Vicious - Das Böse in uns - V. E. Schwab - E-Book
SONDERANGEBOT

Vicious - Das Böse in uns E-Book

V. E. Schwab

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

V. E. Schwabs neue Bestseller-Serie ist ein übernatürlicher Fantasy-Thriller – düster, cool und blutig. Victor Vale und Eli Ever wollen sterben. Allerdings nicht, um tot zu bleiben, sondern um mit außergewöhnlichen Fähigkeiten wieder aufzuerstehen. Als junge, brillante Medizinstudenten wissen sie genau, was sie tun. Sie planen das Experiment minutiös ­? und haben Erfolg: Beide kommen verwandelt wieder ins Leben zurück. Eli entwickelt eine erstaunliche Regenerationskraft und wird praktisch unsterblich, Victor kann kann anderen Schmerz zufügen oder nehmen. Was sie nicht unter Kontrolle haben, ist die Tragödie, die durch ihr Experiment ausgelöst wird. Denn Superkräfte allein machen keine Helden … »Eine brillante Erkundung des Superheldenmythos und ein fantastischer Rache-Thriller.« The Guardian Für Leser von Neil Gaiman, Wild Cards, Leigh Bardugo, Ben Aaronovitch, Joe Hill, Stephen King und Fans von M. NightShyamalan und der Fernsehserie »Heroes«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 443

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



V.E. Schwab

Vicious – Das Böse in uns

Roman

Aus dem Amerikanischen von Petra Huber und Sara Riffel

FISCHER E-Books

Für Miriam und Holly

die mir immer wieder beweisen, wie ExtraOrdinär sie sind.

Das Leben – das echte Leben – ist kein Kampf zwischen Gut und Böse, sondern zwischen Böse und etwas Schlimmerem.

Joseph Brodsky

Teil 1 Wasser und Blut

ILetzte Nacht

Merit, Friedhof

Victor rückte die Schaufeln auf seiner Schulter zurecht und stieg vorsichtig über ein altes, halb eingesunkenes Grab. Sein Trenchcoat bauschte sich leicht und streifte hier und da einen Grabstein, während er über den Friedhof von Merit ging und dabei ein Lied summte. Im Dunkeln klang es wie das Säuseln des Windes. Sydney, die in ihrem zu großen Mantel, den Regenbogenleggins und den Winterstiefeln hinter ihm herstapfte, lief es kalt den Rücken runter. Die beiden sahen auf dem Friedhof wie Geister aus, so blond und hellhäutig. Sie hätten als Geschwister durchgehen können oder vielleicht als Vater und Tochter. Zwar waren sie weder das eine noch das andere, aber die Ähnlichkeit war praktisch. Victor konnte den Leuten schließlich schlecht erzählen, dass er das Mädchen erst vor ein paar Tagen an einer regennassen Straße aufgelesen hatte. Er war gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen, sie vor kurzem angeschossen worden. Eine schicksalhafte Begegnung, könnte man sagen. In Wahrheit war Sydney der Grund, warum Victor überhaupt an so etwas wie Schicksal zu glauben begann.

Er hörte auf zu summen, setzte einen Fuß locker auf einen Grabstein und suchte die Dunkelheit ab. Weniger mit den Augen, sondern eher mit der Haut oder dem, was darunter in seinen Adern pulsierte. Er lauschte auf das schwache elektrische Sirren, das nur er allein hören, spüren und deuten konnte. Ein Sirren, das ihm verriet, wenn jemand in der Nähe war.

Sydney sah, wie er die Stirn runzelte.

»Sind wir allein?«, fragte sie.

Victor blinzelte, und das Stirnrunzeln verschwand und wich seiner üblichen Gelassenheit. Sein Schuh glitt vom Grabstein hinunter. »Nur wir und die Toten.«

Sie gingen weiter zur Mitte des Friedhofs. Die Schaufeln klapperten leise auf Victors Schulter. Sydney trat nach dem Bruchstück eines älteren Grabsteins. Ein paar Buchstaben und Teile von Wörtern waren darauf noch zu erkennen. Sie hätte die Inschrift gerne entziffert, aber der Brocken war halb von einem Gebüsch überwuchert und Victor inzwischen weitergegangen. Sie eilte hinter ihm her und wäre dabei auf dem gefrorenen Boden ein paarmal fast gestolpert. Victor war bei einem Grab stehen geblieben und betrachtete es. Es war frisch ausgehoben und mit einem provisorischen Schild markiert, der Grabstein fehlte noch.

Sydney stöhnte unbehaglich, was nichts mit der beißenden Kälte zu tun hatte. Victor schaute sie an und lächelte schief.

»Kopf hoch, Syd«, sagte er ruhig. »Das wird Spaß machen.«

In Wahrheit fand Victor Friedhöfe genauso scheußlich. Er mochte Tote nicht, weil er sie nicht beeinflussen konnte. Sydney dagegen hasste Tote, weil ihr Einfluss auf sie so groß war. Ihre Arme waren fest vor der Brust verschränkt, und mit dem behandschuhten Daumen rieb sie über die Stelle an ihrem Oberarm, wo die Kugel sie getroffen hatte. Es wurde langsam zum nervösen Tick.

Victor drehte sich um und stieß eine der Schaufeln in die Erde. Die andere warf er Sydney zu, die gerade noch rechtzeitig die Arme hob, um sie aufzufangen. Die Schaufel war fast so groß wie sie. In ein paar Tagen wurde sie dreizehn, aber selbst für zwölf und elf Zwölftel war Sydney Clarke klein geraten. Sie war auch früher nicht besonders schnell gewachsen und keinen Zentimeter mehr, seit sie gestorben war.

Jetzt hob sie die schwere Schaufel hoch und verzog das Gesicht.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, fragte sie.

»Je schneller wir graben, desto schneller sind wir wieder zu Hause.«

Zu Hause war eigentlich kein richtiges Zuhause, sondern ein Hotelzimmer, in dem sich Sydneys gestohlene Klamotten, ein Karton Schokomilch und Victors Ordner befanden, aber darum ging es nicht. In diesem Moment wäre jeder Ort ein Zuhause gewesen, der kein Friedhof war. Unschlüssig hielt Sydney den Holzgriff der Schaufel umklammert und musterte das Grab. Victor hatte bereits angefangen zu buddeln.

»Und wenn …«, sagte sie und schluckte. »Und wenn nun aus Versehen die anderen Leute aufwachen?«

»Das werden sie nicht«, sagte Victor. »Konzentrier dich einfach auf dieses Grab. Und außerdem …« Er blickte hoch. »Seit wann hast du denn Schiss vor Leichen?«

»Hab ich nicht«, gab sie zu schnell und mit der Vehemenz eines jüngeren Geschwisterkindes zurück. Was sie ja auch war. Nur eben nicht Victors.

»Sieh’s mal so«, sagte er und warf einen Haufen Erde aufs Gras. »Selbst wenn du sie weckst, können sie nirgendwohin. Und jetzt fang an zu buddeln!«

Sydney beugte sich vor, wobei ihr das kurze blonde Haar ins Gesicht fiel, und begann zu graben. Die zwei arbeiteten im Dunkeln, nur Victors gelegentliches Summen und das dumpfe Tschuk der Schaufeln waren zu hören.

Tschuk.

Tschuk.

Tschuk.

IIZehn Jahre vorher

Lockland University

Mit einer geraden schwarzen Linie strich Victor das Wort Wunder durch.

Der Text war auf dickem Papier gedruckt, durch das die Tinte nicht durchsickerte, solange er nicht zu stark aufdrückte. Er überflog die korrigierte Seite und verzog das Gesicht, als sich eines der Metallornamente am schmiedeeisernen Zaun der Lockland University in seinen Rücken bohrte. Die Schule war mächtig stolz auf ihr Ambiente – eine Mischung aus Country Club und gotischer Villa –, aber der verschnörkelte Zaun, der ihre Exklusivität und eine an das alte Europa angelehnte Ästhetik unterstreichen sollte, wirkte lediglich protzig und beengend. Wie ein eleganter Käfig.

Victor verlagerte das Gewicht und rückte das Buch auf seinen Knien zurecht. Die schiere Größe des Werks erstaunte ihn. Es war ein Selbsthilferatgeber, der neueste in einer fünfbändigen Reihe des weltberühmten Doktoren-Ehepaars Vale. Dieselben Vales, die gegenwärtig auf einer Lesereise quer über den Globus jetteten. Dieselben Vales, die in ihren stets vollen Terminkalendern gerade genug Platz geschaffen hatten, um Victor in die Welt zu setzen.

Er blätterte zurück, bis er den Anfang des Kapitels gefunden hatte, und begann zu lesen. Zum ersten Mal strich er nicht nur zum Spaß in einem Buch der Vales herum. Nein, diesmal tat er es für die Uni. Unwillkürlich musste Victor lächeln. Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, die Werke seiner Eltern zusammenzukürzen, die umfangreichen Kapitel zum Thema Selbstermächtigung auf ein paar einfache und beunruhigend suggestive Botschaften zu reduzieren. Das tat er jetzt schon seit seinem zehnten Lebensjahr, eine mühsame, aber befriedigende Arbeit, die bisher allerdings zu nichts nütze gewesen war. Was sich letzte Woche geändert hatte. Letzte Woche hatte er aus Versehen das aufgeschlagene Buch mit seinen Streichungen in der Mittagspause im Kunstatelier liegengelassen – an der Lockland University war der Kunstunterricht selbst für angehende Ärzte und Wissenschaftler Pflicht –, und sein Lehrer hatte es entdeckt. Victor hatte eine Zurechtweisung erwartet, einen Vortrag darüber, wie das Verschandeln von Literatur kulturelle Werte bedrohe, oder vielleicht auch nur über den Wert von Papier. Stattdessen hatte sein Lehrer seinen Akt der Zerstörung als Kunst aufgefasst. Er hatte ihm sogar den notwendigen theoretischen Überbau geliefert und dabei Begriffe wie Ausdruck, Identität, Gegenstandskunst und Adaption benutzt.

Victor hatte nur genickt und es am Ende auf den Punkt gebracht: Rewrite. Und schon stand das Thema seiner Hausarbeit in Kunst fest.

Der Marker zischte, als er eine weitere Linie zog und mehrere Sätze in der Mitte der Seite auslöschte. Unter dem Gewicht des Wälzers wurde sein Knie taub. Wenn er einmal einen Ratgeber nötig haben sollte, würde er sich ein dünnes, einfaches Buch suchen, dessen Umfang zu seinem Versprechen passte. Aber vielleicht brauchten andere Leute mehr. Vielleicht suchten sie gezielt die Regale nach den dicksten Büchern ab, weil sie glaubten, so mehr für ihr Geld zu bekommen. Er überflog die Wörter und lächelte, als er einen weiteren Absatz fand, den er streichen konnte.

Nach der Kunststunde las sich das Kapitel seiner Eltern über den perfekten Start in den Tag so:

Verlier dich. Gib auf. gib Nach. am Schluss Ist es besser zu kapitulieren bevor du anfängst. verlier dich. Verlier dich Und es wird dich nicht kümmern ob du jemals gefunden wirst.

Um den letzten Satz perfekt zu machen, hatte er ganze Absätze schwärzen müssen. Das Wort jemals hatte er erst versehentlich durchgestrichen und weiterlesen müssen, bis er es ein weiteres Mal fand. Aber es hatte sich gelohnt. Die geschwärzten Seiten, die zwischen ob du und jemals und gefunden wirst lagen, verliehen den Wörtern genau den richtigen Eindruck von Verlorenheit.

Victor hörte jemanden herankommen, schaute aber nicht hoch. Er blätterte zum Ende des Buches vor, wo er an einem anderen Kapitel arbeitete. Der Sharpie durchschnitt einen weiteren Absatz, Zeile für Zeile. Es klang wie langsames und gleichmäßiges Atmen. Einmal war ihm der Gedanke gekommen, dass die Bücher seiner Eltern ihm tatsächlich halfen, nur nicht so, wie sie es beabsichtigt hatten. Er empfand ihre Zerstörung als unheimlich wohltuend, wie eine Art Meditation.

»Na, vergreifst du dich wieder an Schuleigentum?«

Victor blickte hoch und sah Eli vor sich stehen. Die Schutzfolie des Bibliotheksbuches knisterte unter seinen Fingern, als er es hochhob, um Eli den Rücken zu zeigen, wo in Großbuchstaben VALE geschrieben stand. Er würde doch keine $ 25.99 ausgeben, wenn die Bibliothek von Lockland eine so verdächtig große Sammlung von Ratgebern mit der Vale-Doktrin besaß. Eli nahm ihm das Buch ab und blätterte darin.

»Vielleicht … ist es … in … unserem … besten … Interesse zu … zu kapitulieren … aufzugeben … anstatt … Worte zu verschwenden.«

Victor zuckte mit den Achseln. Er war noch nicht ganz fertig.

»Da ist ein zu zu viel vor kapitulieren«, sagte Eli und warf ihm das Buch wieder hin.

Stirnrunzelnd fing Victor es auf. Er fuhr mit dem Finger über den Satz, bis er den Fehler entdeckt hatte. Dann schwärzte er sorgfältig das überflüssige Wort.

»Du hast zu viel Zeit, Vic.«

»Für die wichtigen Dinge im Leben muss man sich Zeit nehmen«, zitierte Victor. »Für das, was dich ausmacht: deine Wünsche, deine Fortschritte, deinen Stift. Nimm ihn in die Hand und schreib deine eigene Geschichte.«

Eli sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was für ein Schwachsinn.«

»Das ist aus der Einleitung«, sagte Victor. »Keine Sorge, ich habe es geschwärzt.« Er blätterte bis zum Anfang zurück, ein Mosaik aus dünnen Buchstaben und dicken schwarzen Linien. »Sie haben Emerson total verhunzt.«

Eli zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nur, dass dieses Buch der Traum jedes Schnüfflers ist«, sagte er. Er hatte recht, die vier Sharpies, die Victor verbraucht hatte, um das Buch in Kunst zu verwandeln, hatten einen ziemlich starken Geruch hinterlassen, den Victor faszinierend und abstoßend zugleich fand. Die Zerstörung an sich machte ihn schon high, aber der Geruch trug noch zur Sinnlichkeit des Projekts bei, jedenfalls hätte sein Kunstlehrer es so formuliert. Eli lehnte sich gegen den Zaun. Sein dunkelbraunes Haar glänzte in der zu hellen Sonne und schimmerte hier und da rötlich oder sogar golden. Victors Haar war blassblond. Wenn das Sonnenlicht darauf fiel, brachte es keine Farben zum Vorschein, sondern betonte nur den Mangel daran und ließ ihn wie die verblichene Fotografie eines Studenten aussehen.

Eli starrte immer noch auf das Buch in Victors Händen.

»Drückt der Sharpie nicht durch?«

»Hab ich auch erst gedacht«, sagte Victor. »Aber sie benutzen so ein krass schweres Papier. Als wollten sie ihren Worten mehr Gewicht verleihen.«

Elis Gelächter wurde vom zweiten Klingeln übertönt, das über den sich leerenden Hof hallte. Natürlich war es in Lockland kein Summen, sondern tatsächlich das laute und fast bedrohliche Läuten einer – schließlich war man hier zivilisiert – einzelnen Kirchenglocke im Gemeindehaus in der Mitte des Campus. Eli fluchte und half Victor auf die Beine, dann eilte er auch schon auf die NaWi-Gebäude zu, deren Fassaden mit dunkelroten Ziegeln verblendet waren, um sie weniger steril wirken zu lassen. Victor dagegen ließ sich Zeit. Das letzte Klingeln würde noch auf sich warten lassen, und selbst wenn sie zu spät kamen, schrieben die Dozenten sie nie auf. Eli brauchte nur zu lächeln. Und Victor nur zu lügen. Beides erwies sich stets als erschreckend wirkungsvoll.

 

Victor saß im Naturwissenschaftlichen Überblicksseminar ganz hinten – einem Kurs, der Studenten unterschiedlicher Fachbereiche während der Abschlussphase zusammenbringen sollte – und lernte etwas über Forschungsmethoden. Oder ließ sich jedenfalls etwas darüber erzählen. Im Seminar saßen die Studenten vor Laptops, und Wörter auf einem Bildschirm durchzustreichen war einfach nicht so befriedigend. Deshalb war Victor dazu übergegangen, die anderen Studenten zu beobachten, wie sie dösten, herumkritzelten, angestrengt lauschten oder Textnachrichten austauschten. Natürlich wurde ihm auch das schnell langweilig, und sein Blick ging an ihnen vorbei, durch das Fenster und über den Rasen. Einfach weg.

Erst als Eli die Hand hob, lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder mühsam auf den Unterricht. Die Frage selbst war Victor entgangen, aber er sah das perfekte Wahlkampfkandidatenlächeln seines Mitbewohners, als er antwortete. Eliot Cardale war anfangs ein Problem gewesen. Einen Monat nach Beginn des zweiten Studienjahres hatte sehr zu Victors Leidwesen ein schlaksiger, braunhaariger Typ im Flur seines Wohnheims gestanden. Sein letzter Mitbewohner hatte gleich in der ersten Woche das Handtuch geworfen und die Uni verlassen. Entweder hatte es nicht genügend Studenten gegeben, oder Victors Kommilitone Max Hall, der gerne mal die Computer von Lockland hackte, hatte in den elektronischen Archiven dafür gesorgt, dass auf den frei gewordenen Platz niemand nachrückte. Victors schrecklich beengtes Doppelzimmer wurde zu einem komfortablen Domizil, in dem es sich gut leben ließ. Bis Anfang Oktober Eliot Cardale – der, wie Victor sofort entschied, zu viel lächelte – mit einem Koffer im Flur auftauchte.

Anfangs hatte Victor noch darüber nachgedacht, wie er ihn loswerden könnte, aber dann geschah etwas Seltsames. Er begann, Eli zu mögen. Eli war altklug und ätzend charmant, ein Typ, der sich dank seiner guten Gene und raschen Auffassungsgabe alles erlauben durfte. Er war wie gemacht für Sportteams und Studentenverbindungen, hatte jedoch überraschenderweise keine Lust, irgendwo einzutreten. Diese kleine Missachtung der gesellschaftlichen Normen ließ ihn in Victors Achtung steigen und machte ihn sofort interessanter.

Am meisten faszinierte Victor jedoch, dass mit Eli irgendetwas nicht stimmte. Er war wie eines dieser Suchbilder, deren Fehler man erst entdeckte, wenn man sehr genau hinsah. Oberflächlich betrachtet wirkte Eli völlig normal, aber hin und wieder bemerkte Victor einen Riss in der Fassade, wenn sich der Gesichtsausdruck und die Worte seines Mitbewohners nicht deckten. Diese flüchtigen Augenblicke fesselten Victor. Es war so, als hätte man zwei Menschen vor sich. Der eine verbarg sich in der Haut des anderen, und die Haut war immer zu trocken und drohte aufzureißen und das Etwas darunter zu enthüllen.

»Sehr scharfsinnig, Mr. Cardale.«

Victor hatte Frage und Antwort verpasst. Er schaute hoch und sah Professor Lyne in die Hände klatschen.

»Also gut. Es wird Zeit, dass Sie alle das Thema Ihrer Abschlussarbeiten vorstellen.«

Das Seminar, das vor allem aus Medizinstudenten, einer Handvoll Physiker und sogar einer Ingenieurin bestand, stöhnte kollektiv auf, aus Prinzip.

»Na, na«, sagte der Professor und schnitt den Protest ab. »Sie wussten ja schon bei der Anmeldung, worauf Sie sich hier einlassen.«

»Wussten wir nicht«, stellte Max fest. »Das ist ein Pflichtkurs.« Gelächter.

»Dann bitte ich um Verzeihung. Aber da Sie nun einmal hier sind: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf …«

»Nächste Woche wäre besser«, rief Toby Powell, ein breitschultriger Surfer und Medizinstudent, der Sohn eines Gouverneurs. Wieder lachten die Studenten, so laut, wie es Tobys Beliebtheitsgrad entsprach.

»Genug«, sagte Professor Lyne, und es kehrte wieder Ruhe ein. »Lockland fordert bei der Abschlussarbeit einen gewissen … Fleiß und lässt Ihnen zugleich einige Freiheiten, aber seien Sie gewarnt. Ich gebe dieses Seminar nun schon seit sieben Jahren. Sie tun sich keinen Gefallen, wenn Sie ein langweiliges Thema wählen und sich möglichst unauffällig verhalten. Eine ehrgeizige Arbeit bringt Ihnen allerdings auch keine Punkte, nur weil sie ehrgeizig ist. Die Note hängt allein von Ihrer Leistung ab. Ich hoffe, Sie haben ein ergiebiges Thema gefunden, das Sie interessiert und das Sie nicht bereits in- und auswendig kennen.« Er schenkte Toby ein vernichtendes Lächeln. »Wenn Sie anfangen möchten, Mr. Powell?«

Toby fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um Zeit zu gewinnen. Die Hinweise des Professors hatten in ihm offensichtlich Zweifel an seinem Thema geweckt. Er räusperte sich und scrollte seine Notizen durch.

»Ähm … TH17-Zellen und Immunologie.« Er gab sich Mühe, die Stimme am Ende nicht fragend zu heben. Professor Lyne ließ ihn einen Moment lang zappeln, und alle warteten, ob er Toby »den Blick« zuwerfen würde, für den er berühmt war und der so viel bedeutete wie: Vielleicht willst du es noch einmal versuchen? Aber schließlich nickte er nur.

Sein Blick wanderte weiter. »Mr. Hall?«

Max öffnete den Mund, aber Lyne unterbrach ihn. »Nichts Technisches. Etwas Wissenschaftliches, aber nichts Technisches. Also überlegen Sie es sich gut.« Max’ Mund klappte wieder zu, und er dachte einen Moment lang nach.

»Der elektrische Wirkungsgrad erneuerbarer Energien«, sagte er nach einer Pause.

»Hardware statt Software. Eine kluge Wahl, Mr. Hall.«

Professor Lyne arbeitete sich weiter durch den Raum vor.

Vererbungsmuster, Gleichgewicht und Strahlung wurden angenommen, die Auswirkungen von Alkohol/Zigaretten/Gras, die chemischen Eigenschaften von Methamphetamin und die Reaktion des Körpers auf Sex hingegen ernteten allesamt »den Blick«. Einer nach dem anderen stellte sein Thema vor, das entweder akzeptiert wurde oder neu formuliert werden musste.

»Der Nächste«, befahl Professor Lyne, dessen Sinn für Humor langsam nachließ.

»Chemische Pyrotechnik.«

Eine lange Pause. Das Thema kam von Janine Ellis, deren Augenbrauen sich noch nicht ganz von ihrer letzten Versuchsreihe erholt hatten. Professor Lyne seufzte und bedachte sie mit »dem Blick«, aber Janine lächelte nur, und Lyne konnte nicht viel dagegen tun. Ellis war eine der jüngsten Studentinnen im Raum und hatte bereits im ersten Studienjahr einen neuen leuchtenden Blauton entdeckt, den inzwischen Feuerwerkshersteller auf der ganzen Welt benutzten. Wenn sie ihre Augenbrauen aufs Spiel setzen wollte, dann war das ihre Sache.

»Und Sie, Mr. Vale?«

Victor schaute seinen Professor an und ging seine Möglichkeiten durch. In Physik war er nie besonders gut gewesen. Chemie machte ihm zwar Spaß, aber eigentlich interessierte er sich für Biologie, besonders für Anatomie und Neurowissenschaften. Er hätte nichts gegen ein paar Experimente, seine Augenbrauen wollte er aber gerne behalten. Sein Ansehen in der Professorenschaft war ihm natürlich wichtig. Allerdings wurde er schon seit Monaten mit Angeboten von medizinischen Fakultäten, Graduiertenprogrammen und Forschungslaboren überschüttet. Er und Eli hatten mit den Briefen den Flur ihres Apartments geschmückt. Nicht mit den Angeboten selbst, sondern mit den Anschreiben, die voller Lobeshymnen, Wimpergeklimper und handschriftlicher Nachsätze waren. Sie mussten beide keine weltbewegenden Abschlussarbeiten mehr schreiben. Victor sah zu Eli hinüber und fragte sich, was für ein Thema er wohl wählen würde.

Professor Lyne räusperte sich.

»Adrenalinauslöser«, sagte Victor aus einer Laune heraus.

»Mr. Vale, ich habe bereits einen Vorschlag abgelehnt, in dem es um Geschlechtsverkehr ging …«

»Nein«, sagte Viktor und schüttelte den Kopf. »Adrenalin und seine physischen und emotionalen Auslöser und Folgen. Biochemische Schwellenwerte. Kampf oder Flucht. Solche Dinge.«

Er musterte das Gesicht des Professors und wartete auf ein Zeichen. Schließlich nickte Lyne.

»Hoffentlich werde ich das nicht bereuen«, sagte er.

Dann wandte er sich als Letztem Eli zu. »Mr. Cardale.«

Eli lächelte ruhig. »EOs.«

Das Seminar, in dem sich gedämpfte Gespräche ausgebreitet hatten, verstummte mit einem Mal. Das Hintergrundraunen, das Tastaturklappern, das Knarren von Stühlen hörte auf, während Professor Lyne Eli mit einem gänzlich neuen Blick betrachtete, der zwischen Überraschung und Verwirrung schwankte. Eliot Cardale war stets der Beste seiner Jahrgangsstufe, ja der gesamten medizinischen Abteilung gewesen – oder hatte sich zumindest mit Victor auf dem ersten und zweiten Platz abgewechselt.

Fünfzehn Augenpaare waren auf Eli und Professor Lyne gerichtet, während die Stille andauerte und langsam ungemütlich wurde. Eli würde ein Thema niemals nur aus Spaß vorschlagen. Aber das konnte er unmöglich ernst meinen.

»Ich fürchte, das werden Sie genauer erklären müssen«, sagte Lyne.

Elis Lächeln erlosch nicht. »Ein Argument für die theoretische Möglichkeit der Existenz ExtraOrdinärer Menschen, im Einklang mit den Gesetzen der Biologie, Chemie und Psychologie.«

Professor Lyne neigte den Kopf und hob das Kinn, aber er sagte lediglich: »Vorsicht, Mr. Cardale. Denken Sie an meine Warnung. Mit Ehrgeiz allein lassen sich keine Punkte gewinnen. Ich vertraue darauf, dass Sie dieses Seminar nicht zum Gespött der Fakultät machen.«

»Ist das also ein Ja?«, fragte Eli.

Das erste Läuten ertönte.

Ein Stuhl wurde ein Stück nach hinten geschoben, aber niemand stand auf.

»In Ordnung«, sagte Professor Lyne.

Elis Lächeln wurde breiter.

In Ordnung? In den Gesichtern der anderen Studenten sah Victor alles von Neugierde bis hin zu Überraschung und Neid. Es war ein Witz. Anders konnte es nicht sein. Aber Professor Lyne richtete sich auf und nahm seine übliche Haltung an.

»Geht hinfort, meine Schüler«, sagte er. »Schafft Veränderung.«

Bewegung kam in den Raum. Stühle scharrten, Tische wurden beiseitegeschoben, Taschen hochgehoben, und die Studenten ergossen sich in einer Welle in den Korridor, die Victor mit sich trug. Er schaute sich nach Eli um und bemerkte, dass er zurückgeblieben war und sich leise, aber eindringlich mit Professor Lyne unterhielt. Seine Gelassenheit war verschwunden, und seine Augen leuchteten. Doch als er sich verabschiedet hatte und zu Victor hinaustrat, lächelte er bereits wieder.

»Was zum Teufel war das denn?«, fragte Victor. »Ich weiß, die Abschlussarbeit spielt keine große Rolle mehr, aber trotzdem … Sollte das ein Witz sein?«

Eli zuckte mit den Achseln, und bevor Victor nachhaken konnte, meldete sich die Elektro-Rock-Melodie seines Handys in der Tasche. Victor lehnte sich gegen eine Wand, während Eli dranging.

»Hallo, Angie. Ja, wir sind schon unterwegs.« Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Man ruft uns.« Eli legte den Arm um Victors Schultern. »Meine hübsche Maid ist hungrig. Ich wage es nicht, sie warten zu lassen.«

IIILetzte Nacht

Merit, Friedhof

Sydneys Arme schmerzten langsam von der schweren Schaufel, aber zumindest fror sie nicht mehr – zum ersten Mal seit einem Jahr. Ihre Wangen brannten, sie schwitzte in ihrem Mantel, und sie fühlte sich lebendig.

Das war allerdings das einzig Gute daran, eine Leiche auszubuddeln.

»Können wir nicht was anderes machen?«, fragte sie und stützte sich auf die Schaufel.

Sie kannte Victors Antwort, spürte, wie seine Geduld schwand, aber sie musste dennoch fragen. Fragen war Reden, und Reden war das Einzige, was sie von der Tatsache ablenkte, dass sie gerade eine Leiche ausgrub.

»Wir müssen ihm eine Botschaft senden«, sagte Victor und schaufelte weiter.

»Vielleicht könnten wir ihm ja eine andere Botschaft senden«, sagte sie leise.

»Es muss sein, Syd«, sagte er und schaute endlich auf. »Also denk einfach an was Schönes.«

Sie seufzte und begann wieder zu graben. Ein paar Schaufeln Erde später hielt sie inne. Sie traute sich kaum zu fragen.

»Und woran denkst du, Victor?«

Er schenkte ihr ein kleines, gefährliches Lächeln. »Daran, was für eine schöne Nacht es ist.«

Ihnen war beiden klar, dass es eine Lüge war, aber Sydney wollte die Wahrheit lieber gar nicht wissen.

 

Victor dachte nicht über das Wetter nach.

Er spürte die Kälte kaum durch seinen Mantel. Stattdessen malte er sich aus, was Eli für ein Gesicht machen würde, wenn er ihre Botschaft erhielt. Das Entsetzen, die Wut und die Angst. Angst, weil es nur eines bedeuten konnte.

Victor war draußen. Victor war frei.

Und Victor machte Jagd auf Eli – so wie er es versprochen hatte.

Mit einem befriedigenden Tschuk grub sich die Schaufel in die Erde.

IVZehn Jahre vorher

Lockland University

»Du willst mir wirklich nicht verraten, was das Ganze sollte?«, fragte Victor, während er Eli durch die schwere Doppeltür in die Lockland International Dining Suite folgte, die auch als LIDS bezeichnet wurde.

Eli antwortete nicht, sondern suchte den Essenssaal nach Angie ab.

Der Saal erinnerte Victor an einen Themenpark. Die Cafeteria war hinter überdimensionierten und bunt zusammengewürfelten Plastik- und Gipselementen verborgen. Hinter einem viereckigen Sitzbereich befanden sich elf Stationen, wo in verschiedenen Schrifttypen mit verschiedenen Verzierungen verschiedene Menüs angeboten wurden. Direkt neben der Tür war ein Bistro mit einem kleinen Torbogen für die Warteschlange. Daneben spielte italienische Musik, und hinter der Theke gähnten mehrere Pizzaöfen. Ihnen gegenüber lagen die Stände für thailändisches und chinesisches Essen sowie Sushi mit ihren farbigen Papierlaternen. Hinzu kamen eine Burgerstation, eine Sandwichtheke, eine Salatbar und ein Smoothieladen.

Angie Knight saß neben der italienischen Station und drehte Pasta auf ihre Gabel. Die kupferfarbenen Locken fielen ihr ins Gesicht, während sie in einem Buch las, das sie unter dem Tablett festgeklemmt hatte. Victor durchlief ein leichtes Prickeln, als er sie entdeckte – das voyeuristische Vergnügen, jemanden zu sehen, bevor man selbst bemerkt wurde, und einfach nur beobachten zu können. Der Moment ging vorbei, als Eli sie ebenfalls entdeckte und ohne ein Wort ihre Aufmerksamkeit erregte. Die beiden waren wie Magneten mit großer Anziehungskraft. Die Leute fühlten sich zu ihnen hingezogen. Selbst Victor spürte das. Und wenn sich die beiden begegneten … nun ja. Angies Arme flogen sofort um Elis Hals, und ihre vollkommenen Lippen drückten sich auf seine.

Victor schaute weg, um nicht ihre Privatsphäre zu verletzen, was absurd war, schließlich küssten sie sich vor aller Augen in der Cafeteria. Ein paar Tische weiter schaute eine Professorin von ihrer Zeitung auf, zog eine Augenbraue hoch und blätterte dann laut raschelnd eine Seite um. Irgendwann gelang es Eli und Angie, sich voneinander loszureißen, und Angie nickte Victor zu, eine einfache, aber aufrichtige Geste voller Wärme, aber ohne Hitze.

Und das war in Ordnung. Er war nicht in Angie Knight verliebt. Sie gehörte nicht zu ihm, obwohl er sie als Erster kennengelernt hatte. Damals hatte er eine Anziehungskraft auf sie ausgeübt, als sie in der ersten Woche an der Uni im LIDS zu ihm gekommen war und sie zusammen einen Smoothie getrunken hatten. Es war ein heißer Septembertag gewesen, und ihr Gesicht war vom Sport gerötet. Seines auch, weil sie sich zu ihm gesetzt hatte. Damals hatte sie Eli noch nicht gekannt, den Victor erst im zweiten Jahr – gutes Karma und so weiter – zum Essen mitgebracht hatte.

Scheiß Karma, dachte er jetzt, als Angie zu ihrem Platz zurückschwebte.

Eli holte sich eine Suppe und Victor was Chinesisches, und sie saßen zu dritt im lauter werdenden Speisesaal, aßen und unterhielten sich über Belanglosigkeiten, obwohl Victor nur zu gern herausgefunden hätte, warum zum Teufel Eli seine Abschlussarbeit über EOs schreiben wollte. Aber er wusste es besser, als ihn vor Angie auszufragen. Angie Knight war eine Naturgewalt mit langen Beinen und einer schier unersättlichen Neugier. Sie war gerade erst zwanzig und wurde von den besten Unis umworben, seit sie Auto fahren konnte. Sie hatte ein Dutzend Visitenkarten erhalten, gefolgt von einem Dutzend Angeboten, und trotzdem war sie hier in Lockland. Vor kurzem hatte sie ein Angebot von einem Ingenieurbüro angenommen. Nach dem Abschluss würde sie die jüngste – und vermutlich auch intelligenteste – Angestellte des Unternehmens sein. Und das, obwohl sie noch nicht mal Alkohol trinken durfte.

So wie die anderen Studenten Eli bei der Vorstellung seines Themas angeschaut hatten, würde Angie aber sowieso bald davon erfahren.

Schließlich läutete nach einem Mittagessen voller Gesprächspausen und warnender Blicke von Eli die Glocke, und Angie ging zum nächsten Kurs. Eigentlich hätte sie jetzt freigehabt, aber sie hatte sich für ein zusätzliches Wahlpflichtfach eingeschrieben. Eli und Victor schauten ihrer hüpfenden roten Lockenmähne hinterher, während sie fröhlich davoneilte, als ginge es zum Kaffeetrinken und nicht zu einem Seminar über forensische Chemie oder mechanische Wirkungsgrade oder was immer sie sich diesmal als Spaßprojekt ausgesucht hatte.

Vielmehr schaute Eli ihr hinterher, während Victor Eli beobachtete und sein Magen sich zusammenzog. Nicht nur hatte Eli ihm Angie weggenommen – was schlimm genug war –, sondern irgendwie hatte Angie ihm auch Eli weggenommen. Jedenfalls den interessanten Eli. Nicht den mit den makellosen Zähnen und dem unbefangenen Lächeln, sondern den darunter, der glitzernd und scharf war wie zerbrochenes Glas. In den gezackten Stücken sah Victor etwas, das ihm vertraut war. Etwas Gefährliches, Hungriges. Wenn Eli mit Angie zusammen war, traute sich dieser Teil nie hervor. Er war ein mustergültiger Freund, fürsorglich, aufmerksam und langweilig. Jetzt, nachdem Angie gegangen war, suchte Victor nach einem Lebenszeichen davon.

Eine Zeitlang herrschte Schweigen, während sich der Speisesaal leerte, dann verlor Victor die Geduld und trat Eli unter dem Holztisch gegen’s Schienbein. Der blickte träge von seinem Essen hoch.

»Was?«

»Warum EOs?«

Ganz langsam begann sich Elis Gesicht zu öffnen, und Victor verspürte Erleichterung, als sich das dunklere Ich seines Freundes zu erkennen gab.

»Glaubst du daran, dass es sie gibt?«, fragte Eli und rührte Muster in seine Suppenreste.

Victor zögerte und kaute auf einem Stück Hühnchen herum. EOs. ExtraOrdinäre. Er hatte von ihnen gehört, so wie man auch von anderen außergewöhnlichen Phänomenen zwangsläufig etwas mitbekam, auf Webseiten von Spinnern und in nächtlichen Fernsehsendungen, in denen dubiose »Experten« unscharfe Videos analysierten. Ein Mann, der ein Auto hochhob, oder eine Frau, die in Feuer gehüllt war, ohne selbst zu verbrennen. Von EOs zu hören oder an sie zu glauben waren zwei verschiedene Dinge, und an Elis Tonfall konnte er nicht ablesen, zu welchem Lager sein Freund gehörte. Und auch nicht, zu welchem Lager Victor Elis Meinung nach gehören sollte, was die Antwort um einiges schwerer machte.

»Und?«, hakte Eli nach. »Glaubst du an sie?«

»Ich weiß nicht, ob das was mit Glauben zu tun hat …«, antwortete Victor wahrheitsgemäß.

»Mit dem Glauben fängt alles an«, gab Eli zurück.

Victor zuckte innerlich zusammen. Elis Religiosität passte schlecht zu seinem Bild von ihm. Victor gab sich große Mühe, darüber hinwegzusehen, aber in ihren Gesprächen sorgte sie immer wieder für Irritationen. Eli spürte wohl sein Unbehagen.

»Dann eben mit dem Nachdenken«, lenkte er ein. »Hast du schon mal darüber nachgedacht?«

Victor dachte über vieles nach. Über sich selbst (ob mit ihm etwas nicht stimmte oder ob er etwas Besonderes war, etwas Besseres oder Schlimmeres) und über andere Menschen (ob sie wirklich so dumm waren, wie es den Anschein hatte). Er dachte auch über Angie nach. Was würde geschehen, wenn er ihr seine Gefühle gestand? Wie wäre es, wenn sie sich für ihn entschied? Er dachte über das Leben nach, über die Menschen, über Wissenschaft und Magie und über Gott und ob er an etwas davon glauben konnte.

»Ja«, sagte er langsam.

»Aber wenn man über etwas nachdenkt«, sagte Eli, »heißt das nicht auch, dass man irgendwie daran glauben will? Ich denke, wir wollen im Leben viel eher die Existenz von etwas beweisen als andersherum. Wir wollen glauben.«

»Und du willst an Superhelden glauben.« Victor bemühte sich, seine Stimme neutral zu halten, aber das Lächeln, das sich in seine Mundwinkel schlich, konnte er nicht ganz unterdrücken. Er hoffte, Eli würde nicht beleidigt sein und es nicht als Spott auffassen. Doch Elis Gesicht verfinsterte sich.

»Ja, okay, es ist Blödsinn. Du hast mich erwischt. Die Abschlussarbeit geht mir am Arsch vorbei. Ich wollte bloß sehen, ob Lyne sich auf so was einlässt«, sagte er mit einem hohlen Lächeln und stand vom Tisch auf. »Das ist alles.«

»Warte«, sagte Victor. »Das ist nicht alles.«

»Doch.«

Eli drehte sich um, brachte sein Tablett weg und verließ den Speisesaal, bevor Victor noch etwas sagen konnte.

 

Victor trug immer einen Sharpie in der Hosentasche bei sich.

Während er die Bibliotheksregale entlangging, um nach Büchern für seine Abschlussarbeit zu suchen, juckte es ihn in den Fingern, ihn herauszuholen. Sein misslungenes Gespräch mit Eli hatte ihn aufgewühlt, und er sehnte sich nach der inneren Ruhe, dem Frieden, den er nur empfand, wenn er die Worte anderer Leute auslöschte. In der Medizinischen Abteilung nahm er sich ein Buch über das menschliche Nervensystem aus dem Regal. Eins über Psychologie hatte er schon. Nachdem er sich noch ein paar kürzere Abhandlungen über die Nebenniere und Impulskontrolle geschnappt hatte, ging er zum Ausleihtresen. Die von seinen Kunstprojekten dauerhaft beschmierten Finger verbarg er sorgsam in den Hosentaschen oder unter der Theke, während die Bibliothekarin die Bücher durchsah. Seit er in Lockland war, hatte es ein paar Beschwerden gegeben, dass Bücher »mutwillig beschädigt«, wenn nicht gar »zerstört« worden waren. Die Bibliothekarin sah ihn über den Bücherstapel hinweg an, als seien ihm seine Verbrechen auf die Stirn geschrieben, bevor sie endlich die Bücher einscannte und ihm zurückreichte.

In dem Wohnheim-Apartment, das er sich mit Eli teilte, packte Victor seine Tasche aus. Das Selbsthilfebuch mit seinen Streichungen schob er in ein niedriges Regal in seinem Zimmer, wo schon zwei andere standen, die er ausgeliehen und bearbeitet hatte und die er zu seiner Erleichterung noch nicht wieder abgeben musste. Die Bücher über Adrenalin legte er auf seinen Schreibtisch. Er hörte die Eingangstür klappern und ging ins Wohnzimmer, wo Eli es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Auf dem hölzernen Kaffeetisch vor ihm lag ein Stapel Bücher und zusammengehefteter Ausdrucke, aber als Eli Victor hereinkommen hörte, griff er stattdessen nach einer Zeitschrift und blätterte scheinbar gelangweilt darin. Die Bücher auf dem Tisch hatten Themen wie Hirnfunktionen unter Stress oder neuronale Grundlagen des menschlichen Willens. Auch ein paar Werke über Anatomie und psychosomatische Reaktionen waren darunter. Bei den Ausdrucken sah es anders aus. Victor nahm sich einen, ließ sich auf einen Sessel sinken und las ihn. Eli runzelte die Stirn, hinderte ihn aber nicht daran. Die Ausdrucke stammten von Webseiten, Foren und Chats. Alles keine zulässigen Quellen.

»Sag mir die Wahrheit«, forderte Victor und warf die Ausdrucke wieder auf den Tisch.

»Worüber?«, fragte Eli geistesabwesend. Victor starrte ihn an, bis Eli die Zeitschrift weglegte, sich ihm zuwandte und, in einer Imitation von Victors Körperhaltung, die Füße auf den Boden setzte. »Weil ich glaube, dass es sie vielleicht wirklich gibt«, sagte er. »Vielleicht«, betonte er. »Aber ich bin bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«

Die Aufrichtigkeit in der Stimme seines Freundes überraschte Victor.

»Sprich weiter«, sagte er und setzte sein bestes Vertrau-mir-Gesicht auf.

Eli fuhr mit dem Finger über den Bücherstapel. »Also, pass auf. In den Comics gibt es meist zwei Wege, wie Helden entstehen: durch Veranlagung oder durch Umwelteinflüsse. Superman wurde mit seinen Kräften geboren, Spider-Man dagegen wurde zum Superhelden gemacht. Verstehst du?«

»Ja.«

»Schaut man sich nur mal oberflächlich im Netz über EOs um«, er deutete auf die Ausdrucke, »dann findet man dort dieselbe Unterteilung. Manche Leute behaupten, EOs werden mit besonderen Fähigkeiten geboren, andere sehen die Ursache in radioaktivem Schleim, giftigen Insekten oder einfach im Zufall. Mal angenommen, es gelingt mir, einen EO zu finden. Ich hätte also den Beweis, dass sie existieren. Dann stellt sich die Frage, woher kommen sie? Werden sie so geboren? Oder entstehen sie auf andere Weise?«

Wenn Eli über EOs sprach, begannen seine Augen zu funkeln, und die Veränderung seiner Stimmlage – tiefer, eindringlicher – passte zum nervösen Zucken seiner Gesichtsmuskeln, während er sich bemühte, seine Aufregung zu verbergen. Der Eifer und die Begeisterung waren ihm an den Mundwinkeln und dem energischen Vorschieben seines Kinns anzusehen. Victor beobachtete seinen Freund fasziniert. Er selbst konnte die meisten Empfindungen nachahmen und als echt verkaufen, eine solche … Inbrunst hätte er jedoch nicht vortäuschen können. Er versuchte es nicht einmal. Stattdessen blieb er ruhig und lauschte mit aufmerksamer Miene, damit Eli nicht den Mut verlor und sich zurückzog.

Denn das wollte Victor auf keinen Fall. Er hatte fast zwei Jahre gebraucht, um Elis charmante Oberfläche zu durchdringen und das aufzuspüren, was – wie Victor immer gewusst hatte – darunter lauerte. Und hier am Kaffeetisch, mit den Ausdrucken von Webseiten, die von Leuten betrieben wurden, die noch im Keller ihres Elternhauses wohnten, schien es, als hätte Eliot Cardale Gott gefunden. Oder besser noch, als hätte er Gott gefunden und wollte es für sich behalten, schaffte es aber nicht. Die Erkenntnis strahlte wie Licht durch seine Haut.

»Na gut«, sagte Victor langsam. »Nehmen wir mal an, EOs existieren wirklich. Dann willst du also herausfinden, wie sie entstehen.«

Eli schenkte ihm ein Lächeln, um das ihn jeder Sektenguru beneidet hätte. »Du hast es erfasst.«

VLetzte Nacht

Merit, Friedhof

Tschuk.

Tschuk.

»Wie lange warst du eigentlich im Gefängnis?«, fragte Sydney, um die Stille zu füllen. Die Grabgeräusche und Victors Summen zerrten an ihren Nerven.

»Zu lange«, antwortete Victor.

Tschuk.

Tschuk.

Ihre Finger schmerzten vom Schaufeln. »Und dort bist du Mitch begegnet?«

Mitch – mit vollem Namen Mitchell Turner – war der massige Kerl, der im Hotelzimmer auf sie wartete. Nicht weil er, wie er mehrfach und mit Nachdruck betont hatte, Friedhöfe nicht mochte. Sondern weil jemand bei Dol bleiben musste und es so viel zu erledigen gab. Eine Menge Arbeit. Die nichts mit Leichen zu tun hatte.

Sydney lächelte, als sie daran dachte, wie er nach Ausflüchten gesucht hatte. Der Gedanke an Mitch, der etwa so groß war wie ein Kleinwagen und vermutlich mühelos einen in die Luft stemmen konnte und der sich trotzdem vor ein paar Toten fürchtete, hob ihre Stimmung.

»Wir waren Zellengenossen«, sagte Victor. »Im Gefängnis gibt es eine Menge übler Leute, Syd, und nur wenige anständige. Mitch war so einer.«

Tschuk.

Tschuk.

»Und du? Gehörst du zur üblen Sorte?«, fragte Sydney. Sie war sich nicht sicher, ob die Antwort eine Rolle spielte, aber sie wollte es trotzdem wissen.

»Manch einer würde es so sehen«, sagte Victor.

Tschuk.

Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet. »Ich glaube nicht, dass du ein schlechter Mensch bist, Victor.«

Victor schaufelte weiter. »Es ist alles eine Frage der Perspektive.«

Tschuk.

»Das Gefängnis. Haben sie … haben sie dich entlassen?«, fragte sie leise.

Tschuk.

Victor ließ die Schaufel im Boden stecken und schaute hoch. Dann lächelte er, wie er es oft tat, bevor er log, und sagte: »Natürlich.«

VIEine Woche vorher

Strafanstalt Wrighton

Das Gefängnis war gar nicht so schlimm. Es hatte sogar sein Gutes. Nämlich Zeit.

In fünf Jahren Isolationshaft hatte Victor eine Menge Zeit zum Nachdenken. Und in vier Jahren Integration (dank Budgetkürzungen und dem fehlenden Beweis, dass Vale tatsächlich gestört war) viel Zeit zum Üben. Außerdem 463 Insassen, an denen er üben konnte.

Die letzten sieben Monate hatte er dazu genutzt, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten.

»Wusstest du«, sagte Victor und blätterte in einem Anatomiebuch aus der Gefängnisbibliothek (in seinen Augen war es fahrlässig, Gefängnisinsassen über die genaue Lage der lebenswichtigen Organe aufzuklären, aber nun ja), »dass jemand, der keine Angst vor Schmerzen mehr hat, auch die Angst vor dem Tod verliert? Er hält sich für unsterblich. Wie lautet der Spruch? Wir sind alle unsterblich, bis uns das Gegenteil bewiesen wird?«

»Kann sein«, sagte Mitch zerstreut.

Mitch war Victors Zellengenosse in der Bundesstrafanstalt Wrighton. Victor mochte Mitch, zum einen, weil er sich nicht für Gefängnispolitik interessierte, und zum anderen, weil er unheimlich schlau war. Wegen seiner Größe merkten das die meisten Leute nicht, aber Victor sah sein Talent und machte es sich zunutze. Zum Beispiel versuchte Mitch gerade, mit einem Kaugummipapier, einer Zigarette und einem kurzen Draht, den Victor ihm vor drei Tagen besorgt hatte, eine Sicherheitskamera kurzzuschließen.

»Geschafft«, sagte Mitch kurz darauf, als Victor gerade im Kapitel über das Nervensystem angekommen war. Victor legte das Buch beiseite und dehnte seine Finger, während ein Wachmann den Gang hinunterkam.

»Sollen wir?«, fragte er. Die Luft begann zu summen.

Mitch schaute sich noch einmal in der Zelle um und nickte dann. »Nach dir.«

VIIZwei Tage vorher

Unterwegs

Der Regen traf in Wellen auf den Wagen. Es schüttete so stark, dass die Scheibenwischer nicht hinterherkamen und das Wasser nur hin- und herschoben, aber Mitch und Victor beschwerten sich nicht. Immerhin war der Wagen gestohlen. Und offensichtlich hatten sie ihre Sache gut gemacht; sie waren schon fast eine Woche unbehelligt damit unterwegs, seit sie ihn sich auf einem Rastplatz ein paar Kilometer vom Gefängnis entfernt unter den Nagel gerissen hatten.

Sie kamen an einem Schild vorbei, auf dem stand: MERIT – 34 KM.

Mitch saß am Steuer, und Victor starrte durch den Regen auf die Welt, die draußen vorbeiraste. Es kam ihm so schnell vor. Nach zehn Jahren in einer Zelle kam einem alles schnell vor. Und befreiend. Die ersten paar Tage waren sie einfach nur umhergefahren; die Lust an der Bewegung war stärker gewesen als der Wunsch nach einem Ziel. Victor hatte nicht gewusst, wohin sie fahren sollten. Er hatte sich noch nicht entschieden, wo er mit der Suche beginnen wollte. Zehn Jahre waren genug Zeit, um einen Gefängnisausbruch bis ins kleinste Detail zu planen. Innerhalb einer Stunde hatte er neue Kleider gehabt und einen Tag später Geld, aber dann war eine Woche vergangen, und er war sich immer noch nicht sicher gewesen, wo genau er nach Eli suchen sollte.

Bis zu diesem Morgen.

An einer Tankstelle hatte er The National Mark mitgenommen, eine landesweit vertriebene Zeitung, und sie geistesabwesend durchgeblättert, und dann hatte ihn das Schicksal angelächelt. Oder jedenfalls ein Mann auf einem Foto neben einem Artikel mit der Überschrift:

Mutiger Held rettet Bank

Die Bank befand sich in Merit, einer großen Stadt auf halbem Wege zwischen Wrightons Stacheldrahtmauern und Locklands gusseisernen Zäunen. Er und Mitch waren nur deshalb dorthin gefahren, weil sie irgendein Ziel brauchten. Eine Stadt voller Menschen, die Victor helfen würden, ob sie wollten oder nicht. Eine vielversprechende Stadt, dachte er und nahm die Zeitungsseite in die Hand.

Er hatte die ganze Ausgabe gekauft, aber nur diese Seite behalten, die er jetzt beinahe ehrfürchtig in seinen Ordner steckte. Es war ein Anfang.

Victor schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück, während Mitch weiterfuhr.

Wo bist du, Eli?, dachte er.

Wo bist du wo bist du wo bist du wo bist du?

Die Frage hallte in seinem Kopf nach. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatte er sie sich jeden Tag gestellt. Manchmal nur nebenbei, aber manchmal auch mit einer solchen Intensität, dass es weh tat. Diesen Schmerz spürte er deutlich, und das war immerhin etwas. Sein Körper schmiegte sich an den Sitz, während draußen die Welt vorbeiglitt. Sie hatten nicht den Freeway genommen – welcher frisch geflohene Sträfling war schon so dumm? –, aber die Höchstgeschwindigkeit auf dem zweispurigen Highway war auch mehr als ausreichend. Alles ist besser, als stillzustehen, dachte er, während sein Blick in die Ferne ging.

Eine Weile später fuhr der Wagen durch ein kleines Schlagloch, und die Erschütterung riss Victor aus seinem Tagtraum. Blinzelnd betrachtete er die vorbeihuschenden Bäume am Straßenrand. Er kurbelte das Fenster halb hinunter, um den Fahrtwind zu spüren, trotz Mitchs Beschwerde, dass es reinregnete. Das Wasser auf den Sitzen war ihm egal. Er musste ihn einfach spüren. Es dämmerte bereits, und im letzten Tageslicht nahm Victor am Straßenrand einen Umriss wahr. Er war klein und stapfte mit gebeugtem Kopf und verschränkten Armen den schmalen Seitenstreifen der Schnellstraße entlang. Der Wagen fuhr daran vorbei, bevor Victor etwas sagen konnte.

»Mitch, kehr um.«

»Warum?«

Victor richtete seine Aufmerksamkeit auf den massigen Mann am Steuer. »Tu es einfach.«

Diesmal gehorchte Mitch. Er legte den Rückwärtsgang ein, die Reifen rutschten über den nassen Asphalt. Wieder kamen sie an der Gestalt vorbei, aber diesmal fuhren sie rückwärts. Mitch schaltete in den Vorwärtsgang, und sie näherten sich ihr langsam von hinten. Victor kurbelte das Fenster ganz hinunter, der Regen prasselte herein.

»Alles in Ordnung?«, rief er.

Keine Antwort. Am Rand seiner Wahrnehmung spürte Victor ein Prickeln, ein leichtes Summen. Schmerz. Aber nicht seiner.

»Halt an«, sagte er, und dieses Mal bremste Mitch sogar ein bisschen zu schnell. Victor stieg aus, zog den Reißverschluss seines Mantels hoch und ging neben der fremden Gestalt her. Er war gut zwei Köpfe größer.

»Du bist verletzt«, sagte er zu dem Bündel aus nassen Kleidern. Es waren weniger die verschränkten Arme, die das verrieten, oder der Fleck am Ärmel, der noch dunkler war als der Regen, oder die Tatsache, dass die Gestalt rasch zurückwich, als er eine Hand nach ihr ausstreckte. Victor roch Schmerz, so wie ein Wolf Blut roch. Er hatte einen Sinn dafür.

»Bleib stehen«, sagte er, und diesmal hielt die Gestalt inne. Der Regen fiel stetig und kalt. »Steig ein.«

Da sah die Gestalt zu ihm hoch, und die nasse Kapuze ihres Mantels rutschte ihr auf die schmalen Schultern. Wasserblaue Augen, mit verschmiertem Eyeliner umrandet, schauten ihn aus einem jungen Gesicht grimmig an. Victor kannte sich mit Schmerzen zu gut aus, um sich von dem trotzigen Blick und den zusammengepressten Lippen täuschen zu lassen. An ihren Wangen klebten nasse blonde Locken. Sie war höchstens zwölf, vielleicht auch dreizehn Jahre alt.

»Komm«, drängte er und deutete auf den Wagen neben ihnen.

Das Mädchen starrte ihn nur an.

»Was soll schon passieren?«, sagte er. »Schlimmer als das, was du durchgemacht hast, kann es wohl kaum noch werden.«

Als sie sich immer noch nicht rührte, seufzte er und deutete auf ihren Arm.

»Lass mich mal sehen.« Er streckte die Hand aus und strich mit den Fingern über ihre Jacke. Um seine Hand herum knisterte wie stets die Luft, und das Mädchen stieß einen kaum hörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Sie rieb über ihren Ärmel.

»Hey, hör auf«, warnte er sie und stieß ihre Hand von der Wunde weg. »Das ist noch nicht verheilt.«

Sie musterte seine Hand und ihren Ärmel.

»Ich friere«, sagte sie.

»Ich heiße Victor«, erwiderte er, und sie schenkte ihm ein kleines, erschöpftes Lächeln. »Also, was meinst du? Wollen wir aus dem Regen raus?«

VIIILetzte Nacht

Merit, Friedhof

»Du bist kein schlechter Mensch«, wiederholte Sydney und schaufelte Erde auf das mondbeschienene Gras. »Aber Eli ist einer.«

»Ja. Eli ist einer.«

»Er ist aber nicht ins Gefängnis gekommen.«

»Nein.«

»Denkst du, er wird die Botschaft verstehen?«, fragte sie und deutete auf das Grab.

»Ziemlich sicher«, sagte Victor. »Und wenn nicht, dann auf jeden Fall deine Schwester.«

Bei dem Gedanken an Serena verkrampfte sich Sydneys Magen. In ihrer Vorstellung war ihre große Schwester zwei Menschen, zwei Bilder, die einander überlappten. Wenn sie daran dachte, wurde ihr ganz schwindelig.

Da war die Serena vor dem See. Die Serena, die an dem Tag, als sie ans College ging, vor Sydney auf dem Boden kniete – sie wussten beide, dass sie Sydney in dem vergifteten, leeren Haus allein zurückließ – und ihr mit dem Daumen die Tränen von den Wangen wischte. Ich bin ja nicht aus der Welt, hatte sie immer wieder gesagt.

Und dann war da die Serena nach dem See. Die mit den kalten Augen und dem leeren Lächeln, die Dinge nur durch Worte bewirken konnte. Und die Sydney auf eine Wiese lockte, wo eine Leiche lag, und sie bat, ihren Trick vorzuführen, und dann ganz still und traurig wurde, als Sydney ihr den Wunsch erfüllte. Die ihr den Rücken zukehrte, als ihr Freund seine Waffe hob.

»Ich will Serena nicht sehen«, sagte Sydney.

»Ich weiß«, erwiderte Victor. »Aber ich will Eli sehen.«

»Warum?«, fragte sie. »Du kannst ihn nicht töten.«

»Vielleicht nicht.« Seine Finger umklammerten den Schaufelgriff. »Aber schon der Versuch ist der halbe Spaß.«

IXZehn Jahre vorher

Lockland University

Als Eli Victor ein paar Tage vor Beginn des Frühjahrssemesters vom Flughafen abholte, lag ein Lächeln auf seinen Zügen, das Victor nervös machte. Eli hatte so viele verschiedene Arten von Lächeln in petto, wie es Eissorten gab, und dieses hier bedeutete, dass er ein Geheimnis hatte. Eigentlich hätte es Victor egal sein können, war es aber nicht. Was er sich jedoch nicht anmerken lassen wollte.

Eli hatte die gesamten Ferien auf dem Campus verbracht, um für seine Abschlussarbeit zu forschen. Angie hatte sich beklagt, weil sie mit ihm wegfahren wollte. Wie Victor vorausgesehen hatte, hielt Angie nichts von Elis Abschlussarbeit, weder vom Thema noch von der vielen Zeit, die er damit verbrachte. Eli behauptete, er sei nur in den Ferien auf dem Campus geblieben, um Professor Lyne zu besänftigen und ihm zu beweisen, dass er die Arbeit ernst nahm. Victor ging das gegen den Strich, weil Eli dadurch einen Vorsprung hatte. Sein eigener Antrag, ebenfalls in den Ferien auf dem Campus bleiben zu dürfen, war abgelehnt worden. Es war ihm nicht leichtgefallen, seinen Ärger herunterzuschlucken. Aber irgendwie war es ihm gelungen, nur mit den Schultern zu zucken und zu lächeln. Eli versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten, sollte er auf ihrem – er hatte ihrem gesagt, nicht seinem, was Victor etwas beschwichtigt hatte – Interessengebiet Fortschritte machen. Während der Ferien hatte Victor nichts von ihm gehört. Dann, ein paar Tage vor seinem Flug, hatte Eli angerufen und gesagt, er hätte etwas entdeckt. Genaueres wolle er ihm aber erst nach seiner Rückkehr verraten.

Victor hatte einen früheren Flug buchen wollen (er konnte es kaum erwarten, der Gesellschaft seiner Eltern zu entkommen, die darauf bestanden hatten, mit ihm gemeinsam Weihnachten zu feiern, nur um ihn dann täglich daran zu erinnern, was für ein Opfer sie brachten, weil die Feiertage die beste Zeit für Lesereisen waren), aber er wollte auch nicht zu eifrig erscheinen. Deshalb war er bis zum Ende der Ferien geblieben und hatte fleißig an seinem eigenen Thema gearbeitet, das im Vergleich zu Elis trivial wirkte – schon weil es bereits jede Menge Untersuchungen dazu gab. Eine echte Herausforderung war das für ihn nicht. Er kaute alles nur noch einmal durch. Seine Arbeit war kompetent strukturiert und elegant formuliert, aber voller uninspirierter und langweiliger Hypothesen, wie Victor fand. Lyne hatte die Gliederung als solide bezeichnet und als vielversprechenden Anfang. Aber Victor wollte nichts Solides produzieren, während Eli etwas Spektakuläres zustande brachte.

Als er schließlich in Elis Auto stieg, trommelten seine Finger bereits aufgeregt auf den Knien. Er streckte sich, um sie zur Ruhe zu bringen, aber sobald er sie wieder auf die Knie legte, trommelten sie unruhig weiter. Während des Fluges hatte er sich die ganze Zeit eingeredet, dass ihm die Sache gleichgültig war, damit er Eli nicht gleich mit einem Erzähl’s mir begrüßte, aber jetzt, da sie tatsächlich zusammen waren, schwand seine Beherrschung.

»Und?«, fragte er und versuchte vergeblich, gelangweilt zu klingen. »Was hast du herausgefunden?«

Eli packte das Lenkrad fester.

»Trauma.«

»Was ist damit?«

»Es ist das Einzige, was alle Fälle von EOs, die einigermaßen gut dokumentiert sind, gemeinsam haben. Unter Stress reagiert der Körper auf die seltsamste Weise. Adrenalin und so, das weißt du ja. Da kam mir der Gedanke, ein Trauma könnte vielleicht dazu führen, dass sich der Körper chemisch verändert.« Er begann, schneller zu sprechen. »Das Problem ist aber: Trauma ist so ein vager Begriff, nicht wahr? Es ist wie eine Decke, aus der ich einen einzelnen Faden isolieren musste. Jeden Tag werden Millionen Menschen traumatisiert. Emotional, körperlich und was nicht alles. Wenn nur ein Bruchteil von ihnen sich in ExtraOrdinäre verwandelt, wäre das ein messbarer Prozentsatz der menschlichen Bevölkerung. Und dann wären EOs mehr als nur ein Wort in Anführungszeichen, mehr als eine reine Hypothese. Sie wären eine Tatsache. Es muss also irgendwas Spezielles dahinterstecken.«

»Eine spezielle Art von Trauma? Wie etwa ein Autounfall?«, fragte Victor.

»Ja, genau. Nur dass ich keinen gemeinsamen Nenner ausmachen konnte. Keine offensichtliche Formel. Keine Parameter. Jedenfalls nicht am Anfang.«

Eli ließ seine Worte in der Luft hängen. Victor schaltete das Radio aus. Eli hüpfte förmlich auf seinem Sitz auf und ab.

»Aber?«, hakte Victor nach, verärgert, dass es ihm nicht gelang, sein Interesse zu verbergen.

»Aber ich habe weiter nachgeforscht«, sagte Eli. »Und bei den wenigen Fallstudien, die ich finden konnte – inoffizielle natürlich, die scheißschwer aufzutreiben waren –, hatten die Leute nicht einfach nur ein Trauma erlitten, Vic. Sie waren gestorben. Ich habe es nicht gleich begriffen, weil in neun von zehn Fällen eine NTE nicht als solche bezeichnet wird. Den meisten Betroffenen ist nicht einmal bewusst, dass sie eine NTE hatten.«

»NTE?«

Eli sah zu Victor hinüber. »Nahtoderfahrung. Was wäre, wenn EOs nun nicht bei irgendeinem beliebigen Trauma entstehen, sondern bei dem schlimmsten körperlichen und psychischen Trauma, das es gibt? Dem Tod. Überleg mal, eine körperliche oder psychische Reaktion allein könnte die Verwandlung, über die wir hier reden, nicht auslösen. Es wären gewaltige Mengen Adrenalin und Furcht nötig. Und ein klares Bewusstsein davon, was gerade geschieht. Wir reden hier von der Kraft des Willens, dem Sieg des Geistes über die Materie, wobei beides gleichermaßen beteiligt ist. Körper und Geist reagieren auf den bevorstehenden Tod, und wenn beide stark genug sind – und ich meine, wirklich stark durch genetische Veranlagung und Überlebenswillen –, dann könnte daraus vielleicht ein EO entstehen.«

Victor schwirrte der Kopf.

Er ballte die Finger zur Faust.

Elis Theorie ergab Sinn.

Und nicht nur das: Sie war einfach und elegant, was Victor besonders ärgerte. Er hätte es als Erster sehen und eine Hypothese aufstellen müssen. Schließlich war Adrenalin sein Forschungsthema. Der einzige Unterschied war, dass er sich mit temporären Zuständen befasste, während Eli über eine dauerhafte Veränderung sprach. Wut flammte in ihm auf, aber Wut war unproduktiv, weshalb er sie lieber in Kritik umwandelte und nach Fehlern suchte.

»Sag was, Vic.«

Victor runzelte die Stirn und mühte sich, jede Spur von Enthusiasmus aus seiner Stimme zu verbannen.

»Du hast zwei bekannte Faktoren, Eli, aber wer weiß wie viele unbekannte. Selbst wenn du mit einiger Gewissheit sagen kannst, eine NTE und ein starker Überlebenswille seien notwendige Komponenten, denk nur mal, wie viele andere Faktoren es geben könnte. Womöglich bräuchte es noch ein Dutzend weiterer Punkte auf der Checkliste, um einen Menschen zum ExtraOrdinären zu machen. Und die beiden Komponenten, auf die du gestoßen bist, sind viel zu vage. Der Begriff genetische Veranlagung allein umfasst Hunderte Merkmale, von denen jedes einzelne oder alle zusammen eine Rolle spielen könnten. Sind spezielle chemische Werte nötig oder besonders geeignete Drüsen? Ist der körperliche Zustand entscheidend oder allein die Fähigkeit des Körpers, auf Veränderungen zu reagieren? Und was den Geist betrifft, wie kann man psychologische Faktoren überhaupt messen? Was macht einen starken Willen aus? Rein philosophisch betrachtet ist das eine ziemlich komplizierte Geschichte. Und dann ist da noch das Element des Zufalls.«

»Ich bestreite ja nicht, dass all das eine Rolle spielen könnte«, sagte Eli sichtlich geknickt, während er auf den Parkplatz fuhr. »Es handelt sich um eine additive Theorie, nicht um eine deduktive. Können wir nicht einfach die Tatsache feiern, dass ich möglicherweise eine entscheidende Entdeckung gemacht habe? EOs entstehen bei einer NTE. Ich finde das verdammt cool.«

»Aber es reicht nicht«, sagte Victor.

»Wieso nicht?«, blaffte Eli. »Es ist ein Anfang. Das ist immerhin etwas. Jede Theorie braucht einen Anfang, Vic. Die