuwarten, setzte sie sich auf den großen Sessel Creed gegenüber, wobei sie achtgab, Bolo nicht zu stören, der vor Creed liegen blieb.

»Mir wurde gesagt, dass ich all Ihre Fragen beantworten soll, sobald wir in der Luft sind.«

»Damit ich keinen Rückzieher machen kann, falls mich etwas an dem Auftrag stört?«

Sie lächelte, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Auch wenn er keine Fragen hätte, würde sie anscheinend nicht wieder gehen.

»Ich bin nicht sicher, wie groß das betroffene Gebiet ist«, sagte sie. Offenbar hatte sie beschlossen, ihm alles an Informationen zu geben, was sie hatte – ob er wollte oder nicht. »Der größte Erdrutsch war gestern Abend gegen halb elf. Soweit ich es mitbekommen habe, gab es noch mindestens zwei mehr, wenn auch kleinere. Sind Sie mit Erdrutschen vertraut?«

»Ein wenig.«

Sie wartete auf mehr. Aber Creed fand, wenn sie ihn angefordert hatten, müssten sie seinen Lebenslauf kennen. Und falls Isabel es nicht tat, hatte sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Als nichts mehr von ihm kam, fuhr sie fort: »Die Region, um die es uns geht, ist eine Forschungseinrichtung, die circa fünf Morgen einnahm. Es ist also ein relativ kleines Suchgebiet, und das Hauptgebäude ist ein zweigeschossiger Backsteinbau.«

»Wo war es während des Rutsches? Unten oder oben?«

»Mir wurde gesagt, ziemlich in der Mitte.«

»Wie viele Leute?«

»Wissen wir nicht genau. Es passierte ja außerhalb der gängigen Arbeitszeiten. Wir versuchen immer noch, die Leiterin zu erreichen, und wir befürchten, dass sie und einige Mitarbeiter noch im Gebäude gewesen sein könnten.«

»Hat jemand gesehen, in welchem Zustand das Gebäude ist?«

Ihr Blick wandte sich von ihm ab und wanderte zu Bolo und aus dem Fenster, bevor er wieder zurückkam.

»Ein Kollege vor Ort sagte, dass er es nicht gefunden hat«, antwortete sie schließlich.

»Er konnte nicht näher rankommen?«

»Nein, er konnte es nicht finden. Das Gebäude ist weg, vergraben unter Schlamm und Schutt.«

4

Washington, D. C.

Senatorin Ellie Delanor folgte ihrer Stabsmitarbeiterin durch die Menge der Demonstranten die Stufen hinauf zum Capitol. Und sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter künftig lieber auf Muskeln als auf Verstand achten sollte. Amelia Gonzalez war brillant und effizient, doch klein und zierlich wie sie war, stellte die Frau kaum mehr als eine Ablenkung dar und bot Ellie nicht annähernd Schutz in diesem Gedränge. Ellie musste sich durch Massen von Körpern schieben.

Wenigstens machten die Demonstranten heute keine Anstalten, sie zurückzustoßen, gaben aber auch den Weg nicht frei. Ellie beobachtete, wie sich Gonzalez zwischen den Leuten durchquetschte, ohne Platz für Ellie zu schaffen. In dieser Stadt hatten die Leute keinen Respekt, erst recht nicht, wenn sie Ellie als Senatorin erkannten.

Dennoch waren diese Protestler regelrecht höflich verglichen mit dem, was Ellie sonst gewohnt war. Sie bemerkte, dass viele von ihnen die Nationalfarben trugen und kleine Flaggen schwenkten. Zudem waren sie älter als die typischen politischen Demonstranten oder Aktivisten, und als Ellie sich umblickte und einige direkt ansah, nickten sie ihr sogar zu. Ja, eigentlich wirkten sie eher wie Ellies Wähler zu Hause in Florida. Steckte man sie in den Konferenzraum eines Holiday Inn, könnten sie glatt als Mitglieder ihrer Wiederwahlkampagne durchgehen.

Das hier waren ihre Leute: Veteranen in T-Shirts und Baseball-Kappen, Mütter und Großmütter, Geschäftsfrauen und Anführer von Bürgerinitiativen. Sie standen nicht auf den Stufen des Capitols, um ihr den Eingang zu versperren, sondern waren hier, um sie an ihre Pflichten zu erinnern.

Es sollte Ellie stärken für die Kongressanhörungen, die morgen beginnen sollten. Ellie hatte kämpfen müssen, um dabei zu sein. Allerdings waren es nicht diese Leute oder auch bloß der Wunsch, sie zu verteidigen oder für sie zu sprechen, was Ellie bewog, dem Ausschuss beizutreten. Ihr ging es vielmehr um politischen Einfluss und positive Resonanz für ihren Wahlkampf, der schnell ungemütlich und schmutzig geworden war.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, als ihr kolumbianischer Ehemann – nein, Exmann, das durfte sie nicht vergessen. Sie durfte nicht riskieren, das wieder durcheinanderzubringen. Jedenfalls hatte es mal eine Zeit gegeben, in der George Ramos mit seinem Filmstar-Aussehen und seinem Charme ein Stimmengarant für sie gewesen war. Aber jetzt …

Dreizehn Jahre Ehe. Wie konnte sie nicht geahnt haben, dass er Drogen schmuggelte? Und nicht bloß schmuggelte! Er war der Kopf eines kolumbianischen Kartells gewesen, das den Südosten der USA kontrollierte. Sein bevorstehender Prozess könnte Ellies gesamte Karriere torpedieren, wenn sie die Geschichte nicht irgendwie zurechtbog.

Sie hatte alles getan, was sie konnte, um öffentlich zu zeigen, dass sie sich nicht nur eisern bemüht hatte, ihren Mann – verdammt, Exmann! Sie hatte dafür gesorgt, dass ihr Exmann, der Vater ihrer beiden Kinder, angeklagt wurde. Es würde keine Gefälligkeiten geben, keine Ausnahme, absolut keine Hilfe von ihr während seines Prozesses. Vielmehr wollte sie, dass er die härteste Strafe bekam. Als US-Senatorin besaß sie noch hinreichend Einfluss in ihrem Heimatstaat, um sicherzustellen, dass George Ramos für seine Verbrechen bezahlte.

Nur konnte sie das unmöglich, sofern sie nicht ein paar Pluspunkte in den Medien sammelte und die Wahl gewann, und die erhoffte sie sich von dieser Kongressanhörung.

Sie schaffte es die letzten Stufen hinauf und durch die Türen, ohne einen Kommentar abgeben zu müssen, und vor allem, ohne ein einziges Mal beschimpft zu werden. Das war ein guter Start in den Tag. Ja, es war verrückt, aber dass niemand sie als Drogenhure oder Puta bezeichnete, machte diesen Tag bereits zu einem guten.

Ellie traf ihren Stabschef im Eingangsbereich, der seinen gewohnten Platz an ihrer Seite einnahm. Seine Begrüßung fiel knapp aus, und anstelle eines Kaffees reichte er ihr ein gefaltetes Blatt, ohne seine Schritte zu verlangsamen.

Es waren zu viele Menschen um sie herum, als dass sie ihn danach fragen konnte, zumal er sich solche Mühe gegeben hatte, ihr den Zettel unbemerkt zuzustecken. Und da sie nicht sicher war, ob ihre Reaktion womöglich Aufmerksamkeit erregte, musste sie wohl oder übel warten. So oder so war ihr klar, dass dieser Tag zwar gut angefangen haben mochte, aber anscheinend nicht so weiterging.

5

Haywood County,

North Carolina

Creed war bei warmem Sonnenschein gestartet und landete nun unter einer bleigrauen Wolkendecke, die den Nachmittag zum Abend machte. Dem Piloten gelang es zu landen, bevor das Gewitter von Neuem einsetzte. Creed fragte Isabel Klein, wie lange es geregnet hatte.

»Es hat noch gar nicht wieder aufgehört.«

Creed hatte schon dreimal nach einem Hurrikan geholfen, nach Überlebenden und Opfern zu suchen. Bei solchen Suchaktionen konnte das Wetter sein ärgster Feind sein. Regen und Wind beeinträchtigten die Duftspuren und wuschen sie mit der Zeit vollkommen aus. Auch die Temperatur war ein kritischer Faktor. Hitze beschleunigte die Verwesung, aber schwüles Wetter konnte Hund und Hundeführer ziemlich zu schaffen machen. Grundsätzlich sollte es im September in North Carolina nicht problematisch werden. Creed hatte sich die Wettervorhersage angesehen, die gut zwanzig Grad tagsüber und um die zehn Grad nachts ankündigte. Der Regen könnte jedoch beides ändern.

Erdrutsche brachten noch eine Menge anderer Herausforderungen mit sich. Es mochte kontraproduktiv scheinen, auf weiteren Regen zu hoffen, doch genau das tat Creed, obwohl er Nieselregen diesem Guss hier vorgezogen hätte. Aber sobald der Regen aufhörte und der Schlamm zu trocknen begann, würde es wie eine Fährtensuche durch Zement. Letztes Jahr hatte er sechs Tage mit der Suche in Oso, Washington, verbracht, wo ein Erdrutsch dreiundvierzig Menschenleben forderte.

Auf der Fahrt zur Unglücksstelle saß Creed mit Bolo auf der Rückbank. Er hatte den Sicherheitsgurt durch das Hundegeschirr gefädelt, ließ aber die Hand auf Bolos Rücken. Der dichte Regen machte es unmöglich, draußen etwas zu erkennen. Als Creed zu dem Hund blickte, war dessen Nase an das gegenüberliegende Fenster gedrückt, als versuchte Bolo gleichfalls, etwas zu sehen.

Sie beide hatten schon bei so einem Wetter gearbeitet. Das Donnergrollen und gelegentliche Krachen erschreckte Bolo nicht. Wie die meisten ihrer Hunde war auch Bolo von Creed und Hannah gerettet worden. Damals war er kein Jahr alt gewesen, hatte noch seine Welpenzähne gehabt, und seine Rasse konnten sie bestenfalls erahnen. Hannah war überzeugt, dass in Bolo auch etwas vom Labrador steckte. Ridgebacks waren von Natur aus keine Schwimmer, doch Bolo war vernarrt in Wasser und besaß die labradortypischen Schwimmhäute. Entsprechend machte ihm Regen nichts aus, allerdings müsste Creed ihn davon abhalten, in überflutete Bereiche zu streben. Im Geiste ging er schon alle Hindernisse und Risiken durch. Und nun fiel ihm etwas ein, das die größte Hürde sein könnte.

»Trifft Logan uns an der Unglücksstelle?«

Zuerst war er sich nicht sicher, ob sie ihn einfach überhört hatte bei dem prasselnden Regen auf dem Wagendach und den beschleunigten Quietschgeräuschen der Scheibenwischer. Dann sah er Isabel einen Blick mit dem Fahrer wechseln, bevor sie antwortete: »Nein. Ich glaube, er hängt noch bis morgen in D. C. fest.«

Creed tat, als sei es unwichtig. Ganz sicher brauchte er Peter Logan nicht dort, um seinen Job zu machen. Ganz im Gegenteil; ohne ihn dürfte es leichter sein. Trotzdem wunderte ihn, dass Logan bei dieser Dringlichkeit nicht vor Ort gefragt war.

»Wer ist für die Räumung des Bereichs zuständig, in dem wir suchen müssen?«

Wieder wechselten die beiden vorn einen Blick. Creed wollte ihnen sagen, dass er von ihrem streng geheimen Quatsch nichts wissen musste, sondern nur einige grundlegende Informationen brauchte. Als Isabel sich mit ihrer Antwort zu viel Zeit ließ, wurde ihm klar, dass sie anscheinend nichts sagen konnte, weil sie selbst nichts wusste.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, zuckte sie mit den Schultern. »In diesem Bereich werden das wohl wir sein.«

Creed wartete auf ein Lachen, das nicht kam. Sie scherzte nicht. Und mit dieser kurzen Antwort hatte sie Bände gesprochen. Isabel Klein war noch nie bei einer Such- und Bergungsaktion in einem Katastrophengebiet dabei gewesen – oder in irgendeinem Gebiet.

Creed kraulte Bolos Nacken, womit er mehr sich selbst als den Hund beruhigen wollte. Sie beide hatten es schon mit Amateuren zu tun gehabt, was jedoch nicht bedeutete, dass es Creed gefallen musste. Normalerweise war er kein Mann, der auf Regeln und Vorschriften pochte, doch ein gewisses Protokoll schützte seine Hunde in einer gefährlichen Arbeitssituation.

Bolo drehte sich zu Creed und sah ihn an. Diesen Blick kannte er: Bolo wollte endlich an die Arbeit gehen – oder vielmehr spielen. Wäre es doch nur so einfach!

6

Pensacola,

Florida

Hannah Washington wurde das Gefühl nicht los, dass sie den Auftrag lieber abgelehnt hätte, egal wie hartnäckig Creed beteuerte, alles sei gut. Er hatte gar nicht gut ausgesehen. Während der Dreiviertelstunde, die es dauerte, ihn und Bolo zum Flugplatz zu fahren, war Creed still und finster gewesen, als hätte sich allein mit der Erwähnung dieses Peter Logan eine dunkle Wolke über ihn gesenkt. Und alles, was der gesagt hatte, war, dass er den Mann aus Afghanistan kannte und sprach von einem Gefallen.

Hannah blickte in den Rückspiegel, in dem Grace sie anstarrte. Die Hündin war enttäuscht, dass sie nicht mit Creed und Bolo mitkommen durfte. Grace war nicht bloß ihr bester Spürhund, sie war auch ein Multitasker. Sie konnte Kadaver genauso aufspüren wie Überlebende und hatte gelernt, eine Vielzahl von Gerüchen zu unterscheiden, angefangen bei Viren und Tumoren bis hin zu Kokain, Meth und Heroin.

Grace und Creed hatten fast den ganzen Sommer zusammen mit dem Flughafenzoll und der Küstenwache gearbeitet. Da wurden sie sogar richtig berühmt. Aber Creed bestand darauf, dass Grace zu klein für die Arbeit an Katastrophenschauplätzen war. Zum Trost hatte Hannah sie mitgenommen, ein paar Erledigungen zu machen.

Leider wirkte Grace immer noch eingeschnappt und starrte Hannah an, als wollte sie sie dazu bringen, zu wenden und zu Creed zu fahren.

»Jetzt mach du mir nicht auch noch Vorwürfe«, sagte Hannah und blickte über die Schulter zur Hündin.

Sie bereute schon, dass sie Creed losgeschickt hatte. Es war Hannahs Job, eingehende Aufträge und Anfragen zu prüfen. Sie musste sicherstellen, dass es für ihre Hunde okay und nicht übermäßig gefährlich war. Dasselbe galt für die Hundeführer. Aber sie konnte Rye nicht vor Dingen schützen, von denen sie nichts wusste.

Sie waren seit Jahren Geschäftspartner, Freunde, fast eine Familie, dennoch wusste Hannah, dass Creed in seinem vorherigen Leben Dinge widerfahren waren, von denen sie vielleicht nie erfahren würde.

Was völlig in Ordnung ist.

Die Vergangenheit eines Menschen gehörte meistens genau dahin, wo sie war, sicher vergraben. Und Hannah kam es ganz gewiss nicht zu, über irgendwas zu urteilen. Allzu gut wusste sie, dass es manche Sachen gab – seien es Fehler, dumme Entscheidungen oder simple alte Erinnerungen –, die man mit Fug und Recht für sich behielt. Sprach man sie erst mal aus, gehörten sie einem nicht mehr allein.

Aber sie wusste auch, dass Ryder Creed eine Menge Schmerz durchgemacht hatte, und zwar von der gefährlichen Sorte, die einen schon mal in den Wahnsinn treiben konnte, wenn man nicht dagegen ankämpfte. Und obwohl er beständig besser damit umging, sickerte einiges in seinen Alltag durch. Was wiederum bedeutete, dass es sich auf Hannahs Leben und das ihrer beiden kleinen Söhne auswirkte – folglich zu ihrer Sache wurde.

Dennoch hatte Creed es weit gebracht, wenn sie an den zornigen Marine dachte, den sie vor sieben Jahren kennenlernte. Sie hatte in Walter’s Canteen in Pensacola Beach bedient, und es war kurz vor Ladenschluss. Hannah erinnerte sich, dass sie müde gewesen war und ihre Füße wehtaten. Sie wollte nur noch aufräumen und nach Hause, als der Marine, dem sie einen Drink zu viel gegeben hatte, eine Prügelei anzettelte – und nicht mit einem, sondern gleich mit drei Kerlen. Die drei Schläger hätten fraglos einigen Schaden anrichten können, hätte Hannah sie nicht rausgeschmissen. Den Unruhestifter zwang sie zu bleiben und das verschüttete Bier und die Scherben aufzuwischen.

Bis heute sah sie seinen Blick vor sich. Seine Wut wich einem Anflug von Schrecken und einer Menge Furcht. Jahre später gestand er, dass er noch nie erlebt hatte, wie jemand auf so ruhige, ernste Art wütend auf ihn war. Okay, »ruhig« und »ernst« waren Hannahs Worte. Wenn sie sich recht entsann, waren Ryes wohl eher »bevormundend« und »angepisst« gewesen. Er sagte, noch nie zuvor hätte ihn eine Schwarze mit einem Vortrag so beschämend in Form gepfiffen und zusammengestaucht wie ein evangelischer Pfarrer.

Als sie nun mit beiden Händen voller Einkaufstüten den Korridor des Segway House entlangging, brachte sie der Gedanke, dass jemand sie mit einem Pfarrer verglich, zum Schmunzeln. Sie lächelte Grace zu, die neben ihr her tapste.

»Hannah, lass mich dir tragen helfen«, erklang eine Stimme hinter ihr.

»Frankie Sadowski, was in aller Welt machst du denn hier? Ich dachte, du bist auf dem Weg nach D. C.«

Sie wartete und ließ ihn eine ihrer Taschen mit seinen krummen, arthritischen Fingern übernehmen. Als er noch eine verlangte, gab sie gleich nach, denn jeder Widerstand war zwecklos. Trotz seiner knorrigen Hände und dem dichten Silberschopf war Frankie Sadowski groß und schlank. Wüsste Hannah nicht, dass er fast siebzig war, würde sie ihn glatt fünfzehn Jahre jünger schätzen. Ausgeprägte Lachfalten machten sein wettergegerbtes Gesicht weich, und seine blauen Augen blitzten vor Leben.

»Ich warte, bis Susans Schicht vorbei ist. Sie kommt mit mir. Angeblich braucht sie mal einen Tapetenwechsel. Und sie hat ja auch einige Überstunden in der Klinik gemacht.«

Frankies Tochter arbeitete im Trauma-Zentrum des Sacred Heart.

Frankie zeigte mit einem Nicken zu Grace. »Wer ist dein kleiner Freund?«

»Das ist Grace.«

»Ich hoffe, sie soll hier keine Leichen aufspüren.« Er lachte über seinen Scherz, doch Hannah lächelte nur.

»Ich versuche, ein Programm mit Therapiehunden aufzubauen. Und Grace ist für alles zu haben.«

Hannah sah zu der Hündin und stellte fest, dass Grace vor Frankies Füßen hockte, aber Hannah direkt in die Augen starrte. Ein solches Starren war gewöhnlich Graces Signal, dass sie gefunden hatte, wonach sie suchen sollte, nur hatte Hannah ihr ja gar nicht befohlen, irgendwas zu suchen.

»Als ich drüben auf Susan wartete, habe ich einige Zeit mit Gus Seaver verbracht«, erzählte Frankie. »Er bat mich vorbeizusehen und mich nach seinem Enkel zu erkundigen, Jason.«

Hannah wusste, dass Gus und Frankie zusammen im Vietnamkrieg gedient hatten. Es gab eine kleine Gruppe von Veteranen, die wieder den Kontakt zueinander aufgenommen hatten und gegenseitig auf sich achtgaben, seit drei von ihnen krank geworden waren – zu krank, um für sich selbst zu sorgen.

Anfangs hielten sie es für reinen Zufall, dass sie dieselben Symptome aufwiesen. Dann erfuhren sie vor Kurzem, dass ihre Einheit irgendeiner toxischen Chemikalie ausgesetzt gewesen war. Frankie zeigte keine Symptome, hatte aber einen Kreuzzug gestartet. Deshalb wollte er nach D. C. und bei einer Kongressanhörung aussagen.

Nun wartete er, bis mehrere Bewohner vorbeigegangen waren, und bedeutete Hannah vorauszugehen – er war eben ein Gentleman durch und durch. Sie klopfte sich seitlich ans Bein, was das Zeichen für Grace war, mit ihr zu kommen.

»Übrigens hatte ich gehofft, dich hier zu treffen«, sagte Frankie. »Damit wir über ihn reden können.«

»Über Gus?«

»Nein, Jason.«

Sie nickte, wollte jedoch nicht hier auf dem Korridor weiterreden. »Lass mich nur schnell ein paar Sachen in den Kühlschrank packen.«

In der Küche zeigte sie Frankie, wo er die Tüten abstellen konnte. Dann begann sie auszupacken, während sie sich umblickte, ob auch niemand in der Nähe war.

»Jason ist vor einem Monat aus dem Segway House ausgezogen«, sagte sie.

Frankie zog die Brauen hoch, blieb aber stumm. Hannah überraschte nicht, dass Jason seinem Großvater wenig von sich erzählt hatte. Wie so viele, die verwundet heimkehrten, wollte er seiner Familie nicht zur Last fallen.

Segway House war eine Übergangseinrichtung für Soldaten, die nach ihrer Rückkehr aus dem Irak oder Afghanistan nirgends sonst hinkonnten. In den letzten Jahren hatte es sich zu einer kurzfristigen Auffangstation für verlorene Seelen gewandelt – Drogensüchtige, jugendliche Ausreißer und misshandelte Frauen.

Neben Unterkunft boten sie Mentoren- und Bildungsprogramme an sowie eine Handvoll anderer Dienste. Hannah war eine der Gründerinnen, und Frankie war einer der ersten Ehrenamtlichen gewesen.