Vielfalt achten - Andreas Hetzel - E-Book

Vielfalt achten E-Book

Andreas Hetzel

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Beschreibung

Das Leben hat sich auf unserem Planeten zu einer unermesslichen Fülle von Formen ausdifferenziert, die in komplexen Weisen interagieren. Durch die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt bedrohen wir das Wunder der globalen Biodiversität in seinem Fortbestand. Dabei verdrängen wir, dass auch die Menschheit weiter von der Produktivität jener Ökosysteme abhängig bleibt, zu denen sich das Leben evolutionär organisiert hat. Doch wie lässt sich überzeugend für den Erhalt von Biodiversität argumentieren? Sind Arten und Ökosysteme nur als Voraussetzungen gelingenden menschlichen Lebens schützenswert? Oder haben sie darüber hinaus einen von uns unabhängigen Eigenwert? Andreas Hetzel gibt philosophisch fundierte Antworten auf diese Fragen und diskutiert konkrete Möglichkeiten des Biodiversitätsschutzes.

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Seitenzahl: 710

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Editorial

Die Edition transcript versammelt anspruchsvolle Monographien aus den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Nach wie vor gilt die Monographie in diesen Disziplinen als via regia der Publikation, ist aber vor allem infolge wissenschaftspolitischer Veränderungen im Rückgang begriffen. Dieser problematischen Entwicklung begegnet die Edition transcript durch eine Neubelebung des zugleich anspruchsvollen und erschwinglichen monographischen Buches.

Der disziplinenübergreifende Ansatz der Reihe befördert nicht nur den Austausch zwischen den Disziplinen, sondern erzeugt eine editorische Verdichtung des Mediums Monographie, die ihre besonderen Qualitäten akzentuiert.

Ein wissenschaftlicher Beirat der Reihe und eine hohe Qualitätskontrolle verbürgen die Ausgewähltheit der Beiträge der Edition.

Andreas Hetzel (Prof. Dr. phil.), geb. 1965, ist Professor für Philosophie an der Stiftung Universität Hildesheim. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politische Philosophie (Diskurse radikaler Demokratie), Sozialphilosophie der Moderne (Theorien der Macht), Ästhetik (ästhetische Praktiken), Sprachphilosophie (Pragmatik und klassische Rhetorik) sowie Umweltethik (Antworten auf die Biodiversitätskrise).

Andreas Hetzel

Vielfalt achten

Eine Ethik der Biodiversität

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Lio Dohmen, Berlin

Druck: Elanders Waiblingen GmbH, Waiblingen

https://doi.org/10.14361/9783839429853

Print-ISBN: 978-3-8376-2985-9

PDF-ISBN: 978-3-8394-2985-3

EPUB-ISBN: 978-3-7328-2985-9

Buchreihen-ISSN: 2626-580X

Buchreihen-eISSN: 2702-9077

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Siehst du nicht die Pflanzen, die Vögel, die Ameisen, die Spinnen, die das ihnen zugedachte Werk verrichten und für ihren Teil den Kosmos mitgestalten?Marc Aurel

Inhalt

Einleitung

1.Käfer an Flussufern

2.Im Anthropozän

3.Gefährdete Vielfalt

4.Gesichter der Biodiversität

5.Land als biotische Gemeinschaft

6.Naturbegriffe und Naturverhältnisse

7.Tiere und Menschen

8.Grenzen anthropozentrischer Umweltethiken

9.Intrinsische Werte

10Nichtwissen

11.Evolution

12.Insektensterben

13.Eine Ethik der Achtung

14.Konviviale Lebensformen

Dank

Literatur

Einleitung

Die Welt, die wir bewohnen, ist reichhaltiger, als es unsere kühnste Vorstellungskraft zulässt.Paul K. Feyerabend

Wenn wir danach fragen, was Leben als Leben wesentlich ausmacht, denken wir zunächst an das Vermögen von Organismen, Stoffwechsel zu betreiben, auf eine Umwelt zu reagieren, sich zu bewegen und sich fortzupflanzen. Bereits in der Antike, etwa in den naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles, wird Leben über ein Zusammenspiel dieser Fähigkeiten charakterisiert. Eines der erstaunlichsten seiner Merkmale gerät allerdings erst in den Blick, wenn wir mit der modernen Evolutionstheorie und Ökologie über die Ebene individueller Organismen hinausgehen: Das Leben hat sich im Laufe seiner Geschichte zu einer unermesslichen Fülle von Formen ausdifferenziert, die in komplexen Weisen miteinander interagieren. Diese Vielfalt des Lebens ist mehr als eine bloße Vielzahl äußerlich unterscheidbarer Arten. Vielfalt manifestiert sich in den Mustern der Interaktionen, mit denen sich die Individuen einzelner Arten auf Individuen anderer Arten beziehen. Die immer feinkörnigere Nutzung eines durch andere Arten definierten Milieus führt zu Spezialisierungen, die wiederum weitere Möglichkeiten der Interaktion mit sich bringen.

In Lehrbüchern der Evolutionstheorie wird die Entwicklung des Lebens häufig als Baum veranschaulicht, der sich zu seiner Krone hin verzweigt. Die feinsten Zweige dieses Baumes wären dann die aktuell existierenden biologischen Arten, reproduktiv isolierte Gruppen von Organismen, die aus einem Ast, also einer gemeinsamen Stammart, hervorgegangen sind. Doch dieses uns vertraute Bild verkürzt die Diversität des Lebens, da es der Konnektivität der ›Zweige‹ keine Rechnung trägt. Diese ›Zweige‹ entfalten sich nicht nur nach außen, sondern tragen und durchdringen einander, tasten sich ab und werden sich wechselseitig zu Umwelten, zu einem Universum aus Nischen1, in die sich die einzelnen Formen einzupassen suchen und sich dabei erst als Arten ausbilden. Der evolutionären Entfaltung korrespondiert eine »involutionäre« (Deleuze/Guattari 2002: 325) Bezugnahme der Arten auf andere Arten. Indem sie sich einander zuwenden und sich wechselseitig zu involvieren beginnen, entstehen die Arten erst in ihren je einmaligen Besonderheiten. Eine Art ist nichts anderes als eine evolutionäre Linie, die sich eine Nische gesucht hat, die minimal von denjenigen Nischen abweicht, an die sich andere, oft eng verwandte Arten, angepasst haben. Eine Art steht für eine einmalige Lebensweise in einem ebenso einmaligen Milieu.

Alle Evolution ist Koevolution. Charles Darwin bezeichnet es als eine der wesentlichen Entdeckungen seiner Evolutionstheorie, »dass die Arten nicht getrennt voneinander geschaffen wurden« (Darwin 1888: 61), sondern, so ließe sich ergänzen, aus ihren Interaktionen hervorgehen. In koevolutionären Entwicklungen werden Lebensformen wechselseitig zu Nahrung, zu Symbionten oder Parasiten, vor allem aber zu Mitgestalter:innen jener kleinen Welten, die sie bewohnen, von Ökosystemen, die sie gemeinsam bilden, nutzen und gestalten. Ein tropisches Korallenriff oder ein mitteleuropäischer Laubwald sind Manifestationen eines solchen Miteinanders, im Falle des Waldes etwa eines Miteinanders von Bäumen, Pilzen, Bakterien, Insekten, Vögeln und Säugetieren. Auf einem Waldspaziergang nehmen wir nur einen Bruchteil dieser Vielfalt wahr, einige markante Baumarten wie Buchen, Eichen oder Kiefern, wenige andere Blütenpflanzen, häufigere Vogel-Arten wie Buchfinken, Amseln oder Kohlmeisen. Doch der uns vertraut erscheinende Wald wird bei genauerer Betrachtung schnell unvertraut, er erweist sich als Inbegriff der Interaktionen tausender Arten, von denen die meisten unterhalb unserer Wahrnehmungs- und Kenntnisschwelle existieren, oft in der Bodenstreu oder in unterschiedlichen (nicht wirklich toten) »Totholz«-Strukturen. Ein verborgenes Heer von Algen, Moosen und Pilzen, Insekten, Spinnentieren, Würmern, Schnecken und Bakterien, für die unsere Alltagssprache keine Namen bereithält, trägt dazu bei, dass die sichtbaren und uns bekannten Arten wie die großen Laubbäume nicht nur gedeihen, sondern auch über die Grenzen des Ökosystems hinaus produktiv werden können. Die vertrauten wie die verborgenen Arten stehen in einem permanenten Austausch von Energien und Nährstoffen, bilden ein Netz, das jede einzelne Art trägt, jenen Wald, ohne den Waldbäume, Waldblumen oder Waldinsekten nicht existieren könnten.

Diesen Wald können wir nie als Ganzen in den Blick nehmen. Er entzieht sich uns wie der Horizont, dem wir in einer offenen Landschaft entgegengehen, und das vor allem in demjenigen Aspekt, der ihn wesentlich ausmacht: in seiner Fülle. Die botanisch kundige Besucherin eines Laubwaldes im südlichen Niedersachsen wird ab Mitte März die Abfolge der Frühblüher beobachten können, die den noch unbeschatteten Waldboden mit kleinen Kolonien sprenkeln, Lärchensporn mit seinen zarten Weiß- und Violetttönen, Veilchen, die gelben Sterne des Scharbockskrauts, die blauen Kelche des Immergrün, Schlüsselblumen, gelbe und weiße Buschwindröschen. Diese Pflanzen (und ihre Namen) lassen sich deshalb so gut erinnern, weil sie die ersten sind, die nach der Schneeschmelze in kleinen Gruppen die Laubschicht des Waldbodens durchbrechen. Je weiter wir uns dem April und Mai nähern, desto zahlreicher und damit auch unübersichtlicher werden die Pflanzenformen, die bald schon nicht mehr kleine, nach Arten separierte Inseln bilden, sondern sich zu einer diffusen Krautschicht verbinden. In einem naturbelassenen Buchenwald können wir etwa 4300 Pflanzen- und Pilzarten finden, die kaum eine Expertin mehr vollständig überblicken könnte. Hinzu kommen dann bis zu 6700 Arten mehrzelliger Tiere, deren Fülle ebenfalls immer nur in Ausschnitten erfahren werden kann. Eine auch nur annäherungsweise adäquate Kenntnis der in mitteleuropäischen Wäldern lebenden Schwebfliegen, Bockkäfer oder Schlupfwespen wäre nur als Ergebnis eines lebenslangen Lernprozesses denkbar und in eigentümlicher Weise exklusiv: Wer die Pilze wirklich »kennt«, kann nicht auch in gleicher Vollständigkeit die Orchideen, Greifvögel oder Kleinsäuger kennen. Biodiversität bleibt also ein Approximationsbegriff, wir können uns immer nur auf einem Ast des großen Lebensbaumes bewegen. Wenn wir den Baum als Ganzen betrachten wollen, müssten wir uns in eine so große Distanz begeben, dass die einzelnen Zweige unscharf werden, dass wir sie nicht mehr unterscheiden können. Der Gegenstand dieses Buches, Biodiversität, lässt sich also nur bedingt vergegenständlichen, alles Wissen um Biodiversität wird von einem Nichtwissen grundiert.

Den Sauerstoff, der die Atmosphäre unseres Planeten für Menschen und andere Tiere atembar macht, verdanken wir der Photosynthese-Leistung von Pflanzen. Nicht isolierte Pflanzenindividuen produzieren ihn, sondern Ökosysteme wie der Wald. So hängt die Fortpflanzungsfähigkeit vieler Pflanzenarten im Wald von Insekten ab; die unterschiedlich geformten Blüten einzelner Pflanzenarten werden gezielt von jeweils an sie adaptierten Insektenarten besucht und bestäubt. Die Samen vieler Waldpflanzen werden von Vögeln und Säugetieren verbreitet, ohne deren Transportarbeit sich die Wälder nicht erneuern könnten. Darüber hinaus sind viele Pflanzen, vor allem Bäume, davon abhängig, dass Pilze ihre Wurzeln mit Stickstoff und Phosphor versorgen; die Pilze wiederum könnten nicht ohne den Zucker leben, den ihnen die Bäume im Gegenzug zur Verfügung stellen. Mit ihren abgestorbenen Blättern bilden die Pflanzen nach und nach eine Humusschicht, die wirbellosen Tieren als Lebensraum dient, welche die verrottenden Pflanzenteile in Stoffe zurückverwandeln, die die Pilze dann wieder als Nahrung an die Pflanzen weitergeben können. Mit ihren Wurzeln schützen Pflanzen diese Humusschicht vor Erosion, mit ihren Blättern beugen sie ihrer Austrocknung vor. Vor lauter Wald sehen wir in der Regel nicht nur die Bäume, die mit Abstand größten Waldbewohner, nicht, sondern noch weniger die Bewohner der Mikrokosmen zwischen ihren Wurzeln und die Insekten in ihren Kronen.

Die Erdsystemwissenschaft hat gezeigt, dass und wie sich das Leben über den »Aufbau einer sauerstoffreichen Atmosphäre« allmählich »selbst die Bedingungen für seine weitere Evolution« (Jantsch 1982: 160) geschaffen hat. Die erdgeschichtlich frühe anaerobe Photosynthese durch Bakterien und die erst später einsetzende aerobe Photosynthese durch Blaualgen reicherten die Atmosphäre nach und nach mit Sauerstoff an. Der Sauerstoff bot ab einem gewissen Sättigungsgrad komplexeren Pflanzen und Tieren ausreichend Schutz vor der UV-Strahlung der Sonne, so dass sie die Meere verlassen und die Kontinente besiedeln konnten. Das Leben hat sich in den 3,5 Milliarden Jahren seiner Geschichte immer wieder selbst die Voraussetzungen für seinen Fortbestand und seine weitere Entwicklung geschaffen. Eine tragende Rolle spielen dabei Prozesse der Diversifizierung und der Etablierung von Beziehungen zwischen dem, was sich differenziert. Lebensformen haben sich immer feiner aufeinander abgestimmt und dabei in immer komplexeren Kreisläufen organisiert. Diese Kreisläufe greifen umso reibungsloser ineinander, die Netzwerke werden umso dichter und die Kaskaden umso widerständiger gegenüber Störungen, je feinkörniger die einzelnen Elemente werden, je genauer sie sich an Nischen adaptieren, die vor allem aus den Interaktionen zwischen anderen Elementen bestehen.

Seinen vorläufigen Höhepunkt hat dieser Diversifizierungsprozess in den artenreichsten Lebensräumen des Holozän gefunden, etwa in den tropischen Regenwäldern, wo, wie im Amazonas-Tiefland, auf einer Fläche von nur 2000 Quadratmetern bis zu 500 verschiedene Arten von Bäumen angetroffen werden können (vgl. Reichholf 2010: 191). Jede einzelne dieser Baumarten kann wiederum von hunderten auf sie spezialisierten Insektenarten bewohnt werden. So wies der Entomologe Terry Erwin allein auf der in Panama vorkommenden Baum-Malve Luehea seemannii mehr als 950 Käferarten nach, von denen ein großer Teil nur auf genau diese eine Baumart angewiesen ist (vgl. Erwin 1982). Vielen dieser Käferarten lassen sich wiederum auf sie spezialisierte parasitische oder symbiontische Wespen, Fadenwürmer, Milben und Pilze zuordnen.

Keine Geschichten sind wunderbarer, abenteuerlicher und unwahrscheinlicher, als die Verflechtungs- und Kooperationsgeschichten, die die Evolution geschrieben hat. So haben afrikanische Flötendornakazien in ihren Dornen Hohlräume ausgebildet, die von Ameisen der Gattung Pseudomyrmex besiedelt werden. Die Ameisen werden von den Akazien durch die Ausbildung proteinhaltiger Knöllchen an den Blättern ernährt. Die wehrhaften Ameisen schützen die Akazien im Gegenzug vor pflanzenfressenden Schmetterlingsraupen und Käfern, aber auch vor Säugetieren (Pseudomyrmex-Ameisen können schmerzhaft beißen und Säure verspritzen) und selbst vor Bakterien, gegen die sie die jungen Blätter der Akazie chemisch imprägnieren. Diese Symbiose zwischen Akazie und Ameise ist wiederum nur möglich, weil die Akazien über ihre Wurzeln zugleich eine weitere Symbiose eingehen, mit Knöllchenbakterien, die die Bäume mit den Proteinen versorgen, welche dann wiederum den Ameisen bereitgestellt werden (vgl. Brandstetter/Reichholf 2016: 166ff.). Vergleichbare Beziehungen gehen etwa Borkenkäfer mit Pilzen ein, die sie in ihren Fraßgängen im Holz geschwächter Bäume kultivieren, um damit ihre Larven zu ernähren, oder Termiten, die Holz soweit vorverdauen, dass es für Mikroorganismen verarbeitbar wird: »Die Termiten ernten das Holz, können es aber nicht verdauen; die Mikroorganismen verdauen das Holz, können es aber nicht ernten. Man könnte sagen, über Jahrmillionen haben die Termiten die Mikroorganismen so weit domestiziert, daß diese ihren speziellen Bedürfnissen dienen. […] Man könnte [aber] genauso sagen, daß die Termiten für die Bedürfnisse der Mikroorganismen eingespannt wurden.« (Wilson 1997: 219) Beziehungen wie die zwischen Termiten und Bakterien, Akazien und Ameisen, Seeanemonen und Clownsfischen, Hummeln und Lärchensporn sind dabei immer nur Ausschnitte aus umfassenderen Netzen von Interaktionen, die sich niemals auf ein bloßes Fressen und Gefressen-Werden reduzieren lassen.

Gegenüber der Vielfalt des Lebens, dem größten Wunder, von dem wir nach menschlichem Ermessen wissen können, verschließen wir in unseren heutigen industriellen und nachindustriellen Gesellschaften die Augen. Mehr noch als gegenüber dem Wunder selbst schließen wir, teils unwillkürlich, teils aber auch höchst bewusst, die Augen gegenüber der Tatsache, dass wir selbst es sind, die es zerstören. Wir verstehen uns nicht weiter als Teil einer unsere menschlichen Perspektiven überschreitenden und sie zugleich mit umfassenden Gemeinschaft, sondern bestärken uns wechselseitig in der Illusion, aufgrund unserer technischen Fähigkeiten nicht länger von natürlichen Prozessen abzuhängen. Wir richten uns in unserer eigenen, artifiziellen Welt ein, die wir als eine Welt begreifen, die sich selbst zu tragen und zu erhalten vermag. Dabei vertrauen wir darauf, dass wir die desaströsen sozialen und ökologischen Folgen der Industrialisierung, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher abzeichnen, mit technischen Mitteln werden abarbeiten können.

Doch menschliche Lebensformen waren niemals autark und werden es niemals sein. Wir erkennen nicht, dass es der Nil war, der in einer frühen Phase der Kulturgeschichte den Bau der ägyptischen Pyramiden ermöglicht hat (vgl. Jackson 2008: 29),2 dass die Wälder aus Urfarnen, Schachtelhalmen und Schuppenbäumen im Karbon und Perm jene Kohle produzierten, welche die Industrialisierung im 19. Jahrhundert ermöglichte, dass abgestorbene Algen in den Meeren des Unterdevon und der Kreide unter dem Druck von Sedimenten zu jenem Erdöl wurden, das uns heute erlaubt, mit einer hochgradig industrialisierten Landwirtschaft bald acht Milliarden Menschen zu ernähren. Nicht nur uns selbst haben wir beim Bau der Pyramiden, der Industrien und der modernen Gesellschaften ausgebeutet, nicht nur Menschen wurden von anderen Menschen auf eine Ressource, auf ihre Arbeitskraft und einen Sachbesitz reduziert; auch gegen »anders-als-menschliches Leben« (vgl. Haraway 2016: 2) richtet sich eine (ökologisch zu nennende) Gewalt.

Mit der ressourcenintensiven, nicht-nachhaltigen und mittelfristig gesehen selbstzerstörerischen Form des Lebens, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts globalisiert hat und als alternativlos behauptet, bedrohen wir nicht nur den Fortbestand der Menschheit, sondern weite Teile der Biosphäre. Die größte mögliche Katastrophe3 bestünde in einem irreversiblen Verlust der Vielfalt des Lebens, der ein Verlust dessen wäre, was Leben wesentlich ausmacht. Als Reaktion auf die globale Biodiversitätskrise hatte eine Mehrheit der in den Vereinten Nationen organisierten Staaten bereits 1992 eine Convention on Biological Diversity ratifiziert, deren Ziel darin bestand, die Vielfalt des Lebens auf der Erde für zukünftige Generationen, aber auch um ihrer selbst willen, zu schützen. Die in dieser Erklärung formulierten Ziele wurden ganz offensichtlich weit verfehlt. In einem weiteren Anlauf haben die Vereinten Nationen dann die Jahre von 2011 bis 2020 zur UN-Dekade der biologischen Vielfalt erklärt (vgl. UN 2010a). Nach dem Ende dieser Dekade müssen wir resigniert feststellen, dass die Aussterberaten nicht nur nicht zurückgegangen sind, sondern sich immer weiter beschleunigen. Der am 6. Mai 2019 veröffentlichte, mehr als tausend Seiten umfassende Bericht der Intergouvernemental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) der Vereinten Nationen geht davon aus, dass mindestens eine Million Arten akut vom Aussterben bedroht sind. Die Vereinten Nationen merken dazu an: »Biologische Vielfalt – die Vielfalt innerhalb von Arten, zwischen Arten und von Ökosystemen – nimmt schneller ab als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.« (IPBES 2019a: XIV) Robert Watson, der Leiter der IPBES, fasst die Ergebnisse des Berichts mit folgenden Worten zusammen: »Die Gesundheit der Ökosysteme, von denen wir und alle anderen Arten abhängen, verschlechtert sich schneller denn je. Wir zerstören die Grundlagen unserer Wirtschaft, unserer Ernährungssicherheit, unserer Gesundheit und unserer Lebensqualität weltweit.« (IPBES 2019b: 1) Mit dem Unterbrechen evolutionärer Linien und koevolutionärer Netzwerke greifen wir in einer nie zuvor gekannten Tiefe in natürliche Zusammenhänge ein. Wir bedrohen damit nicht nur die Gelingensbedingungen und Möglichkeiten zukünftigen menschlichen Lebens, sondern die Zukunft des Lebens mehrzelliger Organismen insgesamt.

Die Biodiversitätskrise verlangt nicht nur nach entschiedenen politischen und gesellschaftlichen Reaktionen, sondern auch nach ethischen Antworten, die die politischen und gesellschaftlichen Reaktionen erst motivieren könnten. Insofern möchte ich in diesem Buch eine Ethik der Biodiversität ausarbeiten, die sich als Ethik der Achtung versteht. Gäbe es eine Skala der Relevanz ethischer Probleme, spräche einiges dafür, den dramatischen Rückgang der globalen Biodiversität als das dringlichste ethische Problem unserer Epoche anzusehen, ein Problem, dem nicht nur eine menschheitsgeschichtliche, sondern eine erdgeschichtliche Bedeutung zukommt. Selbst die aktuellen, durch die Emission von Treibhausgasen bedingten Veränderungen des Klimas ließen sich im Rahmen einer Energiewende und einer konsequenten Postwachstumspolitik zumindest im Prinzip und über längere Zeiträume wieder abmildern. Für Aussterbeereignisse gilt dies nicht, sie sind irreversibel. Evolution benötigt Beständigkeit und Beständigkeit benötigt Zeit.

Durch die Übernutzung und Zerstörung von Ökosystemen verringern wir die biologische Vielfalt auf unserem Planeten täglich und greifen damit in einem Ausmaß und einer Tiefe in die Natur ein, die ohne Vorbild ist. Auch wenn genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind, gehen die meisten Expert:innen davon aus, dass die aktuelle Aussterberate um den Faktor 1.000 bis 10.000 über der natürlichen background extinction rate liegen dürfte (vgl. May et al. 1995: 1; Barnosky et al. 2011: 56; Pimm et al. 2014; De Vos et al. 2014; IPBES 2019a: XXX). Während vor Beginn des Anthropozäns (der durch menschliche Einflüsse geprägten neuen erdgeschichtlichen Epoche, welcher wir uns in Kapitel 2 widmen werden) von einer Million Tier- und Pflanzenarten etwa 0,023 bis 0,135 Arten pro Jahr ausstarben (De Vos et al. 2014: 452), bringen wir heute jährlich eine fünfstellige Zahl von Arten zum Verschwinden. Die damit in Gang gesetzten Veränderungen sind beispiellos und unumkehrbar. Mit jedem Aussterbeereignis wird nicht nur eine einzelne Geschichte unterbrochen; da alle evolutionären Geschichten miteinander verflochten sind, berührt das Verschwinden einer Art die (Über-)Lebensmöglichkeiten vieler anderer Arten. Ökosysteme, die als Verschränkungen der Interaktionen von Angehörigen unterschiedlicher Arten verstanden werden können, verlieren mit jeder Entwicklungslinie, die unterbrochen wird, etwas von ihrer Fähigkeit, natürliche und durch Menschen verursachte Schwankungen ihrer Umweltbedingungen zu kompensieren. Das Aussterben setzt Prozesse der Entropie, des Einbüßens von Komplexität, in Gang, die mit »evolutionären Risiken« (Krohn/Krücken 1993: 14) einhergehen: Risiken, die die Kontexte, in denen sie auftreten, verändern, die selbst einer Evolution unterliegen und insofern in einer besonderen Weise unberechenbar bleiben.

Die Soziologen Wolfgang Krohn und Georg Krücken bezeichnen solche evolutionären Risiken auch als »Unsicherheits-Unsicherheiten« (Krohn/Krücken 1993: 9), Unsicherheiten, die sich dadurch definieren, dass ihr Umfang und ihre Qualität selbst unbestimmbar bleiben. Da in Ökosysteme und biologische Arten komplexe und in gewissem Sinne höchst unwahrscheinliche koevolutionäre Prozesse eingehen, die sich weder vollständig verstehen noch gar technisch reproduzieren lassen, trifft die Charakterisierung einer »Unsicherheits-Unsicherheit« auf das Zum-Aussterben-Bringen von Arten in besonderer Weise zu. Spätestens seit dem Beginn der Industrialisierung verstricken wir uns, wie Bruno Latour bemerkt, in »ein Experiment von und mit uns allen« (vgl. Latour 2001), das im Gegensatz zu wissenschaftlichen Labor-Experimenten im Falle seines Scheiterns nicht unter anderen Vorzeichen wiederholt werden könnte. Wir haben nur einen Planeten und nur eine Biosphäre. Das Experiment, mit dem wir das Leben in seiner Fülle, Vielfalt und Produktivität in globalem Maßstab aufs Spiel setzen, geht mit Formen der Verantwortung und potenziellen Schuld einher, die beispiellos sind (vgl. Höfele/Hühn 2021). Mögliche Folgen und Nebenfolgen blenden wir systematisch aus und setzen auf zukünftige wissenschaftliche und technische Lösungen. Die Umweltpolitik folgt nur zu oft einem naiven Stellschraubenkonzept: Ohne grundsätzlich über unsere Lebensweisen und ihre Konsequenzen nachzudenken, bestärken wir uns in dem Glauben, dass wir nur das Zwei-Grad-Ziel erreichen, nur von Verbrennungs- auf Elektromotoren umstellen müssen, um auf der sicheren Seite zu stehen. Eine Umweltethik, die ihren Namen verdienen würde, beginnt dagegen überhaupt erst mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber einer naiven Fortschrittsgläubigkeit. Und sie beginnt bei mir selbst, beim Ende aller Versuche, Verantwortung immer weiter zu verschieben: »Ethik«, so Emmanuel Levinas, »schließt aus, daß ich meine Verantwortung abschiebe.« (Levinas 1991: 43)

Durch die in Gang gesetzten Entwicklungen gefährden wir mittelfristig nicht nur die Überlebensmöglichkeiten der Menschheit, sondern beschneiden auch die evolutionären Perspektiven aller anderen Lebensformen und damit des Lebens überhaupt (vgl. Glaubrecht 2021). Erst damit wird die Biodiversitätskrise zu einem ethischen Problem im strengen Sinne. Unter einer Ethik verstehe ich kein etabliertes System von Entscheidungsroutinen, keine Binnenmoral einer bereits fertig konstituierten Gemeinschaft moralisch signifikanter (und das heißt im Referenzrahmen anthropozentrischer Ethiken: vernunftbegabter) Akteur:innen, sondern die systematische Suche nach Antworten auf die Frage, welche Verantwortung wir gegenüber denjenigen Lebewesen haben, mit denen wir nicht schon bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften teilen. Auch unsere Mitmenschen achten wir nicht nur als Träger uns vertrauter, innerhalb einer gesellschaftlichen Formation bevorzugter Fähigkeiten und Eigenschaften, sondern mindestens ebenso in ihrer kognitiven Entzogenheit, darin also, dass sie niemals in den Fähigkeiten und Eigenschaften, die wir ihnen zuschreiben, aufgehen, dass sie mehr sind als die Summe der Fähigkeiten und Eigenschaften (oder des Nutzens und der Qualitäten), die wir in ihnen sehen und erkennen können. In genau diesem Sinne unterscheiden sich ethische von epistemischen Ansprüchen, unterscheidet sich Anerkennen von Erkennen. Der moral point of viewüberschreitet die Grenzen propositionalen Wissens. Gerade weil wir die Perspektiven unserer Mitgeschöpfe und ihrer Assoziationsformen nicht einfach einnehmen oder uns gar mit ihnen verständigen können, schulden wir ihnen Achtung. In ihnen manifestiert sich eine Andersheit oder Alterität, die wir in Kapitel 12 als wesentliche Quelle ethischer Ansprüche thematisieren werden. Zugleich sind wir, und damit verkompliziert sich das Bild, selbst Teil und Ausdruck der globalen Biodiversität, gleichberechtigte Mitbewohner einer geteilten Biosphäre. Unser Verhältnis zu unseren Mitgeschöpfen ist, wie wir von der australischen Philosophin Val Plumwood lernen können, eines der »Kontinuität und Differenz« (Plumwood 1993: 66ff.). Dieses doppelte Verhältnis wird uns in diesem Buch immer wieder dazu nötigen, zugleich alteritätsethisch und naturalistisch zu argumentieren. »Die Welt zu lieben«, so führen es die Umweltethiker Whitney A. Bauman und Kevin J. O’Brien aus, »bedeutet, eine Wirklichkeit zu lieben, in die wir völlig eingebunden sind«, die uns trägt und durchdringt, »und die wir doch nie ganz verstehen können« (Bauman/O’Brien 2020: 95). Einen gangbaren philosophischen Weg, der es erlauben könnte, uns Menschen als gleichberechtigten Teil einer auch alle nichtmenschlichen Lebensformen einbegreifenden physis zu sehen und dabei zugleich an einem Eigensinn des Ethischen festzuhalten, der sich aus dem »pros heteron« (Arist., EN V, 3 1129b), einem »vom Anderen her und um des Anderen willen« ergibt, sehe ich in der Entelechie-Lehre des Aristoteles, die ich in Kapitel 6 umweltethisch lesen werde.

Angesichts der Tatsache, dass wir im Begriff stehen, die Möglichkeit des Lebens auf unserem Planeten insgesamt zu gefährden, rücken andere ethische Fragen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen unserer Zeit in den Hintergrund. Jedes in welchem Sinne auch immer menschenwürdige Leben hängt zunächst von Grundlagen physischen Überlebens ab, die wir selbst nicht geschaffen haben und niemals werden schaffen können. Mit der Bedrohung der Grundlage jeden Lebens bedrohen wir auch die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Lebens, das sich an normativen Idealen wie Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, gerechter Verteilung von Lebenschancen und nichtexkludierenden Anerkennungsverhältnissen orientiert. Kämpfe um Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit werden damit natürlich nicht bedeutungslos. Es wird allerdings zunehmend spürbar, dass auch ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung primär ein Leben ist, dass es von außergesellschaftlichen Prozessen abhängig bleibt, denen gegenüber wir uns nicht ethisch indifferent verhalten können. Fragen nach der Qualität menschlichen Lebens, nach gerechten und würdigen Lebensbedingungen, können nicht länger entkoppelt werden von Fragen nach der Bewahrung der Möglichkeit anders-als-menschlichen Lebens, einer Möglichkeit, die nur in und mit einer biodiversen Natur gegeben sein würde (vgl. Halsband 2016: 33ff.). Kämpfe um Nachhaltigkeit sind insofern, wie insbesondere Bruno Latour betont hat (vgl. Latour 2018), immer auch soziale Kämpfe.

Gesellschaftliche Ungleichheit macht sich heute an der ungerechten Verteilung sozialer und ökologischer Kosten der ressourcenintensiven Wirtschaft des Globalen Nordens fest. Was heute ungleich verteilt wird, sind vor allem Vulnerabilitätsrisiken. An die Stelle des kolonialistischen wirtschaftlichen Dreiecks aus Sklaverei, Plantagenwirtschaft und dem Handel mit Luxusgütern ist ein neokoloniales Dreieck aus Extraktivismus (Raubbau an den natürlichen Ressourcen des Globalen Südens), akzelerierender Produktion im Globalen Norden und Externalisierung der ökologischen wie sozialen Folgen dieser Produktion in den Süden getreten. Eine wichtige Rolle beim Befeuern dieses neuen Kreislaufs spielt die Verfügbarkeit fossiler Kohlenstoffdepots. Timothy Mitchell spricht von unseren heutigen westlichen Demokratien insofern treffend als »Kohlenstoff-Demokratien« (vgl. Mitchell 2011): Die demokratischen Fortschritte der westlichen Moderne konnten nur erzielt werden, weil den westlichen Staaten über einen langen Zeitraum eine sehr preisgünstige Energiequelle zur Verfügung stand, eine Energiequelle, die jene Freiräume von der Notwendigkeit körperlicher Arbeit schuf, in denen sich aufgeklärte und demokratische politische Öffentlichkeiten ausbilden konnten. Die in fossilen Kohlenstoffen gebundene Energie konnte für die westlichen Staaten allerdings nur deshalb so preisgünstig bereitgestellt werden, weil sie in Ländern wie Russland oder den Golfstaaten unter sozial, ökologisch und politisch problematischen Bedingungen »erschlossen« wurde.

Wir Bewohner industrialisierter Gesellschaften bilden das Paradoxon einer Natur, die sich von sich selbst loszusagen sucht. Das, was uns als Menschen charakterisiert, unsere Sprache und unsere Kultur, unsere Rationalität und unsere Fähigkeit verantwortlich zu handeln, genügt sich jedoch nicht selbst. Wir sind und bleiben auch Wesen, die essen, trinken und ausscheiden, einatmen und ausatmen, berühren und sich berühren lassen, die über ihren Stoffwechsel und ihre Sinne eingebunden sind in ein Gewebe, das uns vorausgeht und dessen Regenerationsfähigkeit endlich ist. Auch das, was uns Menschen in ethischer Hinsicht auszeichnet, ist nicht ohne Natur zu denken, ohne etwas also, was unabhängig von uns und aus sich selbst heraus existiert. Achtung ist immer Achtung eines Anderen, nicht bereits von uns Gemachten, insbesondere anderer Formen und Weisen des Lebens, innerhalb der menschlichen Gemeinschaft wie über den »menschlichen Rand« (Derrida 2010: 57ff.) hinaus. Mit dem Verlust an Biodiversität verlieren wir somit nicht einfach nur Welt, sondern auch eine wesentliche Quelle von Normativität. Auch uns selbst und andere Menschen könnten wir nicht länger achten, wenn wir verlernen würden, ganz andere Wesen zu achten, die sich diese Achtung nicht erst verdient haben müssen, deren Beziehung zu uns in keinem Vertrag kodifiziert ist.

In diesem Buch möchte ich eine Ethik der Achtung biologischer Vielfalt vorschlagen. Dabei gehe ich von umweltwissenschaftlichen Befunden und Krisendiagnosen aus, befrage aber auch die in den zurückliegenden Jahrzehnten ausgearbeiteten Ansätze einer philosophischen Umweltethik daraufhin, inwieweit sie Einspruchspotenziale gegen die Biodiversitätskrise bereitstellen könnten. Erweitert werden die dabei berücksichtigten, vor allem ökozentrischen umweltethischen Argumente um alteritätsethische Perspektiven. Diese erlauben es, einen argumentativen Weg anzubahnen, der die Schutzwürdigkeit natürlicher Vielfalt ausgehend von der moralischen Signifikanz ökologischen Nichtwissens begründet. Dabei zeige ich zunächst, dass uns gerade unser Nichtwissen (etwa um die Bedeutung von Biodiversität für die Erfüllung von Ökosystemfunktionen) zu einem verantwortungsvollen Umgang mit biologischer Vielfalt bewegen kann. Über dieses Klugheitsgebot hinaus könnte uns unser ökologisches Nichtwissen aber auch zu einer tieferen Achtung gegenüber der Vielfalt des Lebens in all seinen Erscheinungsformen anhalten. Da das moralische Gefühl der Achtung immer von der partiellen Unausdeutbarkeit des zu Achtenden (unabhängig davon, ob es sich um ein moralisches Prinzip, eine Person, ein kulturelles Artefakt, eine Landschaft, eine Lebensform oder eine Gemeinschaft von Lebensformen handelt) motiviert wird, wäre es auch und gerade gegenüber dem gefordert, was wir seit einigen Jahrzehnten mit einem sehr unbeholfenen Wort als »Biodiversität« bezeichnen.

Sowohl in der Philosophie wie in den neuzeitlichen Wissenschaften gilt Nichtwissen in der Regel als etwas zu Überwindendes, bloß Vorläufiges, das in Wissen überführt werden sollte. In diesem Buch bemühe ich mich demgegenüber um die positive Auszeichnung eines ethischen Nichtwissens. Insgesamt wird Nichtwissen dabei auf vier Ebenen relevant.

i.Ein epistemisches Nichtwissen spielt bereits eine wichtige Rolle für die Beschreibung einer sich über ihre Biodiversität charakterisierenden Ökosphäre. Mit dem einen Begriff Biodiversität bezeichnen wir eine unermessliche Fülle von Beziehungen und Interaktionen, die, wie wir bereits am Beispiel des Waldes gesehen haben, intrinsisch überkomplex ist. Die skin-out-Perspektive der Ökologie (vgl. Rolston 2012: 33f.), die sich weniger für das Innere des einzelnen Organismus (skin-in), als vielmehr für die Interaktionsformen zwischen Organismen und Organismengruppen interessiert, ist eine Perspektive, die von einer irreduziblen Unbestimmtheit dieser Interaktionsformen und insofern von einem prinzipiellen Nicht-Wissen-Können ausgeht. Die Ökologie definiert sich selbst als eine Naturwissenschaft ohne Naturgesetze. Da sie es »in besonderem Maße mit ›Einmaligkeit‹ zu tun hat: mit Millionen verschiedener Arten aus zahllosen genetisch unterschiedlichen Individuen, die alle in einer mannigfaltigen und sich ständig ändernden Welt leben und interagieren«, kann die Ökologie keine »Beweise« liefern, sondern sich allenfalls »aus repräsentativen Proben Schätzwerte verschaffen« (Townsend/Begon/Harper 2009: 7, 14).

ii.Ein pragmatisches Nichtwissen bezieht sich auf unsere Unfähigkeit, die Folgen und Nebenfolgen unserer Eingriffe in eine überkomplexe Biosphäre vorauszuberechnen. Wir wissen zu wenig über die Resilienz von Ökosystemen, um Kipppunkte und Schwellenwerte eines no return vorhersagen zu können; wir wissen nur, dass mit dem Verschwinden von Arten die generelle Produktivität und Resilienz von Ökosystemen abnimmt, nicht dagegen, wann welche Entwicklung für ein Ökosystem insgesamt kritisch wird. Wir experimentieren mit einer Welt, die wir nicht verstehen.

iii.Ein metaethisches Nichtwissen spielt für diese Arbeit insofern eine wichtige Rolle, als es wesentlich zu der hier vorgeschlagenen ethischen Perspektive gehört, dass grundlegende ethische Fragen niemals definitiv und niemals durch einen Rekurs auf wissenschaftliches Wissen beantwortet werden können und sollten. Dies betrifft etwa Fragen wie: ›Wo liegen die Grenzen der moral community?‹, ›Wann ist etwas ein ethisch signifikanter Fall (also etwa ein Unrecht und kein bloßes Unglück)?‹, ›Welche Kriterien können uns dabei helfen, in moralisch relevanten Situationen Entscheidungen zu treffen?‹ Ethik bleibt somit selbst eine Frage, ein Prozess, eine Suche.

iv.Eine vierte Form des Nichtwissens würde ich als ethisches Nichtwissen im engeren Sinne beschreiben. Was uns in unterschiedlichen Ethiken normativ orientiert, hat immer mit Grenzen des Wissens zu tun. Anerkennen unterscheidet sich vom Erkennen durch die konstitutive Unbestimmbarkeit derer, die ich anerkenne; Achtung lebt von dem Bewusstsein, dass sich diejenige, die ich achte, nicht in meinem Wissen von ihr und meinen Zuschreibungen erschöpft. Werte spreche ich einem Lebewesen und einer Gemeinschaft von Lebewesen gerade deshalb zu, weil ich unterstelle, dass sie in dem, was ich ihnen zu- oder absprechen kann, nicht aufgehen, dass ich mich selbst nicht als Maß der anderen setzen kann, sondern Bescheidenheit, ja vielleicht sogar Demut üben muss.

Ich gehe davon aus, dass die globale Biodiversitätskrise nur unzureichend im anthropozentrischen Paradigma der meisten der heute etablierten umweltethischen Ansätze beschrieben und beantwortet werden kann. Insofern ist es nötig, eine ökozentrische4 Ethik der Biodiversität und des Biodiversitätsschutzes zu entwickeln. Dabei gehe ich von einem weiten Begriff der Ökologie als Wissenschaft von Relationen und Assoziationen aus. Individuelle Organismen leben nur insofern, als sie sich mit anderen Organismen austauschen, als sie ein Milieu, eine Summe von Beziehungen zu anderen Organismen mitgestalten und sich in dieser Gestaltung nicht nur selbst erhalten, sondern auch selbst überschreiten (vgl. Cangulihem 1952). Statt von »interindividuellen Verbindungen« sollten wir hier mit Gilbert Simondon von »transindividuellen Relationen« (Simondon 1989: 155) sprechen, Relationierungen, die das, was sie verbinden, zugleich konstituieren.

Insgesamt schlage ich eine Ethik des Biodiversitätsschutzes vor, die es einerseits vermeidet, einen moralischen Status der nichtmenschlichen Natur einfach zu unterstellen, die andererseits aber auch nicht kontingenten menschlichen Interessen an bestimmten Aspekten von Biodiversität das letzte Wort in umweltpolitischen Entscheidungsfindungsprozessen einräumt; eine zu frühe Festlegung auf einen anthropozentrischen Begründungsansatz verwandelt Biodiversität tendenziell in ein Sachkapital. Eine zugleich ökozentrische und auf einer Haltung der Achtung beruhende Ethik der Biodiversität sieht sich auf Dialoge zwischen ökologischen, umweltwissenschaftlichen, naturschutzpraktischen, ethischen, metaethischen und sozialphilosophischen Perspektiven verwiesen, die ich hier eher anregen als wirklich in allen Dimensionen selbst führen kann. Es ist mir allerdings wichtig zu betonen, dass das ethische Gebot einer Achtung der Vielfalt des Lebens zumindest auf konzeptuelle Grenzen etablierter umweltethischer Ansätze auf drei Ebenen aufmerksam machen kann:

i.Zunächst verpflichten sich die meisten philosophisch-ethischen Ansätze unserer Zeit einem Modell der Begründung und Anwendung von Normen, das unabhängig von den Kontexten gedacht wird, auf die diese Normen dann angewendet werden sollen. Es geht in der Ethik meist um die Frage, welche normativen Prinzipien rational gerechtfertigt werden können, um dann in einem zweiten Schritt zu fragen, wie sich das dermaßen Gerechtfertigte auf eine konkrete Situation anwenden lässt. Dieses Modell impliziert eine Bevorzugung der Begründungs- gegenüber der Anwendungsebene der Ethik. Es geht mit einer intellektualistischen Weichenstellung einher, deren Preis eine gewisse Indifferenz gegenüber den besonderen Umständen ist, in denen wir uns tatsächlich befinden. Intellektualistisch sind diese Ansätze insofern, als sie die Frage der Begründung moralischer Prinzipien letztlich als epistemisches Problem begreifen, als Problem der Kenntnis der Rechtfertigungsbedingungen ethischer Prinzipien. Gegenüber diesem Modell möchte ich eine gewisse Skepsis vorbringen. Ich gehe davon aus, dass sich die Frage danach, wie wir den Schutz der Vielfalt des Lebens begründen können, nur durch die Einbeziehung dieser Vielfalt schon auf der Begründungsebene der Ethik, also auf der Ebene dessen, was heute oft als Metaethik bezeichnet wird, beantworten lässt. Der moralische Standpunkt oder der Eigensinn des Ethischen lässt sich immer nur ausgehend von dem denken, was uns in eine ethische Pflicht nimmt. So wie in der Grounded Theory und der »geteilten Ethnologie« (vgl. Rouch 2003) der Vorschlag gemacht wurde, die methodischen Zugänge zu einem zu beschreibenden sozialen Feld nicht unabhängig von den Orientierungen, Einstellungen und Selbstbeschreibungen der dieses Feld definierenden Akteur:innen festzulegen, so sollten wir uns auch in der Ethik offen halten für Orientierungen, die bereits in den Konfliktfeldern selbst impliziert sind. Zu diesen Orientierungen und Einstellungen gehören auch die Gedeihensbedingungen und Präferenzen nichtmenschlicher Akteure wie individueller Organismen, Arten und ganzer Ökosysteme.

ii.Die zweite Form von Skepsis, die mit der ersten eng verbunden ist, bezieht sich auf die für die meisten ethischen Ansätze unbefragt beanspruchte Unterscheidung von moral patients und moral agents, von denjenigen, die aktiv moralisch handeln bzw. eine moralische Verpflichtung eingehen, und denjenigen, die zum Gegenstand moralischer Zuwendung werden. Auch in dieser Unterscheidung sehe ich eine intellektualistische und anthropozentrische Weichenstellung angelegt, die vor allem zu Ungunsten all dessen ausfällt, was jenseits des »menschlichen Randes« angesiedelt wird. Die Unterscheidung von moral patients und moral agents erfolgt von einem implizit anthropozentrischen Standpunkt aus. Sie unterstellt ein Reich moralisch indifferenter, passiver, interesseloser Wesen, denen wir uns in ethischer Einstellung und im Modus der Fürsprache zuwenden müssen.

iii.Quer durch die Debatten zwischen anthropozentrischen und nicht anthropozentrischen Ansätzen in der Umweltethik können wir einen impliziten Konsens beobachten, der darin besteht, die ethische Berücksichtigungswürdigkeit einer Entität vom Vorhandensein moralisch signifikanter Eigenschaften abhängig zu machen. Zu solchen Eigenschaften zählen das Verfolgen von Präferenzen, Leidensfähigkeit oder Reflexivität. Ethik bedeutet dann, zunächst zu definieren, welche Fähigkeiten, Eigenschaften oder Leistungen moralisch signifikant sind, um in einem zweiten Schritt eine moral community dadurch zu definieren, dass wir in ihr genau diejenigen Entitäten oder Wesen versammeln, die diese Fähigkeiten, Eigenschaften oder Leistungen aufweisen. Auch dieses Vorgehen geht mit einem Ausschluss einher, produziert einen Bereich des verworfenen, des moralisch nicht signifikanten, des nicht-betrauerbaren Lebens. Wenn wir uns auf das Modell des Zu- und Absprechens moralisch signifikanter Eigenschaften verpflichten, stellen wir die argumentativen Weichen von Anfang an in Richtung auf eine anthropozentrische Position, unterstellen nicht-anthropozentrischen Ansätzen eine größere Rechtfertigungsbedürftigkeit, setzen ihre Argumente dem Verdacht der Projektion und des Anthropomorphismus aus. Darüber hinaus zeichnet eine Strategie des Zu- und Absprechens moralisch signifikanter Eigenschaften von vornherein Individuen und Dinge gegenüber Beziehungen und Prozessen aus. Akzidentielle Eigenschaften kommen im Horizont abendländischen Philosophierens Substanzen zu, Dingen, die den Prozessen und Relationen zwischen den Dingen vorausgehen. Eine Ethik des Biodiversitätsschutzes zielt allerdings vor allem auf den Schutz von vermeintlich »abstrakten« Entitäten wie Beziehungen, Prozessen, Dynamiken und evolutionären Potenzialen, die sich einem Denken verweigern, das die Welt in Substanzen (Dinge, Individuen) und ihre Akzidentien (Eigenschaften, Fähigkeiten) zu unterteilen sucht.

Eine ökozentrische Ethik der Biodiversität kritisiert diesen dreifachen Intellektualismus etablierter (umwelt-)ethischer Debatten nicht aus einer wissenschaftsfeindlichen Haltung heraus. Sie möchte vielmehr auf Grenzen unseres Wissens hinweisen, nicht nur unseres Umweltwissens, sondern auch unseres Wissens um die »richtigen« Rechtfertigungsbedingungen einer philosophischen Ethik. Sie kann die Selbstverständlichkeit der drei genannten intellektualistischen Unterscheidungen nicht akzeptieren: der Unterscheidung von Begründungs- und Anwendungsebene der Ethik, von moral agents und moral patients sowie von Entitäten, die moralisch signifikante Eigenschaften aufweisen, und solchen, die das nicht tun. Damit wird der begriffliche Sinn dieser Unterscheidungen nicht geleugnet oder zurückgewiesen. Im Gegenteil: Auch dieses Buch ist in der Sprache der philosophischen Ethik geschrieben, für die diese Unterscheidungen zentral bleiben. Die hier angedeutete Ethik der Biodiversität beansprucht allerdings mehr zu sein, als eine Ethik des Schutzes von Komponenten der Biodiversität. Sie versteht sich nicht als Ethik, die sich des »Gegenstandsbereichs« der Biodiversität annimmt, sondern mehr noch als Ethik, die ihre Orientierungen aus Erfahrungen mit einer biodiversen Natur bezieht, mit der unermesslichen Komplexität und Fülle eines Lebens, das uns Menschen hervorgebracht hat, das uns weiterhin trägt und das sich in keiner Gestalt propositionalen Wissens erschöpfen lässt. Die Vielfalt des Lebens lädt uns dazu ein, einige Selbstverständlichkeiten unserer ethischen Diskurse weniger selbstverständlich zu nehmen, sie spielt sich ein in die Fragen, was als guter Grund in ethischen Debatten zählen kann, woher wir diese Gründe nehmen können, wer oder was als Subjekt ethischen Handelns in Frage kommt und wie wir die Grenzen der Gemeinschaft ziehen können, deren Mitglieder moralische Ansprüche geltend machen. Die Vielfalt des Lebens wäre nicht nur der Gegenstand einer Ethik der Biodiversität, sondern auch ihre zentrale normative Ressource.

Das Buch entwickelt Argumente, die uns dabei helfen können, die Schutzwürdigkeit von Biodiversität zu verstehen und zu begründen. Im ersten Kapitel, Käfer an Flussufern, führe ich anhand eines Beispiels in die aktuelle Biodiversitätskrise ein: Ich stelle eine Gruppe von uferbewohnenden Laufkäferarten vor, die unbemerkt aus unseren mitteleuropäischen Landschaften verschwinden. In diesem Kontext beschreibe ich auch meinen persönlichen Zugang zum Thema bzw. zum Feld (1). Das zweite Kapitel fragt danach, was es bedeutet, im Anthropozän zu leben. Ich deute das Anthropozän als von Menschen in Gang gesetztes und in Kauf genommenes Massenaussterben in einer erdgeschichtlichen Dimension. Im Kapitel werden auch konzeptuelle Beschränkungen des Anthropozän-Begriffs betrachtet, etwa der Einwand, dass sich noch in der Diagnose des Anthropozäns ein Anthropozentrismus fortschreiben könnte. Am Ende halte ich an Begriff und Diagnose des Anthropozäns fest, versuche aber, die Krise gerade in ihrer Tragweite auch als Chance zu begreifen: als Chance einer Neuerfindung der Menschheit als Gemeinschaft einer Verantwortung, die über den menschlichen Rand hinausreichen würde (2). Das dritte Kapitel, Gefährdete Vielfalt, skizziert eine kurze Geschichte der drei bisher von Menschen verursachten Aussterbewellen. Es werden wesentliche Ursachen des aktuellen Artensterbens benannt, die vor allem in unserem ressourcenintensiven Lebensstil zu finden sind. Insbesondere die immer weitere Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft führt weltweit zu einer Übernutzung und Zerstörung von Ökosystemen. Dabei mache ich auch deutlich, dass die meisten aktuellen Aussterbeereignisse auf, etwa durch den Klimawandel bedingte, Störungen in den Interaktionsmustern von Arten zurückzuführen sind (3). Das vierte Kapitel führt in den Begriff und die verschiedenen Gesichter der Biodiversität ein; es hebt hervor, dass es sich bei Biodiversität sowohl um einen beschreibenden wie um einen normativen Begriff handelt. Auf der beschreibenden Ebene umfasst Biodiversität die Vielfalt von Arten, die innerartliche genetische Vielfalt, vor allem aber die Prozesse und Interaktionen zwischen Arten. Auf normativer Ebene steht Biodiversität für ein Schutzgut, für den Inbegriff eines Lebens, das uns trägt und dem zugleich ein intrinsischer Wert zukommt. Das Kapitel betont insbesondere die Rolle, die Biodiversität für Ökosystemfunktionen spielt (4). Alles menschliche Leben, so die These des Kapitels Land als biotische Gemeinschaft, findet an konkreten Orten, in konkreten Landschaften statt. Wir können nie die Natur oder die Biodiversität an sich schützen, uns aber sehr wohl für den Erhalt uns vertrauter Lebensräume vor unserer Haustür engagieren. Umweltbewusstsein und -aktivismus setzen eine Gebundenheit an Orte voraus. Den Bezug zu einer Landschaft begreife ich als wichtige motivationale Voraussetzung verantwortlichen Umwelthandelns. Diesen Bezug haben wir in spätmodernen Gesellschaften weitgehend verloren. In den entsprechenden Passagen behandele ich zunächst das neuzeitlich europäische Konzept der Landschaft, das seit der Renaissance mit einer betrachtenden Distanz einhergeht. Diejenige, die eine Landschaft betrachtet, lebt nicht länger in ihr. Die betrachtende Distanz wird zum ersten Schritt einer Verfügbarmachung. Den europäischen Landschafts-Diskursen setze ich ein asiatisches Verständnis des In-der-Landschaft-Lebens entgegen, das ohne Zentralperspektive, ohne ein der Landschaft äußerliches, über sie verfügendes Subjekt auskommt. Zugleich führe ich in diesem Kapitel in die Land-Ethik Aldo Leopolds ein, die den wichtigsten ethikgeschichtlichen Bezugspunkt der gesamten Arbeit bildet. Leopold schlägt vor, Land nicht länger als Besitz, sondern als Gemeinschaft zu begreifen, an der wir selbst teilhaben. Ich zeige einerseits, dass Leopold in einer Tradition steht, die die ökologischen und sozialen Kosten der frühneuzeitlichen Überführung von commons (Gemeinland) in Privatbesitz betont, andererseits, welche ethischen Konsequenzen Leopold aus seiner Diagnose zieht. Er erinnert uns vor allem daran, dass sich Ethiken historisch entwickeln und dass wir die Grenzen der moral community niemals willkürlich festlegen, insbesondere nicht anthropozentrisch verengen dürfen (5). Im Kapitel Naturbegriffe und Naturverhältnisse verdeutliche ich, dass die ökologische Krise bereits im neuzeitlichen Begriff einer mechanistisch reduzierten Natur angelegt ist bzw. sich in diesem Begriff manifestiert. Das Anliegen einer Beherrschung und Bewältigung der Natur wird dabei zugleich als Nebenschauplatz der Etablierung von Herrschaftsverhältnissen innerhalb der neuzeitlichen Gesellschaften interpretiert. Eine Theorie kritischer Naturverhältnisse kann nicht unabhängig von einer Kritik gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse formuliert werden. Gesellschafts- und Naturverhältnisse bedingen sich wechselseitig. Im Einklang mit Traditionen eines teleologischen, holistischen und prozessorientierten Naturdenkens votiere ich hier für eine Wende unseres Naturbildes. Ich frage danach, ob wir, ausgehend vom Konzept der Biodiversität Natur insgesamt über Formen der Bezüglichkeit und des Bezogenseins denken können. Dabei skizziere ich einen im weitesten Sinne aristotelischen Naturalismus, der auch uns Menschen mit unseren gesellschaftlichen Institutionen als Teil der Natur zu denken erlaubt (6). Als einen Sonderfall gesellschaftlicher Naturverhältnisse betrachte ich im folgenden Kapitel das Verhältnis von Tieren und Menschen. Dabei lege ich besonderen Wert auf ein bereits von Montaigne und Herder vorgebrachtes Argument, das gerade aus dem Nichtwissen um Fähigkeiten der Tiere ein Gebot ableitet, sie nicht willkürlich aus der Moralgemeinschaft zu exkludieren (7). Im achten Kapitel weise ich auf konzeptuelle Grenzenanthropozentrischer Umweltethiken hin. Ich gehe hier auf Debatten zwischen anthropozentrischen und physiozentrischen umweltethischen Ansätzen ein und versuche zu zeigen, warum eine rein anthropozentrische Begründung nicht ausreichen könnte, einen umfassenden Biodiversitätsschutz zu motivieren. Anthropozentrische Ansätze gehen davon aus, dass einem Aspekt von Biodiversität nur dann ein ethisch relevanter Status zugesprochen werden kann, wenn menschliche Akteur:innen Interessen an diesem Aspekt anmelden. In einer Welt, in der Biodiversität zunehmend aus allen Erfahrungsräumen verschwindet, können Menschen selbst dann kein Interesse am Erhalt von Aspekten der Biodiversität artikulieren, wenn sie physisch von ihnen abhängen, und zwar deshalb, weil sie sie nicht kennen (8). Im Anschluss daran wende ich mich der Frage zu, inwieweit wir nichtmenschlichen Lebewesen oder ihren Assoziationsformen im Rahmen einer ökozentrischen Ethik intrinsische Werte zusprechen können. Hier kritisiere ich eine anthropozentrische Position, die einen Wert als Ergebnis einer kontingenten Zuschreibungspraxis begreift. Meine Kritik geht von dem Argument aus, dass bereits die bloße Idee des Wertes eine Art Realismus impliziert. Dasjenige, dem wir einen Wert zugestehen, hat diesen Wert aus sich heraus, ohne dass wir ihm diesen Wert erst hätten verleihen müssen. Einen Wert, der nur ein Wert für uns wäre, würden wir demgegenüber als Nutzen bezeichnen. (9). Im zehnten Kapitel schlage ich einen Weg jenseits bio- wie anthropozentrischer Ansätze vor, der die Schutzwürdigkeit natürlicher Vielfalt ausgehend von der moralischen Signifikanz ökologischen Nichtwissens begründet. Ich versuche hier insbesondere die Rolle der Akzeptanz von Nichtwissen für ein gehaltvolles Konzept von Nachhaltigkeit zu betonen (10). Unter dem Titel Evolution beschreibe ich Biodiversität im elften Kapitel als Ergebnis und Ausdruck von koevolutionären Prozessen. Arten entwickeln und differenzieren sich in ihren Interaktionen mit anderen Arten. Ausgehend von neueren Debatten der Naturschutzbiologie mache ich deutlich, dass Naturschutz nur als Prozessschutz erfolgreich sein kann. Es geht im Naturschutz weniger um die Bewahrung von Ist-Zuständen, als um die Aufrechterhaltung ökosystemarer und evolutionärer Prozesse. Daraus leite ich nachhaltigkeitstheoretische und naturschutzpraktische Forderungen ab (11). Das Insektensterben in Mitteleuropa diskutiere ich im zwölften Kapitel als Fallbeispiel für die globale Biodiversitätskrise. Ich versuche hier, die offensichtlichen, aber auch die verborgeneren Ursachen des Insektensterbens darzustellen, auf die Konsequenzen des Insektensterbens für andere Organismengruppen hinzuweisen, aber auch zu zeigen, welche konkreten naturschutzpraktischen und -politischen Möglichkeiten wir haben, um angemessen reagieren zu können (12). Ausgehend von einer Rekonstruktion des Eigensinns des Ethischen in der philosophischen Tradition, die sich insbesondere auf Platon, Kant und Levinas beruft, schlage ich im dreizehnten Kapitel eine Ethik derAchtung des Anderen in seiner Andersheit vor, die nicht am Begriff des Menschen Halt machen kann. Was uns an der/den Anderen in eine ethische Pflicht nimmt, ist gerade ihre Unausdeutbarkeit und partielle Entzogenheit. Hier frage ich insbesondere, wie sich eine Ethik der Alterität im Anschluss an Levinas umweltethisch fruchtbar machen lässt. Ich gehe davon aus, dass letztlich nur die Ausbildung einer starken ethischen Bindung an Natur, eine Kultivierung von Erfahrungen der Unverfügbarkeit, des Staunens und der Achtung, eine motivationale Ressource bereitstellen kann, die stark genug wäre, menschliche Lebensformen nachhaltig zu verändern (13). Das letzte Kapitel, Konviviale Lebensformen, wendet sich der Frage zu, was wir konkret tun können und sollen. Ich artikuliere hier eine gewisse Skepsis in Bezug auf Positionen, die den globalen Biodiversitätsverlust vor allem als Problem politischer Steuerung zu beschreiben suchen, und richte den Fokus stattdessen auf die Frage nach Lebensformen. Hier knüpfe ich an Debatten zu einer Postwachstumsgesellschaft und zu einem Konvivialismus an. Wir werden das Artensterben nur beenden können, wenn wir unsere Vorstellung eines gelingenden Lebens vom Verfügen über Konsumchancen entkoppeln können. Zur Nachhaltigkeit motivieren könnte uns die Perspektive auf ein gelingendes menschliches Leben gegenwärtiger und zukünftiger Generationen, das nicht ausschließlich im Zirkel von Erwerbsarbeit, Konsum und materieller Anerkennung gefangen ist, sowie die Einsicht, dass menschliches Leben in seiner vollen Integrität abhängig bleibt von gelingenden Beziehungen zu einer nichtmenschlichen Natur (14).

1In der Sprache der Ökologie hat sich das Wort »Nische« als Metapher für die je besondere Umgebung, die die Individuen einer Art besetzen und optimal für sich zu nutzen vermögen, etabliert. Problematisch ist diese Metapher insofern, als eine Nische an einen Rückzugsort denken lässt, an dem die Sicherung des Überlebens eines Organismus im Vordergrund steht, nicht seine Interaktionen mit anderen Organismen. Die Metapher der Nische scheint sich mit Narrativen der Selbsterhaltung zu verbinden, die Begegnungen über Artgrenzen hinweg eher als Risiken begreifen denn als Chancen.

2In einem von Fred Bahnson protokollierten Gespräch erläutert der Nachhaltigkeitstheoretiker Wes Jackson diesen Punkt wie folgt: »Es ist die Arbeit der Flüsse und der Detritus der Berge, die die Zivilisation möglich machten. Ich besuchte einmal Wes Jackson, einen der Väter der ökologischen Landbaubewegung, in seinem Haus in der Kurzgrasprärie von Kansas. ›Sie wissen, dass die Pyramiden nicht von Menschen gebaut wurden‹, sagte er. ›Sie wurden vom Nil erbaut‹. Der Monsun holte die Nährstoffe aus den äthiopischen Bergen, erklärte Wes, und schickte sie den Blauen Nil hinunter. Die dampfenden Regenwälder Afrikas schickten organische Stoffe in den Weißen Nil. Wo sich diese beiden Flüsse vereinigten, bildeten sie den eigentlichen Mutterfluss, der die fruchtbaren Böden des Nildeltas schuf. Diese Böden lieferten den Kohlenstoff, der die Arbeiter ernährte, die die Pyramiden bauten. Ein ökosphärischer Prozess, sagte Wes, bei dem der Mensch nur der unwissende Vermittler war.« (Bahnson 2013: 133; englischsprachige Quellen werden hier wie im Folgenden von mir selbst übersetzt).

3Wenn wir bedenken, dass es sich bei allem uns bekannten Leben um ein Leben handelt, dass sich auf der Erde entwickelt hat, könnte es sich um eine Katastrophe kosmischen Ausmaßes handeln (vgl. Gorke 2008).

4Die Charakterisierung einer ethischen Position als ökozentrisch wirkt vielleicht auf den ersten Blick paradox, da das Ökologische eine Vielfalt nicht hierarchisierbarer Beziehungen umfasst, die die Fokussierung eines Zentrums gerade ausschließt. Gleichwohl hat sich die Bezeichnung einer ökozentrischen Ethik inzwischen für solche Ansätze etabliert, die »Ökosysteme selbst als wertvoll betrachten, unabhängig von ihrem Nutzen für den Menschen« (Taylor et al. 2020: 1091).

1.Käfer an Flussufern

In den kleinsten Dingen zeigt die Natur die allergrößten Wunder.Carl von Linné

Treten wir, bevor wir die philosophische Signifikanz und ethische Tragweite des aktuellen Artensterbens genauer untersuchen werden, zunächst einige Schritte zurück, wenden den Blick aufs Kleine, widmen uns eher unscheinbaren Wesen in unserer unmittelbaren Umgebung. Wer an einem sonnigen Tag im Mai oder Juni das Glück hat, während einer Wanderung auf das Ufer eines halbwegs naturbelassenen Flusses zu treffen und darüber hinaus Zeit findet, sich dort eine Weile niederzulassen, wird in der schmalen Zone, in der das Ufer vom Wasser dauerhaft feucht gehalten wird, zahlreiche Gliedertiere beobachten können, die in der Ökologie als »ripicol« (uferbewohnend) bezeichnet werden. Neben Spinnen, Ameisen, Raubwanzen und Kurzflüglern zeigen sich vor allem viele Arten von Laufkäfern (Carabidae). Unter den Carabidae finden sich wiederum Vertreter der Gattung Bembidion, kleine, leicht zu übersehende Käferchen, die auf dem Ufersand oder -kies oft in Gruppen umherlaufen.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit also zunächst bewusst auf einen sehr feinen und unscheinbaren Zweig am Baum des Lebens. Die Gattung Bembidion bildet mit ihren 1200 Arten nur eine der etwa 1500 Gattungen der Laufkäfer, die wiederum eine der etwa 176 Familien der Käfer (Coleoptera) ausmacht, eine der 28 Ordnungen der Insekten. Insgesamt dürften auf der Erde etwa 30 Millionen Insektenarten leben (vgl. Erwin 1982), der größte Anteil kommt dabei den Käfern zu. Auf dem Gebiet Deutschlands leben etwa 6.500 Käferarten, 80 davon gehören zur Gattung Bembidion. Bembidion-Arten sind in der Regel klein, messen nur drei bis sieben Millimeter, sind dafür häufig aber sehr farbenfroh. Sie ernähren sich räuberisch von Milben und Springschwänzen. Jede Bembidion-Art kommt dabei nur an einem ganz bestimmten Typ von Ufer mit seinem spezifischen Mikroklima, seiner spezifischen Bodenchemie und seinen ebenso spezifischen Begleitarten vor. Die Arten Bembidionstriatum, argenteolum, velox und litorale etwa, die, wenn man sich ihnen bis auf etwa eine Schrittlänge nähert, sofort auffliegen, bilden Kolonien auf flachen, vegetationsfreien Sandbänken großer Ströme wie der Elbe oder dem Rhein. Ist der Sand mit Lehm durchsetzt und bildet steilere Ufer, treten Arten wie Bembidionfluviatile oder, in Küstennähe, Bembidionsaxatile und maritimum an ihre Stelle. Andere, wie die metallisch blauen Arten Bembidionmilleri und brunnicorne, benötigen tonhaltige Ufer stehender Gewässer, wiederum andere Arten wie der braune Bembidioninustum und der schwarzmetallische Bembidionprasinum feinschlammige, von Pestwurz beschattete Ufer kleinerer Flüsse der Mittelgebirge. Einige Arten zeigen eine enge Bindung an die sauren Böden der Hochmoore (Bembidionhumerale), leben ausschließlich in Heiden (Bembidionnigricorne) oder an Ufern von Gewässern auf kalkhaltigen Böden (Bembidionstephensii), andere benötigen das dauerhaft nasse Moos im Spritzwasserbereich von Wasserfällen (Bembidiondoderoi) oder den von Schmelzwasser gesättigten Schotter am unteren Rand von Schneefeldern im Hochgebirge (Bembidionbipunctatum, alpicola oder jacqueti).

Besonders reich an Formen zeigt sich die Gattung Bembidion heute noch an den Bächen und Flüssen der Alpen. Je nach Breite und Fließgeschwindigkeit des Gewässers, Körnungsgröße des Sandes bzw. Kieses und Neigungswinkel des Ufers finden sich hier unterschiedlichste Artengemeinschaften. Darüber hinaus divergieren die Zusammensetzungen der Bembidion-Populationen hier in Abhängigkeit vom Grad der Beschattung der Ufer durch Bäume und von der Höhenlage. Die Artenvielfalt innerhalb dieser Gattung ist Ausdruck weit in die Vergangenheit zurückreichender und zutiefst miteinander verflochtener evolutionärer Geschichten, einer Vielfalt von immer besseren Anpassungen an immer feinere Unterschiede spezieller Böden, vor allem aber: an die Gemeinschaften anderer, diese Böden bevorzugender Kleinstlebewesen. Vertreter der Gattung Bembidion laufen sehr schnell und sind zudem meist flugfähig. Sie leben von und mit der natürlichen Dynamik der Gewässer, davon also, dass Flüsse und Bäche nach der Schneeschmelze oder nach starken sommerlichen Regenfällen regelmäßig ihr Bett verlassen, sich neue Wege bahnen und dabei Flächen zurücklassen, die zumindest kurzfristig vegetationsfrei bleiben. Auf diesen offenen Flächen laufen die Käfer an sonnigen Tagen umher und suchen ihre Beute mithilfe ihrer großen, vorspringenden Augen.

Viele Bembidion-Arten und ihre Verwandten sind bedroht oder bereits ganz aus unseren flurbereinigten Landschaften verschwunden; so etwa Bembidion eques, die einst größte mitteleuropäische Art, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im groben Schotter schnellfließender Bergflüsse lebte und die ich noch Anfang der 1980er-Jahre an der Mündung eines Baches in die Drau in Südkärnten beobachten konnte. Heute ist dieses Vorkommen erloschen, auch im deutschen Alpenraum konnte die Art seit 1949 nicht mehr nachgewiesen werden. Ähnliches gilt für vergleichbare Arten, die seit Jahrzehnten verschwunden sind.

Ihr Artenreichtum in den Alpen erklärt sich vor allem dadurch, dass die Fließgewässer dort dynamischer geblieben sind als im Tiefland; die Begradigung und Eindeichung von Flüssen wäre im Gebirge technisch und ökonomisch aufwändig. Wenn ein Bach nach der Schneeschmelze oder einem heftigen Sommerregen über seine Ufer tritt, sind Bembidion-Arten aufgrund ihrer Flugfähigkeit schneller als andere Laufkäfer oder uferbewohnende Spinnen und Ameisen dazu in der Lage, sich in höheres Gelände zu retten oder, aufgrund ihrer geringen Körpergröße, durch feine Bodenspalten Luftkammern unter dem Kies zu erreichen, in denen sie die Überflutung überstehen. Nach dem Rückgang des Hochwassers besiedeln sie dann die neu entstandenen vegetationsfreien Uferpartien als Pionierarten. Wenn die Ufer nach und nach zuwachsen, werden sie von anderen, besser an eine dichte Pflanzendecke angepassten Laufkäfergattungen (Agonum, Pterostichus, Acupalpus) verdrängt.

Die natürliche Dynamik von Gewässern, die die Voraussetzung des Lebens für Bembidion-Arten bildet, wurde in Mitteleuropa während der beiden letzten Jahrhunderte durch menschliche Eingriffe insbesondere im Tiefland unterbunden. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden im Rahmen der sogenannten Flurbereinigung fast alle Fließgewässer begradigt, die Ufer eingedeicht und befestigt, Bäche in Siedlungsgebieten in unterirdisch geführte Rohre umgeleitet, Flüsse durch Staustufen in ihrer Geschwindigkeit gebremst und Augebiete trockengelegt. Darin drückt sich ein globaler Trend aus: »Über die Hälfte des« auf der Welt »verfügbaren Süßwassers wird« inzwischen »von der Menschheit genutzt.« (Crutzen 2019: 172) Da die Hochwasserereignisse heute meist mit einem hohen Eintrag von Düngemitteln aus der Landwirtschaft einhergehen, kommt es auf den Rohböden, die die Hochwässer an den Ufern hinterlassen, zu einem beschleunigten Pflanzenwachstum, so dass Sand- und Kiesbänke meist schnell unter einer für die Bembidion-Arten ungünstigen Pflanzendecke verschwinden. Der von den Flüssen und Bächen mitgeführte nährstoffreiche Schlamm verstopft darüber hinaus das natürliche Lückensystem im Ufersubstrat, auf das die kleinen Käfer angewiesen sind. Die Bembidion-Arten verschwinden also vor allem durch Verlust und Degradation ihrer Lebensräume. Verstärkt wird der Verlust der Lebensräume durch weitere Faktoren, die heute zu einem allgemeinen Insektensterben (dem wir uns im Kapitel 12 ausführlich widmen werden) führen, insbesondere durch den intensiven Einsatz von Neonicotinoiden (hochwirksamen Pestiziden) in der Landwirtschaft sowie durch die Überdüngung landwirtschaftlicher Flächen, die Gewässer und ihre Uferbereiche mit Stickstoff-Verbindungen belastet. Über die Atmosphäre und das Grundwasser werden Pestizide und Stickstoff-Verbindungen auch in nicht intensiv landwirtschaftlich genutzte Flächen sowie in Gewässer eingetragen und verringern die natürliche Biodiversität dabei selbst in unseren meist viel zu kleinflächigen Naturschutzgebieten.

Auch die Stadt, in der ich dieses Buch schreibe, Hildesheim, liegt an einem Fluss, an der Innerste, die im Oberharz entspringt und bei Sarstedt in die Leine mündet. Die Innerste ist, wie viele andere Flüsse, im 20. Jahrhundert weitgehend kanalisiert worden, hat heute zahlreiche Staustufen und über weite Strecken eingedeichte Ufer. Unterhalb von Langelsheim, dem Ort, an dem sie den Harz verlässt, lassen sich kaum noch Uferpartien finden, die einer natürlichen Dynamik folgen würden. Der Fluss grenzt hier in den meisten Bereichen unmittelbar an landwirtschaftlich intensiv genutzte oder dicht besiedelte Flächen. Als Folge des jahrhundertlangen Erz-Bergbaus im Harz und der entsprechenden Abraumhalden ist das Wasser zusätzlich noch mit Blei, Zink und Cadmium belastet. Mit dieser Belastung wird wiederum die Notwendigkeit einer noch weitergehenden Eindeichung des Flusses begründet. Die Deiche sollen verhindern, dass die vom Fluss mitgeführten Schadstoffe bei Hochwasser die angrenzenden landwirtschaftlichen Flächen kontaminieren. Bembidion-Arten sucht man an den eingedeichten Ufern vergeblich. Davon, wie reich die Bembidion-Fauna dieses Flusses gewesen sein könnte, zeugen nur noch wenige, inselartige Reste halbwegs intakter Schotterufer oberhalb der Innerste-Talsperre bei Langelsheim oder im Naturschutzgebiet Mittleres Innerstetal bei Salzgitter-Ringelheim, die den Maßnahmen der »Landschaftspflege« bisher entgingen; auf wenigen Quadratmetern konnte ich hier im Mai des Jahres 2020 eine Vielzahl an heute teilweise sehr selten gewordenen, an Schotterufer gebundene Arten beobachten (u.a. Bembidionpunctulatum, obliquum, tetracolum, tibiale, geniculatum,decorum, atrocoeruleum und articulatum, vgl. Assing/Hetzel 2021).

Bembidion-Arten sind nicht nur in ihrer Vulnerabilität exemplarisch, sondern auch darin, dass die meisten Leser:innen sie nicht kennen. Sie teilen das Schicksal fast aller anderen Insekten und Wirbellosen; sie sind, im Gegensatz zu charismatischeren Arten wie Braunbär, Biber oder Wolf, nur wenigen Expert:innen bekannt und haben noch nicht einmal deutsche (oder entsprechend englische, französische, italienische…) Namen. Für ihre Lebensbedingungen oder auch nur ihren Erhalt setzt sich niemand ein. Dass ich überhaupt einen (immernoch viel zu flüchtigen) Einblick in die faszinierende Faunistik und Ökologie von Bembidion-Arten habe nehmen können, hat letztlich völlig kontingente Gründe.

Meine Kindheit war, obwohl ich in Münster, also einer Großstadt, aufgewachsen bin, von intensiven Naturerlebnissen geprägt. Wir wohnten nahe am Stadtrand. Felder, kleinere Laubwälder und mehrere Bäche, meist von Kopfweiden gesäumt, zogen mich an und waren leicht erreichbar. Im und am Wasser begegnete mir eine Fülle zunächst unbekannter Lebensformen wie Bachflohkrebse, Wasserwanzen, Larven von Köcherfliegen und Libellen, Schwimmkäfer und Amphibien. Das Leben dort faszinierte mich so sehr, dass ich die Bäche bald gezielter, mit Netz, Lupe und Bestimmungsbüchern aufsuchte, abenteuerliche Begegnungen mit Kaulquappen und Stichlingen, Wasserläufern und Flusskrebsen, Molchen und Turmdeckelschnecken, aber auch mit Wasser- und Laufkäfern hatte.

Über das Naturkundemuseum fand ich schon im Alter von 13 Jahren Kontakt zu einer entomologischen Arbeitsgruppe, schloss dort schnell Freundschaften, nahm an Exkursionen teil und erlebte die Insekten als ein opulentes Fest aus Farben und Formen. Angesichts der Fülle allein der mitteleuropäischen Insektenarten musste ich mich, wie alle seriösen Entomolog:innen, auf eine Gruppe spezialisieren. In meinem Fall war das einfach, da mich die Laufkäfer besonders ansprachen. Über ihre Beobachtung lernte ich nach und nach vieles über die mich umgebenden Landschaften und ihre historischen Wandlungen, sie wurden zu meinen treuen Wegbegleitern und kundigen Führern.

Westfalen hatte sich verändert und veränderte sich weiter. Im 19. Jahrhundert, einem naturbegeisterten Jahrhundert, zugleich aber dem Jahrhundert der Industrialisierung und des »Zurückweichens der Naturschranke« (Marx 1983b: 537), hatten sich Wissenschaftler erstmals umfassend darum bemüht, die Insektenfauna Westfalens zu erfassen. So erschien 1882 Fritz Westhoffs Buch Die Käfer Westfalens (Westhoff 1882) als eine erste Bestandsaufnahme. Die durch ein buntes Muster aus Wallhecken, kleinen Feldern, Laubwäldern, Bächen, Heiden und Mooren geprägte westfälische Parklandschaft war alles andere als eine unberührte Wildnis, aber doch sehr struktur- und damit auch sehr artenreich.

Die Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff hat dieser Parklandschaft in ihrer Prosaskizze Westfälische Schilderungen ein literarisches Denkmal errichtet. Ihre Wanderungen führten sie noch über »mit einer Heidenblumendecke farbig überhauchte Weidestrecken, aus denen jeder Schritt Schwärme blauer, gelber und milchweißer Schmetterlinge aufstäuben läßt. Fast jeder dieser Weidegründe enthält einen Wasserspiegel, von Schwertlilien umkränzt, an denen Tausende kleiner Libellen wie bunte Stäbchen hängen, während die der größeren Art bis auf die Mitte des Weihers schnurren, wo sie in die Blätter der gelben Nymphäen, wie goldene Schmucknadeln in emailierte Schalen niederfallen, und dort auf die Wasserinsekten lauern, von denen sie sich nähren. Das Ganze umgrenzen kleine aber zahllose Waldungen. Alles Laubholz, und […] in jedem Baume ein Nest, auf jedem Aste ein lustiger Vogel, und überall eine Frische des Grüns und ein Blätterduft, wie dieses anderwärts nur nach einem Frühlingsregen der Fall ist« (Droste-Hülshoff 1983: 12). Über diese Beschreibung schiebt sich allerdings bereits der Schatten einer ökologischen Melancholie, eine frühe Prognose des Anthropozäns: »So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahren nimmer sein. Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisse und Industrie. Die kleineren malerischen Heiden werden geteilt; die Kultur des langsam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen schnelleren Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getreideseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben. […] Fassen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt, auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.« (Droste-Hülshoff 1983: 14) Mit der Vielfalt der landschaftlichen Strukturen, die unter dieser »schlüpferigen Decke« begraben wurden, verschwand im 20. Jahrhundert ein großer Teil der noch im 19. Jahrhundert häufigen Insekten. Die Lokalfaunistik in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren, also in den Jahrzehnten während und nach der Flurbereinigung, war, verglichen mit derjenigen zur Zeit Westhoffs, vor allem die Bestandsaufnahme eines Verlustes. Viele der im 19. Jahrhundert als »weit verbreitet« und »gemein« gemeldeten Käfer-Arten waren entweder ganz verschwunden oder nur noch auf wenigen, sehr kleinräumigen Landschaftsinseln in geringen Individuenzahlen anzutreffen.

Auf Käfer aus der Gattung Bembidion bin ich erstmals an der Ems nordöstlich von Münster aufmerksam geworden, einem Fluss, der damals durch die Flurbereinigung ebenfalls weitgehend in einen Kanal verwandelt wurde. Doch einige Altarme wurden dabei schlicht vergessen, ihre Begradigung oder Trockenlegung war vielleicht einfach zu kostspielig. Dort hat sich auch ein wenig von der natürlichen Uferdynamik erhalten, einige offene Sandflächen, die durch die regelmäßig wiederkehrenden Frühjahrshochwasser vegetationsfrei blieben und die zugleich, verborgen hinter Weidendickichten, auch nicht von Anglern oder Badegästen zertreten wurden. Dort, wo sich auf wenigen Quadratmetern Ufersand bis zu 25 Bembidion