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Wolf hat alle Pfoten voll zu tun. Die Vorbereitungen auf das bislang wichtigste Konzert der Gruppe DRACHENFLUG, vormals Bremer Stadtmusikanten, halten ihn auf Trab. Die mäßig begabten Musikanten, um die er sich seit einiger Zeit kümmert, sollen anlässlich König Dummlings Thronjubiläum aufspielen. Doch scheinen sie dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Unter dem Einfluss berauschender Substanzen kommt es immer häufiger zu Streitigkeiten, die das Gefüge der Gruppe in Gefahr bringen. Da zieht ein Todesfall Wolfs Aufmerksamkeit auf sich. Eine alte Bekannte, die Knusperhäuschen-Hexe, ist ermordet worden. Zudem hat der Täter Wolfs Gute-Laune-Kraut gestohlen. Wolf, der mit dem Verkauf der Drogen seinen Lebensunterhalt bestreitet, sieht plötzlich seine Existenz gefährdet. Während DRACHENFLUG auf ein Fiasko zusteuert, nimmt Wolf die Spur des Mörders auf. Hexenmeister Fitcher erweist sich dabei als wenig hilfreich. Bald wird klar, dass er sein eigenes Süppchen kocht.
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Seitenzahl: 495
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Robert Pucher
Der 1964 geborene Autor lebt und arbeitet in Wien. Nachdem er 20 Jahre lang als grundsolider Angestellter in der Privatwirtschaft sein Brot verdient hatte, beschloss er 2005, sich vornehmlich dem Schreiben zu widmen.
Freunde kennen ihn als verlässlich, korrekt und zurückhaltend, was ihn von seinen Protagonisten deutlich unterscheidet. Die zeigen allesamt wenig Hemmungen, ihre dunkelsten Abgründe auszuleben.
Neben seiner Autorentätigkeit wirkt Robert Pucher seit 2015 auch als Designer. Dabei entstehen hauptsächlich Muster für Stoffe, Tapeten und alles, was nach einer kreativen Gestaltung schreit. Und vieles schreit. Man muss nur genau hinhören.
Zwei Akkorde
Wolf hat alle Pfoten voll zu tun. Die Vorbereitungen auf das bislang wichtigste Konzert der Gruppe DRACHENFLUG, vormals Bremer Stadtmusikanten, halten ihn auf Trab.
Die mäßig begabten Musikanten, um die er sich seit einiger Zeit kümmert, sollen anlässlich König Dummlings Thronjubiläum aufspielen. Doch scheinen sie dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Unter dem Einfluss berauschender Substanzen kommt es immer häufiger zu Streitigkeiten, die das Gefüge der Gruppe in Gefahr bringen.
Da zieht ein Todesfall Wolfs Aufmerksamkeit auf sich. Eine alte Bekannte, die KnusperhäuschenHexe, ist ermordet worden. Zudem hat der Täter Wolfs GuteLauneKraut gestohlen. Wolf, der mit dem Verkauf der Drogen seinen Lebensunterhalt bestreitet, sieht plötzlich seine Existenz gefährdet.
Während DRACHENFLUG auf ein Fiasko zusteuert, nimmt Wolf die Spur des Mörders auf. Hexenmeister Fitcher erweist sich dabei als wenig hilfreich. Bald wird klar, dass er sein eigenes Süppchen kocht.
Für Läuschen und Flöhchen. Mögen sie in Glück und Zufriedenheit bis ans Ende ihrer Tage leben!
1 DIE WEISSE WITWE
Angebot und Nachfrage
Neben der Wurfpfeilscheibe
Vorsicht, scharfer Wolf!
Absolute Ruhelage
Die Lage ist ernst
Der gute Wastl
Drachenflug
Zu viel Verwaltungsaufwand
Ein Dieb und ein Mörder
Weder Heiliger noch Missetäter
Jede Sekunde zählt
Kennt ihr meinen Namen?
Der Idiotengroschen
Keine Gnade
Jeder ist sich selbst der Nächste
Dunkle Zeiten
Innere Einkehr
2 DAS LICHT DES NORDENS
Ein Meer aus Entenfedern
Über alle Berge
Der Joker im Talon
Der Akt der Verzweiflung
Frisch geölt
Vom Erdboden verschluckt
Die Wege des Herrn
Der Schädel an der Wand
Nicht mehr als zwei Akkorde
Das rote Tagebuch
Wie man Muscheln öffnet
Ein zweiter Anbieter
Verschwendete Ressourcen
Glücklich ist, wer vergisst
Alle Hände voll zu tun
Danke für die Zusammenarbeit
Epilog
Danke der Nachfrage. Ich fühle mich fabelhaft. Alles bestens.
»Märchen entsprechen nicht zwangsläufig der Wahrheit, Flöhchen. Jedenfalls nicht in allen Details. Die Leute übertreiben gerne. Frag mich nicht, warum. Wahrscheinlich liegt es in ihrer Natur, Lügen zu verbreiten.«
Nicht zum ersten Mal wies Wolf auf das Offensichtliche hin. In letzter Zeit hatte er so viele Gespräche mit nahezu identischem Wortlaut geführt, dass er sie gar nicht zählen konnte.
»Vielleicht nicht in allen Details, da magst du recht haben«, lenkte Flöhchen ein. »Doch ein Fünkchen Wahrheit, könnte ich mir vorstellen, wird auch in dieser Geschichte stecken. Ich meine, so etwas denkt sich keiner aus.«
»Täusch dich nicht! Gerade die Menschen verfügen über die außergewöhnliche Gabe, an langen, kalten Winterabenden die haarsträubendsten Schauermärchen zu ersinnen. Und einmal erzählt, werden sie bei jeder Gelegenheit weiterverbreitet und ausgeschmückt.«
So wie gestern am Markttag in der Stadt, erinnerte sich Wolf, als man ihn argwöhnisch beäugt, mit den Fingern auf ihn gezeigt und hinter seinem Rücken getuschelt hatte.
Ein skeptisches »Hm …« erklang in seinem linken Ohr. »Du willst mir also weismachen, du hättest Rotkäppchen tatsächlich nicht … ähm … na ja … wie soll ich es sagen …« Flöhchen suchte nach den richtigen Worten.
»Sag es einfach nicht«, schlug Wolf vor.
»Du hast Rotkäppchen nicht ins Bett gelockt, indem du in die Kleider ihrer Großmutter geschlüpft bist und dich als die alte Frau ausgegeben hast?«
»Natürlich nicht. Und überhaupt, weshalb sollte Rotkäppchen zu ihrer Großmutter ins Bett steigen? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Flöhchen überging Wolfs Einwand. »Du hast nicht mit deinem Löffel in Rotkäppchens Honigtopf gerührt?«, führte es das Verhör fort.
»Was? Honigtopf? Wovon sprichst du?«
»Du hast deinen Stalagmiten nicht in ihrer Tropfsteinhöhle aufgestellt?«
»Was soll der Unsinn?« Wolf hatte keine Ahnung, worauf Flöhchen hinauswollte. »Ich verstehe kein Wort.«
»Hat sie deinen Zauberstab nicht poliert, hat sie kein virtuoses Solo auf deiner Flöte gespielt?« Flöhchen holte tief Luft. »Was weiß ich, auf welche Weise ihr euch nicht vergnügt habt.«
»Du meinst …« Langsam ging Wolf ein Licht auf.
»Genau, du hast es erfasst. Du behauptest also, du hättest sie nicht wollüstig schreien lassen, während sich deine Schlange in ihrem Busch verkrochen hat. Wenn du ihr tatsächlich nicht beigeschlafen hast, wie es die jungen Leute salopp ausdrücken, frage ich mich: warum?«
Die Unterhaltung bereitete Flöhchen große Freude. Wolf meinte, ein leises Kichern zu vernehmen. Er verließ den Weg, der entlang des Dunklen Waldes in einem weiten Bogen um den alten Wehrturm führte und nahm die Abkürzung durch das dichte Unterholz. Als wolle er vor Flöhchens Wissbegierde davonlaufen, erhöhte er das Tempo. In großen Sätzen schnellte er über Stock und Stein, während der Rucksack auf seinem Rücken auf und ab hüpfte.
»Wir kennen dich ja noch nicht so lange«, fuhr Flöhchen fort. »Aber mit deinen Liebesabenteuern waren wir bereits vertraut, bevor wir dich bestiegen haben.«
Bestiegen … Wolf musste schmunzeln. Als wäre er eine Kutsche. Wölfe wurden nicht bestiegen. Sie wurden von Ungeziefer befallen.
»Sachen sind uns zu Ohren gekommen, die einem die Schamesröte ins Gesicht treiben, sag‘ ich dir.«
Während Flöhchen wie aufgezogen vor sich hinplapperte, herrschte in Wolfs rechtem Ohr seit geraumer Zeit Stille. Läuschen schien zu schlafen, oder es hatte an einem Blutgefäß angedockt und ließ sich volllaufen.
»Was jetzt?«, drängte Flöhchen. »Mach es nicht so spannend! Woher kommen diese Gerüchte? Die entspringen bestimmt nicht menschlichem Einfallsreichtum an langen, kalten Winterabenden. Wir haben Sommer.«
»Und dennoch sind es Gerüchte, wie du richtig sagst. Nichts als unbewiesene Behauptungen. Überleg einmal, wie verhält es sich denn mit eurer Geschichte? Endet sie nicht damit, dass ihr ertrinkt? Und stimmt das? Nein, du und Läuschen erfreut euch bester Gesundheit.«
»Schon, aber nachdem sich die Sintflut zurückgezogen hatte, und wir unauffindbar geblieben waren, lag es auf der Hand, anzunehmen, wir wären in den Wassermassen umgekommen.«
Sintflut, Wassermassen … Flöhchen übertrieb maßlos. Die Lacke, in der die beiden in einer Eierschale getrieben waren, hatte Wolf nicht einmal bis zu den Fersen gereicht.
»Bald sind wir beim Knusperhäuschen«, versuchte er Flöhchen auf andere Gedanken zu bringen. »Ich bin gespannt. Die erste Ernte dieses Jahres soll zufriedenstellend ausgefallen sein.«
Flöhchens Interesse an der Ernte ließ zu wünschen übrig. »Hast du oder hast du nicht?«, drängte es.
»Was?«, versuchte Wolf ein letztes Mal, sich vor einer ehrlichen Antwort zu drücken.
»Es mit Rotkäppchen getrieben.«
»Also gut. Ja, habe ich, wenn du es unbedingt wissen willst.« Wolf versuchte seiner Stimme ein gefährliches Knurren beizumischen. Vielleicht half das, Flöhchen zum Schweigen zu bringen. »Na und? Was ist dabei? Wir alle haben unsere Bedürfnisse. Das sollte dich wenig überraschen.«
»Und dein Treiben entsprach auch Rotkäppchens Bedürfnissen?«
»Allerdings. Du hast keine Vorstellung, wie sehr sie …«
»Halt!«, schrie Flöhchen auf. »Um Himmels willen! Bitte keine schmutzigen Details. Mehr wollte ich nicht wissen.«
»Bin ich froh! Dann haben wir das Thema abgehakt?«
»Das Thema Rotkäppchen schon. Kommen wir nun zu ihrer Großmama.« Flöhchen nahm sich Zeit, als würde es in einer Anklageschrift blättern. »Hast du sie tatsächlich gefressen, wie man sich erzählt?«
»Aber woher!« Wolf schüttelte so vehement den Kopf, dass er eine Wurzel übersah, auf ihr ausrutschte und eine Dornenranke touchierte.
»Obacht!«, warnte Flöhchen. »Nicht, dass wir uns wehtun.«
Bemüht, sich auf die schwierigen Bodenverhältnisse zu konzentrieren, hetzte Wolf weiter. Das mit der Großmutter war frei erfunden. Er hatte der Frau kein Haar gekrümmt. Weshalb sollte er das tun? Ihr Schmalzgebackenes war vorzüglich. Darauf wollte er nicht verzichten.
»Keine Bange, Flöhchen«, sagte er. »Der alten Dame geht es blendend.«
»Tatsächlich?«
»Na ja, so blendend es einer Frau in ihrem Alter gehen kann. Du weißt schon, ihr Sehvermögen ist beeinträchtigt, hören tut sie nur, was sie hören will, und ihr krummer Rücken macht ihr zu schaffen, vor allem bei Regenwetter. Auch geistig ist sie nicht mehr auf der Höhe. Zeitweise wirkt sie orientierungslos, sitzt nur da und starrt ins Leere.« Wolf seufzte. »Tja, so ist das eben. Da kann der beste Bader nicht helfen. Großmutter ist steinalt, musst du wissen. Sicher über 50.«
In Wolfs rechtem Ohr begann Läuschen zu zappeln.
»Sind wir schon da?«, fragte es mit zittriger Stimme.
»Gleich. Noch zehn Minuten, schätze ich.« Wolf ahnte,was Läuschen auf dem Herzen lag, beziehungsweise auf der Blase.
»Ich muss austreten«, wimmerte es. »Dringend!«
Hähnchen und Hühnchen warteten vor dem Knusperhäuschen. Sie saßen auf dem Kutschbock ihres Holzwägelchens mit den rot gestrichenen Rädern und waren in ein Gespräch vertieft. H & H Transporte aller Art stand in großen, ebenfalls roten Buchstaben an der Seitenwand des Wagens, vor den sie ihre Lastenente gespannt hatten.
Als Wolf aus dem Dunklen Wald auf die Lichtung trat, blickte ihm Hähnchen mit schmalen Augen entgegen. Unwirsch deutete es auf eine imaginäre Uhr an seinem Flügel.
»Auch schon da?«, zischte es. »Wir warten seit einer Ewigkeit, aber der Herr Wolf kennt ja keine Eile.«
Obwohl es Punkt elf Uhr war, wie ihm der Stand der Sonne verriet, unterließ es Wolf, sich zu rechtfertigen. Er wusste, dass kein Argument Hähnchen und Hühnchen besänftigen konnte. Ihre Gereiztheit war chronischer Natur.
»Wenn ihr schon so lange hier seid, warum habt ihr in der Zwischenzeit nicht die Ware aufgeladen?«, wollte er wissen.
»Ja, wie denn?«, gackerte Hühnchen mit seiner hohen, schrillen Stimme, die Wolf jedes Mal die Haare zu Berge stehen ließ. »Es ist niemand zu Hause.«
»Niemand zu Hause?«, wiederholte er ungläubig.
Das konnte nicht sein. Die Hexe wusste von seinem Besuch. Sie hatte den Termin selbst festgelegt. Vorgestern war ihr Rabe auf der knorrigen Föhre vor Wolfs Höhle gesessen:
»Nachricht von der Hexe an Wolf«, hatte der Vogel gemeldet. »Übermorgen liegt die Ernte zum Abtransport bereit. Ich erwarte dich. Bring jemanden mit, der dir beim Tragen hilft!«
Übermorgen. Das war das Heute von vorgestern.
»Hexe?«, rief Wolf. »Hexe!«, wiederholte er lauter. Es kam keine Antwort. Vielleicht werkte sie hinten im Kräutergartenund hörte ihn nicht. »Im Haus habt ihr nachgesehen?«, fragte er Hähnchen und Hühnchen.
»Spinnst du?«, fuhr ihn Hähnchen an. »Im Haus nachsehen … Du hast Nerven. Denkst du, wir spazieren einfach so in ein Hexenhaus? Wir sind doch nicht lebensmüde.«
»Sie tut euch nichts«, knurrte Wolf. »Wofür haltet ihr sie? Nur weil sie eine Hexe ist, ist sie kein Ungeheuer. Habt ihr etwa Angst, dass sie euch in einen Käfig sperrt, euch mästet und verzehrt?«
Dumme Vorurteile waren das, gestrickt nach einem einfachen Muster: Wölfe, Hexen und Stiefmütter waren böse. Stieftöchter, Jäger und Prinzen waren gut. Ja genau, dachte Wolf, ausgerechnet Prinzen.
»Sie ist eine liebe, alte Frau«, erklärte er, »völlig harmlos. Noch nie hat sie einem Lebewesen Leid …« Abrupt hielt er inne. »Was ist das?«, fragte er und deutete auf eine beschädigte Fensterscheibe. Allem Anschein nach hatte jemand ein Stück aus ihr herausgebrochen. »Wart ihr das?«, frage er scharf. »Habt ihr das kaputt gemacht?«
»Wir? Wie kommst du darauf?« Aufgebracht flatterte Hühnchen mit den Flügeln. »Wieso sollten wir das tun? Wir sind die ganze Zeit auf dem Wagen gesessen, während wir auf dich gewartet haben.«
»Und wir haben lange gewartet«, fügte Hähnchen hinzu.
Wolf nahm das Federvieh streng ins Visier. »Aber irgendjemand hat es getan. Vielleicht jemand, der seinem Ärger über das lange Warten Luft machen wollte?«
»Vielleicht hat die Fensterscheibe jemand gegessen«, konterte Hähnchen. »Wenn man sein Haus aus Brot, Kuchen und Zucker errichtet, muss man sich nicht wundern, wenn sich früher oder später ein hungriger Wandersmann daran vergreift. Ich meine, wer kommt schon auf die idiotische Idee, Nahrungsmittel als Baustoffe zu verwenden?«
»Ein Wandersmann?« Wolf bezweifelte Hähnchens These.
»Du meinst, er hätte sich am Fenster gelabt? Das kann ich mir nicht vorstellen. Das Haus ist uralt, die empfohlene Verbrauchsfrist längst überschritten.«
»Sieh nur! Am Dach fehlen ein paar Schindeln«, bemerkte Läuschen in Wolfs rechtem Ohr.
»Wirklich?«, fragte Wolf. »Wo?«
»Was wo?« Hähnchen starrte ihn an. »Ich habe nichts gesagt.«
Wolfs Blick wanderte entlang des Firsts bis zum Rauchfang, auf dem der Nachrichtenrabe der Hexe saß. Wolf erkannte ihn an dem markanten weißen Brustfleck. Ein gutes Stück unterhalb klaffte ein etwa zwei Handteller großes Loch im Dach. Läuschen hatte sich nicht getäuscht.
»Du hast recht«, murmelte Wolf. »Was ist hier passiert? Denkst du, es war der Rabe?«
»Wer hat recht?«, wollte Hähnchen wissen. »Mit wem redest du?«
»Pass auf, der ist nicht bei Trost!«, kreischte Hühnchen. »Der Spinner leidet unter Wahnvorstellungen. Ich glaube, er hört Stimmen. Ähnlich wie meine Cousine. Komplett meschugge ist die! Sie denkt, Gott spricht zu ihr. Ha! Und weißt du, was er zu ihr sagt? Er fordert sie auf, keine Eier zu legen. Leider kann sie nicht anders. Ich meine, immerhin ist das ihre Aufgabe als Legehenne. Also presst sie jeden Tag eines aus sich heraus. Und weil das den lieben Gott traurig macht und er deswegen weinen muss, reißt sie sich als Buße ihre Federn aus. Ihr Bürzel ist schon so kahl, wie der Kopf des alten Königs.«
Wolf ließ die beiden stehen und näherte sich der Eingangstür. Ausführlich schnupperte er an der Schwelle. Ein unangenehmer Geruch strömte aus dem Haus. Einer, der nicht hierhergehörte. Als Wolf die Türe öffnete, wurde er intensiver. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Als Nächstes fiel Wolf die Unordnung auf. In der Stubewaren sämtliche Schubladen aus den Kommoden gerissen und ihr Inhalt über den Boden verstreut worden.
»Da waren Einbrecher am Werk«, erkannte Flöhchen. »Jede Wette.«
»Waren?«, fragte Läuschen. »Wieso waren? Vielleicht sind sie noch hier. Am besten, wir ziehen uns unauffällig zurück.«
»Hallo?«, rief Wolf.
Im Haus blieb es ruhig. Da war kein Einbrecher und auch sonst niemand. Wolf hätte ihn längst gewittert. Langsam folgte er dem Geruch bis in die Küche. Der Backofen. Zweifellos war er der Ursprung des Gestanks. Sofort beschlich Wolf ein unangenehmes Gefühl. Dass da drinnen nur ein Braten lag, den die Hexe hatte anbrennen lassen, wollte er nicht glauben.
»Was ist das?«, hauchte Läuschen. Abermals bewies es eine scharfe Beobachtungsgabe. »Da, unter dem Tisch neben dem Ofen.«
Halb verdeckt von einem der Tischbeine lag ein spiralförmig spitz zulaufendes Ding, ungefähr zwei Zoll lang. Wolf hob es auf und musterte es von allen Seiten. Vielleicht war es ein Stück eines Hirschgeweihs oder der Eckzahn eines Raubtieres … Wolf konnte es nicht sagen. Im Laufe der Zeit hatte er mit vielen Tieren zu tun gehabt, geschäftlich wie privat, doch ein Zahn wie dieser war ihm bei keiner Spezies untergekommen.
Das Ding steckte in einer Goldfassung mit ziselierten Ornamenten, an der ein paar Glieder eines dünnen, goldenen Kettchens hingen. Das war zweifellos ein Anhänger, erkannte Wolf, möglicherweise ein Amulett. Aber woher stammte es? Wie war es hierhergekommen?
Wolf legte es auf den Küchentisch und wandte sich wieder dem Ofen zu. Ihm graute davor, die Klappe zu öffnen.
»Los, mach auf!«, drängte Flöhchen. »Da ist bestimmt etwas Essbares drinnen.«
Wolf entriegelte die Eisentür und zog sie auf. Warme Luft strömte ihm ins Gesicht. Und im selben Moment sah er ihn. Ein menschlicher Schädel lag in der Asche und starrte ihn mit leeren Augenhöhlen an.
»Na, Mahlzeit«, meinte Flöhchen. »So kann man sich täuschen.«
Läuschen quietschte. »Ist das die …«
»Hexe«, keuchte Wolf. Der Schreck steckte ihm in allen Gliedern. »Ja, das ist sie.«
»Augenblick, nicht so voreilig!«, erhob Flöhchen Einspruch. »Woher willst du das wissen? Im Grunde kann das jeder sein. Da hängt keine Unze Fleisch an den Knochen.«
Wolf schüttelte den Kopf. »Es ist die Hexe«, wiederholte er. »Ganz eindeutig. Ich erkenne sie an ihren Goldzähnen. Der obere rechte Schneidezahn, der unten links und …«
»Was?«, drängte Läuschen.
»Sie hatte einen goldenen Backenzahn, aber … der ist weg.«
»Und weshalb liegen ihre Überreste im Backofen? Was ist passiert?«
Die Umstände ließen für Wolf nur eine Erklärung zu. »Jemand hat sie umgebracht und anschließend verbrannt«, kombinierte er. »Wer macht so etwas? Wer tut einer alten Frau Gewalt an?«
Erneut nahm er den Anhänger an sich. Hatte ihn der Mörder verloren? Hatte die Hexe ihrem Angreifer den Schmuck bei einem Kampf vom Leib gerissen?
Wolf packte das Fundstück in seinen Rucksack und überprüfte die Speisekammer. Soweit er es beurteilen konnte, war hier nichts entwendet worden. Zwei geräucherte Schinken und ein paar Streifen getrockneten Rehfleischs hingen vom Dachbalken. Im Wandregal dahinter drängten sich Gläser mit Apfelmus, Erdbeermarmelade und eingelegtem Gemüse.
Nur mit Mühe riss sich Wolf vom verlockenden Anblick der Schinken los und setzte seinen Rundgang fort. Wie die Stube war auch das Schlafzimmer verwüstet worden. Überall lagen die Habseligkeiten der Hexe auf dem Boden. Der Wäscheschrank und das Regal, in dem sie ihre Zauberbücher alphabetisch eingeordnet hatte, waren leer. Der Mörder hatte sogar die Matratze aus dem Bett gehievt und an die Wand gelehnt. Das hatte sich für ihn ausgezahlt, denn damit war das Geheimversteck der Hexe aufgeflogen, jene gut gewählte Stelle, an der sie ihre Perlen und Edelsteine aufbewahrt hatte. Der Kerl war nicht dumm, musste Wolf zugeben. Auf die Idee, dass jemand Wertgegenstände unter einer Matratze verstaute, musste man erst kommen.
»Was, denkst du, hat der Einbrecher gesucht?«, rätselte Flöhchen. »Besonders reich kann so eine Hexe nicht sein.«
»Doch.« Schon war Wolf unterwegs zur Trockenkammer. »Immerhin hat sie profitable Geschäfte gemacht.«
»Mit dem GuteLauneKraut?«
Wolf stieß die Tür auf. An den Schnüren, die unterhalb der Decke quer durch den Raum gespannt waren und an denen die getrockneten Blüten hängen sollten, hing … nichts. Zurückgeblieben war lediglich ein schwacher, süßlicher Duft.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, stöhnte er. »Meine Ware! Alles ist weg.«
»Wo bleibst du?«, ertönte eine gackernde Stimme.
Wolf fuhr herum. Hähnchen stand vor ihm. Es hatte seine Flügel in die Hüften gestemmt und funkelte ihn an.
»Was dauert da so lange?«, beschwerte es sich. »Lade das Zeug endlich auf den Wagen! Wir haben noch andere Aufträge zu erledigen.«
Wolf reagierte nicht. In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, das er erst ordnen musste.
»Los, komm in die Gänge!«, keifte Hähnchen. »Aufladen, zack, zack!«
»Es ist nicht da«, flüsterte Wolf.
»Wie bitte? Nicht da? Ist das dein Ernst? Soll das heißen, wir haben unsere Zeit für nichts und wieder nichts verplempert? Wofür hast du uns herbestellt?«
Wolf zuckte mit den Schultern. »Tja, tut mir leid. Wie es aussieht, habt ihr den Weg umsonst gemacht.«
Ein hämisches Lachen schallte durch den Raum. »Umsonst? Na, sicher nicht. Es ist wohl klar, dass du uns die Zeit abgelten wirst, egal, ob es etwas zu transportieren gibt oder nicht. Los, komm mit, wir rechnen ab!« Hähnchen machte kehrt und stolzierte aus dem Haus. »Verfluchter Vierbeiner!«, schimpfte es. »Säugetier, räudiges! Es ist ständig das Gleiche mit euch.«
Wolf war zu sehr in Gedanken versunken, um auf die Beleidigungen zu reagieren. Die tote Hexe, ihr gestohlener Schmuck, das verschwundene GuteLauneKraut … Was, in aller Welt, war hier vorgefallen?
»Die Herfahrt werde ich euch ersetzen«, bot er an, als sie vor das Haus traten. »doch den Transport zu meiner Höhle nicht. Immerhin fällt der aus.«
»Das glaubst aber nur du.« Hähnchen ließ nicht mit sich diskutieren. »Du bezahlst den vollen Preis. Ansonsten soll jeder im Königreich erfahren, dass du ein Betrüger bist, der ehrbare Geschäftsleute wie uns um ihr Geld bringt.«
Eine weitere Lügengeschichte, die in Siebenbergen über ihn kursierte, hätte Wolf gerade noch gefehlt. Widerwillig fischte er einen Lederbeutel aus seinem Rucksack.
»Wie viel?«, fragte er.
»Vier Groschen«, sagte Hähnchen und kletterte auf den Wagen. »Wie vereinbart.«
»Machen wir drei«, versuchte Wolf zu verhandeln.
»Machen wir fünf«, schlug Hähnchen vor.
»Also meinetwegen. Dann eben vier.«
Wolf holte die Münzen aus dem Beutel und reichte sie dem Halsabschneider.
Hähnchen schwang seine Peitsche und ließ sie auf den Rücken der Lastenente niedergehen. Die Ente drehte ihren Kopf und sah Wolf hilfesuchend an. In ihrem Blick lag eine tiefe Traurigkeit. Als Hähnchen ein weiteres Mal auf sie einschlug, setzte sie sich in Bewegung. Zwar war sie ein außergewöhnlich großes Exemplar ihrer Gattung, von kräftiger Statur, doch ob ihres langsamen, watschelnden Gangs als Zugtier nicht die Idealbesetzung.
»Das nächste Mal kostet es sechs Groschen«, rief Hähnchen über seine Schulter hinweg.
»Warum?«, wollte Wolf wissen.
»Die Preise steigen. Sie folgen dem Gesetz von Angebot und Nachfrage.«
»Treib es nicht zu weit! Ich kann auch ein anderes Transportunternehmen beauftragen«, drohte er.
»Das könntest du, solltest du eines finden, das genauso verlässlich arbeitet wie wir. Bei uns in Siebenbergen wirst du kein Glück haben. Am besten, du schleppst dein GuteLauneKraut beim nächsten Mal selbst nach Hause. Das ist billiger.«
Billiger und schneller, dachte Wolf. Die Lastenente hatte kaum neun Ellen zurückgelegt. Bei dem Tempo wäre sie erst morgen vor seiner Höhle angekommen.
»Denk daran, dass sich dein Sohn den größten Teil des Krauts einverleibt«, fauchte er. »Der wird keine Freude haben, wenn er hört, dass sein Vater Wucherpreise verlangt.«
»Was interessiert mich mein Sohn?«, schnaubte Hähnchen. »Mit dem will ich nichts zu tun haben. Der Taugenichts ist für mich gestorben. Soll er das Kraut doch selbst tragen.«
»Oder ich beauftrage in Hinkunft Herrn Korbes«, rasselte Wolf mit dem Säbel.
»Herr Korbes? Seit wann arbeitet der als Spediteur?«
»Wer ist Herr Korbes?«, mischte sich Hühnchen ein. »Hm? Sag schon, wer ist dieser Herr Korbes?«
»Keine Sorge, nur so ein dahergelaufener Idiot, ein gewöhnlicher Bauer«, erklärte Hähnchen. »Der wird uns nicht in die Quere kommen.«
»So sicher wäre ich mir nicht«, lächelte Wolf. »Er hat sich vor Kurzem ein neues Fuhrwerk gekauft.«
»Na und?«
»Ein großes. Nicht so eine lächerliche Karre, wie du eine hast.«
»Wen interessiert’s?« Hähnchen ließ wieder seine Peitsche knallen. »Der Preis für den nächsten Auftrag ist übrigens gerade auf acht Groschen gestiegen.«
Der Wagen war jetzt so weit entfernt, dass Wolf lauter reden musste. »Das Fuhrwerk von Herrn Korbes wird von zwei Ochsen gezogen«, setzte er nach.
»Papperlapapp.«
»Zwei Ochsen sind deutlich schneller als eine Ente. «
»Auf die Geschwindigkeit kommt es nicht an.«
»Und er verlangt nur drei Groschen«, behauptete Wolf aus dem Blauen heraus.
Hähnchen hörte ihn nicht mehr. Der Wagen bog in den Waldweg und verschwand hinter den Bäumen.
Diesmal waren Hähnchen und Hühnchen zu weit gegangen. Als Stammkunde brauchte sich Wolf ein derartiges Benehmen nicht gefallen zu lassen. Für die nächste Fuhre würde er ganz bestimmt Herrn Korbes engagieren, egal, wie viel das kostete. Natürlich nur, sofern es eine nächste Fuhre geben sollte. Das musste Wolf erst überprüfen.
Mit langen Sätzen hetzte er hinter das Haus. Ja, da standen sie, großgewachsen und in voller Blüte. Der Mörder hatte die Pflanzen im Kräutergarten nicht angerührt. Tief zog Wolf ihren Duft durch die Nase ein. Er war betörend süß und schwer, ganz typisch für die Weiße Witwe, wie die Hexedie Sorte genannt hatte. Eine Woche noch, schätzte Wolf, vielleicht ein bisschen länger, dann waren die Blüten reif und bereit, geerntet zu werden.
»Ich will dich nicht stören«, riss ihn Läuschen aus seinen Gedanken, »aber ich finde, wir sollten die königliche Garde verständigen.«
»Nein.« Für Wolf kam das nicht infrage. »Das bringt nichts. Die Garde interessiert sich nicht für tote Hexen. Die Obrigkeit ist froh, wenn es eine weniger gibt.«
»Dann wäre es angebracht, ihre Überreste zu beerdigen«, empfahl Läuschen. »Ein Urnengrab wird reichen. Im Haus habe ich eine hübsche Vase gesehen. Sie ist groß genug. Da passt sogar der Schädel hinein.«
Auf dem Weg zur Waldschenke wurde Wolf das Gefühl nicht los, dass ihm jemand folgte. Immer wieder sah er sich um, prüfte den Waldrand mit scharfen Augen und feiner Nase, konnte aber niemanden entdecken. Nur einmal brach ein wilder Eber knapp vor ihm aus dem Dickicht, um sich auf einem Rübenfeld den Bauch vollzuschlagen.
Obwohl der Nachmittag gerade angebrochen war, fühlte sich der Tag bereits endlos an. Wolf war müde, niedergeschlagen und empfand keine Lust, sich länger als notwendig in der Waldschenke aufzuhalten. Er wollte etwas zum Mitnehmen ordern, für sich, Aschenputtel, seine Burschen und Katze. Und während er auf das Essen wartete, würde er einen Humpen Bier trinken, möglicherweise einen zweiten, sollte die Zubereitung der Speisen länger dauern, aber sicher nicht mehr als drei.
»Wolf!«, vernahm er einen Ruf, kaum hatte er das Wirtshaus betreten. »Her mit dir!«
Im hintersten Eck der Gaststube erblickte er einen wohlbekannten strohblonden Haarschopf, der seinem Träger kreuz und quer vom Kopf stand. Meister war nach einer längeren Geschäftsreise wieder im Lande. Grinsend winkte er Wolf zu sich. Wie es schien, hatte er den letzten freien Tisch ergattert, jenen neben der Wurfpfeilscheibe.
Für einen Mittwochnachmittag war das Lokal gut besucht, vor allem von Zwergen, die im Verhältnis zu ihrer Körpergröße einen Riesenwirbel erzeugten. Wolf vermutete, dass sie einen ihrer Feiertage begingen und die Arbeit in den Minen ruhen ließen.
»Guten Tag, Meister«, grüßte er, nachdem er sich durch die Menge an Durstigen gezwängt hatte, die die Theke belagerten.
»Wünsche ich ebenso, Wolf. Setz dich zu mir.« Meister klopfte mit der flachen Hand auf einen freien Stuhl. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Ich fürchte, ich muss gleich weiter«, wehrte Wolf halbherzig ab, überlegte es sich im nächsten Moment jedoch anders. An einem Gespräch mit einem alten Freund war nichts verkehrt nach allem, was ihm widerfahren war. »Was soll’s. Auf ein Bier kann ich bleiben.«
»Einen Humpen für Wolf!«, rief Meister dem Wirt zu. »Und für mich auch noch einen.«
Wolf nahm seinen Rucksack ab und setzte sich an den wackeligen Tisch.
»Ich wollte nur etwas für meine Burschen und Katze holen«, erläuterte er. »Und für Puttel.«
»Ah, so schnell werden die nicht verhungern. Mach’s dir gemütlich!«
Wolf nickte verdrossen. »So gemütlich, wie man es sich machen kann neben der Wurfpfeilscheibe.«
»Was ist los mit dir?«, wollte Meister wissen. »Du wirkst bedrückt. Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«
»Ach …«, begann Wolf, brach aber ab, als sich der Wirt mit dem Bier näherte.
»Einen Humpen für Wolf, einen für den Meisterdieb«, sagte der Wirt. »Du bist übrigens der einzige Wolf, den ich kenne, der aus einem Humpen trinkt«, stellte er fest.
»Wie viele Wölfe kennst du denn?«, erkundigte sich Wolf. »Außer mir gibt es ja keinen in dieser Gegend.«
»Wolf ist in der Lage, aus allen erdenklichen Gefäßen zu trinken«, erläuterte Meister. »Jahrelange Übung macht das möglich. Zur Not bedient er sich aus dem Abort. Habe ich recht? Und jetzt raus mit der Sprache! Was ist los? Warum schaust du so deprimiert aus der Wäsche?«
Wolf nahm einen Schluck, wartete, bis der Wirt abgezogen war, und begann zu erzählen. Er unterrichtete Meister über den Tod der Hexe, den Raub ihrer Wertsachen und das Verschwinden der Weißen Witwe. Sogar die Beisetzung der verkohlten Überreste erwähnte er. Sie hatte sich schwieriger gestaltet, als von Läuschen vorhergesagt. Der Hexenschädel hatte doch nicht in die Vase gepasst, und die vehementen Versuche, ihn hineinzupressen, waren darauf hinausgelaufen, dass Wolf am Ende die Asche, die Knochenreste und die Scherben des zu Bruch gegangenen Gefäßes einfach im Kräutergarten verstreut hatte. Der Hexe hätte es gefallen, in Gesellschaft ihrer Pflanzen zur letzten Ruhe gebettet zu werden. Zudem gab die Asche einen hervorragenden Dünger ab.
Während Wolf redete, fand sich eine Handvoll Zwerge vor der Wurfpfeilscheibe zu einem Spiel zusammen. Betrunken, wie sie waren, ließ ihr Zielvermögen zu wünschen übrig. Nicht nur einmal pfiff ein Pfeil knapp an Wolfs Kopf vorbei und das auch nur, weil er rechtzeitig auswich.
»Schau, was ich im Hexenhaus gefunden habe.« Wolfkramte in seinem Rucksack und beförderte den Anhänger zutage. »Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?«
Meister nahm das Objekt an sich und beäugte es ausführlich. Schließlich holte er sogar eine Lupe aus seiner Westentasche und untersuchte es nochmals.
»Hm … Schwer zu sagen. Vielleicht der Zahn eines Tieres«, schloss er seine Expertise ab.
Wolf nickte. »Das habe ich ebenso vermutet.«
»Offenbar trug sie das Ding an einer Kette.«
»Sie?«
»Deine Hexe. Es könnte sich um einen Talisman handeln, um ein Amulett oder dergleichen. Hexen lieben dieses Zauberzeug.«
Wolf schüttelte den Kopf. »Der Hexe hat es bestimmt nicht gehört. Ich habe es nie zuvor bei ihr gesehen.«
»Und wenn sie es unter ihren Kleidern trug?«
»Ich habe es auch unter ihren Kleidern nie an ihr gesehen.«
»Oha!« Meister musterte Wolf mit breitem Grinsen. »Ich wusste nicht, dass du ihr so nahegekommen bist.«
»Bin ich auch nicht. Ich durfte nur manchmal ihren Hexentänzen beiwohnen, die sie bei Vollmond praktizierte. Gerne nackt. Abgesehen davon hat sie ihren Schmuck stets mit einer Gravur versehen, die ihn als den ihren ausweist.«
»Schlimme Zeiten«, stellte Meister fest, nachdem sie der Wirt mit zwei weiteren Humpen versorgt hatte. »Deine Hexe ist nicht die erste, die es erwischt hat, weißt du? Jemand scheint es auf Angehörige dieser Berufsgruppe abgesehen zu haben.«
»Nicht die erste?« Wolf hob überrascht den Kopf.
»Allerdings.« Meister reichte ihm den Anhänger. »Mir sind zwei weitere Fälle aus den letzten Wochen bekannt.«
»Du meinst, jemand bringt alle Hexen um, die ihm über den Weg laufen?«
»Kann sein. Vielleicht geht er wahllos vor, vielleicht suchter sie gezielt aus. Die erste Hexe, die dran glauben musste, war jene, die das Brüderchen vom Schwesterchen in ein Rehkalb verwandelt hatte. Manch einer mag ihr Bosheit unterstellen, doch ich bin mir sicher, es ging ihr darum, die ihrer Meinung nach zu stark ausgeprägte Geschwisterliebe zu unterbinden. Du weißt schon: Sie lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende und so. Für Geschwister nicht so passend. Und dann traf es eine Hexe, die verhindern wollte, dass ihre ungezogene Stieftochter mit ihrem Liebsten – wenn ich mich richtig entsinne, hieß er Roland – eine unmoralische Beziehung führt.«
Wolf hatte von den Vorfällen gehört. »Aber ich erkenne keine Gemeinsamkeiten«, gab er zu bedenken. »Wurde die eine nicht rechtskräftig verurteilt und öffentlich verbrannt? Und die andere ist einer Gewalttat innerhalb der Familie zum Opfer gefallen.«
Meister lächelte müde. »Ja, so wird es berichtet.«
Er machte eine längere Pause, in der Wolf vor einem verirrten Wurfpfeil unter dem Tisch Deckung suchen musste. Die Zwerge fanden das witzig.
»Ui, das war knapp!«, grölte einer von ihnen, wobei er so wild gestikulierte, dass die Hälfte des Weins aus seinem Becher schwappte. »Um ein Haar und du hättest das Vieh getroffen.«
»Der nächste Pfeil findet sein Ziel«, versprach der Schütze. »Darauf kannst du wetten.«
»Seht nur, wie gefährlich das Ungeheuer aus der Wäsche schaut«, kicherte ein dritter. »Gleich wird es uns in Stücke reißen.«
Und der erste warnte: »Ja, passt bloß auf! Sonst verspeist uns der Wadenbeißer als Jause. Ich habe einiges über den Gierschlund gehört. Der schreckt sogar vor Omas nicht zurück. Ich sage nur … Rotkäppchen.«
Wolf wusste, wie Zwerge tickten. Er wusste, dass man ihrGeschwätz nicht ernst nehmen sollte. Zwerge waren von Haus aus rüde Gesellen, die Begriffe wie Respekt, Rücksichtnahme und Höflichkeit nicht kannten. Doch Wolfs Stimmung war auf dem Nullpunkt angelangt und mit ihr seine Toleranz. Gleichzeitig war das Tier in ihm erwacht. Sollten es die Zwerge darauf anlegen, ihn zu provozieren, würde genau dieses Tier für Ruhe sorgen.
Der Wirt lieferte die dritte Runde. Wolf hatte die ersten beiden Humpen in Windeseile geleert und fühlte sich schwindlig. Er hatte seit dem Morgen nichts gegessen, und auf nüchternen Magen zeigte der Alkohol schnell Wirkung.
»Was meinst du?«, setzte er das Gespräch mit Meister fort. »Stehen die Schicksale der drei Hexen in einem Zusammenhang?«
»Nun, die Häufung der Fälle gibt mir zu denken.« Meister verfiel in verschwörerisches Flüstern. »Und außerdem, das weißt du selbst am besten, wird nicht alles so wiedergegeben, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Von dir kursieren Geschichten, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Keine Sorge, nicht, dass ich sie glauben würde. Ganz bestimmt nicht.«
»Was das anbelangt, gehörst du leider zu einer Minderheit.«
»Die Menschen sind dumm. Und nicht nur die Menschen«, fügte Meister hinzu, während er die Zwerge mit einem verächtlichen Blick bedachte. »Keiner, der einigermaßen bei Verstand ist, würde glauben, dass du und Rotkäppchen …«
»… das Rein und Rausspiel praktiziert habt«, beendete Flöhchen den Satz.
»Ach, halt den Mund!«, fauchte Wolf.
Meister hob entschuldigend die Hände. »Verzeih mir, ich will nichts gesagt haben.«
»Nein, nicht du. Ich … Egal, vergiss es.«
»Ich meine, Rotkäppchen ist ein Kind, und du, als ehrbarer Wolf, …«
»Rotkäppchen ist bestimmt kein Kind«, protestierte Wolf. »Die Gute ist längst im heiratsfähigen Alter. Sie ist sechzehn, wenn du es genau wissen willst.«
Meister runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Sechzehn? Sie kleidet sich, als wäre sie halb so alt. Das rote Häubchen, das kurze Kleidchen, die dicken Wollstrümpfe …«
»Jedem das Seine. Das ist ihr Stil. Wie die blonden Zöpfe.«
»Ja, das kennt man. Manche Frauen haben Probleme mit dem Älterwerden. Wie auch immer … Es ist absurd zu glauben, du hättest mit ihr ...«
»… versteck den Knüppel gespielt«, gab diesmal Läuschen seinen Senf dazu.
»Was soll daran absurd sein?«, fragte Wolf lauter als notwendig. »Rotkäppchen ist eine manierliche junge Dame.« Er hatte keine Ahnung, warum er das sagte. Rotkäppchen war weder eine Dame, noch hatte sie Manieren. »Du willst mir hoffentlich keinen Strick daraus drehen, dass wir einander nähergekommen sind.«
Meisters Neugier war vollends entfacht. »Seid ihr das? Ich hatte keine Ahnung.«
»Ja. Na und? Was ist dabei? Wir sind beide erwachsen.«
»Du mehr als sie«, warf Flöhchen ein.
»Ich mehr als sie«, bestätigte Wolf. »Wir waren uns zugetan. Zwei, drei Monate lang. Und das war’s dann.«
Meister sah ihn teilnahmsvoll an. »Tut mir leid, dass es nicht funktioniert hat, ehrlich.«
»Da kann man nichts machen. Es hat nicht gepasst. Wir haben uns in verschiedene Richtungen entwickelt.«
»Schon nach zwei Monaten? Na ja, vielleicht hättest du ihre Großmutter nicht fressen sollen.«
Wolf sprang auf. »Das habe ich nicht!«, platzte es aus ihm heraus. Für einen kurzen Moment vergaß er, auf die Zwerge zu achten. »Aua, verdammt!«, brüllte er, als ein Pfeil sein linkes Ohr perforierte.
»Obacht!«, warnte Flöhchen. »Um ein Haar wäre ich aufgespießt worden.«
Wolf stieß ein heiseres Knurren aus. Mit gefletschten Zähnen und zuckenden Lefzen starrte er den Werfer an. Seine Nackenhaare sträubten sich. Der Zwerg war samt Zipfelmütze nicht viel größer als Wolf und jeden Moment würde er einen Kopf kürzer sein.
Der Schütze ahnte, dass seine Tat Konsequenzen haben würde. »Tschuldigung, Menschenfresser«, murmelte er.
Den Bruchteil einer Sekunde später lag er auf dem Rücken und Wolf stand über ihm. Geifer tropfte dem Zwerg ins Gesicht.
»Wage es noch einmal, auf mich zu schießen, und ich werde dich zerfleischen«, grollte es aus Wolfs Kehle.
Der Zwerg war jung, sein Bartwuchs schütter, seine Haut rosigglatt wie Rotkäppchens Allerwertester. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, Tränen in seinen Augen.
»Es … Es tut mir leid«, stammelte er.
Meister kam um den Tisch geeilt und packte Wolf am Nacken. »Ich bitte dich, lass ihn! Er hat es nicht mit Absicht getan. Er ist nur ein Zwerg.« Er musste seine ganze Kraft aufwenden, um Wolf von seinem Opfer zu zerren. »Beruhige dich! Er ist es nicht wert.«
»Beruhigen?« Wolfs Atem ging schwer. »Ich soll mich beruhigen?«
Seine Gemütslage ließ es nicht zu, Milde walten zu lassen. Noch immer fixierte er seinen Widersacher, der sich mühsam aufrappelte, den Staub von seinen Kleidern klopfte und mit seinen Kumpanen das Weite suchte.
Meister bugsierte Wolf an ihren Tisch zurück. »Nimm einen Schluck, dann sieht die Welt gleich anders aus.«
»Tut mir leid, dass mich dieses Gerede aus der Fassung bringt«, fauchte Wolf. Seine Pfote zitterte, als er nach seinem Humpen griff.
»Ich verstehe, was du meinst.« Meister nickte aufmunternd. »Diese Zwerge sind ein penetrantes Pack. Der Abschaum des Abschaums. Wären sie nur hinter den Sieben Bergen geblieben, wo sie hingehören.«
»Nicht die Zwerge.« Wolf schüttelte den Kopf. »Ich spreche von den Lügenmärchen, die in diesem Königreich die Runde machen. Es scheint, als wären die Leute überhaupt nicht an der Wahrheit interessiert. Im Gegenteil, es bereitet ihnen eine diebische Freude, die haarsträubendsten Geschichten zu verbreiten. Da braucht nur einer zu kommen, der sich irgendwelche Ammenmärchen aus den Fingern saugt, und der Nächste hat nichts Eiligeres zu tun, als diesen Stuss mit allen zu teilen, die er kennt, indem er seinen Nachrichtenraben hinaus in die Welt schickt. Und ein paar Tage später gibt es kein anderes Gesprächsthema mehr. Und niemand, wirklich niemand, macht sich die Mühe, den Unsinn zu hinterfragen. Aber wenn ich dann sage: nein, so hat es sich nicht zugetragen, und ich war immerhin dabei, weiß also, wovon ich rede, dann glaubt mir keiner.«
Meister sah das ähnlich. »Ja, die Leute lieben Skandale, sie lieben die Aufregung. Und warum? Weil in ihren eigenen Leben nichts Nennenswertes passiert.« Beruhigend tätschelte er Wolfs Rücken. »Wie du weißt, fuhr mein Gevatter zur See. Immer, wenn er nach einer Reise zurückkehrte, wollten die Daheimgebliebenen von seinen spannenden Abenteuern erfahren, von tosenden Stürmen, Seeungeheuern, Piraten, Meutereien, Schiffbrüchen und dergleichen. Er tat ihnen den Gefallen. Was hätte er sonst tun sollen? Ihnen die Wahrheit sagen? Die Seefahrt war ruhig und beschaulich, der Wind stand günstig und brachte uns zügig voran, wir hatten genügend Proviant an Bord, kein Skorbut, keine Seeräuber, keine menschenfressenden Eingeborenen und überhaupt waren alle nett … So etwas will niemand hören.«
Wolf verstand, worauf Meister hinauswollte. »Aber wennes um Piraten und Seeungeheuer geht, wird niemand persönlich diffamiert«, warf er ein.
»Auch wieder wahr«, gab Meister zu. »Ich verstehe, dass dich die Gerüchte zur Weißglut treiben. Mir selbst blieben solche Erfahrungen zum Glück erspart. Was man über mich erzählt, stimmt im Großen und Ganzen. Was meinst du, genehmigen wir uns zur Beruhigung ein Pfeifchen?« Meister gab dem Wirt ein Zeichen, indem er eine unsichtbare Pfeife an seinen Mund hielt und tief inhalierte.
»Stimmt«, sagte Wolf. »Über dich wird nur Gutes berichtet. Der edle Meisterdieb, der von den Reichen nimmt und den Armen gibt.« Wolf rang sich ein Lächeln ab. »Ein bisschen abgedroschen, findest du nicht? Und nicht einmal der König konnte dir ob deines Lausbubencharmes böse sein. Ein Wunder, dass er dir nicht die Hand seiner Tochter und das halbe Königreich versprochen hat.«
Meister lachte. »Das liegt nur daran, dass König Dummling keine Tochter hat. Jedenfalls keine, die seiner Ehe mit der Königin entsprungen ist.«
»Und was ist aus dem ehemaligen Meisterdieb geworden?«, stichelte Wolf.
»Ein ehrenwerter Geschäftsmann.«
»Ein Hehler.«
»Ich muss schon sehr bitten.« Meister blähte seine Nasenflügel. »Ich führe ein Geschäft, mit dem ich meinen Lebensunterhalt rechtschaffen bestreite.«
Der Wirt kam an den Tisch und reichte Wolf und Meister die bestellten Pfeifen. »Hört zu, ihr beiden, es gibt ein Problem«, verkündete er, während er einen Stuhl heranzog und sich zu seinen Gästen setzte. »Beim Käse kommt es neuerdings zu Versorgungsengpässen. Mein Lieferant hat Siebenbergen aus unbekannten Gründen verlassen. Jetzt stehe ich bald mit leeren Händen da. Hast du Vorräte, die du an mich abtreten könntest, Wolf? Ich zahle gut.«
»Bedaure.« Wolf knirschte mit den Zähnen. »Mein Lieferant ist ebenso ausgefallen. Wenn man das so sagen kann.«
»Ich weiß nicht, was da los ist. Es wird immer schwieriger, GuteLauneKraut von hoher Güte zu bekommen. Und wenn man es bekommt, dann zu horrenden Preisen aus dem Königreich Hinterbergen.«
»Als ob dein Käse je von hoher Güte gewesen wäre«, meckerte Wolf. »Zerbrich dir nicht den Kopf. Bald steht bei mir die nächste Ernte an. Dann ist genug für alle da und die Preise werden sinken.«
»Dein Wort in Gottes Ohr. Aber da ist noch etwas, das vor allem dir Sorgen bereiten wird, wenn es stimmt, was ich gehört habe.« Der Wirt warf Wolf einen vielsagenden Blick zu.
»Wenn du meinst, dass ich Rotkäppchens Großmutter gefressen habe, dann stimmt es nicht.«
»Nicht?« Der Wirt wirkte überrascht. »Aber das meine ich nicht. Angeblich soll der Handel mit GuteLauneKraut verboten werden.«
»Verboten?« Wolf lachte rau. »Blödsinn! Wie kommst du darauf?«
»Ich habe es aus verlässlicher Quelle erfahren.«
»Vergiss es! Es wird viel erzählt, wenn der Tag lang ist. Alles Unsinn! GuteLauneKraut hat es immer gegeben und wird es immer geben. Das werden sich die Menschen nicht nehmen lassen. Immerhin kultivieren sie die Pflanzen seit Anbeginn der Zeit, haben es dabei zu immer größerer Perfektion gebracht. Und dann soll alles aus und vorbei sein?«
»Mein Informant meint, der Prinz selbst habe letztens auf die Gefahren des Drogenkonsums hingewiesen. Das GuteLauneKraut sei schädlich für die Gesundheit und habe negative Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, hat er behauptet. Ohne Drogen könnten seine Untertanen eine weitaus höhere Arbeitsleistung auf den Feldern erbringen.Stattdessen aber lungerten sie den lieben langen Tag halb betäubt im Schatten eines Baumes herum. Solche Äußerungen traue ich dem Prinzen zu. Man kennt ja seinen Leitspruch Leistung muss sich auszahlen.«
»Die Leistung der anderen zahlt sich für den eitlen Geck sowieso aus«, warf Wolf ein. »Und was leistet er? Sich neue Kleider und allen erdenklichen Prunk auf Kosten der Steuerzahler.«
»Pst, nicht so laut!«, mahnte der Wirt. »Man weiß nie, wer zuhört.«
Wolf nahm zwei schnelle Züge aus seiner Pfeife. Die Bezeichnung Käse kam nicht von ungefähr. Der Geruch war intensiv, das Aroma streng wie das eines würzigen Hartkäses.
»Ein Leben ohne GuteLauneKraut ist nicht vorstellbar«, fuhr er fort. »Demnach wird es nicht einmal der Prinz wagen, das derzeitige Gesetz zu ändern. Sich zu berauschen ist ein Grundrecht, das man nicht mit Füßen tritt.«
Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer, wenn sich nicht bald eine neue Bezugsquelle auftut, müsst ihr in Hinkunft auf Pilzpulver oder Krötenschleim zurückgreifen. Davon habe ich genug auf Lager.«
»Aus dem Hause Der treue Johannes«, kicherte Meister.
»Johannes kann es. Natürlich natürlich. Ganz ohne Alchemie«, zitierte Wolf den allseits bekannten Leitspruch des Geschäftsmanns.
Meister fixierte Wolf mit gespielter Strenge. »Machst du dich etwa über ihn lustig? Immerhin wurde er letztes Jahr als Siebenbergens Kaufmann des Jahres ausgezeichnet.«
»Und in den drei vorangegangenen Jahren«, höhnte Wolf. »Mit den Ehrungen hält der Prinz seinen Hauptfinanzier bei Laune. Eine Hand wäscht die andere.«
»Und daher geht auch heuer der begehrte Titel Kaufmann des Jahres an …« Meisters Finger spielten einen Trommelwirbel auf der Tischplatte. »… den treuen Johannes«,verkündete er feierlich, wobei er die Stimme des Prinzen täuschend ähnlich nachahmte.
Wolf brach in schallendes Gelächter aus. Meister war ein begnadeter Imitator. Das musste man ihm lassen.
Schwankend legte Meister sein Pfeifchen beiseite. »Puh! Dieser Käse hat es in sich«, stöhnte er. »Ich fühle mich ziemlich benebelt.«
Wolf erging es nicht anders. Zudem hatte er Mühe, seinen Heiterkeitsausbruch unter Kontrolle zu bringen.
Der Wirt erhob sich. »Ich hoffe, du behältst recht, Wolf. Sollte GuteLauneKraut tatsächlich verboten werden, würde sich mein Umsatz halbieren, und was das bedeutet, könnt ihr euch vorstellen.«
»Da muss ich kurz rechnen.« Meister tat, als würde er im Kopf eine komplexe mathematische Aufgabe lösen. »Du könntest dir pro Woche nur zwei statt vier Besuche im Haus der Freuden leisten?«
»Alles wird sich in Wohlgefallen auflösen«, versprach Wolf. »Und nun pack mir drei Bratenstücke, einen kleinen Sack Karotten, gemischtes Karnickelfutter und ein Pfeifchen extragroß zum Mitnehmen ein! Es ist Zeit aufzubrechen.«
»Du gehst schon?« Meister war enttäuscht. »Willst du nicht wissen, wer die Hexe ermordet hat?«
»In erster Linie möchte ich herausfinden, wo meine Weiße Witwe geblieben ist. Der Unhold, der sie gestohlen hat, muss zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Eben.« Meister beugte sich zu Wolf heran. Seine Augen glänzten. »Findest du den Mörder, findest du den Dieb.«
»Und?«, fragte Wolf. »Weißt du es?«
»Weiß ich was?« Meister hatte den Faden verloren.
»Wer die Hexe ermordet hat. Du hast mich gefragt, ob ich es wissen will.«
»Ach ja, stimmt. Was ich sagen wollte, bevor ich es vergaß: Sollte hinter allen Hexenmorden dasselbe Scheusal stecken,was ich stark vermute, könnte dir Hexenmeister Fitcher bei der Suche unter die Arme greifen.«
»FitzeFitcher?«,wundertesichWolf.»Warum?Weilerselbst ein Scheusal ist? Ein Reihenscheusal, genaugenommen.«
»Was ist ein Reihenscheusal?«
»Wie gemunkelt wird, hat er eine Reihe von Mädchenmorden begangen. Folglich ist er ein Reihenscheusal.«
»Uralte Geschichten«, erhob Meister Einspruch. »Ich kenne die Vorwürfe. Sie sind allesamt haltlos. Ihm wurde nie etwas nachgewiesen.«
»Und wie soll er mir bei meinen Nachforschungen helfen können?«
»Als Hexenmeister ist er mit den Abgründen der menschlichen Seele vertraut. Er weiß, wie so ein Reihenscheusal tickt und was es antreibt. Höre auf mich, Wolf! Wenn dir einer einen Tipp geben kann, dann er.«
Wolf bog in den Hohlweg, der hinauf zu seiner Höhle führte. Vom Fußmarsch einigermaßen ausgenüchtert, fragte er sich, wo seine Burschen und Katze steckten. Im ehemaligen Räuberhaus waren sie nicht gewesen. Das hatte ihn gleichermaßen überrascht wie erleichtert. Überrascht, weil sich die Musikanten fast immer zu Hause aufhielten, es sei denn, sie amüsierten sich in der Waldschenke, und erleichtert, weil er ihnen nicht klarzumachen brauchte, dass sie bis auf Weiteres ohne GuteLauneKraut auskommen mussten. Nun, diese Aufregung würde ihm nicht erspart bleiben. Früher oder später würden seine Schützlinge vom Lieferengpass erfahren und ihm die Hölle heiß machen.
Aber nicht heute. Ein ruhiger Abend erwartete ihn. Selbstvon Läuschen und Flöhchen drohten keine Störaktionen. In Wolfs Ohren herrschte Stille. Nach dem Genuss des Käses, den sie über sein Blut aufgenommen hatten, waren die Parasiten in einen tiefen Schlummer gefallen.
Dass der Tag nicht so beschaulich ausklingen würde wie erhofft, erkannte Wolf in dem Moment, als er den Zettel erblickte, der an die Föhre vor dem Höhleneingang genagelt worden war. Vorsicht, scharfer Wolf! stand darauf. Links davon war ein Strichmännchen mit Rock und Haube zu sehen, also ein Strichweibchen, das einen Korb trug, rechts davon ein ebenso simpel gestalteter Wolf, dem die Zunge aus dem Maul hing und der seine Stielaugen auf das Strichweibchen gerichtet hatte. Der Zettel trug eindeutig Esels Handschrift.
»Was tut ihr hier?«, fuhr Wolf die Musikanten an, kaum hatte er die Höhle betreten.
Sie hatten sich mit ihren Musikinstrumenten um das Feuer geschart und ließen sich von Aschenputtel Wein kredenzen, den alten, teuren Ungarwein, ein Geburtstagsgeschenk Meisters, den Wolf für einen besonderen Anlass aufgehoben hatte.
»Guten Abend, Wolf«, grüßte Esel mit breitem Grinsen. »Es wird dich freuen zu hören, dass wir ab sofort hier wohnen.«
Wolfs Freude hielt sich in Grenzen. »Was? Warum?«, brach es aus ihm heraus. »Ich meine, nein, das werdet ihr nicht!« Sein Blick wanderte von Esel über Hund und Katze zu Hahn und wieder zurück. »Was soll das? Weshalb seid ihr nicht in eurem Haus? Ich wollte euch Essen vorbeibringen.«
»Möchtest du einen Becher Wein?«, fragte Aschenputtel. »Zur Beruhigung?«
»Nein, danke. Nicht jetzt, Puttel. Ich will wissen, was los ist. Warum seid ihr hier? Hat jemand Geburtstag?«
»Ja, alle.« Katze nickte.
Wolf beäugte sie verständnislos.
»Nicht heute«, erklärte sie. »Aber irgendwann schon.«
Das fand Hund witzig. Taka, ksch spielte er mit seiner Marschtrommel und der Tschinelle einen Tusch.
»Sagt mir sofort, was hier vor sich geht!«, forderte Wolf erneut Aufklärung.
»Du hast Essen erwähnt.« Esel leckte sich erwartungsvoll über die Lippen. »Setz dich zu uns! Während wir das Mitgebrachte verzehren, erzählen wir dir, was vorgefallen ist.«
»Ich passe«, tat Hahn kund. »Ich muss auf meine Linie achten, und Essen wird sowieso überbewertet.«
»Ich weiß. Du ernährst dich lieber davon.«
Wolf holte das Pfeifchen extragroß aus seinem Rucksack und überreichte es ihm. Dann warf er Esel den Sack Karotten zu, übergab je ein Bratenstück an Hund und Katze und versorgte Aschenputtel mit dem Karnickelfutter.
»Iss doch einmal etwas Anständiges«, schlug er vor, »sonst fällst du mir noch vom Fleisch.«
»Ich mag Salat«, lächelte sie. »Besonders wenn er frisch und knackig ist. Mmh, heute mit Rucola und Tomaten. Dankeschön.«
»Stell dir vor, was passiert ist«, begann Esel, während er an einer Karotte knabberte. »Die Garde war da. Im ehemaligen Räuberhaus, meine ich.«
»Und was wollten sie?«, erkundigte sich Wolf.
»Uns davonjagen.«
»Was ihnen offensichtlich gelungen ist. Aber weshalb?«
»Elende Handlanger des Prinzen sind das, buckelnde Lakaien!«, beschwerte sich Hahn, der in schnellen, tiefen Zügen den Käse inhalierte. »Diese Schwachköpfe in Uniform meinten allen Ernstes, wir hätten das Haus rechtswidrig besetzt.«
»Damit hatten sie nicht unrecht. Aber wieso habt ihr euch nicht gewehrt? Sonst seid ihr nicht so zimperlich im Umgang mit Autoritäten.«
Esel zuckte mit den Schultern. »Es waren zu viele. Sie haben uns im Schlaf überrascht.«
»Im Schlaf? Am helllichten Tag?« Wolf konnte es nicht fassen. »Ihr solltet lieber proben, anstatt zu schlafen.«
»Wir sind Musikanten …«
»Und eine Musikantin«, warf Katze ein.
»Jedenfalls schlafen und arbeiten wir, wann wir wollen.«
Wolf war sich nicht sicher, ob man das, was seine Burschen und Katze taten, Arbeit nennen konnte.
»Es ging alles sehr schnell«, berichtete Esel. »Die Soldaten trugen, schoben und zerrten uns hinaus und meinten, wenn wir nicht auf der Stelle verschwänden, würden sie uns in den Kerker werfen und uns bei nächster Gelegenheit des Seilers Tochter vorstellen.«
»Das habe ich übrigens nicht verstanden«, bemerkte Hahn. »Des Seilers Tochter. Die kenn‘ ich nicht. Aber wenn sie gut aussieht, soll es mir recht sein.«
»Sie haben damit gedroht, uns aufknüpfen zu lassen«, erklärte Katze.
»Wie poetisch.«
»Dann haben sie die Transparente von den Fenstern gerissen«, fuhr Esel fort. »Du weißt schon, das eine, auf dem stand: Dieses Haus ist besetzt! und jenes mit der Aufschrift: Eigentum ist Diebstahl, es sei denn, es ist meines. Sogar das BesetztSchild vom Abort haben sie uns weggenommen.«
»Und das Plakat mit dem großen A in einem Kreis«, ergänzte Hahn sichtlich beleidigt, da er es gemalt hatte.
»Ah, das.« Wolf nickt schwach. »Mir war ohnehin nie klar, was das bedeuten sollte.«
»Allergie«, erläuterte Hahn. »Als Warnung an Besucher, dass im Haus überall Katzen und Hundehaare herumliegen.«
»Tja und jetzt sind wir hier«, schloss Esel.
»Tja und spätestens morgen werdet ihr euch eine andere Bleibe suchen.«
Wolf war keinesfalls gewillt, sein Heim mit den Musikanten zu teilen. Er war ein einsamer Wolf, der gut auf Gesellschaft verzichten konnte. Abgesehen von Aschenputtel natürlich, die er gerne duldete, weil sie die Höhle sauber hielt, sich ums Feuer kümmerte, für ihn kochte und die Einkäufe erledigte.
»Geht klar, mein Gebieter, und danke für deine Gastfreundschaft«, krähte Hahn. Angewidert verzog er den Schnabel. »Wenn es wirklich darauf ankommt, ist es aus und vorbei mit deiner Unterstützung. Dich interessiert nur dein Anteil an unseren Einnahmen.«
»Welche Einnahmen?«, erkundigte sich Wolf. »Bis jetzt habt ihr keinen Groschen verdient.«
»Schon gut, Hahn, beruhige dich.« Esel stellte den Karottensack beiseite. »Wolf ist eben kein Herdentier. Wir sollten froh sein, dass wir hier die Nacht verbringen dürfen. Doch bevor wir uns zur Ruhe begeben, haben wir eine kleine Überraschung für dich.«
»Für mich?« Wolf fühlte sich eher bedroht als geschmeichelt.
»Ja. Auch wenn Hahn das im Moment anders sieht, du bist uns wichtig, ein guter Freund und unser Kümmerer. Deshalb haben wir ein Lied für dich geschrieben. Das wollen wir dir vorspielen. Du wirst begeistert sein. Burschen und Katze, seid ihr so weit?«
Esel schnappte seine Laute, ein schwarzes Monstrum in Form einer Doppelaxt, die er sich auf Wolfs Kosten vom ansässigen Instrumentenbauer hatte herstellen lassen, Katze trat an ihre Kofferorgel und Hund nahm hinter seinem Schlagwerk Platz.
Hahn rührte sich nicht. Regungslos starrte er hinauf zurDecke, wo der Rauch des Feuers durch einen feinen Riss im Fels abzog.
»Hahn?«, sprach Esel den Sänger der Gruppe an. »Hahan!« Hahn ignorierte ihn. »Hast du das gemalt, Wolf?«
»Was?«
»Diese Bilder an der Decke.«
»Bilder?« Wolf hatte keine Ahnung, wovon Hahn sprach.
»Schau doch hin! Siehst du sie nicht? Die Figuren … Jäger und Tiere … und sie bewegen sich.«
»Das ist die Maserung des Gesteins im flackernden Schein des Feuers«, klärte ihn Wolf auf. »Hast du Krötenschleim zu dir genommen?«
»Ja, hat er«, bestätigte Esel. »Los jetzt! Bringen wir es hinter uns. Das Stück heißt Was hast du getan?«
Wolf, hey, was hast du getan? Sieh dir das Schlamassel an! Verlierst du komplett den Verstand? Da klebt Blut an deiner Hand.
Wolf, hey, was hast du getan? Das war schrecklich inhuman. Mit der Kleinen kopulieren und ihre Oma schnabulieren.
Armes Kind, allein im Wald, frei von Schuld und unberührt, es ist jung, und du bist alt, weshalb es die Gefahr nicht spürt. Wein und Kuchen trägt‘s bei sich, von seiner Mutter Gaben. Daran wird sich hoffentlich die kranke Oma laben.
Du sprichst es an mit einer List, sagst, Blumen soll es pflücken. Wenn das Kind beschäftigt ist, kannst du dich still verdrücken. Springst hinfort zu Omas Haus unter den drei Eichen. Lässt die Suppe einfach aus, der Hauptgang wird dir reichen.
Wolf, hey, was hast du getan? Gerietst du auf die schiefe Bahn? Gelenkt von hemmungsloser Gier handelte das Tier in dir.
Schnell ist Großmama verspeist, und weiter folgst du deinem Plan. Unverschämt, gemein und dreist ziehst du ihre Kleider an. Steigst ins Bett und deckst dich zu, das Mädchen wird bald kommen. Nicht mehr lang, dann kommst auch du, hast du es erst genommen.
Groß sind Hände, groß der Mund, auch Augen und die Ohren. Schon fühlt sich das Mädchen wund, die Unschuld ist verloren. Egal was mancher sagen mag, es läuft stets auf das eine raus. Niemand deinem Charme erlag, nur die Größe macht es aus.
Wolf, hey, was hast du getan? Schau dich doch im Spiegel an!
Jeder nimmt vor dir Reißaus. So sieht ein Ganove aus. Wolf, hey, was hast du getan? Machst dich an die Kleine ran. Heimgesucht von Seelenpein wird sie nie mehr glücklich sein.
»Und? Was meinst du?« Esel stellte seine Laute ab und schenkte Wolf ein erwartungsvolles Lächeln.
Wolf hätte gerne klar und deutlich artikuliert, was er meinte, doch hatte er im Laufe der Zeit gelernt, seine Burschen und Katze nicht vor den Kopf zu stoßen. In zahlreichen Diskussionsrunden war seitens der Musikanten wiederholt der Wunsch an ihn herangetragen worden, er möge seine Kritik einerseits in höfliche Worte fassen und andererseits in einem kultivierten Tonfall vorbringen. Selbst Aschenputtel hatte ihn zu mehr Rücksichtnahme aufgefordert, da zartbesaitete Künstlerseelen mit der Wahrheit nur schwer umgehen könnten.
»Also, liebe Musikanten«, begann Wolf mit sanfter Stimme.
»Und in«, unterbrach ihn Katze. »Es heißt liebe Musikanten und Musikantin. Oder gehöre ich nicht dazu?«
»Doch, natürlich.«
»Möglich wäre auch Musikantgroßes Innen.«
»Großes I?«
»Oder MusikantDoppelpunktinnen«, bot Katze eine Alternative an. »Ist dir MusikantSterncheninnen lieber?«
Wolf drohte die Geduld zu verlieren. »Sternchen, Doppelpunkt? Bist du noch bei Trost? Was soll das bedeuten?«
»Es soll deine Wertschätzung gegenüber weiblichen Lebensformen ausdrücken. Auch Musizierende würde ich akzeptieren.«
Für Wolf ging das zu weit. »Genug jetzt!«, entschied er. »Wo war ich stehengeblieben?«
»Ganz am Anfang«, stöhnte Hahn.
»Wohlan …« Wolf räusperte sich. »Zuerst, Esel, möchte ich dir herzlich danken. Du hast dir viel Mühe bei der Ausgestaltung des Textes gegeben. Die Reime sind dir durchaus gelungen, ein Versmaß ist vage erkennbar. Ich habe keine Wortwiederholungen wahrgenommen und keine rüden Ausdrücke, die andere beleidigen oder gar verletzen könnten, was bei dir keine Selbstverständlichkeit ist, wie man weiß. Die Musik erachte ich als ansprechend …«
»Die Musik ist von mir«, fiel ihm Katze abermals ins Wort.
»Dann möchte ich dich gerne für die wohlklingenden Harmonien und die einprägsame Melodie loben. Auch rhythmisch präsentiert sich das Lied gefällig, flott im Tempo, jedoch nicht zu wild. Alles in allem hat die Komposition Potential, eine größere Zielgruppe zu erreichen. Bravo, Katze! Mein Dank richtet sich ebenso an Hund, der solide gespielt und das Tempo von Anfang bis Ende vorbildlich gehalten hat, sowie an Hahn, dessen Stimme wie gewohnt ausdrucksstark und vielseitig war.«
»Blabla«, murrte Hahn gelangweilt. Er gähnte demonstrativ, lehnte sich gegen die Höhlenwand, verschränkte die Flügel hinter seinem Kopf und gab ein lautes Schnarchen von sich.
Wolf erhob sich und schritt vor den Musikanten auf und ab. »Zurück zu dir, Esel«, setzte er seine Analyse fort. »Was die inhaltlichdramaturgische Ebene des Textes anbelangt, würde ich gerne einige Kritikpunkte anbringen. Erstens dichtest du im einleitenden Refrain Mit der Kleinen kopulieren und ihre Oma schnabulieren, was impliziert, dass der Geschlechtsakt mit Rotkäppchen vor dem Verzehr der Großmutter stattfand. Später, in der Strophe, die mit Schnell ist Großmama verspeist beginnt, kehrst du die Reihenfolge der Aktivitäten um. Darin könnte der aufmerksame Zuhörer einen Widerspruch erkennen. Zudem – und das wiegtfür mich weitaus schwerer – entsprechen die aufgestellten Behauptungen nur bedingt der Wahrheit. Das betrifft vor allem die These, ich hätte mich von Rotkäppchens Großmutter ernährt und Rotkäppchen selbst wäre ein junges, gar minderjähriges Mädchen, das ich mit bösen Absichten verführt hätte. Du wirst bestimmt einsehen, dass ich derartige Unterstellungen nicht dulden kann, da sie meine Person in ein schiefes Licht rücken. Aufgrund dieser textlichen Ungenauigkeiten befinde ich mit größtem Bedauern, dass dieses Lied dem von uns angestrebten künstlerischen Niveau in keiner Weise entspricht und sich somit für eine Aufführung nicht eignet.«
Im Zuge seiner Ausführungen war Wolf immer energischer geworden. Jetzt herrschte für einige Sekunden absolute Stille. Niemand rührte sich, nur Aschenputtel sammelte die leeren Becher ein und trug sie in den hinteren Bereich der Höhle, um sie abzuwaschen.
Allmählich lösten sich die Musikanten aus ihrer Starre. Hund spannte die Felle seiner Trommeln, Katze klappte den Deckel ihrer Orgel zu.
»Und da sind doch Wandmalereien«, brach Hahn das Schweigen. »Seht ihr diesen Jäger nicht? Er hält Pfeil und Bogen in der Hand.«
»He, Wolf, das musst du nicht so ernst nehmen«, seufzte Esel. »Der Text soll witzig sein. Das ist Satire. Die Menschen werden ihn lieben. Verstehst du keinen Spaß?«
Wolf platzte der Kragen. »Die Menschen werden ihn vielleicht lieben«, schrie er so laut, dass feiner Staub aus dem Riss in der Decke rieselte. »In erster Linie aber werden sie ihn für wahr halten. Und wer, Esel, frage ich dich, wird das am Ende ausbaden müssen? Hm? Was denkst du?«
Esel zuckte mit den Schultern.
»Ich natürlich! Denn ich stehe als Kinderschreck und Großmuttermeuchler da. Auf mich werden sie mit ihrenFingern zeigen, während sie betroffen ihre Köpfe schütteln. Im schlimmsten Fall rücken sie hier mit Fackeln und Heugabeln an, um mich auszuräuchern. Nein, nein, Esel, so weit wird es nicht kommen. Das werde ich zu verhindern wissen.«
»Aber wir brauchen das Lied für unseren Auftritt am Stadtplatz. Sonst haben wir zu wenig Programm.«
»Dann komponiere ein anderes, du Kreativgenie!«
Esel reagierte trotzig. »Und wenn wir es dennoch spielen?«, fragte er. »Was willst du tun? Uns von der Bühne jagen?«
Wolf trat nahe an ihn heran. Eindringlich starrte er ihm in die Augen. Nur eine Haaresbreite trennte ihre Nasenspitzen.
»Sollte ich jemals auch nur den ersten Ton dieses Liedes hören, und ich habe ein sehr feines Gehör, wie dir bekannt ist, werde ich dich in Stücke reißen, in unzählige, winzig kleine Stücke, um sie an die Krähen auf den Feldern zu verfüttern.« Wolf setzte eine Pause, bevor er die ganze Gruppe ins Visier nahm. »Und noch etwas, meine Lieben. Habt ihr schon einmal überlegt, wo ihr ohne mich wärt? Stadtmusikanten in Bremen wolltet ihr werden, seid in die Welt gezogen, um Berühmtheit zu erlangen. Und wie weit seid ihr gekommen? Das nächstbeste Haus habt ihr besetzt und fortan dem Müßiggang gefrönt. Vom Musizieren war kaum mehr die Rede. Alle heiligen Zeiten habt ihr in der Rockenstube zum Tanz aufgespielt, und das war’s dann. Bis heute hättet ihr nichts zuwege gebracht, wäre ich nicht bereit gewesen, euch unter meine Fittiche zu nehmen. Ich habe das Potential eures Projekts erkannt. Ich habe euch dazu angetrieben, endlich in die Gänge zu kommen, mit eurer Musik ernstzumachen, und ich habe mich in weiterer Folge darum gekümmert, dass ihr Lieder schreibt, dass ihr regelmäßig probt, in diversen Gasthäusern auftreten dürft und endlich euren Traum lebt. Ohne mich wärt ihr nichts, verstanden?Ich habe Besseres verdient, als zur Zielscheibe eures Spotts zu werden.« Wolf, den sein Monolog außer Atem gebracht hatte, zog die Lefzen nach hinten und präsentierte seine gefletschten Zähne. »Und wem meine Entscheidung nicht passt, meine Herren, meine Dame, dem steht es frei zu gehen. Ich werde niemanden aufhalten. Dort ist der Ausgang.«
Tamtamtaam spielte Hund auf seinen Pauken, die in absteigender Tonhöhe auf D, H und F gestimmt waren.