Vier Tage im März - Constance Hotz - E-Book

Vier Tage im März E-Book

Constance Hotz

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Beschreibung

Auf dem Rückweg von einem Fotoshooting macht Eva Halt in Müstair. Sie will nur einen Kaffee trinken und ein paar Eindrücke sammeln, doch es kommt anders. Wegen starker Schneefälle wird der Pass geschlossen, und sie sitzt fest. In den folgenden vier Tagen ziehen das Schweizer Bergdorf, die grandiose Landschaft, das Kloster und die Kirche mit ihren uralten Fresken Eva immer mehr in ihren Bann. Durch einen rätselhaften Todesfall überschlagen sich die Ereignisse, und ein lang verschüttetes Geheimnis gelangt ans Tageslicht. Unversehens findet sich Eva den Mysterien ihres eigenen Lebens gegenüber. – Ein Roman zwischen innerem und äußerem Geschehen, erzählt mit feinem Gespür für Nuancen und seelische Untiefen.

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Constance Hotz

Vier Tageim März

Roman

Personen und Handlungsind frei erfunden.

Für Karin Jenny

Alles hat seine Zeit und sein Maß.Und seinen Ort

In Anlehnung an die Inschrift

TOT HA SES TEMP E SIA MASÜRA

Museum Chasa Jaura Valchava,Val Müstair

Inhalt

ERSTER TAG

Prolog

Gegen die Laufrichtung der Zeit

Lawinengefahr

Der Tag, den der Herr gemacht hat

Geschichten vom Anfang

Erinnerungen

ZWEITER TAG

Der Tod auf dem Dachboden

Das Kloster im Schnee

Aufregung im Klosterhof

Kommissar Koller ermittelt

Eva verschweigt etwas

Eine seltsame Begegnung

Koller und das Fußballspiel

Die Rächerin

Koller und die Schlussminuten

Der Zauber des nächtlichen Klosters

DRITTER TAG

Was man nie erfahren wird

Koller und Eppachers Witwe

Eva und Thomas kommen nicht weit

Koller ist Salome auf der Spur

Eva wird mütterlich umsorgt

Anna und das goldene Schatzkästlein

Was Eva über die geheimnisvolle Frau erfährt

VIERTER TAG

Koller hat eine Idee

Auf der Suche nach Philomenas verlorener Zeit

Anna bringt ihre Schnipsel zur Polizei

Eine Kerze anzünden

Koller und die Akte Eppacher

Aneinander vorbei

Anna und die unio mystica aus der Pralinenschachtel

Geheimnisse

Der Rächerin auf der Spur

Eva und Philomena. Suchen und finden

Neuigkeiten für Ida Prezios

Raffina und Philomenas Geschichte

Koller und der Obduktionsbericht

Eva und das Geheimnis von Müstair

Kollers Abgang

Die Mitte der Welt

ERSTER TAG

Prolog

Die Unbestimmtheit eines frühen Nachmittags Anfang März. Düstere Wolken über dem Tal, nachlassendes Licht und eine zitternde Stille über dem Dorf. Es würde noch einmal Schnee geben. Auf den Dachfirsten der Häuser, die sich um den Plaz Grond scharten, hockten Alpendohlen. Ihr Gefieder glänzte schwarz, die gelben Schnäbel blitzten wie Warnleuchten.

Eigentlich war der Plaz Grond gar kein richtiger Platz. Er war kaum mehr als ein Stück verbreiterte Straße, der Hauptstraße durchs Dorf, der Kantonsstraße zur Grenze, der Ofenpassroute. Eine Ecke, die sich dem Verlauf der Klostermauer verdankt. Immerhin plätscherte ein Brunnen, gab es Holzbänke, Pflanzenkübel und ein Eisenschild, auf dem in erhabenen Buchstaben ›Plaz Grond‹ stand. Es gab eine Anschlagtafel mit wenigen Plakaten und vielen Klammern, unter denen die Reste abgerissener Plakate von vergangenen Veranstaltungen und alten Annoncen hingen. Genau genommen war die Anschlagtafel ein Holztor des Klosters, ein Nebeneingang zum Landwirtschaftshof, durch den am Morgen dieses Freitags eine bucklige Magd Müllsäcke geschleift und an der Außenmauer abgestellt hatte.

Die Beiläufigkeit des Platzes täuschte. Der Plaz Grond war eine Mitte. Er verband das Kloster mit dem Dorf und die Kirche mit der Welt. Er war von stattlichen, Sgraffito-geschmückten Häusern gesäumt, deren tiefe, sich nach innen verengende Fenster durch aufgemalte Rahmen vergrößert wurden. Autofahrer nötigte der Plaz Grond zu erhöhter Aufmerksamkeit und zum Langsamfahren, denn er beschrieb eine Kurve, nach der sich die Straße dorfeinwärts merklich verengte, zumal im Winter, wenn Schneeränder die Fahrbahn noch schmaler machten.

Viele Linien liefen auf dem Plaz Grond zusammen. Hier kreuzten sich Zeiten, Himmelsrichtungen und Geschichten. Die ältesten Geschichten lagen im Boden vergraben, andere waren hinter den Klostermauern verborgen, jüngere wurden in den Häusern erzählt und in den Herzen bewahrt.

Eine Katze ging geduckt über das Kopfsteinpflaster. Ein launischer Wind trieb sich herum, fauchte leise, wirbelte Blätter über die Straße und pfiff durch die gekreuzten Schwerter mit den goldenen Griffen, das Gasthausschild, unter dem ein Fenster geöffnet wurde. Der Wirt sah besorgt in den Himmel. Es würde noch einmal Schnee geben. Eine ältere Dame in einem braunen Mantel ging über den Platz, den Blick gesenkt, eine graue Haarsträhne verdeckte ihr Gesicht. Etwas in der Art, wie die Haarsträhne vor das Gesicht fiel, wie sie bei jedem Schritt mitschwang, rhythmisch und eigenwillig, berührte den Wirt seltsam, stieß eine Erinnerung in ihm an, und als der Wind die Strähne hob und einen Moment lang ihr Gesicht unverdeckt war, schien vor seinem inneren Auge ein Bild auf, das Bild einer stolzen jungen Frau, die sich mit unvergleichlicher Geste eine Strähne hinters Ohr streicht, nur um sie im nächsten Augenblick wieder im Gesicht zu haben. Wie lange ist das her?, dachte der Wirt, während er der Frau nachstarrte, bis sie an der Ecke zum Kirchweg verschwunden war. Das Fenster klirrte.

Es würde noch einmal Schnee geben. Und es würde noch mehr geben als Schnee. Denn an diesem Nachmittag sollte eine Geschichte weitergehen, die vor bald vierzig Jahren hier begonnen hatte. Hier an diesem Ort, dessen Namen die Zeit geschliffen hat wie einen Diamanten. Einen Namen, der empfindliche Seelen zu verzaubern vermag.

Gegen die Laufrichtung der Zeit

Der Vorhang verdeckte mehr als die Hälfte der Landschaft. Die Berge waren in warmes Abendlicht getaucht, ein stilles Leuchten lag über der Szene. Dort, wo sich zwei Gebirgszüge in der Ebene trafen, sah man eine Handvoll winziger, wie hingestreuter Häuser. In der Ferne verschmolz ein Gletscher mit dem blassen Himmel. Die Farbe des Vorhangstoffes wetteiferte mit dem Abendrot. Ja, das Changierende verschiedener Gelb-, Orange- und Apricottöne und der seidene Schimmer ließen den Stoff beinahe erhabener erscheinen als die Landschaft. Der Blick verfing sich regelrecht in diesem Vorhang. Und das war Absicht. Es war raffiniert inszeniert. Stoff und Bildmotiv waren so zueinander in Beziehung gesetzt, dass eine vielschichtige Spannung aus Farbnuancen, aus Nähe und Ferne, Schärfe und Unschärfe entstand. Gipfel der Stilisierung war jedoch, dass der Vorhang nicht vor einem Fenster hing, durch das man in eine natürliche Gebirgslandschaft blickte, sondern vor einer künstlichen Landschaft, vor einem hundert Jahre alten Gemälde.

Eva Fendt war in ihrem Element. Sie liebte das Spiel mit Schein und Sein, die irritierende Vermischung von Echtem und Künstlichem. »Das Licht höher«, rief sie, auf dem Podest stehend, die Kamera in Augenhöhe mit dem Bild. Rick, ihr Assistent, drehte am Scheinwerfer, bis der Vorhang regelrecht aufleuchtete. »Gut so. Und jetzt noch etwas Bewegung, der Stoff muss natürlicher fallen.« Rick machte sich an der Stoffbahn zu schaffen, die an den schmiedeeisernen Trägern der offenen Wandelhalle im Kurpark von Meran befestigt war, bewegte sie leicht hin und her, bauschte sie ein wenig in die Höhe und ließ sie wieder fallen. Im Ausschwingen des schweren Stoffes hörte man das Klickklickklickklick des Auslösers. »Ja«, rief Eva Fendt, »das ist es, genau, perfekt!«

Eine halbe Stunde später kletterte sie vom Podest, drückte Rick die Kamera in die Hand und sagte: »Wir sind durch, Rick! Mit dem Rest kommst du ohne mich klar, ja?«

Rick schaute Eva zuerst verdutzt, dann mit kumpelhaftem Lächeln an, zuckte kurz mit den Schultern und nickte. »Klar, das schaff ich schon, Boss.«

»Bist ein Schatz.« Es klang erschöpft und erleichtert. Eva spürte, wie die Anspannung nachließ. Sie wollte nur noch weg und alleine sein.

Fast drei Tage lang hatten sie unter enormem Zeitdruck gearbeitet. Hatten eine ganze Stoffkollektion fotografiert. Die ersten beiden Tage waren vier, fünf Leute auf dem Set gewesen und alle hatten mitgeredet. Der überdrehte Kreativdirektor der Werbeagentur mit immer neuen Ideen, die Stoffdesignerin und der Produktmanager, die auf unbedingte Wiedererkennbarkeit der teuren Stoffe bestanden. Der ständige Kampf um ihr Bildkonzept hatte Eva fast mehr Kraft gekostet als das Fotografieren selbst. Zum Glück war Rick gelassen geblieben, hatte sich um das ganze Drumherum gekümmert, hatte ihr den Rücken frei gehalten.

Die typischen Geräusche am Ende eines Shootings begleiteten Eva, als sie das Set verließ. Das Klicken von Schaltern, das Einrasten von Stativen, Alukoffer, die über den Boden geschoben wurden, immer leiser, als würde ein Lautstärkeregler langsam auf null gedreht. Eva sah nicht nach rechts und links, nahm nichts wahr von der erblühenden Natur, keinen Frühlingsduft, kein Vogelgezwitscher. In den Promenadencafés saßen Touristen, die Gesichter angestrengt der Sonne zugewandt.

Eine Brücke schwebte über dem trägen Fluss, stämmige Palmen standen in Stiefmütterchenrabatten wie Aufpasser. Eva ging halb blind die Promenade entlang, war mit den Gedanken immer noch beim Shooting, arrangierte vor ihrem geistigen Auge kostbare Stoffe zu Schaufensterauslagen, zu Marmorstatuen, zu Leuchtschriften, eilte über breite Gehsteige durch Villenviertel, bis sie bei ihrem Auto angekommen war. »Via monestra/Klosterstraße«. Endlich. Sie klickte die Wagentür auf, warf die Handtasche auf den Beifahrersitz, ließ sich hinters Lenkrad fallen, schloss die Augen und atmete auf.

Eva Fendt war Mitte dreißig und eine gefragte Fotografin, wenn es darum ging, Produkten einen mystischen Glanz zu verleihen. Ihre Bilder waren Installationen. Sie platzierte Objekte in außergewöhnlichen Umfeldern, komponierte mit Linien, mit Farbe und Licht. Nur hier war sie ein geduldiger Mensch, im Warten auf den Augenblick, in dem die Dinge ihr Geheimnis preisgeben. Sie hatte rote Ledersofas mit schwarzen Stieren auf einer Schneeweide, Schuhe in Augenhöhe mit den Tauben auf dem Markusplatz in Venedig, die Winterkollektion einer Modemarke an den Bügeln eines Schleppliftes fotografiert. Eines der Motive, weiße Hemden, gegen einen tiefblauen Himmel schwebend, hatte ihr eine wichtige Auszeichnung eingebracht. Das war vor zwei Jahren, und seither rissen die Anfragen nicht mehr ab.

Hinter ihr hupte jemand, der offenbar auf ihren Parkplatz wartete. »Ich bin ja schon weg!«, sagte Eva gereizt, nahe daran, vor Erschöpfung wütend zu werden oder loszuweinen. Sie ließ sich mit dem Strom des Nachmittagsverkehrs treiben, wusste nicht recht, wohin. Nach Hause natürlich, dachte sie, es ist Freitagnachmittag, das Shooting ist geschafft, es lief gut. Eigentlich sollte sie sich freuen. Tat es aber nicht. Sie war einfach zu erschöpft. In ihrer Handtasche klingelte das Handy, sie schüttelte den Kopf, ließ es klingeln. An einer roten Ampel nahm sie es heraus, sah, dass Thomas angerufen hatte. Sie fuhr weiter, wusste immer noch nicht, in welche Richtung, las »Bozen/Bolzano« auf einem Schild, das war falsch, sie scherte kurzerhand auf den Seitenstreifen und stellte den Motor ab. »Und jetzt?«, sagte sie laut, suchte in ihrer Handtasche nach Zigaretten und zündete sich eine an. »Wo will ich eigentlich hin?«, sagte sie noch einmal, und jetzt klang es wie eine Lebensfrage. Sie nahm die Straßenkarte aus der Türablage, breitete sie auf dem Lenkrad aus und merkte, wie sie beim Anblick der vielen Straßenlinien ruhiger wurde. Sie ließ die Augen über die Karte wandern, suchte nach einer Strecke, die sie noch nicht kannte, folgte den Passstraßen, als wären es Versprechungen. Nirgendwo konnte sie besser entspannen als beim Autofahren. Sie genoss es, allein mit ihrem Wagen unterwegs zu sein, auf immer neue Bilder aus. Sie liebte die Zufallsblicke im Vorbeifahren, das Wissen um ihre Flüchtigkeit, die glitzernden Eindrücke, die eine feine Sehnsucht schürten. Sie liebte die kurzen Aufenthalte mit der Aussicht, nicht bleiben zu müssen. Die Begegnung mit zwei Augen, in denen sich alle Möglichkeiten spiegelten. Verliebtheiten ohne die Mühen der Liebe. Ein Feuer anzünden, aber nicht hüten. Anfänge, immer nur Anfänge, das war es, was Eva suchte. Darauf war sie immerzu aus. Verbindlich war Eva eigentlich nicht.

Sie folgte den Linien der Passrouten mit der Fingerspitze, bis sie an einem Wort hängen blieb, dessen Klang etwas in ihrer Seele berührte. Der seltsame Name eines Orts, eines Tals: Müstair.

Eva hatte Thomas versprochen, gleich nach dem Shooting zurückzufahren und das Wochenende mit ihm zu verbringen. Thomas, der so gern alles mit ihr geteilt hätte. Sie rief ihn an, sagte, dass es später würde. Versuchte, den beleidigten Unterton in seiner Stimme zu ignorieren, sagte: »Bitte Thomas, nur ein kleiner Umweg, ich brauch noch ein wenig Zeit für mich, glaub mir, du hast sonst keine Freude mit mir«, und schwärmte von ihrer Entdeckung: »Stell dir vor, auf meinem Weg gibt es einen Ort, der heißt ›Müstair‹. ›Müstair‹, klingt das nicht mystisch? Und wie es geschrieben ist, vorne mit ›ü‹ und hinten ›air‹, wie englisch ›Luft‹, ›Himmel‹, ›Windhauch‹. Außerdem gibt es da ein altes Kloster. Das muss ein Ort sein, der über den Wolken schwebt! Ich erzähl dir dann. Bis später.«

Sie fingerte nach einer neuen Zigarette, blinzelte in die Sonne und gab Gas.

Allmählich wurde die Landschaft rauer, die Berge rückten näher, der Frühling war wie zurückgedreht auf seine ersten Anzeichen. Wolkenfetzen trieben über den Himmel, färbten ihn zunehmend grau. Der Talboden hielt sich mit Farben noch zurück. Aus dem schmutzigen Braun blitzten da und dort Forsythien, vereinzelt rosa Mandelbäumchen. In der Höhe glänzte noch der Winter, und dort, wo Licht auf dem Schnee lag, leuchteten die Gipfel wie Verheißungen. Eva mochte die Unentschiedenheit zwischen den Jahreszeiten, sie hatte das Gefühl, gegen die Laufrichtung der Zeit zu fahren, zurück in ein erwartungsvolles Davor.

Freitagnachmittag, es war viel Verkehr auf der Straße, alles schien in Bewegung, wirkte hektisch, nervös. Ein heftiger Wind ließ Fahnen an ihren Masten zerren, wirbelte Plastikfetzen durch die Luft. Im Talboden drängten sich Obstplantagen mit grotesk verkrüppelten Bäumen, Halden von Plastikkisten wuchsen in den Himmel. Hinter einer Kurve musste Eva scharf abbremsen, weil ein Traktor den Verkehr aufhielt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie überholen konnte. Als gehörte dieser Aufenthalt zur Dramaturgie ihrer Fahrt, wurde die Landschaft ruhiger, das Industrielle verlor sich. Das Tal öffnete sich und wurde weit. Wiesen und Äcker lagen behäbig ausgebreitet wie ein Flickenteppich, aus den Dörfern ragten zahllose Kirchtürme empor, wie Wegmarken. Eva ließ sie rechts liegen, bog in Richtung Schweiz ab und traute ihren Augen nicht, als sie durch ein enges Tor in eine mittelalterliche Kulisse kam. »Glurns/Glorenza«. Stadtmauer, Kopfsteinpflaster, geduckte Laubengänge und dann ein Platz wie ein historisches Bühnenbild. Eva parkte den Wagen, schritt den Platz ab wie eine Eroberung und nahm ihn mit ihrer kleinen Kamera ein. Gasthäuser, Geschäfte, eine Bank. Das skurrile Nebeneinander der Zeiten. Geldwechsel und Heiligenbilder, Paläste und Vereinsmitteilungen, trutzige Mauern und flatternde Fußballtrikots. Die Fotografin, immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Locations, machte sich Notizen. Auf einen Rundgang durch die Gassen verzichtete sie, schließlich wollte sie ja weiter. Nach Müstair.

Eine Brücke führte über den Stadtgraben, aus dem Mittelalter ins Jetzt dieses Freitagnachmittags Anfang März, als es zu regnen anfing.

Die Straße begann zu steigen. »Höhe 1000 m ü.M.«, stand auf einem Schild. In weiten Serpentinen ging es erst durch Wald, dann an offenen Wiesen vorbei, höher und höher, in einen drückenden Himmel. »Oh liebes Kind, wo gehst du hin?«, las Eva im Vorbeifahren an einer Kapelle. Dann hatte sie den Grenzort auf Südtiroler Seite erreicht. »Taufers i.M./Tubre«. Ein quirliges, bäuerliches Dorf. Hühner liefen aufgescheucht über die Straße, Frauen mit Einkaufstaschen standen schwatzend unter Regenschirmen, ein hinkender Alter in blauer Arbeitsschürze schlurfte auf eine Wirtshaustreppe zu. An der Grenze wurde kontrolliert, als würde man in eine andere Welt wechseln. Im Rückspiegel sah Eva das Land unten liegen, ein fernes Meer, das wie erstarrt gegen die Küsten brandete.

Die andere Welt begann nüchtern mit Tankstellen und Supermärkten. Eva ließ sie links liegen, sie wollte endlich ankommen. Der Regen war stärker geworden, die Straße glänzte vor Nässe. »Allegra Val Müstair«, las sie auf einem braunen Willkommensschild. Die nahen Berghänge waren schneegefleckt, ein dunkler Wolkenvorhang verdeckte die Sicht talaufwärts. Kein Leuchten, nirgends. Vor ihr in der breiten Talsohle lag stolz und gelassen das Dorf. Und unvermittelt tauchte aus dunklen Wiesen das Kloster auf. Ein massiger Kirchturm mit niederer Stirn, eine spitzgieblige Kirche, ein Zinnenturm mit abfallendem Dach, wie ein Pult an die Kirche gerückt. Dorfwärts eine Gruppe lang gestreckter Gebäude, als verneigten sie sich vor der Kirche. Eine niedrige Mauer, die alles zusammenhielt. Wie eine helle Festung lag das Kloster da, anziehend und abweisend, offen und verschlossen zugleich. Eine kleine Kapelle stand am Straßenrand, als risse sie sich los.

Eva zuckte zusammen, als sie unter lautem Hupen überholt wurde.

Lawinengefahr

Vor einem Gasthaus gegenüber dem Kloster hielt Eva und stieg aus. Ein stattliches, historisches Haus, in sich ruhend. Zwei gekreuzte Schwerter gaben das Wirtshausschild. Sie ging eine schmale steile Holztreppe hinauf, suchte Halt an dem geflochtenen Lederseil, das als Handlauf an der Wand befestigt war, fand keinen, das Seil geriet bei jedem Schritt ins Schwingen. Die Holztür, von deren Rahmen die Farbe abblätterte, führte in einen dunklen Vorraum. Eva wäre fast gestolpert, denn der Raum lag tiefer als die Türschwelle. Der Bretterboden wankte bei jedem Schritt, und es begann ein helles, vielstimmiges Klingeln. Sie blieb unwillkürlich stehen. Es waren die Weingläser, die auf einer Kommode standen und leise gegeneinander schlugen. Eva trat bedächtiger auf und schaute vorsichtig in den angrenzenden Raum, dessen Tür offen stand. Eine niedrige, holzgetäfelte Gaststube mit Erkern und Nischen, Kachelofen und tiefen Fenstern; die schwere Balkendecke hing regelrecht durch. Die Stube war menschenleer. Die Standuhr zeigte halb neun. Es war halb fünf. Auf einem großen Tisch in der Mitte des Raums lagen Bücher, Kunstbände und Magazine. Eva nahm eines der Hefte in die Hand und besah sich amüsiert den Titel. Aus den Sechzigerjahren. Einige Tische waren bereits zum Essen gedeckt.

»Allegra«, hörte sie plötzlich eine helle Männerstimme hinter sich, »was kann ich für Sie tun? Möchten Sie etwas essen? Wünschen Sie einen Kaffee?« Der Wirt, ein Mann um die sechzig, in kariertem Flanellhemd und beiger Cordhose, hatte sich unmerklich genähert. Ein leiser Mensch, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Ein stiller Flaneur des Bergtals, dachte Eva. Hohe Stirn unter schütterem Haar, scharf geschnittene Nase, schmale Lippen, wache, traurige Augen. Er war höflich und scheu, lächelte nicht. Melancholie umhüllte ihn wie ein unsichtbarer Ministrantenrock.

»Oh ja, ein Kaffee wäre wunderbar«, sagte Eva und setzte sich an einen Fenstertisch, Blick in die Gaststube, und leiser, weil sie es im selben Moment, da sie es aussprach, unangemessen fand: »Darf ich hier rauchen?« Das fragte Eva sonst nie, sie rauchte einfach.

»Bitte sehr«, antwortete der Wirt.

Die Zigarette wollte ihr nicht schmecken, und Eva drückte sie nach wenigen Zügen in den Aschenbecher. Der Wirt war verschwunden und kam kurze Zeit später mit einer Tasse Kaffee auf einem Tablett zurück.

»Sagen Sie«, begann Eva, als er ihr den Kaffee hinstellte, »ist das Kloster denn noch bewohnt?«

»Ja, von Benediktinerinnen«, sagte er. »Aber seit vielen Jahren ist es auch eine Baustelle der Archäologen. Sie graben und forschen und finden immer wieder etwas Neues.« Und nach einer Pause: »Die Kirche kann man besichtigen, es gibt berühmte Fresken.«

»Jetzt machen Sie mich aber neugierig! Und dabei sollte ich heute noch weiter.«

»Wir bekommen noch einmal Schnee«, sagte der Wirt mit besorgter Miene, »oben im Tal schneit es schon seit Stunden.«

Im Flur schellte laut ein Telefon. Der Wirt verließ die Stube, und dann hörte Eva eine Sprache, die ihr vollkommen neu war. Sie klang fremd und vertraut, warm, weich, hart, erdig und elegant – alles zusammen. Eva lauschte fasziniert, ohne etwas zu verstehen. Doch, mal meinte sie ein italienisches, dann wieder ein deutsches Wort herauszuhören, aber das war nicht wichtig. Eine Sprache aus einer anderen Zeit, abgeschieden und selbstgewiss, dachte Eva. So muss es sein, wenn man einen aus den Erdkarten gelöschten Kontinent wiederentdeckt. Man hat das seltsame Gefühl, angekommen zu sein. Man weiß nur nicht, wo.

»Verzeihung, wenn ich mich einmische, aber wollten Sie über den Ofenpass weiterfahren?«

Eva hatte gar nicht bemerkt, dass der Wirt wieder an ihrem Tisch stand. Sie nickte. »Ja, warum?«

»Der Anruf eben – der Ofenpass wurde wegen Lawinengefahr geschlossen. Wenn Sie unbedingt weitermüssen, können Sie auch den Reschenpass nehmen und …« Eva winkte ab. »… oder aber Sie bleiben über Nacht im Dorf. Hier im Haus ist leider kein Zimmer mehr frei. Aber wir finden schon etwas für Sie.«

Warum eigentlich nicht eine Nacht bleiben und morgen dieses Müstair erkunden, dachte Eva. Um die weitere Abwicklung des Meran-Projekts kümmerte sich ja Rick, und vor dem Wochenende mit Thomas würde sie sich ohnehin am liebsten drücken. Er hatte so ernst geklungen am Telefon, so dramatisch. Wahrscheinlich stand wieder einmal ein Grundsatzgespräch an. Eva hasste solche Gespräche. Für den Augenblick musste sie nur diese eine Hürde nehmen: Thomas anrufen und ihm sagen, dass sie doch erst morgen komme. Tut mir wirklich leid, würde sie sagen, unerwartet heftige Schneefälle, Lawinengefahr, geschlossener Pass, höhere Gewalt.

»Würden Sie mir denn ein Zimmer besorgen?«, fragte Eva. »Dann schaue ich mir auch gleich noch die Kirche an.«

»Ich telefoniere sofort.«

Wieder horchte Eva auf die seltsam schöne Sprache, bedauerte, dass das Telefonat nur kurz war.

»Ich habe etwas Schönes für Sie gefunden«, sagte der Wirt eifrig, als er zurückkam, »in einer Pension oberhalb des Klosters. Es wird Ihnen gefallen.«

»Wunderbar, haben Sie vielen Dank!«

»Sie können gerne bei mir zu Abend essen.« Der Wirt erzählte von selbst erlegtem Wild, pries das Menü an, und Eva versprach zu kommen.

Der Tag, den der Herr gemacht hat

Eva holte einen Schirm aus dem Wagen, überquerte die Straße und ging in Richtung Kirche. Vorbei an dicken Mauern mit kleinen Kippfenstern, aus denen Stallgeruch drang. Vorbei an einem Torturm, der sich zu einem Hof öffnete. Von der Fassade blickten lebensgroße Heiligenfiguren unter Baldachinen ins Weite. Auf einem Wandgemälde blies ein Esel den Dudelsack, ein Mann kniete ergeben vor ihm. Verkehrte Welt. Vorbei an einer Sonnenuhr, die ihren Zeiger in den kalten Regen streckte. Vorbei an Gebäuden, die miteinander verbunden und dennoch ganz verschieden waren. Jedes schaute mit anderen Fenstern in die Welt. Die Glocke schlug fünf Uhr. Ein Auto fuhr vorbei, eine dicke Ladung Schnee auf dem Dach. Die kleine Kapelle stand verloren am Straßenrand. Eva ging durch das hölzerne Tor, das den Gehsteig vom Kirchweg trennte. Hinter dem mächtigen Glockenturm verschwand die Kirche beinahe. Rechts vom Weg lag leicht erhöht der Friedhof mit lauter Rückseiten von Grabsteinen, Kreuzen, Marmorfiguren. Da und dort flackerte ein rotes Seelenlicht. Dunkle Wolken verhüllten das Tal. Italien war hinter einem schwarzen Vorhang verschwunden.

Als Eva unter das Vordach der Kirche trat und ihren Schirm abspannte, wurde die Kirchentür aufgestoßen, und ein älterer Mann stürzte heraus. Er schien zutiefst verwirrt. Seine Augen wichen Evas Blick entsetzt aus. Er trat einen Schritt zur Seite und eilte in Richtung Straße davon. Mit dem Blick der Fotografin registrierte Eva seine Kleidung: dunkelgrauer Wollmantel, dunkle Hosen, elegante schwarze Halbschuhe. Sie schaute ihm irritiert nach, drehte sich um und öffnete die wieder zugefallene Tür. Ihre Hand zitterte.

Die Dunkelheit warf Eva ein Tuch über den Kopf. Dünne Stimmen woben Silberfäden hinein. »Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat.« Die Gebete der Nonnen rieselten kalt von der Empore. Eva vergrub die Hände tiefer in den Manteltaschen. Versuchte zu sehen. Wuchtige Rundsäulen verstellten den Blick. Sie ging vorsichtig bis zum Mittelgang, fiel unmerklich in den Takt des Singsangs von der Empore. »Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat.« Sah nach vorn. Vom Fenster über dem Altar fiel diffuses Licht in den Raum. Es reichte nicht, um irgendetwas sichtbar zu machen. Es blendete beinahe, wie ein Scheinwerfer im Nebel.

Plötzlich bemerkte Eva, dass sie nicht allein war. Nur ein paar Bänke vor ihr, dicht an einer Säule, sah sie den Umriss einer knienden Gestalt, mit gesenktem Kopf, das halblange Haar wie ein dünnes Tuch. Eva wandte den Blick ab, die Wände hoch, vage Bildfelder entlang, hinauf ins dunkle Gewölbe. Im Augenwinkel nahm sie ein schwaches Flackern wahr. Es kam von einem Lichtschalter, der an einem Tisch im Mittelgang angebracht war. »Fresken-Beleuchtung«, stand darunter. Sollte sie? Sie würde vielleicht die Frau in ihrem Gebet stören, drückte schließlich doch auf den Schalter, zögernd, als könnte ihr Zögern das kommende Licht dämpfen.

Und dann war das Bild da. Und obwohl eine Gesellschaft an einer reich gedeckten Tafel saß, ein Gekrönter in der Mitte, obwohl Musikanten aufspielten, obwohl ein Henker mit erhobenem Schwert einen abgeschlagenen Kopf an den Haaren hielt, den ein Scherge in einer Schüssel entgegennahm, obwohl ein enthaupteter Körper halbnackt aus einer Kerkertür sackte, obwohl das abgeschlagene Haupt noch einmal zu sehen war und noch einmal und noch einmal, obwohl eine Trauergesellschaft den Toten zu Grabe trug, sah Eva nur eine einzige Figur: eine Gauklerin im langen braunen Kleid, kopfüber schwebend, sich überschlagend. Sie hing in der Luft, schwerelos, die Knie angewinkelt, das fliehende Haar wie Schlangen, züngelnd, ein Flammenschwert. Die langen Hände gestreckt, vor Entsetzen oder um sich abzustützen, um den Sturz zu dämpfen, eine Artistin, die Ärmel in einer großen Geste fallend. Die Eleganz der Bewegung, die Leichtigkeit des Fliegens. Die Gauklerin schwebte und fiel, triumphierte und stürzte. Alles zugleich. Sie stürzte nicht. Ein eingefrorenes Bild, ein angehaltener Augenblick.

Das Licht erlosch. In der Kirche war es wieder dunkel. »Der Tag, den der Herr gemacht hat.« Eva ging noch einmal zu dem Tischchen mit dem flackernden Licht. Wollte noch einmal sehen. Drückte auf den Schalter. Sie stand jetzt so, dass die Betende (Eva hatte sie vollkommen vergessen) genau in ihrer Blicklinie war. In einer Linie mit der Gauklerin. Kniete noch immer versunken in ihrer Bank. Die Schulter ein Bogen, der gleich gespannt wird. Als hätte sie Evas Blick gespürt, hob sie den Kopf und drehte ihn in Richtung der Gauklerin. Im selben Augenblick war es, als berührten sich die beiden Köpfe, und ein Funken würde geschlagen. Evas Blick wusste nicht, wohin, sprang hin und her zwischen dem einen Kopf und dem anderen, vor und zurück, immer schneller, bis die beiden Figuren miteinander zu verschmelzen begannen und eins wurden. Knien war schweben, der Abgrund war oben, der braune Mantel war das braune Kleid, die gefalteten Hände öffneten sich zu einer großen, königlichen Geste. Das Licht erlosch, Eva tastete nach Halt, fand eine Bank, taumelte hinein, schloss die Augen. Das Bild hämmerte weiter in ihrem Kopf, eine psychedelische Doppelbelichtung.

Wie von fern hörte Eva bedächtige Schritte, an ihrer Bank vorbei, dann eine Tür, die ins Schloss fiel. Und noch immer der Chor der Nonnen von der Empore. Die dünnen Stimmen wärmten sie jetzt. Eva war froh, dass sie nicht allein in dieser Kirche war. Sie setzte sich auf, atmete tief durch, und als würde sich augenblicklich die Welt zurückmelden, fiel ihr ein, dass sie unbedingt Thomas anrufen musste. Sie schüttelte den Kopf und dachte, warum um Himmels willen lasse ich mich von einem Kirchenbild so erschrecken? Sie wurde ruhiger, horchte auf den Singsang der Nonnen, bis er versiegte. »In Ewigkeit, Amen.« Ein kurzes Rascheln auf der Empore, ein leises Klicken, Stille.

Eva richtete sich auf, schaute nach vorn, der Platz an der Säule war leer. Sollte sie noch einmal Licht machen? Nein, dachte sie, es ist genug. Sie stand auf und ging, noch immer leicht benommen, im Mittelgang zurück. Blieb plötzlich stehen. Sie hatte Geräusche gehört, Geräusche, die von oben zu kommen schienen. Nicht von der Empore, sondern von weiter oben, aus dem Gewölbe, von der anderen Seite der Decke, es klang wie Schritte, schnelle Schritte. Aber das ist doch unmöglich, dachte sie, und dann hallte ein dumpfes Poltern, als wäre etwas umgestürzt. Eva hielt den Atem an, horchte gebannt nach oben, ihr Herz pochte laut. Und dann wieder die unheimlichen Schritte, immer schneller. Eva drehte sich um, hastete zum Ausgang, zog die zwei schweren Türen auf, lief den Kirchweg hinunter.

Über dem Dorf lag eine bleierne Dämmerung, und es schneite.

Geschichten vom Anfang

Als Eva von ihrer Pension zum Gasthaus ging, schneite es noch immer. Die Schneeflocken fielen wie in Zeitlupe, wie Wattebäuschchen, helle Tupfen auf nachtblauer Leinwand. Schon waren Dächer, Bäume, Zäune weiß. Auf der Straße die tiefen Abdrücke von Winterreifen. Von den Bremslichtern eines vorbeigleitenden Autos träufelte ein roter Schimmer in den Schnee. Alles klang gedämpft, alles schien leiser, langsamer. Als hätte jemand die Welt weich eingehüllt und ihr Ruhe verordnet.

Die Hand am schaukelnden Lederseil, stieg Eva die schmale Treppe hinauf und trat, begleitet vom hellen Gläserklingeln, in die Gaststube. Sie steuerte ihren Platz vom Nachmittag an, doch der war besetzt. Alle Tische waren besetzt. Ein Sprachengewirr erfüllte den Raum. »Buna saira«, sagte der Wirt, der mit einem Tablett Flaschen und Gläser in die Stube kam, »schön, dass Sie gekommen sind, hier habe ich noch einen Platz für Sie.« Er wies auf den Tisch gleich neben der Tür. Eva setzte sich auf die Bank mit der Arvenholzwand als Lehne, zündete sich eine Zigarette an. Über dem Nischenbogen gegenüber hingen Rehgeweihe, die Uhr stand immer noch auf halb neun. An der Wand gerahmte Schwarzweißfotos von der Wirtsfamilie. Auf einem Bild saß der Wirt als junger Mann mit dichtem schwarzem Haar genau da, wo Eva jetzt saß. Auf der anderen Seite der Tür seine Mutter (er war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, die traurigen Augen, die schmalen Lippen), müde und in sich gekehrt, die Hände übereinandergelegt, wie man sie Verstorbenen übereinanderlegt.

Eine Stunde zuvor hatte Eva ihr Zimmer in der Pension bezogen und der Wirtin lieber nichts von ihren seltsamen Erlebnissen in der Kirche erzählt, obwohl die alte Dame nur zu offensichtlich auf Unterhaltung aus war. Dann hatte Eva ein Bad genommen und ein paar Seifenblasen platzen lassen. Ja, das konnte sie: Dinge, die ihr Angst machten, einfach wegschnippen, ausblenden, vergessen. Ihre Telefonpflichten hatten sie schließlich endgültig auf den Boden zurückgebracht. Rick würde morgen in Müstair vorbeikommen, um mit ihr gemeinsam die Probeaufnahmen von Meran zu sichten und eine erste Bildauswahl zu treffen. Nur Thomas hatte sie nicht erreicht. Zuerst war sie erleichtert darüber, dann kam das schlechte Gewissen, dass sie erleichtert war. Sie würde es später noch einmal versuchen müssen.

Eva stellte das Glas ab und nahm ein Stück Brot, als ein Mann in schwarzem Pullover und mit schwarz-weiß kariertem Schal an ihren Tisch trat. Auf seinen kurz geschnittenen Haaren schmolzen glitzernd Schneeflocken. Er lächelte, deutete eine Verneigung an und sagte: »Entschuldigung, darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Gerne«, nickte Eva und sagte: »Eva Fendt, auf der Durchreise hier hängen geblieben, weil der Pass geschlossen ist – Sie vermutlich auch.«