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Viktor ist nicht geistig zurückgeblieben. Er ist unterdurchschnittlich begabt. Auch mit der Agoraphobie, die ihn an seine Wohnung fesselt, hat er umzugehen gelernt. Nur der Lärm aus der Nachbarwohnung stößt ihm sauer auf. So wirklich besser wird Viktors Situation aber nicht, als plötzlich Stille einkehrt, weil die Nachbarn brutal erschlagen wurden. Er könnte es nämlich gewesen sein. Oder will ihm jemand etwas anhängen? Was er mit Sicherheit weiß: Im Gefängnis würde er es nicht aushalten. Ihm bleibt keine Wahl. Er muss das Verbrechen aufklären. Aber wie, wenn er nicht aus dem Haus kann? Und was hat das alles mit einem schamanistischen Ritual zu tun? Viktor stellt sich seinen Zwängen und sucht die Antwort auf das, was passiert ist. Der Kampf gegen die eigenen Ängste wiegt dabei ebenso schwer wie jener gegen eine Welt, die ihn seit seiner Kindheit abgestempelt hat.
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2024
Robert Pucher
Viktor geht hinaus
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Inhaltsverzeichnis
Titel
DIE LAUS AUF DER LEBER 1
2
3
4
5
6
DER FLOH IM OHR 7
8
9
10
11
12
DER FROSCH IM HALS 13
14
15
16
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18
19
20
DIE AMEISEN IM POPO 21
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Impressum neobooks
Geräusch Nummer vier: Das surrende, polternde Rollen. Ganz am Anfang hat Viktor an einen Ball gedacht, den das Russenkind quer durch den Raum schießt, doch ein Ball kann es nicht sein, jedenfalls kein normaler aus Plastik. Der wäre zu leicht, den hätte man nicht gehört. Also hat er bald ein anderes Bild vor Augen gehabt. Das Russenkind sitzt auf einem Dreirad oder in einem Tretauto und fährt in seinem Zimmer auf und ab. Dass es das Kind ist, das das Geräusch Nummer vier verursacht, ist so gut wie sicher, weil Viktor es quietschen und lachen hört. Seit gut einer halben Stunde geht das schon so, direkt über seinem Schlafzimmer. Das Russenkind rattert vom Fenster zur Tür und zurück, hin und her, immer wieder. Zweiundzwanzig Uhr ist Schlafenszeit. Das ist vor knapp vierzig Minuten gewesen.
Viktor hat sich bis zum Kinn in seine Tuchent eingerollt. Er wälzt sich einmal nach links, dann nach rechts. Nur nützt das nichts. Wenn er auf dem linken Ohr liegt, hört er den Lärm mit dem rechten, liegt er auf dem rechten Ohr, hört er den Lärm mit dem linken, und beides ist nicht besser, als würde er das Russenkind mit beiden Ohren hören.
Damit er nicht länger hinauf zur Decke starrt oder auf die Zeitanzeige vom Wecker, presst Viktor die Augen so fest zu, dass er rote Streifen sieht und fliegende Punkte. Als er das letzte Mal die Uhr kontrolliert hat, ist es zweiundzwanzig Uhr vierunddreißig gewesen. Davor zweiundzwanzig Uhr siebenundzwanzig und noch einmal davor zweiundzwanzig Uhr einundzwanzig. Diesmal muss er es mindestens zehn Minuten schaffen, nicht auf den Wecker zu schauen, hat er sich vorgenommen.
Gerade rollt das Russenkind wieder los. Etwas scheppert. Für zwei, drei Sekunden ist es still, dann beginnt es zu weinen. Nein, es weint nicht, es heult wie ein Wolf. Es ist wo dagegen gefahren, denkt Viktor. Mit vollem Karacho. Gegen die Tischkante oder den Schrank, und jetzt plärrt es, weil es sich wehgetan hat und vielleicht sogar blutet. Das würde Viktor gefallen. Es gehört sich zwar nicht, anderen Menschen etwas Schlechtes zu wünschen, hat die Mama gesagt, aber dem Russenkind vergönnt er die Schmerzen trotzdem, denn die Mama hat auch gesagt, dass jedes Unrecht irgendwann bestraft wird.
Warum ist das Kind überhaupt noch auf? Es ist vier Jahre alt. Es müsste längst im Bett liegen und schlafen. Dafür sollte seine Mutter sorgen, doch die tut nichts. Die Russin unternimmt nie etwas, und einen Vater, der ein Machtwort sprechen würde, gibt es nicht. Bei Viktor ist das anders gewesen. Er hat einen Vater und bei dem hat er um neunzehn Uhr im Bett sein müssen, auf die Minute, obwohl er schon in die Volksschule gegangen ist. Diskussionen hat es nicht gegeben. Da hat Viktor noch so betteln können, weil er sich Knight Rider im Fernsehen anschauen hat wollen. Wenn der Vater nein gesagt hat, war das ein Nein.
Zum Trost hat die Mama Viktor eine Gutenachtgeschichte vorgelesen. Eine mit einer Prinzessin, einer Fee und einem Einhorn. Viktor hat die Geschichte gemocht, und er hätte sich gewünscht, dass die Mama mit dem Vorlesen nie aufhören würde, aber kurz vor dem Ende hat sie das Buch zugeklappt und das Licht abgedreht. Den Rest erzählt sie ihm morgen, hat sie versprochen und sich eine Weile zu ihm ins Bett gekuschelt. Viktor hat nie erfahren, wie das Abenteuer von der Prinzessin, der Fee und dem Einhorn ausgegangen ist, weil die Mama am nächsten Tag mit dem Vorlesen wieder von vorne begonnen hat.
Das Russenkind plärrt immer lauter. Dazu setzt Geräusch Nummer zwei ein. Das Fauchen vom Durchlauferhitzer. Wasser rauscht durch die Leitung und prasselt in die Badewanne. Die Russin duscht. Mitten in der Nacht. Zweiundzwanzig Uhr einundvierzig steht auf dem Wecker. Jetzt hat Viktor erst wieder hingeschaut. Es sollte eine Hausordnung geben, findet er. Eine, in der steht, dass man nach zweiundzwanzig Uhr nicht mehr duschen darf, und am besten auch, dass jeder andere Lärm zu jeder anderen Zeit strengstens verboten ist. Zu Hause bei den Eltern hat es eine solche Hausordnung gegeben. Der Vater hat sie persönlich aufgestellt. Wenn er nach der Arbeit auf der beigefarbenen Wohnzimmercouch gesessen ist und die Zeitung gelesen hat, wollte er nicht gestört werden. Oder später beim Abendessen. Oder wenn er sich danach im Fernsehen die Nachrichten angesehen hat. Da hat niemand etwas sagen dürfen. Nicht einmal die Mama.
Ein dumpfer Knall schreckt Viktor auf. Ihm bleibt fast das Herz stehen. Der Knall ist neu. Der ist keines der Geräusche, die er nummeriert hat. Das Russenkind schreit nicht mehr, es brüllt. Und wieder knallt es, dass die Wände zittern. Das muss das Dreirad sein oder das Tretauto. Vermutlich steht das Kind da, mit hochrotem Kopf, hebt es in die Höhe und schleudert es mit voller Wucht auf den Boden. Genau über Viktors Schlafzimmer, genau über ihm.
Viktor zählt die Sekunden. Auf die Uhr sehen darf er ja nicht. Und dann, nachdem das Wasserrauschen endlich aufhört, kommt die Russin oben angetrampelt, hat wahrscheinlich nur ein Handtuch um sich gewickelt und beginnt, mit dem Kind zu schreien. Das Kind schreit zurück. Etwas scheppert, klirrt, zerbricht.
Jetzt ist es genug. Viktor richtet sich auf. Jetzt wird er tun, was er schon längst hätte tun sollen, aber nie getan hat, obwohl er es sich oft und oft vorgenommen hat, in allen Einzelheiten.
Nein, lass es, sagt Katharina. Du machst dir nur Schwierigkeiten. Sei vernünftig, es wird schon aufhören.
Das sagt sie immer. Aber es hört nicht auf. Es wird nie aufhören. Den Lärm hat er jeden Tag.
Lass es, wiederholt sie leise.
Viktor weiß, dass sie es gut meint. Sie will ihn beruhigen, aber das funktioniert nicht. Er greift zu ihr hinüber und streichelt ihren warmen Bauch.
»Es muss sein«, flüstert er. Er will nicht, dass Katharina böse auf ihn ist. Er möchte, dass sie ihn versteht. »Diesmal muss es sein.«
Viktor schlüpft in seine Hausschuhe. Er holt seinen Morgenmantel aus dem Wandschrank im Vorzimmer und zieht ihn an. Er weiß, was sich gehört. Anderen Menschen kann man nicht im Pyjama gegenübertreten. Unmöglich. Wie sieht das denn aus? Als wäre man ein Verrückter, der aus der Irrenanstalt entsprungen ist.
Erst jetzt dreht er das Licht auf und schaut sich im Spiegel an. Der Morgenmantel ist rot und gelb gestreift und hat einen roten Gürtel. Die Mama hat ihm den Mantel geschenkt. Vor sechs Jahren, zu seinem dreißigsten Geburtstag. Es ist das erste Mal gewesen, dass er keinen selbst gestrickten Pullover von ihr gekriegt hat, weil die Mama damals wegen ihrer Gicht nicht mehr so gut stricken hat können.
Viktor geht ins Wohnzimmer und nimmt das Fotoalbum aus der untersten Lade der Anrichte. Es ist so dick und schwer, dass er es mit beiden Händen hochheben muss. Vier Kilo wiegt es. Das hat er überprüft, indem er einmal mit und einmal ohne Album auf die Badezimmerwaage gestiegen ist und dann vom Gewicht mit Album das Gewicht ohne Album abgezogen hat.
Viktor hat eine schwerwiegende Vergangenheit, hat Clarissa einmal spaßeshalber gesagt. Das ist ein Wortspiel gewesen, das er nicht gleich verstanden hat. Sie hat es ihm erst erklären müssen, dann hat er gelacht.
Bevor er die Wohnung verlässt, streicht er mit den Fingern über die grüne Schlangenhaut vom Einband. Es ist keine echte Schlangenhaut. Sie ist aus Plastik, aber die Schuppen fühlen sich trotzdem angenehm an.
Viktor atmet dreimal tief ein und aus. Aus dem Bauch heraus. So kann er seine Angst kontrollieren, hat er gelernt. Aber es funktioniert nicht immer. Es kommt auf die Verfassung an. An guten Tagen, ja, an schlechten, nein. Er öffnet die Tür und hebt den rechten Fuß über die Schwelle. Das heißt, er will den rechten Fuß über die Schwelle heben, nur der Fuß will das nicht. Viktor probiert es mit dem linken. Mit dem geht es leichter.
Drüben bei Clarissa ist es still. Wahrscheinlich ist sie ausgegangen. Clarissa geht gerne aus. Auch unter der Woche, wenn sie am nächsten Tag zeitig aufstehen und arbeiten muss. Viktor hat keine Ahnung, wie sie das schafft. Er könnte das nicht. Er braucht mindestens acht Stunden Schlaf. Deswegen liegt er meistens um zweiundzwanzig Uhr im Bett und das, obwohl er nicht arbeitet.
Gleich neben seiner Wohnungstür ist der Lichtschalter. Viktor knipst das Ganglicht an und steigt die Treppe hinauf, ganz leise, auf Zehenspitzen. Im Gegensatz zu den Russen ist er ein rücksichtsvoller Mensch. Er käme nie auf die Idee, andere zu belästigen.
Stumm zählt er die Stufen. Achtzehn sind es und ein Treppenabsatz auf halbem Weg. Im ersten Stock gibt es nur die Russenwohnung und den Dachboden gegenüber. Viktor lauscht an der Tür. Vom Kind ist nichts zu hören, dafür dröhnt der Fernseher. Eine Minute will er der Russin noch geben. Eine Minute, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht kommt sie von selbst zur Vernunft und dreht die Lautstärke zurück, dann könnte er sich das alles sparen und wieder hinuntergehen, als wäre nichts gewesen.
… siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig. Die Zeit ist um. Viktor drückt auf die Klingel, aber die gibt keinen Ton von sich. Zur Sicherheit tippt er nochmals auf den Schalter. Nichts. Die Glocke ist kaputt. Das passt zu den Russen. Russen sind schlampige Menschen, denen alles egal ist.
Wieder macht er seine Atemübung gegen die Aufregung. Jetzt muss er klopfen und das möchte er eigentlich nicht, weil Klopfen unhöflich ist. Das hat etwas Bedrohliches. Die Polizei klopft, wenn sie kommt, um einen Verbrecher festzunehmen, oder die Geldeintreiber von der Mafia, bevor sie ihrem Opfer die Kniescheiben brechen. Viktor kennt das alles aus Filmen. Als er an die Tür pocht, wird der Fernseher leiser. Gleich wird sie dastehen, denkt er, und seine Fingernägel bohren sich in die Schlangenhautschuppen vom Fotoalbum. Ein Schweißtropfen rinnt von seiner Achsel bis zum Bund von der Pyjamahose und kitzelt ihn. Ein paar Sekunden würden ihm noch bleiben, um davonzulaufen, um sich unten in seiner Wohnung zu verstecken und so zu tun, als würde er schlafen. Niemand könnte beweisen, dass er es gewesen ist, der die Russin beim Fernsehen gestört hat.
»Herr Funk?« Sie trägt einen knallgelben Jogginganzug. Kurz schaut sie ihn an. Dann blickt sie auf ihre goldene Uhr. Russen haben immer goldene Uhren. »Ist schon spät«, sagt sie. »Gibt es Problem?« Sie spricht mit einem komischen Akzent, einem russischen, wie Viktor annimmt.
Er holt aus und schlägt ihr das Fotoalbum ins Gesicht. Die Russin taumelt zurück. Sie will etwas sagen, da haut er wieder hin, mit aller Kraft, und bricht ihr die Nase. Zumindest nimmt er das an, weil ihre Nase auf einmal ganz schief ist und blutet. Mit dem dritten Schlag trifft er sie an der Schläfe. Das bringt sie zu Fall.
»Mama?«, hört er das Kind rufen. Das Kind hat keinen Akzent. Jedenfalls sagt es Mama so, wie er es zu seiner Mama gesagt hat. Aber das muss nichts heißen. Kann sein, dass Mama auf Russisch auch Mama heißt. Das wird er im Internet nachlesen.
Das Mädchen kommt ins Vorzimmer und reibt sich verschlafen die Augen. Es ist dick und hat hellblonde Haare, fast weiß. Es sieht seiner Mutter überhaupt nicht ähnlich, weil die dunkle Haare hat und nicht dick ist. Darüber hat sich Viktor schon oft gewundert, wenn er die Russen heimlich durchs Fenster beobachtet, morgens, wenn sie wegfahren, oder am Abend, wenn sie wieder heimkommen.
Das Russenkind trägt ein langes, weißes Nachthemd mit aufgedruckten, rosaroten Patricks. Patrick ist der Seestern aus SpongeBob, SpongeBobs bester Freund. Viktor schaut sich jede Folge auf SUPER RTL an. Er mag Patrick, weil der so lustig und unbeholfen ist. Er findet ihn viel sympathischer als SpongeBob, obwohl der die eigentliche Hauptfigur der Serie ist.
Viktor knallt dem Russenkind das Album auf den Kopf. Das Mädchen fällt um wie ein Brett. Genau gegen den Türstock. Wenn ein Genick bricht, macht das ein unheimliches Geräusch. Viktor hätte nicht gedacht, dass es so laut ist.
Die Mutter kommt zu sich. Sie greift nach Viktors Bein und will sich an ihm hochziehen. Er tritt ihr in den Bauch. Dann prügelt er wieder mit dem Album auf sie ein. Auf ihrer Stirn platzt eine Wunde auf. Blut rinnt über ihr Auge, über ihre Wange, vermischt sich mit dem Blut von der gebrochenen Nase und tropft auf den Boden. Immer wieder schlägt er zu. Er schafft es nicht, aufzuhören. Er drischt auf die Russin ein, bis es vorbei ist.
Menschen zu ermorden ist anstrengend. Das hätte Viktor nicht gedacht. Das viele Hinhauen hat ihn ganz schön außer Atem gebracht. Er dreht den Fernseher ab und setzt sich auf die Couch, nur kurz, bis sich sein Puls beruhigt hat. Er weiß, dass er verschwinden sollte, und das möglichst rasch, bevor jemand kommt und ihn ertappt, in flagranti, wie sie in den Krimis sagen. Lange hat Viktor geglaubt, dass flagranti ein Ort ist, und hat sich gewundert, dass alle Morde dort passieren.
Doch flagranti kann überall sein, also auch hier. Clarissa könnte zum Beispiel auftauchen und ihn überraschen. So wie er sie kennt, hätte sie das, was er getan hat, nicht gut gefunden und sich mordsmäßig aufgeregt. Aber bevor er geht, muss er eine Sache überprüfen. Später, wenn die Polizei einmal hier ist und den Tatort abriegelt, wird er dazu keine Gelegenheit mehr haben.
Viktor schleicht ins Kinderzimmer und sieht sich um. Geräusch Nummer vier. Er hat recht gehabt. Es ist ein Dreirad.
»Buh!«
Viktor fällt vor Schreck fast der Teller aus der Hand. Als er sich umdreht, steht Hook da. Viktor hat ihn nicht gehört, weil er gerade beim Geschirr abwaschen ist und das Wasser so laut rauscht.
»Herzkasperl?«, grinst Hook.
»Du sollst nicht immer …« Viktor keucht. »Ich mag das nicht, wenn du … Wie oft habe ich dir schon gesagt …«
Er kann es nicht leiden, wenn Hook ohne anzuläuten in die Wohnung eindringt und sich von hinten an ihn heranschleicht. Und genau, weil Viktor das nicht leiden kann, macht es Hook justament. Hook hat einen Riesenspaß daran, ihn zu erschrecken.
Viktor stellt den Teller weg, dreht das Wasser ab und reißt Hook die Einkaufstasche aus der Hand.
»Scheiß dich nicht an, Ficktor«, grunzt Hook. Das V in Viktor spricht er wie ein F aus und das K in der Mitte ganz hart. Ficktor. Das findet er lustig.
Hooks Wangen leuchten rot. Das kommt von seinem hohen Blutdruck. Und sein hoher Blutdruck kommt vom Trinken. Hooks rechtes Auge ist blutunterlaufen und tränt. Viktor weiß, was das bedeutet. Hook hat letzte Nacht durchgemacht, bestimmt mit seinem Freund, dem Fritzl, mit dem er ständig unterwegs ist. Gemeinsam ziehen sie von einem Lokal ins andere und machen sich an Frauen heran. Das weiß Viktor von Clarissa. Das hat sie ihm einmal erzählt. Hook jagt jedem Rockzipfel hinterher, hat sie gemeint. Dabei darf er das gar nicht. Hook ist verheiratet und hat seiner Frau bei der Hochzeit ewige Treue geschworen, bis dass der Tod sie scheidet. Das hat Viktor selbst gehört. Doch solange Rotraud Hooks Eskapaden nicht spitzkriegt, ist für ihn die Welt in Ordnung, und weil sie gerade in Bad Gastein auf Kur ist, treibt er es wahrscheinlich besonders bunt.
Warum Hook bei den Frauen so beliebt ist, versteht Viktor bis heute nicht. Hook sieht nicht gerade aus wie ein Frauenschwarm, mit seinem Bierbauch, den dicken Wurstfingern und seinem roten Gesicht. Und dass er dauernd schwitzt, macht die Sache nicht besser. Schon jetzt am Vormittag hat sein Hemd große nasse Flecken unter den Achseln.
Es ist die Augenklappe, behauptet Hook. Die macht ihn für Frauen unwiderstehlich, weil man mit so einer irrsinnig geheimnisvoll rüberkommt. Außerdem ist er groß und kräftig gebaut, fast einen Meter neunzig, und letztendlich kommt es immer auf die Größe an.
»Wo ist die Milch?«, fragt Viktor. Er schlichtet die Einkäufe in den Kühlschrank.
»Die Milch … hm … Ja, wo ist sie denn nur?«
»Du hast sie vergessen?«
Hook vergisst immer was. Die Milch, die Kiwis, die Schoko-Bananen. Ausgerechnet die Dinge, die Viktor am liebsten mag.
Hook zuckt mit den Schultern. »Kann passieren. What shall’s?, wie der Engländer sagt.«
Er schiebt Viktor beiseite, nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und schlurft hinüber ins Wohnzimmer. Auf das Bier hat er noch nie vergessen. Das kauft er nicht für Viktor, das kauft er für sich, damit er eines hat, wenn er auf Besuch kommt, und nicht auf dem Trockenen sitzen muss.
»Gibt’s was Neues?«, ruft er von nebenan.
Viktor kommt ihm ins Wohnzimmer nach. Er legt einen Untersetzer auf den Couchtisch, damit Hook die Bierflasche nicht auf die Glasplatte stellt.
Hook packt Katharina, die auf dem Fauteuil liegt, und wirft sie auf den Boden. »Hier sitze ich«, sagt er.
Viktor hebt sie auf und drückt sie an seine Brust. »Lass sie in Ruhe, sonst …«
»Sonst was?« Hook grinst ihn an. »Sonst infizierst du mich mit deiner Blödheit? Das wird nicht funktionieren. Wenn man geistig zurückgeblieben ist, ist das zum Glück nicht ansteckend. Sonst wären alle im Umkreis von drei Kilometern längst vertrottelt.«
Hook behauptet, dass Viktor geistig zurückgeblieben ist. Dabei stimmt das nicht. Viktor ist unterdurchschnittlich begabt. Das hat Clarissa gesagt, und die muss es wissen, weil sie Lehrerin ist.
»War nur Spaß, Alter«, lacht Hook. »Bist du jetzt echt beleidigt, wegen dem komischen Thermophor, oder was?«
»Katharina ist nicht komisch!«, wehrt sich Viktor.
»Ich weiß, ich weiß. Sie ist deine Freundin.« Hook verzieht seinen Mund. »Aber sie schaut komisch aus, mit ihrem kindischen Outfit. Wie kann man einem Thermophor nur ein Bärenkostüm anziehen, frag ich mich. Bist du ein Baby oder was?«
Viktor hat Katharina das Bärenkostüm nicht angezogen. Sie hat es schon angehabt, als er sie im Drogeriemarkt gekauft hat. Es hat auch Hunde- und Katzen-Wärmflaschen gegeben, aber die haben ihm nicht so gut gefallen.
»Musst du nicht arbeiten?«, fragt er, weil ihm Hook schon alleine deswegen auf die Nerven geht, weil er da ist. Am liebsten wäre es Viktor, Hook würde die Einkäufe bringen und gleich wieder verschwinden.
»Arbeiten? Ficktor, Alter, was glaubst du, was ich tu?« Hook setzt die Flasche an und trinkt sie in einem Zug bis zur Hälfte leer. »Ich bin rein dienstlich unterwegs, in geheimer Mission, quasi.« Lächelnd klopft er auf die Aktentasche, die er neben dem Fauteuil abgestellt hat. »Streng vertrauliche Dokumente. Topsecret, du verstehst.«
Hook tut so, als wäre er ein Geheimagent oder Spion wie James Bond, dabei ist er ein Schulwart, genaugenommen ein Oberschulwart, und pragmatisiert, was bedeutet, dass man ihn auch dann nicht kündigen kann, wenn er weniger arbeitet, als er arbeiten sollte. Viel mehr, als dass er die Schulpost ausliefert, macht er nicht. Er trägt sie von der Schule, in der er beschäftigt ist, zum Stadtschulrat, wo ein anderer Schulwart sie abholt und in seine Schule bringt. Innerhalb von Wien kann so ein Postweg gut und gerne drei Wochen dauern, sagt Clarissa, wenn sie wieder einmal über Hook herzieht. Drei Wochen! Das muss man sich einmal vorstellen. Früher ist das mit der Postkutsche schneller gegangen.
»Schaust müde aus, Ficktor.« Hook unterdrückt ein Rülpsen. »Wieder zeitig auf den Beinen gewesen?«
Viktor nickt. Er setzt sich aufs Sofa und verschränkt die Arme. Sechs Uhr fünf ist es gewesen, wie immer unter der Woche. Da reißt ihn Geräusch Nummer drei aus dem Schlaf. Das schneller werdende Hämmern. Die Russin macht Morgensport. Sie läuft im Stand.
Erst um dreiundzwanzig Uhr dreißig ist letzte Nacht Ruhe eingekehrt, und dann wieder um sieben Uhr fünfzehn in der Früh, als die Russen das Haus verlassen haben. Um diese Zeit bringt die Russin ihre Tochter in den Kindergarten, bevor sie in ihr Geschäft fährt.
Hook liest Viktors Gedanken. »Du und deine Russen. Das ist eine ganz schön schräge Geschichte. Hast du wieder Mordpläne geschmiedet, Alter?« Sein eines Auge blinzelt spöttisch.
Viktor bereut es, dass er Hook je davon erzählt hat, von seinen Träumen und Fantasien, dass er Ernst macht, hinaufgeht und die Russen mit dem Fotoalbum erschlägt. Hook hat das witzig gefunden. Vor allem, dass das Fotoalbum als Tatwaffe herhalten muss, und jetzt bringt er die Geschichte bei jeder Gelegenheit aufs Tapet.
Das Tapet ist der Bezug von einem Konferenztisch in einem Sitzungszimmer, hat Clarissa Viktor einmal erklärt. Ganz klar ist es ihm trotzdem nicht, warum man das so sagt, weil oft gar kein Konferenztisch in der Nähe ist, wenn man etwas aufs Tapet bringt.
»Ehrlich, Ficktor, du und die Russen killen? Das kriegst du nie auf die Reihe. Echt nicht.« Hook lacht. »Wenn es darauf ankommt, ziehst du den Schwanz ein. Um was wetten wir?«
Viktor wettet nicht, weil es stimmt, was Hook sagt. Natürlich kriegt er das nicht hin. Viktor ist kein Gewalttäter. Er hat noch nie jemandem wehgetan. Aber wenn es bei den Russen rundgeht, überkommt es ihn einfach. Da kann er nicht anders. Dann muss er sich vorstellen, wie er hinaufgeht und für Ruhe sorgt, und das ist ein gutes Gefühl.
»Hab ich recht oder was?« Hook trinkt den letzten Schluck Bier aus der Flasche. »Vielleicht nehm ich noch eines«, murmelt er und schaut auf die Uhr. »Vielleicht aber auch nicht. Die Arbeit ruft.«
Er stellt die Flasche auf den Couchtisch, genau neben den Untersetzer, und schiebt dabei den großen Pinguin aus Bleikristall, den Mamapinguin, ein Stück zur Seite. Und wieder grinst er Viktor an, weil er weiß, dass der jetzt nicht anders kann, als aus der Küche einen Schwamm zu holen, die Flasche auf den Untersetzer zu stellen, den nassen Ring von der Glasplatte wegzuwischen und dann den großen Pinguin wieder neben den kleinen zu schieben, dorthin, wo er hingehört. Viktor geht in die Küche, holt einen Schwamm, stellt die Flasche auf den Untersetzer, wischt den nassen Ring weg und stellt den Pinguin auf seinen Platz. Der große und der kleine Pinguin stehen immer nebeneinander, genau in der Mitte vom Couchtisch, und schauen zum Sofa, wo wiederum Viktor seinen Platz hat. Das muss so sein, weil die Pinguine ein Geschenk von der Mama gewesen sind und schon im Haus von den Eltern genau in der Mitte vom Couchtisch gestanden sind.
Hook stemmt sich aus dem Sessel. »Na, was soll’s ... Dann werde ich wieder«, seufzt er.
»Und was ist mit der Milch?«, fragt Viktor. »Ich hab keine mehr und morgen zum Frühstück …«
»Wir werden sehen.« Hook schlägt ihm grob auf die Schulter. »Vielleicht schau ich heute nach der Schule noch einen Sprung vorbei. Versprechen tu ich aber nichts. Der Stress reibt mich auf.« Wieder tätschelt Hook seine Aktentasche. »Das kann einer wie du, der nur daheimsitzt und Löcher in die Luft starrt, natürlich nicht verstehen.«
Viktor starrt keine Löcher in die Luft. Das ist eine Lüge. Er hat dauernd etwas zu tun. Er wartet bis Hook weg ist, dann schaltet er den Computer ein und geht auf die GMX-Seite. 0 ungelesene E-Mails, sagt GMX. GMX sagt das jedes Mal, wenn Viktor nachsieht. Hotmail hat das früher auch ständig behauptet, und weil Viktor das nicht geglaubt hat, hat er sich entschlossen, zu GMX zu wechseln.
Die Sonne scheint durch das Wohnzimmerfenster. Im April scheint sie schon ziemlich stark. Dreiundzwanzig Grad zeigt das Thermometer an. Vor einer Stunde sind es noch einundzwanzig Grad gewesen. Viktor friert trotzdem. Das kommt daher, dass sein Blutdruck im Gegensatz zu dem von Hook eher zu niedrig ist. Katharina sitzt auf seinem Schoß, in ihrem Bärenkostüm und angefüllt mit heißem Wasser. Langsam wärmt sie Viktors Kleinen Mann. Das ist angenehm. Und angenehm ist auch die Ruhe. Die Russen sind nicht da. Kein Schreien, kein Toben, keine laute Musik. Viktor nützt die Zeit und blättert im Fotoalbum von der Mama. Obwohl er die Bilder schon tausendmal gesehen hat, schaut er sie sich immer wieder an.
»Schau, das. Erinnerst du dich?«, fragt er Katharina und zeigt auf ein Foto. Es ist achtundzwanzig Jahre alt.
Wer nicht?, schmunzelt sie. Wer würde sich nicht an dieses glorreiche Weihnachtsfest erinnern?
Viktor nickt, auch wenn er den Ausdruck glorreich für unpassend hält, aber Katharina meint das nicht ernst. Das Weihnachtsfest ist eine einzige Katastrophe gewesen, das schlimmste, das er je erlebt hat, und Katharina weiß das.
Auf dem Foto sieht man Viktor, Hook und den Weihnachtsbaum. Die drei stehen da wie Orgelpfeifen. Hook ist größer als Viktor, der Weihnachtsbaum ist größer als Hook. Viktor ist fein herausgeputzt. Er trägt seine graue Stoffhose, einen weißen Rollkragenpullover und einen dunkelblauen Blazer. Die Mama hat ihm einen schnurgeraden Seitenscheitel gezogen. Seine Haare sind frisch geschnitten, die Ohren frei. Das hat auch die Mama gemacht, weil es billiger ist, als wenn sie mit ihm zum Friseur gehen würde, der das auch nicht besser kann, hat sie gesagt.
Hook trägt seine Augenklappe, ein kariertes Baumwollhemd und eine blaue Cordhose. Er grinst. Es ist das gleiche Grinsen wie heute. Bösartig. Hook, der Pirat. Er hat nie schöne Sachen anziehen müssen. Ihm hat die Mama keine Vorschriften gemacht. Für Hook ist der Vater zuständig gewesen.
Rechts von Hook steht der Christbaum, vom Christkind geschmückt mit violetten und blauen Kugeln, mit kleinen Engeln aus Lebkuchen und Lametta. Das Lametta hat den Fernsehempfang gestört, erinnert sich Viktor. Dabei haben sie gerade zu Weihnachten die besten Sendungen gebracht. Filme von Walt Disney oder Tschitti Tschitti Bäng Bäng. Darauf hat das Christkind leider keine Rücksicht genommen.
Viktor ist acht Jahre alt. Hook dreizehn, also fünf Jahre älter, so wie heute. Viktor hat sich seit Wochen auf Weihnachten gefreut, und das, obwohl nur ein einziger Wunsch in seinem Brief ans Christkind gestanden ist. Ein Roboter. Nicht irgendeiner natürlich. Ein Spielzeugroboter. So einer aus Blech, den er mit der Mama in der Spielwarenabteilung vom Gerngross gesehen hat. Mit einer kleinen Lampe auf dem Kopf, die blau geblinkt hat, wie bei einem Polizeiauto. Und wenn der Roboter gegangen ist, haben sich alle paar Schritte zwei Türen auf seiner Brust geöffnet und eine Strahlenwaffe ist zum Vorschein gekommen, die rotes Licht abgefeuert hat. Nur den hat Viktor haben wollen, sonst nichts. Willi hat er ihn bereits genannt, da hat er noch gar nicht gewusst, ob ihm das Christkind den Wunsch überhaupt erfüllen wird.
Als das Glöckchen klingelt und Viktor ins Wohnzimmer rennt, macht er sich vor Aufregung fast in die Hose. Beim gemeinsamen Beten schafft er es keine Sekunde, ruhig zu stehen. Alles geht ihm viel zu langsam. Er zappelt herum und hüpft von einem Bein aufs andere. Die ganze Zeit über schielt er auf die Pakete, die unter dem Baum liegen. Genau zwölf sind es, zählt er, und für ihn spielt es keine Rolle, wenn elf davon Hook gehören.
Vor der Bescherung wird noch gesungen. Das ist Tradition. Stille Nacht. O Tannenbaum. Leise rieselt der Schnee. Die Mama knipst die Weihnachtsfotos, die jedes Jahr gleich aussehen, nur dass Viktor und Hook immer älter werden. Dann gibt der Vater das Startsignal. Sofort fällt Viktor auf die Knie und wühlt sich durch die Päckchen. Er kontrolliert jedes Namensschild. Für Hook, für Hook, für Papa, für Hook, für Mama, für Hook …
Hook hat sich bereits das größte Paket geschnappt. Er reißt das Geschenkpapier herunter, knüllt es zusammen und wirft es beiseite.
»Yeah!«, schreit er. »Super!«
Es ist eine Carrera-Autorennbahn. Er öffnet nicht einmal den Karton, um sie sich näher anzusehen. Er schiebt sie weg und stürzt sich auf das nächste Paket.
Viktor schaut die Mama an. Sie soll ihm helfen, weil er Willi noch immer nicht gefunden hat.
»Kalt … kalt«, sagt sie. »Ja, wird schon wärmer …«
»Lass ihn alleine suchen«, schimpft der Vater. »Wie soll der Bub jemals selbstständig werden, wenn du ihm dauernd alles vorbetest?«
Die Mama lächelt. Sie hilft Viktor gern. »Wärmer … noch wärmer … wird schon heiß … heiß!«
Heiß? Da kann etwas nicht stimmen. Das Päckchen ist viel zu klein, und es fühlt sich weich an. Das ist nicht Willi. Auf einmal hat Viktor so ein komisches Gefühl, als würde etwas Spitzes in seinem Hals stecken, das wehtut, wenn er schluckt. Mit dem Ärmel wischt er sich die Tränen aus den Augen. Man darf nicht weinen. Nicht zu Weihnachten, sonst verdirbt man den anderen die Freude. Weihnachten ist ein fröhliches Fest. Vorsichtig löst er die Klebestreifen vom Geschenkpapier und schlägt es auf. Rote Wollsocken. Viktor versteht das nicht. Das Christkind hat ihm keinen Roboter gebracht, sondern Socken. Genau solche wie die, die die Mama oft für ihn strickt. Viktor faltet das Papier zusammen und streicht es glatt. Wenn man sorgfältig damit umgeht, kann es das Christkind im nächsten Jahr noch einmal verwenden, hat ihm die Mama erklärt.
Sie zieht ihn an sich heran und streichelt seine Wange. Sie hat bemerkt, dass er traurig ist. »Schau nach, vielleicht ist noch etwas für dich da«, flüstert sie ihm ins Ohr. »Was ist denn das dort?«
Viktor dreht sich um. Das Paket liegt genau hinter dem Christbaumständer. Kein Wunder, dass er es nicht gesehen hat. Er zischt hin wie eine Rakete. FÜR VIKTOR VOM CHRISTKIND, steht auf dem Namensschild. Diesmal geht er nicht so vorsichtig mit dem Geschenkpapier um.
»Langsam, langsam, Viktor!«, ermahnt ihn die Mama, aber er hört ihr nicht zu, weil er schon an der Verpackung erkennt, dass es Willi ist. Mit zitternden Fingern öffnet er die Schachtel und zieht den Roboter heraus. Er stellt ihn vor sich auf den Boden und wartet, was passiert. Es passiert nichts. Willi rührt sich nicht. Willi macht keinen Mucks. Er blinkt nicht, surrt nicht und feuert kein rotes Licht ab.
»Man muss erst die Batterien einsetzen«, lacht die Mama, als Viktor zu weinen beginnt.
»Warum heult er denn schon wieder?« Der Vater fletscht die Zähne wie ein bissiger Hund. »Da gibt’s doch nichts zum Heulen!« Grob stupst er Viktor an. »Na los! Wie sagt man?«
»Danke, liebes Christkind«, schluchzt Viktor.
»He, zeig her!« Hook reißt ihm den Roboter aus der Hand. Er begutachtet Willi von allen Seiten. »Der ist super.«
»Gib ihn mir!«, bettelt Viktor.
Hook stößt ihn weg und zieht einen Schmollmund. »Den hab ich auch wollen!«
Viktor beginnt zu schreien. »Du sollst ihn mir geben!« Hook hält Willi mit einer Hand in die Höhe, so hoch, dass Viktor ihn nicht erreichen kann. »Wieso hab ich den nicht gekriegt?«, fragt er den Vater.
»Du hast so viele andere tolle Spielsachen bekommen«, sagt die Mama. »Der hier ist für Viktor.«
»Wieso hab ich den nicht gekriegt, Papa?«, wiederholt Hook. Für ihn zählt die Mama nicht.
»Lass einmal sehen.« Der Vater kontrolliert das Namensschild. »Hm, für Viktor«, murmelt er. »Tatsächlich, das steht da. Aber ich glaube, da ist dem Christkind wohl ein Fehler unterlaufen. Ich bin mir sicher, er ist für dich.«
»Christkind, na klar …«, mault Hook und schaut die Mama böse an.
Was dann geschehen ist, daran kann sich Viktor nicht mehr erinnern. Das nächste, das er weiß, ist, dass Katharina laut geschrien hat. Hör auf! Was tust du da? In diesem Moment ist der Christbaum mit den brennenden Kerzen gegen das Fenster gekippt und der Vorhang hat Feuer gefangen. Zum Glück hat es der Vater schnell löschen können. Er hat sein Sakko ausgezogen und damit auf die Flammen eingeschlagen, bis sie ausgegangen sind. Dann hat er Viktor beim Kragen gepackt und ordentlich durchgebeutelt. Was er sich einbildet, hat er gebrüllt. Ob er verrückt geworden ist, einfach den Baum umzustoßen. Er soll sich einmal überlegen, was alles hätte passieren können! Fast wäre das ganze Haus abgebrannt. Nächstes Jahr wird ihm das Christkind überhaupt nichts mehr bringen, wenn er sich nicht wie ein normaler Mensch benehmen kann.
Hook hat gelacht. Die Mama hat die Hände vors Gesicht geschlagen und geweint. Viktor hat keinen Ton von sich gegeben. Stocksteif ist er dagestanden, weil er gehofft hat, dass ihn dann niemand sehen kann. Aber der Vater hat ihn sehen können und ihn weiter angeschrien.
Sie hält das nicht mehr aus, hat die Mama gesagt. Ihr ist das alles zu viel. Ihre Augen sind vom Weinen ganz rot gewesen. Und dann hat sie gesagt, dass sie schlafen gehen muss, weil sie wieder ihre Migräne bekommt. Die Mama hat oft Migräne gehabt. Als Kind hat Viktor nicht gewusst, was das ist, aber es hat bedeutet, dass es der Mama schlecht geht. Und daran ist meistens er schuld gewesen.
0 ungelesene E-Mails. Viktor hat sich wieder bei GMX eingeloggt. Zum dritten Mal in einer Stunde. Er versteht nicht, warum ihm niemand schreibt. Bei Facebook ist das genauso gewesen. Dort hat er sich extra registriert, um Freunde zu finden, Internetfreunde, mit denen man sich nicht persönlich treffen muss. Aber nach zwei Monaten ist er immer noch alleine dagestanden. Also hat er Katharina fotografiert und für sie ein Profil angelegt, damit sie seine erste Freundin bei Facebook wird. Und weil das so gut funktioniert hat, hat er auch Clarissa angemeldet, ohne es ihr zu sagen allerdings, weil Clarissa nicht möchte, dass Fotos von ihr im Internet stehen.
Das Internet ist eine gute Erfindung. Dort kann sich Viktor Sachen anschauen, die er im richtigen Leben nie sehen wird. Oft sucht er sich irgendein Thema aus und sammelt dazu alle Informationen, die er finden kann, wie ein richtiger Forscher.
Weil Bären seine Lieblingstiere sind, hat er sich heute mit dem Großen Ameisenbären beschäftigt und Folgendes erfahren: Der Große Ameisenbär lebt in tropischen Wäldern und halbtrockenen Savannen Südamerikas. Er ist ein typischer Einzelgänger, der außerhalb der Paarungszeit den Kontakt zu Artgenossen meidet.
Wie er, denkt Viktor, nur dass er auch während der Paarungszeit keine Kontakte zu Artgenossen hat, wenn man von Hook und Clarissa absieht.
Auf seinen ausgedehnten Streifzügen kreuzt der Große Ameisenbär oft menschliche Verkehrswege, was leider zu Unfällen führt. Das ist bei Viktor anders. Die Gefahr, dass er von einem Auto überfahren wird, ist gering. Agoraphobie hat auch ihre Vorteile.
Weiters ist der Große Ameisenbär ein exzellenter Schwimmer, der das Wasser liebt. Noch so ein Unterschied. Viktor hasst das Schwimmen. Das ist schon immer so gewesen. Als Kind hat er richtig Angst vor tiefem Wasser gehabt. Geweint und geschrien hat er, wenn ihn die Mama im Urlaub in Caorle ins Meer mitnehmen hat wollen. Da hat er sich mit Händen und Füßen gewehrt, bis dem Vater das Kasperltheater zu bunt geworden ist und er Viktor kurzerhand ins Wasser geschmissen hat. Damit sich die lange Autofahrt auszahlt, hat er gemeint, sonst hätten sie auch daheimbleiben können.
Der Große Ameisenbär wiegt bis zu zweiundfünfzig Kilo und weist eine Körperlänge von hundert bis hundertzwanzig Zentimetern auf. Das ist wirklich ganz schön groß, muss Viktor zugeben, wenn auch nicht so groß wie er. Sein Schwanz misst zusätzlich siebzig bis neunzig Zentimeter und ist buschig. Der Schwanz vom Ameisenbären, nicht der von Viktor. Viktor hat keinen Schwanz. Er hat einen Kleinen Mann.
Der Große Ameisenbär besitzt eine lange, röhrenartige Schnauze und eine klebrige Zunge, mit der er Ameisen und Termiten aufnimmt. Er hat jedoch keine Zähne. Die hat Viktor schon. Zum Glück sogar sehr gute, was ein Vorteil ist, wenn man nicht zum Zahnarzt gehen kann.
Was Ameisenbären anbelangt, ist Viktor jetzt Experte. Er hat aber noch etwas anderes überprüft. Mama heißt auf Russisch Mama, und man spricht es genauso aus. Schreiben tut man es Мама, also so ähnlich wie auf Deutsch. Das hilft ihm leider nicht weiter. Er weiß trotzdem nicht, ob das Russenkind in seiner Fantasie von letzter Nacht deutsch oder russisch seine Mutter gerufen hat, weil es wahrscheinlich zweisprachig ist.
Es ist siebzehn Uhr zehn, fünfzig Minuten vor der Essenszeit. Viktor schaltet den Computer ab und den Fernseher ein. Um diese Zeit laufen von Montag bis Freitag Wiederholungen von Baywatch. Die sieht er sich vor dem Abendessen an. Er mag die Serie, weil sie spannend ist, aber immer gut ausgeht, wie die Krimis im Hauptabendprogramm. Ein Happy End ist Viktor wichtig, damit er sich nicht unnötig aufregt oder Albträume hat. Bei Baywatch ist es schlimm genug, wenn jemand in einer Unterwasserhöhle feststeckt und gerettet werden muss, wobei die Zeit immer knapper wird, weil der Sauerstoff in der Höhle fast verbraucht ist. Das passiert ziemlich oft, ist Viktor aufgefallen. Dann tauchen die Rettungsschwimmer zu dem Verunglückten, befreien ihn in letzter Sekunde und schwimmen mit ihm zurück nach oben. Immer wenn es bei Baywatch eine solche Szene gibt, versucht Viktor die Luft so lange anzuhalten, bis alle die Wasseroberfläche erreicht haben, damit er weiß, ob er in dieser Situation überlebt hätte.
Fünf Finger hat die rechte Hand, fünf Finger auch die linke. Verreis' ich in ein schönes Land, so mach' ich winke, winke. Oben in der Russenwohnung singt das Kind. Es singt falsch, dafür singt es laut und immer das gleiche Lied. Fünf Zehen hat der linke Fuß, fünf Zehen auch der rechte. Ich fahr' nicht immer mit dem Bus, weil ich auch laufen möchte.
Das Lied hat es vermutlich im Kindergarten gelernt, schon vor Wochen, und seitdem muss sich Viktor diesen Unsinn anhören. Sich die Ohren zuzuhalten bringt nichts, weil er dann nicht versteht, was bei Baywatch gesprochen wird. Deshalb dreht er den Fernseher lauter, so laut, dass er den Gesang von oben übertönt.
Im Gegensatz zum Russenkind ist er nie in den Kindergarten gegangen. Er hat sich von der Mama nicht lösen können, hat sie erzählt. Ständig ist er an ihrem Rockzipfel gehängt wie ein kleines Afferl. Und sie hat ihm auch erzählt, dass er vor anderen Kindern Angst gehabt hat und im Park mit niemandem spielen hat wollen, außer mit ihr. Viktor weiß das alles nicht mehr. Bei ihm fängt die Erinnerung erst mit der Schulzeit an.
Ding-dong, ding-ding-dong.So läutet nur Clarissa. Niemand weiß, wie sie das hinkriegt, weil Viktors Türklingel normalerweise ding-dong macht. Einmal ding, einmal dong. Immer abwechselnd.
Sie kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt, gerade als Mitch Buchannon einen Ertrinkenden aus dem Wasser fischt.
»Ist dein Fernseher nicht ein bisschen laut?«, fragt sie. In ihrer Hand hält sie einen Einkaufskorb. Neben ihr steht Tarzan und hechelt Viktor an. »Den kann ich bei mir drüben hören.«
Viktor stellt den Ton leiser. »Es ist wegen dem Russenkind«, erklärt er. »Hörst du es?« Er deutet nach oben.
Fünf Finger hat die rechte Hand, fünf Finger auch die linke. Verreis' ich in ein schönes Land, so mach' ich winke, winke.
Clarissa geht nicht darauf ein. »Hast du heute einen schlechten Tag?«, erkundigt sie sich.
Viktor weiß nicht, was sie meint.
»Ob du es heute nicht aus der Wohnung schaffst? Ich hab auf dich gewartet.«
»Ah so, das … Ja, heute fühl ich mich nicht so besonders«, sagt er, obwohl das geschwindelt ist. In Wahrheit hat er ihre Einladung glatt vergessen. Das braucht Clarissa aber nicht zu wissen, sonst ist sie am Ende noch beleidigt.
»Und anrufen hast du auch nicht können?«, fragt sie vorwurfsvoll. »Na, egal, dann koche ich eben bei dir. Asiatische Gemüsepfanne. Ist das in Ordnung? Ich hab alles mit, inklusive Wein. Ich glaube, das ist ein sehr guter. Aus der Wachau. Mit dem stoßen wir an.«
Clarissa hat einen Grund zum Feiern. Im nächsten Schuljahr bekommt sie eine unbefristete Anstellung als Lehrerin. Das ist seit letzter Woche fix.
Mit Tarzan im Schlepptau zwängt sie sich an Viktor vorbei und trägt das Essen in die Küche.
»Was tut sich so bei dir?«, fragt sie, während sie den Korb ausräumt. Zucchini, Paprika, Sojasprossen, Zwiebel, Knoblauch, Paradeiser und Tofu.
Kein Fleisch. Clarissa ist Vegetarierin. Das behauptet sie jedenfalls. Viktor hat allerdings seine Zweifel. Dafür, dass sie Vegetarierin ist, riecht es aus ihrer Wohnung verdächtig oft bis zu ihm herüber nach Schnitzel.
»Reis hast du daheim?«, will sie wissen. Sogar die Gewürze hat sie mitgebracht. Curry, Paprikapulver, Chili und dann noch Kräuter, die er nicht kennt.
Clarissa schneidet das Gemüse in kleine Stücke. Tarzan sitzt daneben und lässt sie nicht aus den Augen. Alle paar Sekunden schleckt er sich mit der Zunge übers Maul. Viktor überlegt, ob der Hund auch Vegetarier ist. Zuzutrauen wäre es Clarissa, dass sie ihm kein Fleisch gibt. Sie kann ganz schön hartnäckig sein, wenn sie ihre Ansichten bei anderen durchsetzen will.
»Tarzan, aufgepasst!«, ruft sie und wirft ihm ein Stück Zucchini zu.
Tarzan fängt es im Sitzen auf.
Wieso der Hund Tarzan heißt, weiß kein Mensch. Er trägt weder einen Lendenschurz, noch schwingt er sich heulend von Liane zu Liane. Er ist ein ganz normaler Hund, allerdings einer, wie ihn Viktor sonst noch nirgendwo gesehen hat. Einmal hat er im Internet recherchiert, welcher Rasse Tarzan angehören könnte. Dabei ist nichts herausgekommen. Tarzan hat Ähnlichkeit mit mindestens zwölf Rassen.
»Ob du Reis daheim hast?« Clarissa dreht sich um.
»M-hm.«
»Dann stell ihn zu. Hopp, hopp!«
Clarissa trägt einen orangeroten Pullover, den sie selbst gestrickt hat, was man daran erkennt, dass die Maschen ungleich groß sind und der Pullover deshalb verwackelt aussieht. Die Mama hat das besser können. Bei ihren Handarbeiten hat man geglaubt, dass sie gekauft sind.
Perfektion ist nicht so wichtig, meint Clarissa. Hauptsache, man ist kreativ. Deshalb näht sie sich auch viele ihrer Kleidungsstücke selbst. Die gelbe, indische Hose zum Beispiel, die sie gerade anhat. Eine komische Hose ist das, die man auf ganz komplizierte Art und Weise um sich herumwickelt, wie eine knöchellange Windel. Clarissa hat Viktor einmal gezeigt, wie das geht. Dabei hat sie sich vor ihm bis auf die Unterhose ausgezogen, was ihr überhaupt nicht peinlich gewesen ist. Viktor würde so eine Hose nie tragen. Er kann sich nicht vorstellen, wie man mit der aufs Klo geht. Das muss ziemlich umständlich sein, vermutet er. Aber vielleicht ist es ja wirklich eine Windel, und Clarissa braucht deswegen gar nicht aufs Klo zu gehen.
»Du solltest wieder mit der Therapie beginnen«, meint sie. »Von alleine wird das Problem nicht verschwinden.«
Das sagt sie mindestens einmal pro Woche. Viktor kann es nicht mehr hören. Aber eine Therapie bringt nichts. Er hat es lange genug versucht und trotzdem ist seine Agoraphobie um keinen Deut besser geworden.
»Apropos … Morgen bleibt es hoffentlich dabei.«
»Morgen?«, stellt er sich dumm. »Was ist morgen?« Clarissa schaut ihn streng an und wackelt mit dem Küchenmesser. »Das hast du nicht wirklich vergessen, oder? Morgen kommt Volker.«
»Ah ja, der Schamane.« Viktor hat es natürlich nicht vergessen. Wie könnte er. Die Sache liegt ihm seit Tagen im Magen.
»Du hast ein Riesenglück, dass wir so schnell einen Termin kriegen konnten. Mach mir jetzt keinen Rückzieher, nachdem ich mir die Mühe gemacht und alles in die Wege geleitet habe! Ist das klar?«
Viktor leert den Reis ins kochende Wasser und legt den Deckel auf den Topf. »Na, Tarzan«, sagt er und bückt sich, um den Hund zu streicheln.
Tarzan fletscht die Zähne und knurrt.
»Viktor, ich möchte ein Ja von dir hören!«, drängt Clarissa. Zwei gegen einen. Das findet Viktor unfair.
»Ja«, sagt er, weil Clarissa sowieso kein Nein akzeptiert hätte. Das Ja ist aber nicht endgültig. Vielleicht sperrt er sich morgen in der Wohnung ein, wenn der Schamane kommt, und tut so, als würde er schlafen.
Viktor trägt den Wein ins Wohnzimmer und deckt den Tisch. Damit Clarissa nichts zu nörgeln hat, nimmt er das gute Chippendale-Besteck von der Mama und die weißen Stoffservietten. Die Servietten formt er zu spitzen Kegeln.
Katharina liegt im Fauteuil und schaut ihm zu. Schön machst du das