Vino Criminale - Michael Böckler - E-Book

Vino Criminale E-Book

Michael Böckler

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Beschreibung

Dolce far niente in bella Italia? Schön wär's, denkt Hippolyt Hermanus, Weinkenner und ehemaliger Polizeipsychologe, als ein alter Freund ihn in der Toskana kalt erwischt: Hippolyt soll sich um seine Tochter Sabrina kümmern, die nach einem Unfall in Turin aus dem Koma erwacht – und sich an nichts mehr erinnern kann. Sabrina aber ist nicht nur hilflos, sondern auch ganz bezaubernd – und Hippolyt kann einfach nicht nein sagen! Kurz entschlossen sagt er ciao zu vino und cucina und macht sich daran, den rätselhaften Unfall, der Sabrinas Freundin das Leben kostete, aufzuklären. Er muss schnell handeln, denn ein gefährlicher Unbekannter hat nur ein Ziel: Sabrina zu töten!

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Seitenzahl: 499

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Michael Böckler

Vino Criminale

Ein kulinarischer Fallfür Hippolyt HermanusRoman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Widmung und MottoLandkartePrefazione1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. KapitelEpilogoSupplementoWEINFÜHRER ITALIEN – GUIDA DEI VINIAbruzzenAosta-TalApulienBasilikataEmilia-RomagnaFriaul – Julisch VenetienKalabrienKampanienLatiumLigurienLombardeiMarkenMolisePiemontSardinienSizilienSüdtirolToskanaTrentinoUmbrienVenetienRISTORANTI/​ALBERGHI/​ENOTECHIRICETTEDankAnmerkung
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Jean Paul

 

»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.«

 

 

Davon, dass dies doch möglich ist, handelt dieses Buch!

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Prefazione

Zur Stärkung ihrer Kampfmoral tranken die römischen Legionäre ein bis zwei Liter Wein pro Tag. Die Trinkgewohnheiten des Hippolyt Hermanus sind sehr viel moderater, gelegentlich sogar von snobistischer Zurückhaltung. Es kommt schon mal vor, dass er sich damit begnügt, die Farbe des Weines zu betrachten, das Glas zu schwenken, an ihm zu riechen – um es schließlich ungetrunken wegzustellen. Oder er beschränkt sich auf einen Probeschluck, spitzt die Lippen, zieht etwas Luft durch den Mund, lässt ein diskretes Kauen erahnen – um den Wein wieder auszuspucken. Letzteres natürlich nicht beim Abendessen im Restaurant, sondern allenfalls im Rahmen von Verkostungen. Dass Hippolyt Hermanus den Wein, wenn er denn seinen Vorstellungen entspricht, auch gerne trinkt, versteht sich von selbst. Aber wie gesagt, kein Vergleich mit den römischen Legionären.

 

Hippolyt Hermanus hat ein Faible für gute Weine. Während sich diese Vorliebe im Roman Sterben wie Gott in Frankreich auf Tropfen französischer Provenienz beschränkte, erweist sich Hipp – wie ihn seine Freunde nennen – auf den folgenden Seiten als nicht minder begeisterungsfähig für italienische Weine. Was seinen guten Grund hat, denn nach dem französischen Abenteuer hat es ihn in die Toskana verschlagen, wo er im Selbstversuch die Folgewirkungen des dolce far niente, des süßen Nichtstuns, ergründen möchte. Wozu ihm ein alter Liegestuhl unter einem noch älteren Olivenbaum und ein nicht allzu junger Brunello völlig genügen würden.

 

Aber das Schicksal zeigt kein Verständnis für dieses kultivierte Phlegma und verstrickt Hippolyt Hermanus erneut in ein mörderisches Spiel. Den Anfang macht ein überaus unglücklicher Zwischenfall in einer anderen, nicht weniger bedeutenden Weinregion Italiens – im Piemont. Womit bereits der Bogen vom Sangiovese zum Nebbiolo geschlagen wäre. Dass dies nicht die einzigen Rebsorten im Roman bleiben werden, versteht sich bei Hipps Passion von selbst – und ist zudem erklärte Absicht. Denn mit diesem Buch soll nicht nur eine hoffentlich spannende Geschichte erzählt, sondern auch gleichzeitig Basiswissen über italienischen Wein vermittelt werden. In Verbindung mit dem umfangreichen Anhang, in dem alle Weinbauregionen Italiens vorgestellt werden, die wichtigsten Rebsorten und bekannte Winzer, könnte die Lektüre zu begleitenden Weinproben Anlass geben. Auch wären kulinarische Exkursionen zu den Originalschauplätzen möglich, jedenfalls sind im Anhang alle vorkommenden Restaurants (und Hotels) sorgsam protokolliert. Da Hipp und seine Schutzbefohlene Sabrina – wie zudem ein gewisser Maresciallo Viberti von den Carabinieri – neben dem Wein auch dezidiert dem guten Essen zugetan sind, wird etwaigen Nachkochgelüsten mit authentischen Rezepten im Anhang entsprochen. Als kleine Hilfestellung sind alle Stichwörter im Roman, die sich im Anhang wiederfinden (zumindest bei ihrer ersten Erwähnung), mit einem * gekennzeichnet.

 

Genug der Vorrede. Noch glaubt Hipp, dass er sich in der Toskana einige ruhige Wochen machen könnte. Maresciallo Viberti träumt von einem feinen Risotto mit Trüffeln. Sabrina lauscht der rauchigen Stimme von Paolo Conte. Und Eva-Maria? Sie wird nicht mehr lange leben!

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1

Der Tag begann viel versprechend. Sowohl für Cherubino als auch für Eva-Maria und Sabrina. Aber der Anschein trog.

 

Cherubino stand in seinem Weinberg, nahm den alten Strohhut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war heiß, aber nicht mehr so drückend wie in den letzten Tagen. Eine leichte Brise hatte eingesetzt, die von Norden kam, von den schneebedeckten Alpengipfeln, über die Langhe hinwegstreichend, Richtung Ligurien zum Golf von Genua. Die Arbeit an den Rebstöcken, sie war anstrengend, vermittelte ihm aber ein Gefühl der ruhigen Zufriedenheit. Es gab keinen Grund, sich irgendwelche Sorgen zu machen.

 

Auch Sabrina und Eva-Maria waren bester Dinge. Die beiden jungen Frauen fuhren im Auto, hatten die Seitenscheiben heruntergedreht, das Radio spielte einen Klassiker von Paolo Conte, »Via, via, vieni via con me …«. Sabrina war zum ersten Mal im Piemont. Sie konnte sich nicht satt sehen an den Hügelketten, die sich wie Wellen endlos fortzusetzen schienen, mal sanft aneinander geschmiegt, dann wieder steil abbrechend, immer durchzogen von streng parallel laufenden Rebstöcken. Als ob ein moderner Grafiker die Natur schraffiert hätte. »… entra in questo amore buio«, begleitete Eva-Maria, die am Steuer des Fiat Punto saß, die rauchige Stimme des singenden Anwalts aus Asti. Ja, dieser Sonntag im Piemont, er hätte jedenfalls kaum schöner beginnen können.

 

Cherubino, der groß und hager war, setzte den zerfransten Hut wieder auf. Dass er jetzt aussah wie eine Vogelscheuche, störte ihn nicht. Er nahm die Schere und fuhr fort, das Laub an den Rebstöcken auszudünnen, um Luft und Licht an die Beeren zu lassen. Außerdem schnitt er komplette Trauben ab, was ihm zwar noch immer schwer fiel, aber er wusste, dass diese Ertragsreduzierung später der Qualität des Weines zugute kommen würde. Zum ersten Mal nämlich wollte er in diesem Jahr den Nebbiolo* seines Weinberges nicht mehr an die große Kellerei in Cherasco liefern, sondern selber vergären, in kleinen Barriquefässern ausbauen und später mit eigenem Etikett auf Flaschen ziehen. Da lohnte sich der Aufwand. Schließlich sollte keiner sagen, dass Cherubino einen schlechten Barolo* mache. Ganz im Gegenteil, er hoffte auf eine Auszeichnung bei einer der großen Verkostungen.

 

Eine knappe Stunde später war er erneut am Ende einer Reihe angelangt. Die dort blühende Rose war nicht nur als Zierde gedacht, sie zeigte ihm auch, dass keine Schädlinge am Werk waren. Aber zugegeben, vor allem sah es schön aus, alle Weinbauern, die was auf sich hielten, machten das so. Er blickte den Hang hinauf und zählte die bereits abgearbeiteten Rebreihen. Er konnte mit seinem bisherigen Tagwerk zufrieden sein. Noch drei oder vier Zeilen, dann würde er aufhören und mit seiner Vespa nach Verduno fahren, wo er wohnte. Seine Frau Giuliana, die aus Asti stammte, hatte ihm eine seiner Lieblingsspeisen versprochen: Batsoà, gebratene Schweinsfüße. Dazu eine Flasche Pelaverga* von seinem Schwager Stefano.

 

Sabrina fand, dass Eva-Maria zu schnell fuhr, ganz entschieden zu schnell. Mit der einen Hand versuchte sie den Sicherheitsgurt zu schließen, mit der anderen klammerte sie sich an den Griff über der Tür. Die Reifen quietschten und hinterließen in den Kurven schwarze Spuren auf dem Asphalt.

 

Cherubino steckte eine unreife Traube in den Mund. Noch ahnte man nur wenig von den unvergleichlichen Aromen, die sie mal entwickeln würde. Ihm gaukelten die Sinne Duftnoten von Schokolade vor, von Pflaumen und Kirschen, Tabak, Rosinen, dazu gesellten sich zarte Veilchentöne und Anklänge von Zimt. Ein Hauch von Teer stieg ihm in die Nase, ja, auch das gehörte dazu. Für ihn gab es unter den Rebsorten nichts Großartigeres als die Nebbiolo-Traube. Ihr Name sollte auf nebbia zurückzuführen sein, auf den Nebel, der sich im Herbst über die Weinberge zu legen pflegt. Oder spielte der Name auf den Raureif an? Wie auch immer, jedenfalls war sie nach seiner festen Überzeugung die Königin unter den roten Trauben. Und er konnte sich glücklich schätzen, dass er diesen wunderbaren Weinberg besaß, ideal nach Südwesten ausgerichtet, mit Reben bestockt, die im Durchschnitt fünfundzwanzig Jahre alt waren, mit einem Boden, der über ausreichend Kalk verfügte …

 

Cherubino wurde durch ein immer lauter werdendes Motorengeräusch aus seinen Gedanken gerissen. Er wandte den Kopf und blickte hinauf, dorthin, wo oberhalb seines Weinberges die kurvige Straße verlief, die von Monforte d’Alba über Castiglione Falletto nach Grinzane Cavour führte. Er hörte Bremsgeräusche, ein unangenehmes Kreischen, dann folgte ein Schlag. Ein Auto durchbrach die hölzerne Straßenbegrenzung. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass dieses morsche Etwas den Namen Leitplanke nicht verdiente. Zunächst sah er vom Fahrzeug nur die Unterseite mit den Rädern, dann kippte es nach vorne und er erkannte, dass es sich um einen blauen Fiat handelte. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Cherubino stand völlig starr da. Jetzt wirkte er tatsächlich wie eine Vogelscheuche, mit dem alten Strohhut auf dem Kopf, die Rebschere in der Hand, zu keiner Bewegung fähig, obwohl das Auto direkt auf ihn zukam. Er registrierte, dass es in der dritten Reihe auf seinen Rebstöcken aufsetzte, diese wie auch alle weiteren in der Falllinie platt walzte, sich dann auf die Seite drehte, um schließlich auf dem Dach durch seinen Weinberg zu pflügen. Der Fiat verfehlte ihn nur um wenige Meter. Gebremst von den Weinreben und den Pfählen, zwischen denen Draht gespannt war, verlor das Fahrzeug an Geschwindigkeit und kam schließlich zum Stillstand. Cherubino rührte sich nicht. Er musste erst verarbeiten, dass er die letzten Sekunden überlebt hatte. Mit den Augen folgte er der Spur der Verwüstung. Da würde er wohl auf einige Flaschen Barolo verzichten müssen. Und ihm stand viel Arbeit bevor, sehr viel Arbeit. Er sah wieder hinunter zum verunglückten Fiat. Irgendwo war ein Auto zu hören, weiter weg, immer leiser werdend. Wie still es auf einmal war!

 

Cherubino ließ die Rebschere fallen und rannte los. Ihm war plötzlich bewusst geworden, dass sich im Fahrzeugwrack Menschen befinden mussten, zumindest ein Fahrer, hoffentlich keine Kinder. In Filmen explodieren solche Autos häufig, schoss es ihm durch den Kopf. Wann passierte das? Sofort oder erst später? Wie viel Zeit blieb ihm? Er kam ins Stolpern, fiel hin, rappelte sich wieder auf, eilte weiter. Am Auto angekommen, erkannte er, dass das Dach eingedrückt war. Es roch nach Benzin. Die Frontscheibe war herausgebrochen. Cherubino legte sich auf den Bauch, kroch unter die Kühlerhaube und blickte ins Fahrzeuginnere. Er hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Aber dass diese junge Frau hinter dem Lenkrad nicht mehr lebte, das erkannte er sofort. Ihm wurde schlecht.

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2

Wie jeden Morgen war Hippolyt Hermanus hinuntergegangen ins Dorf, um in der Bar Centrale zu frühstücken. Wenn man einen Caffè corretto, der mehr Grappa als Kaffee enthielt, und ein Cornetto als Frühstück bezeichnen wollte. Seit Wochen hielt er an diesem Tagesablauf fest. Auf dem Rückweg würde er bei Franco den Tirreno abholen, eine andere Zeitung gab es hier nicht, schon gleich keine deutsche. Zurück im Rustico, würde er etwas im Tirreno blättern, später im Garten arbeiten, es vielleicht aber auch sein lassen und es sich schließlich in dem alten Liegestuhl unter dem knorrigen Olivenbaum bequem machen. Am Nachmittag würde er eine CD auflegen, das Buch über die Medici weiterlesen – und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Hipp saß am Tresen und beobachtete Sandro, wie er den Filter aus der Espressomaschine ausklopfte, mit frischem Kaffeepulver füllte und mit einer routinierten Drehbewegung wieder einsetzte. Als sein Blick in den Spiegel hinter der Bar fiel, wurde ihm erst nach kurzer Bedenkzeit bewusst, dass dieser Mann mit dem unrasierten Gesicht, den schulterlangen Haaren und der runden Nickelbrille wohl er selbst war. Er musste sich eingestehen, dass er schon mal besser ausgesehen hatte. Das Einsiedlerleben schien nicht spurlos an ihm vorüberzugehen.

»Ecco, il caffè!« Sandro stellte die Espressotasse auf die Bar.

»Grazie, Sandro, molto gentile.«

Hipp wandte sich von seinem unbefriedigenden Spiegelbild ab und drehte sich auf dem Hocker, sodass er nach draußen sehen konnte, wo unter der Markise einige weißhäutige Touristen in kurzen Hosen saßen. Das war auch nicht gerade ein ersprießlicher Anblick. Gott sei Dank würde er bald den strategischen Rückzug antreten.

War das sein Handy? Hörte sich ganz so an. Hipp kramte das Gerät, das in Italien liebevoll telefonino genannt wird, aus der Hosentasche und betrachtete das Display. Sollte er rangehen? Er hatte keine übermäßige Lust auf Konversation, gab sich aber dann doch einen Ruck.

»Hermanus«, meldete er sich kurz und knapp mit seinem Nachnamen.

»Ich bin’s, Karl Talhammer, sei gegrüßt. Bist du in deiner Hütte in der Toskana?«

Hipp räusperte sich. »Ja, ich mache Urlaub.«

»Das trifft sich gut, ich hätte da nämlich einen kleinen Auftrag für dich …«

»Du brauchst gar nicht weiterreden«, unterbrach ihn Hipp, »ich sagte doch gerade, ich mache Urlaub.«

»Wovon machst du Urlaub? Du hast doch auch vorher kaum gearbeitet.«

»Mag sein, aber dieses Privileg gönne ich mir.«

»Seit dieser Sache mit Praunsfeld bist du zu nichts mehr zu gebrauchen.«

»Möchtest du, dass ich auflege?«, fragte Hipp.

»Nein, ich möchte, dass du für meine Versicherung einigen Diebstählen nachgehst. In der letzten Zeit sind in Norditalien mehrere Lkw-Ladungen mit teuren Weinen geklaut worden. Sassicaia*, Tignanello* …«

»Immerhin haben die Diebe einen guten Geschmack«, stellte Hipp lakonisch fest.

»Leider waren die Fuhren über unsere Tochtergesellschaft in Mailand versichert. Die Polizei kommt nicht weiter. Du könntest dich doch mal umhören. Würde dir gut tun. Zu viel Urlaub bringt auch nichts.«

»Das ist eine These, die es zu widerlegen gilt. Deshalb werde ich den Urlaub vorläufig fortsetzen. Ich bedaure.«

»Hippolyt …«

»Sei mir nicht böse, mein Akku ist leer. Ciao!«

Während Hipp das Handy ausschaltete, dachte er über seine letzten Worte nach. Mein Akku ist leer? Das war zwar eine faule Ausrede gewesen, traf aber den Nagel auf den Kopf. Sein eigener Akku war leer, nicht der vom Handy. Und er hatte noch keinen Weg gefunden, wie er ihn wieder aufladen könnte. Das war ihm schon einmal passiert, damals, als er den Job als Polizeipsychologe hingeschmissen hatte. Wegen einiger Morde, die er hätte verhindern können.

Er nahm die Espresso-Tasse und trank den Corretto. Und jetzt? Was war diesmal schief gelaufen? Er hatte sich geschworen, nie mehr in Mordfällen zu ermitteln. Deshalb hatte er sich auf die Aufklärung von Betrügereien spezialisiert, die irgendetwas mit Wein zu tun hatten. Hier konnte er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Mit Wein, da kannte er sich nun mal aus, ziemlich gut sogar. Talhammers Versicherung hatte immer wieder kleine, harmlose Aufträge. Jobs, bei denen garantiert kein Blut floss. Außerdem schrieb er gelegentlich Kolumnen für einen Wein-Newsletter. Gut, reich wurde man mit alldem nicht, im Grunde ließ sich davon nicht mal leben. Aber er hatte schon vor Jahren eine kleine Erbschaft gemacht, zu der auch eine Wohnung in Frankfurt gehörte. Diese hatte er verkauft und von dem Geld erst vor kurzem dieses bescheidene Häuschen in der Toskana erworben. Das ererbte Vermögen reichte aus, um mit Stil und einigem Komfort über die Runden zu kommen. Auf Äußerlichkeiten kam es ihm dabei wenig an, vordergründige Statussymbole waren ihm nicht nur egal, er lehnte sie sogar ab. Er hatte eine Vorliebe für ausgewaschene Polos, alte Kaschmirpullover, ungebügelte Hosen, einstmals teure, rahmengenähte Schuhe, die allerdings selten jünger als zehn Jahre waren. Für Klamotten gab er also schon seit langem kein Geld mehr aus. Als fahrbaren Untersatz hatte er eine grüne Ape, ein dreirädriges Gefährt mit Vespa-Motor. Ein nach seiner Einschätzung überaus praktisches Fortbewegungsmittel, genügsam im Verbrauch, im Tempo seinem verlangsamten Lebensstil angepasst, mit einer großen Ladefläche für gelegentliche Transporte. Dass diese häufig aus Weinkartons bestanden, lag an seiner diesbezüglichen Passion.

Der Akku ist leer? Talhammer hatte Recht, als er den Fall Praunsfeld erwähnte. Wie lange war das jetzt her? Hipp überlegte. Vor zwölf Monaten und vierzehn Tagen hatte sich der Hauptverdächtige erschossen. Er hätte es verhindern können. Wieder einmal. Und schließlich musste er seiner damaligen Freundin noch unendlichen Schmerz zufügen. Das war’s dann gewesen. Adieu mon amour! Ciao bella!

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3

Maresciallo Viberti von den Carabinieri in Alba faltete die Hände und sah verzweifelt an die Decke seines Büros. Was war das für ein Tag? Nahm denn die Arbeit heute überhaupt kein Ende? Hatten sich alle gegen ihn verschworen? Wussten sie nicht, dass er einen hohen Blutdruck hatte und keinen Stress vertrug? Porca miseria. Dabei war an einem Sonntag um diese Jahreszeit normalerweise kaum etwas los. Es war viel zu heiß! Zur Trüffelmesse im Oktober, ja, da hatten sie alle Hände voll zu tun, da passierte immer einiges. Aber doch nicht jetzt, im Sommer. Viberti knüllte einen Notizzettel zusammen und warf ihn in Richtung Papierkorb. Na bitte, nicht einmal das klappte heute.

 

Angefangen hatte alles nach der Morgenandacht im Duomo San Lorenzo. Noch nie, solange er sich zurückerinnern konnte, war ein Klingelbeutel gestohlen worden. Incredibile, im heiligen Dom, man stelle sich vor, diese gotteslästerliche Dreistigkeit. Dann diese Engländerin, die auf der Piazza Savona einen Schwächeanfall erlitten hatte. Nun gut, das war ein Fehlalarm gewesen. Die Carabinieri waren wirklich nicht dafür zuständig, alte Damen mit rosa gefärbten Haaren zu reanimieren. Vielleicht mit Mund-zu-Mund-Beatmung? Viberti schüttelte sich. Dafür gab es gottlob den Pronto Soccorso. Aber das Protokoll, das musste er trotzdem aufnehmen. Er war damit noch nicht fertig gewesen, da hatte ihn die Nachricht von diesem schlimmen Unfall erreicht. Gegen elf Uhr war das gewesen. Konnten diese beiden Ragazze nicht an einem anderen Tag verunglücken? Zum Beispiel morgen, da hätte er dienstfrei. Nein, es musste ausgerechnet heute sein. Was für eine Tragödie, so etwas ging ans Herz. Zwei junge Frauen, eine schöner als die andere, dafür ausersehen, Männer glücklich zu machen und entzückende Bambini auf die Welt zu bringen. Und jetzt dieses Schicksal. Die eine, wie hieß sie doch gleich? Richtig, Eva-Maria Pertini, vierundzwanzig Jahre alt, geboren in Siena, sie war sofort tot. Die andere, Sabrina Valentino, fünfundzwanzig, geboren in San Francisco, amerikanische Staatsbürgerin, italienische Vorfahren, sie hatte überlebt. Viberti schlug ein Kreuz. Grazie a Dio! Man hatte sie nach Turin in eine Spezialklinik gebracht. Über die Schwere ihrer Verletzungen wusste er nichts. Nur, dass sie im Koma lag. Warum waren die beiden Signorine auch so schnell gefahren? An einem Sonntag. Er langte sich an den Kopf. Auf einer Straße, von der jedes Kind wusste, dass sie gefährlich war! Ein Fiat Punto ist nun mal kein Ferrari. Immerhin hatte dieser Weinbauer Cherubino Glück gehabt, großes Glück. Von oben kommt eben nicht nur Gottes Segen, sondern gelegentlich auch ein Auto geflogen.

 

Viberti zog die Schublade seines Schreibtisches auf, entnahm ihr eine kleine Flasche Fernet Branca und trank sie in einem Zug aus. Er zog eine Grimasse, drehte den Schraubverschluss wieder drauf, zielte kurz und warf das leere Fläschchen Richtung Papierkorb. Diesmal mit Erfolg. »Colpito in pieno!« Vielleicht wendeten sich die Dinge jetzt zum Besseren? Obwohl, die nächsten Stunden würde er noch beschäftigt sein, da kam richtig Arbeit auf ihn zu. Dabei wäre er in der Enoteca Regionale del Barolo* zu einer viel versprechenden Verkostung eingeladen. Warum nur war er zu den Carabinieri gegangen? Wegen des Diebstahls heute Nachmittag bestimmt nicht. Wie konnte man nur in der Via Vittorio Emanuele, die der Einfachheit halber Via Maestra genannt wurde, vor dem Vincafé* einen Rucksack mit allen Reiseutensilien und -dokumenten an die Hausmauer lehnen und in aller Ruhe auf die Toilette gehen? Diesem Studenten geschah es nicht anders. Grober Leichtsinn gehörte nun mal bestraft. Das würde dem jungen Mann eine Lehre sein.

Viberti sah auf die Uhr. In einer halben Stunde sollte die Suchmannschaft abfahrbereit sein. Was war passiert? Wahrscheinlich gar nichts. Nur weil Gianfranco Angelo nicht von seinem sonntäglichen Spaziergang zurückgekommen war? Vermutlich hatte er einen Freund getroffen, saß gemütlich in einer Cantina und trank Wein. Bevorzugt seinen eigenen, denn Gianfranco war einer der wichtigsten Winzer in der Barolo-Region südlich von Alba. Aber Viberti konnte verstehen, dass sich Fabri um seinen Vater Sorgen machte und auf einer Suchaktion bestand. Gianfranco pflegte durch die Weinberge zu laufen und durch den Wald unten am Bach, ohne feste Route. Vielleicht hatte er einen Schlaganfall erlitten und brauchte dringend Hilfe? Viberti musste zugeben, dass diese Möglichkeit nicht auszuschließen war. Also würden sie heute Nachmittag mit einer Hundertschaft die Region absuchen. Begleitet von Hunden, die eigentlich für die Trüffelsuche abgerichtet waren. Ob sie eine große Hilfe waren? Zwar gab es für die Hunde noch keine Tartufi bianchi zu finden, die Saison begann frühestens im September, aber schließlich gab es auch Sommertrüffel. Diese Scorzone hatten mit dem Tuber Magnatum Pico, dem weißen Alba-Trüffel, nicht viel gemein, waren nur ein fader Ersatz. Viberti rümpfte die Nase. Aber vielleicht waren sie den Hunden trotzdem lieber als die wahrscheinlich zweifelhaften Duftaromen des verschwitzten Gianfranco. Man würde sehen.

Maresciallo Viberti stand auf, zog sich die Uniformjacke an und überprüfte den Sitz seiner Krawatte. Tutto perfetto. Er legte Wert auf ein untadeliges Äußeres, schließlich repräsentierte er in Alba den Staat, das Gesetz und die Ordnung. Während er seine Uniformmütze vom Haken nahm, dachte er, dass er morgen in Turin anrufen und sich nach dem Wohlergehen dieser Sabrina Valentino erkundigen würde. Sicher, auch um den alten Gianfranco Angelo wäre es schade, aber so eine junge Signorina, die durfte nicht sterben. Schlimm genug, dass ihre Freundin an diesem Sonntag ihr Leben lassen musste. »La vita è breve!«

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4

Das Buch über die Medici hatte Hipp im Schoß. Mit über der Brust verschränkten Armen lag er im Liegestuhl unter dem alten Olivenbaum und schlief. Der Tag heute unterschied sich nicht sehr vom gestrigen. Und jener war so ziemlich identisch gewesen mit dem vorgestrigen. Caffè corretto und Cornetto bei Sandro in der Bar Centrale, Tirreno gekauft, Spaziergang zurück zum Haus oben auf dem Hügel, in der Zeitung geblättert, Gemüsegarten und Neuanpflanzungen gewässert, einen weiteren Anruf von Talhammer abgewimmelt, der einfach nicht locker ließ und ihn unbedingt überreden wollte, sich mit den verschwundenen Weinlieferungen zu beschäftigen. Stattdessen im Medici-Buch gelesen – er war jetzt bei Lorenzo il Magnifico angelangt. Dieser hatte gerade ein Attentat überlebt, dem allerdings sein Bruder Giuliano zum Opfer fiel. Irgendwie steckte der Papst hinter dieser Verschwörung der Pazzi. Da war jedenfalls was geboten. Sollte einer sagen, in der Renaissance hätte sich alles nur um die schönen Künste gedreht, um Michelangelo oder Botticelli. Abends würde er vor dem Haus einige Tomaten ernten, diese klein schneiden, zusammen mit gehacktem Knoblauch und Zwiebeln in Olivenöl andünsten und mit dem Hackfleisch aus dem Kühlschrank zu einem Ragù für die Pici* verarbeiten, von denen er im Hängeschrank neben dem Herd größere Vorräte hortete. Dazu aus dem Weinkeller eine Flasche Chianti*, vielleicht von Fonterutoli*, oder einen Montesodi von Frescobaldi*. Das Leben war zu kurz, um schlechten Wein zu trinken. Oder einen Classico von Antinori*? Im Nachdenken über diese einzige noch anstehende Entscheidung des Tages war er eingeschlummert.

 

Von einer schrillen Melodie aufgeschreckt, suchte Hipp erst nach seiner Brille, die er im Gras neben dem Liegestuhl fand, dann nach dem Telefonino – er musste dringend einen neuen Signalton programmieren, dieser war ja unerträglich. Dass er das Handy schließlich in einer Astgabel des Olivenbaums entdeckte, überraschte ihn deshalb, weil er sich nicht erinnern konnte, es dort hingelegt zu haben. Oder machte er das schon seit Tagen so?

»Talhammer, jetzt reicht’s«, meldete er sich. »Kann ich nicht einmal in Ruhe ein Nickerchen …«

»Who the hell is Talhammer«, unterbrach ihn eine erregte Stimme, die er trotz seines Halbschlafs Roberto Valentino zuordnen konnte, einem alten Bekannten, der im kalifornischen Napa Valley ein großes Weingut besaß. »Il tuo pisolino adesso non mi interessa affatto«, wechselte Roberto mitten im Satz aus dem Englischen ins Italienische.

»Scusa, ist ja gut, Roberto, entschuldige, ich hab einen anderen Anrufer erwartet. Was veranlasst …«

»Wo hältst du dich gerade auf?«, wurde er erneut unterbrochen, was Hipp überraschte, denn Roberto Valentino, der fast siebzig Jahre alt war, zeichnete sich normalerweise durch eine große Ruhe und Gelassenheit aus.

»In der Toskana«, antwortete Hipp.

»Allora, du musst mir helfen. Fahr sofort nach Turin, nimm ein Flugzeug, wie auch immer, nur schnell. Es ist etwas Fürchterliches passiert.«

Hipp hörte, wie Roberto einige Male tief durchatmete. Dabei fiel ihm ein, dass Roberto erst vor kurzem am Herzen operiert worden war. Die Aufregung war sicherlich nicht gut für ihn.

»Ich habe gerade einen Anruf aus dem Ospedale Le Molinette in Turin bekommen. Man hat dort Sabrina eingeliefert, schon gestern. Sie liegt auf der Intensivstation im Traumacenter, sie hatte einen schweren Verkehrsunfall.«

»Sabrina, deine Tochter?«, fragte Hipp.

»Natürlich meine Tochter, wer denn sonst? Du hast sie Anfang des Jahres bei mir kennen gelernt. Du musst sofort ins Krankenhaus, mit den Ärzten sprechen, schauen, wie es ihr geht.«

»Aber warum schickst du nicht ihren Onkel …«

»Luca Pertini? Ich habe schon mit ihm gesprochen, er ist zu nichts zu gebrauchen, der arme Mann. Er hat mein ganzes Mitgefühl.«

»Dein Mitgefühl?«

»Ja, denn mit Sabrina saß Eva-Maria im Unglücksauto, seine Tochter, du weißt schon. Sie ist bei dem Unfall ums Leben gekommen.«

»O mein Gott!«

»Torino, Le Molinette, Traumacenter, Reparto 3b. Bitte fahr sofort hin und ruf mich von dort an. Bitte!«

»Ich mach mich gleich auf den Weg«, versprach Hipp, ohne lange zu überlegen.

»Grazie. Mille, mille grazie. Das werde ich dir nie vergessen. Ich gebe im Krankenhaus Bescheid, dass du ein enger Freund der Familie bist.«

»Was etwas übertrieben ist«, sagte Hipp.

»Keine Widerrede, spätestens jetzt bist du es, un amico di famiglia. Und jetzt: Go ahead, avanti!«

»Ciao, Roberto, du wirst sehen, es wird alles gut.«

»Für Eva-Maria nicht mehr, aber hoffentlich für Sabrina.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Hipp legte bedächtig das Handy auf das Buch über die Medici, sah den Olivenbaum an, als ob er von ihm einen Kommentar erwarten würde – und ließ sich erschöpft zurück in den Liegestuhl sinken. Dieses Telefonat, das ihn so abrupt aus seinem Schlummer gerissen hatte, musste er erst mal verarbeiten. Sabrina? Da hatte sich Roberto getäuscht, er hatte seine Tochter nie kennen gelernt. Soviel er wusste, studierte sie in Santa Barbara Wirtschaftswissenschaft. Überhaupt war er erst zweimal bei Roberto Valentino auf seinem Weingut im Napa Valley gewesen, allerdings hatten sie sich häufig in Europa getroffen. Valentino war einer der erfolgreichen Winzer im kalifornischen Napa Valley, der es als Sohn italienischer Einwanderer von bescheidenen Anfängen zu einem kleinen, aber feinen Weinimperium gebracht hatte. Hipp hatte ihm vor einigen Jahren helfen können, als ein Importeur in Deutschland versucht hatte, Roberto übers Ohr zu hauen. Bei dieser Gelegenheit hatte der Italo-Amerikaner die Dienste von Hipp schätzen gelernt. Außerdem hatten sie sich sehr gut verstanden, das stimmte schon. Ihre Vorstellung von einem guten Wein war ziemlich identisch, so etwas brachte einen näher. Roberto Valentinos Weine hatten nichts mit den buttrigen Industrieerzeugnissen gemein, die für Kalifornien charakteristisch waren, vielmehr orientierte er sich am europäischen Stil und setzte konsequent auf Qualität. So war er einer der Ersten, der seine Weine …

Nun, das war jetzt ziemlich nebensächlich, sortierte Hipp seine Gedanken. Robertos Tochter war verunglückt, und er hatte zugesagt, umgehend nach Turin zu fahren. Das passte ihm überhaupt nicht ins Konzept. Er wollte eigentlich weiter beobachten, wie konsequentes Nichtstun sowohl sein Äußeres als auch seine Persönlichkeit veränderte. Ein außergewöhnlich interessantes Experiment, ein Selbstversuch mit nunmehr ungewissem Ausgang. Hipp nahm die Brille ab, rieb die Gläser an seinem Hemd und hielt sie prüfend gegen das Licht. Wenn man unsanft aus dem Schlaf geweckt und mit einem unerwarteten Problem konfrontiert wurde, dann machte man die unsinnigsten Versprechungen. Nun gut, allzu lange würde sein Ausflug nach Turin nicht dauern. Er musste zunächst mal herausfinden, wie er auf schnellstem Wege dorthin gelangen konnte. Seine Ape war für eine längere Wegstrecke denkbar ungeeignet. Aber unten in Cecina gab es einen Bahnhof. Und in Pisa einen Flughafen. Mit etwas Glück war er übermorgen zurück. Er stand auf, klopfte dreimal auf die Armlehne des Liegestuhls, grüßte zum Olivenbaum und sagte leise: »Ci vediamo! Wir sehen uns bald wieder!«

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5

Fabri Angelo saß vornübergebeugt am Küchentisch und streichelte seiner Mutter behutsam die Hände. »Mach dir keine Sorgen«, versuchte er sie zu beruhigen, »Papà ist wohlauf, ganz bestimmt.«

»Aber wo kann er nur sein?«, flüsterte sie. »Es muss ihm etwas passiert sein. Vielleicht hatte er einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall?«

»Nein«, sagte Fabri, »dann hätten wir ihn gefunden. Maresciallo Viberti hat mit über hundert Mann und mit Hunden die Weinberge und die umliegenden Wälder absuchen lassen, dort wo Papà immer spazieren geht.«

Fabri stand auf, nahm zwei Gläser aus dem Küchenschrank, stellte sie auf den Tisch, öffnete eine Flasche Dolcetto* und goss ein. »Komm, Mamma, trink einen Schluck, das beruhigt. Und danach solltest du ins Bett gehen und versuchen zu schlafen.«

Luciana sah ihren Sohn an. »Kannst du dich erinnern, wie Papà erst vor einigen Tagen gesagt hat, irgendwann schmeiße ich alles hin und hau ab?«

Fabri nickte. »Aber das hat er doch schon oft gesagt. Du weißt, wie er sich aufregen kann, wenn nicht alles so läuft, wie er sich das vorstellt. Eine Redensart, nichts weiter.«

Luciana nahm einen Schluck. Sie schloss die Augen und fuhr sich mit der Handfläche über die Stirn. »Aber vielleicht hat er diesmal Ernst gemacht und uns einfach verlassen?«

»Mamma, was denkst du für einen Unfug. Papà würde uns nie verlassen. Und wo sollte er auch hin?«

»Ja, wo sollte er hin?« Luciana machte einen tiefen Atemzug. »Das heute ist ein schrecklicher Tag«, sagte sie. »Gianfranco spurlos verschwunden, und dann dieses furchtbare Unglück mit Eva-Maria und diesem anderen Mädchen. Che tragedia!«

Fabri sah seine Mutter traurig an. »Eva-Maria, sie ist tot. Ich begreife das noch gar nicht.«

»War sie eine sehr gute Freundin von dir?«

»Sie war ein nettes Mädchen«, antwortete Fabri, ohne sich genauer festzulegen. »Sie wollte mich heute besuchen, zusammen mit ihrer Cousine aus Amerika.«

»Sie waren hier und haben nach dir gefragt«, erinnerte sich Luciana.

»Ich weiß, du hast es mir erzählt. Du hast sie zu mir in die Cantina geschickt.«

»Sie müssen sich verfahren haben. Dabei habe ich ihnen gesagt, sie sollen an der Kreuzung bei der alten Pappel rechts abbiegen.«

»Da sind sie offenbar nach links gefahren«, setzte Fabri den Gedanken fort, »die Straße über Castiglione nach Grinzane.«

»Laut Maresciallo Viberti ist Eva-Maria zu schnell gefahren.«

»Das hat sie immer gemacht«, sagte Fabri, »sie fuhr gerne schnell.«

»Und jetzt ist sie tot. Eva-Maria tot und Gianfranco verschwunden. Gott sei Dank hat diese Amerikanerin überlebt. Wie heißt sie doch gleich?«

»Sabrina Valentino«, antwortete Fabri.

»Kennst du sie?«

»Nein, ich sollte sie heute kennen lernen.«

»Auch ein hübsches Mädchen, größer als Eva-Maria. Wie geht es ihr?«

»Ich habe mit dem Krankenhaus in Turin telefoniert. Sie liegt noch im Koma, hat aber wohl gute Chancen. Genaueres hat man mir nicht gesagt.«

»Im Koma? Wie schrecklich«, sagte Luciana. »Sobald sie wieder zu sich kommt, musst du sie im Krankenhaus besuchen.«

»Das mache ich, Mamma.«

»Und die Eltern von Eva-Maria?«

»Sie sind auf dem Weg hierher. Ich werde sie morgen treffen.«

Fabris Mutter atmete tief durch. »Una domenica nera e triste!«

»Ein schwarzer Sonntag, ja, Mamma, da hast du Recht.«

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6

Via, via, vieni via con me, entra in questo amore buio …« Warum ging ihr diese Melodie nicht aus dem Kopf? »… fuori piove un mondo freddo …« Ein schönes Lied. Wäre da nur nicht dieses fortwährende Piepen, das sie im Hintergrund hörte. Und dieses Pochen hinter den Schläfen. Sabrina machte vorsichtig die Augen auf. Zunächst nahm sie alles nur unscharf wahr, wie durch einen seidenen Schleier. Langsam wurde das Bild deutlicher. Vor ihr hing ein seltsames Dreieck. Verwundert sah sie auf ihren linken Arm. Was hatte es mit diesen komischen Plastikschläuchen auf sich? Sie folgte einem nach oben, wobei sie den Kopf leicht drehen musste, und entdeckte schließlich einen Beutel mit einer gelblichen Flüssigkeit. Das penetrante Piep-Geräusch setzte sich unablässig fort. Ganz schön nervig. Wo war sie überhaupt? Sah aus wie ein Krankenhaus. Aber ihr fehlte doch nichts? Oder vielleicht doch? Die Kopfschmerzen jedenfalls waren ziemlich unangenehm. Warum lag sie hier im Bett? Sie kniff die Augenbrauen zusammen und dachte angestrengt nach. Sabrina konnte sich an Stimmen erinnern. Wann war das gewesen? Gerade eben, vor einem Tag, vor einer Woche? Sie hatte zugehört, ohne die Augen zu öffnen. Ja, richtig, von einem Unfall hatten sie gesprochen. Und dass sie riesiges Glück gehabt habe. Ein Unfall? Was für ein Unfall?

Plötzlich hatte Sabrina das unbestimmte Gefühl, nicht alleine zu sein. Sie wendete den Kopf nach rechts und erschrak. Direkt neben ihrem Bett saß jemand auf einem Stuhl. Mit einem Dreitagebart, einer altmodischen Nickelbrille und die langen Haare im Nacken zum Zopf gebunden.

»Hallo, Sabrina.«

Sie empfand seine Stimme als warm und angenehm. Wie alt er wohl sein mochte? Vielleicht Mitte dreißig?

»Who are you?«, fragte sie.

»Mein Name ist Hippolyt Hermanus«, antwortete Hipp auf Deutsch. Er wusste, dass Sabrina dreisprachig aufgewachsen war. Deutsch konnte sie, weil ihre verstorbene Mutter eine gebürtige Südtirolerin gewesen war, die großen Wert auf ihr heimatliches Idiom gelegt hatte. »Ihr Vater hat mich geschickt«, fuhr Hipp fort.

»Mein Vater?«, fragte Sabrina, ohne nachzudenken ins Deutsche wechselnd.

»Ja, er hat mich gebeten zu schauen, wie es Ihnen geht.«

»Und? Wie geht es mir?«, fragte Sabrina.

Hipp lächelte. »Das müssten Sie eigentlich besser wissen als ich. Aber nach meinem Eindruck geht es Ihnen gar nicht so schlecht.« Er machte eine kleine Pause, um dann eine Frage anzuschließen: »Tut Ihnen irgendwas weh?«

»Der Kopf, ja, der schmerzt. Und dieses blöde Geräusch …«

»Ihr Herzschlag. Ganz gleichmäßig. Hat doch etwas sehr Beruhigendes an sich.«

Sie versuchte ihre Hände zu bewegen und bemerkte, dass diese mit Lederriemen fixiert waren. »Warum bin ich gefesselt?«, fragte sie.

»Das ist nur zu Ihrem eigenen Schutz«, antwortete Hipp. »Die Ärzte haben erzählt, dass Sie sich letzte Nacht alle Schläuche aus dem Arm gerissen haben. So etwas kann schlimm ausgehen.«

»Können Sie die Riemen bitte losmachen?«

»Na klar, jetzt, wo Sie wieder bei Bewusstsein sind.«

»Danke. Sitzen Sie eigentlich schon lange hier?«

»Nicht lange, viereinhalb Stunden.«

»Viereinhalb Stunden? Und was haben Sie die ganze Zeit gemacht?«

»Sie angesehen, auf Ihr Herz gehört – und darauf gewartet, dass Sie aufwachen.«

»Kennen wir uns?«

Hipp zögerte mit der Antwort. »Was meinen Sie?«

Sabrina dachte eine Weile nach. »Ich glaube nicht, dass ich Sie schon mal gesehen habe, sonst hätte ich Sie doch nicht nach Ihrem Namen gefragt.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher?«

»Nein, nicht ganz.«

»Und der Unfall?«

»Ich kann mich an keinen Unfall erinnern.«

»Das macht nichts«, sagte Hipp beruhigend. »Ist vielleicht besser so. Wer erinnert sich schon gerne an einen Unfall?«

»War das ein Unfall mit einem Auto?«, fragte Sabrina nach einiger Zeit.

»Richtig, mit einem Auto. Von der Straße abgekommen.«

»War ich …«, fing Sabrina an und machte eine Pause. »War ich alleine im Auto?«

Hipp hatte befürchtet, dass sie diese Frage stellen würde. Er überlegte kurz, dann beschloss er, bei der Wahrheit zu bleiben. »Nein«, antwortete er, »nicht alleine. Mit Eva-Maria Pertini, sie ist gefahren.«

»Eva-Maria Pertini«, wiederholte Sabrina langsam.

»Ja. Sie wissen doch, wen ich meine?«

Sabrina schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, nein. Eva-Maria Pertini, wer ist das?«

»Ihre Cousine aus Montalcino.«

Sabrina sah ihn mit großen Augen fragend an. »Montalcino? Lebt dort mein Vater?«

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7

Einige Stunden später kam Hipp gerade aus dem Arztzimmer, als er im Flur einem umherirrenden jungen Mann mit einem großen Blumenstrauß begegnete.

»Scusi, wissen Sie, in welchem Zimmer Signorina Valentino liegt?«, fragte dieser.

»Sind Sie ein Bekannter von ihr?«, antwortete Hipp mit einer Gegenfrage.

»Sì, ja, in gewisser Weise, das heißt, eigentlich nicht …«

Hipp streckte die Hand aus. »Mein Name ist Hermanus«, stellte er sich vor, »ich bin ein Freund von Sabrina Valentinos Vater. Und Sie sind?«

»Entschuldigen Sie, mein Name ist Fabri Angelo. Ich war mit Sabrinas Freundin Eva-Maria gut bekannt. Die beiden wollten mich besuchen, als dieser schreckliche Unfall passierte.«

»Eva-Maria Pertini? Das tut mir Leid, mein herzliches Beileid.«

»Danke. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie nicht mehr lebt. Ein so liebes Mädchen.«

»Das braucht seine Zeit«, stellte Hipp fest, wohl wissend, dass dies eine Plattitüde war. Er sah Fabri an. Der junge Piemonteser war ihm nicht unsympathisch. Groß gewachsen, schwarze Haare, gepflegtes Äußeres, erstaunlich helle Augen, die einen offen ansahen. Etwas nervös, was in seiner Situation aber nur zu verständlich war. »Vermute ich richtig«, fuhr Hipp fort, »dass Sie Sabrina aufgrund des Unfalls gar nicht persönlich kennen?«

Fabri schluckte. »Ja, trotzdem will ich sie besuchen, oder vielleicht gerade deshalb. Sie verstehen, immerhin war sie eine Freundin von …«

Hipp legte Fabri beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Natürlich, ich verstehe. Und ich finde das auch wirklich sehr nett von Ihnen.«

Fabri sah betrübt auf seine Blumen. »Die kann ich wohl wegwerfen. Ich habe gehört, dass Sabrina immer noch im Koma liegt.«

»Nicht mehr«, sagte Hipp.

»Was heißt nicht mehr? Ist sie etwa bei Bewusstsein?« Fabri sah Hipp mit großen Augen an.

»Ja, seit kurzem. Gott sei Dank, wir sind alle sehr froh. Vor allem Sabrinas Vater, mit dem ich gerade telefoniert habe. Er ist überglücklich.«

»Das ist ja auch wunderbar. Im wahrsten Sinne des Wortes – ein Wunder!«, erwiderte Fabri.

Hipp sah lächelnd auf den Strauß. »Ich weiß allerdings nicht, ob in einem Zimmer auf der Wachstation Blumen erlaubt sind. Da müssen Sie die Schwestern fragen.«

»Natürlich, Wachstation, ich verstehe.«

»Bevor Sie zu Sabrina hineingehen, muss ich Ihnen noch was sagen.« Hipp sah Fabri ernst an.

»Was müssen Sie mir sagen?«, reagierte Fabri erschrocken. »Ist sie schlimm verletzt? Vielleicht gelähmt?«

»Nein, nicht gelähmt. Nur ihr Gedächtnis …«

»Ihr Gedächtnis?«

»Nach einem Schädel-Hirn-Trauma, wie es Sabrina beim Unfall erlitten hat, kommt es gelegentlich zu Gedächtnislücken, zu einer so genannten posttraumatischen Amnesie.«

»Posttraumatische Amnesie«, wiederholte Fabri verständnislos.

»Bei Sabrina ist das so genannte Altgedächtnis betroffen«, erklärte Hipp. »Das heißt, sie kann sich an nichts mehr erinnern, weder an den Unfall selbst noch was vorher geschehen ist. Die Ärzte sprechen hier von einer retrograden Amnesie. Diese geht bei Sabrina so weit, dass ihr auch alle biographischen Daten entfallen sind. Sie weiß nicht, wer sie ist. Sie kann sich auch an Eva-Maria nicht erinnern.«

Fabri dachte nach. »Come una pagina bianca? Wie ein unbeschriebenes Blatt?«

»So in etwa. Aber das wird vorübergehen, sagen die Ärzte. Sehr wahrscheinlich jedenfalls. Hoffen wir es. Ich erzähle Ihnen das nur deshalb, damit Sie bei Ihrem Besuch nicht überrascht sind und sich richtig verhalten. Sprechen Sie mit ihr ganz entspannt, aber stellen Sie keine Fragen. Auch Eva-Maria lassen Sie bitte unerwähnt. Am besten erzählen Sie ihr etwas ganz Unverfängliches, zum Beispiel, wie schön das Piemont im Sommer ist und dass sie sicherlich bald wieder völlig gesund wird.«

»Piemont ist nicht nur im Sommer schön, auch im Herbst und im Winter.«

»Noch besser. Und das mit der Amnesie, das behalten Sie bitte für sich.«

»Selbstverständlich, Sie können sich darauf verlassen.«

Fabri setzte sich matt auf einen der orangefarbenen Plastikstühle im Flur, den Blumenstrauß immer noch fest in den Händen.

»Entschuldigen Sie, aber das ist momentan alles ein bisschen viel für mich.«

Hipp nickte verständnisvoll. »Eva-Maria, Sabrina …«

»Nicht nur«, unterbrach ihn Fabri. Dann erzählte er von seinem verschwundenen Vater und von seiner Mutter, die in der letzten Nacht nur mit Schlaftabletten etwas Ruhe gefunden hatte.

Hipp ließ Fabri reden und hörte aufmerksam zu. Es schien, dass der Unglückstag auch sonst unter keinem guten Stern gestanden hatte. Jedenfalls traf dies für jenen kleinen Flecken südlich von Alba zu, der sich ansonsten vermutlich durch eine friedliche Ereignislosigkeit auszeichnete.

Als sie sich schließlich verabschiedeten, nahm Hipp eine Einladung entgegen, Fabri im väterlichen Weingut zu besuchen. Er dachte, dass das keine schlechte Idee wäre, schließlich hatte er schon länger keinen Barolo* mehr verkostet. Eine sträfliche Nachlässigkeit. Und außerdem könnte er sich bei dieser Gelegenheit den Unfallort anschauen.

 

Einige Minuten später stand Hipp vor der Klinik Le Molinette. Er setzte die Sonnenbrille auf und überlegte, wohin er seine Schritte lenken sollte. Er war früher schon einige Male in Turin gewesen. Er mochte die frühere Residenz des Königreichs Savoyen, die auch die erste Hauptstadt des geeinigten Italien gewesen war, mit ihren endlos langen Arkadengängen, der mal barocken, dann wieder klassizistischen Altstadt, den vielen traditionsreichen Kaffeehäusern. So gesehen hatte er nichts dagegen, dass es ihn gerade hierher verschlagen hatte – wenn ihm schon nicht vergönnt war, sein dolce far niente in der Toskana fortzusetzen, vorläufig jedenfalls.

Er nahm einen Bus zum Ponte Vittorio Emanuele, sah hinunter auf den träge dahinfließenden Po, dachte über Fabri nach und über dessen verschwundenen Vater, erfreute sich am Blick auf die Kirche Gran Madre di Dio und den Monte dei Cappuccini, trank unter den Arkaden der Piazza Vittorio Veneto einen Bicerin, eigentlich ein wunderbares Getränk für den Winter, aber ihm schmeckte diese göttliche Mischung aus Schokolade, Kaffee und Milch zu jeder Jahreszeit – selbst an einem schwül-heißen Sommerabend. Dabei sinnierte er über Sabrina, über ihr wiedererlangtes Bewusstsein, über ihren Gedächtnisverlust. Vor einer Stunde erst hatte er mit ihrem Vater in Kalifornien telefoniert. Überglücklich war Roberto Valentino gewesen, vor allem auch über das ärztliche Bulletin, aus dem hervorging, dass Sabrina – abgesehen vom Schädel-Hirn-Trauma und einigen Prellungen – wie durch ein Wunder keine schweren Verletzungen erlitten hatte. Am liebsten hätte Roberto das nächste Flugzeug bestiegen, aber die Ärzte hatten ihm dies strikt verboten, zu kurz erst lag seine Herzoperation zurück. Also müsse sich Hipp weiter um seine Tochter kümmern, hatte er gesagt, er werde ihn dafür bezahlen, zu dem üblichen Tagessatz, den er sonst bei seinen Ermittlungen verlange.

Hipp trank den Bicerin aus, legte einige Münzen auf den Tisch und spazierte die Via Po entlang in Richtung Piazza Castello. Dass er das Honorar mehrfach abgelehnt hatte und nur die Spesen ersetzt bekommen wollte, hatte Roberto jedes Mal energisch zurückgewiesen. Ganz offenbar wollte er Hipp in die Pflicht nehmen und sich nicht auf eine Gefälligkeit verlassen. Vor allem, da es jetzt darum ging, Sabrinas Amnesie zu überwinden. Für diese Aufgabe sei er als Psychologe ja geradezu prädestiniert. Es hatte nichts geholfen, dass Hipp ein paar Mal auf seine diesbezügliche Inkompetenz hingewiesen hatte.

Hipp blieb stehen und betrachtete im Schaufenster einer Confiserie das reichhaltige Sortiment an Schokoladen, darunter die Giandujotti, jene berühmten Nougatpralinen, die eine Spezialität Turins waren. Morgen würde er Sabrina eine Schachtel davon ins Krankenhaus mitbringen. Ob sie Nougat mochte? Es ist schon seltsam, wenn jemand auf diese einfache Frage wahrscheinlich keine Antwort wusste.

Sabrinas Mutter war schon vor Jahren an Krebs gestorben. Dass sich jetzt Robertos ganze Liebe auf seine Tochter konzentrierte, das war mehr als verständlich. In so einer Situation konnte er ihn nicht im Stich lassen. Vor allem, da die einzigen Verwandten, die Roberto noch in Italien hatte, als Unterstützung nicht in Frage kamen. Die Eltern von Eva-Maria waren schon mit ihrem eigenen Kummer überfordert. Er hatte sie heute Morgen im Krankenhaus kennen gelernt, als sie Sabrina, die zu diesem Zeitpunkt noch im Koma lag, einen Höflichkeitsbesuch abgestattet hatten. Sie waren von Alba gekommen, wo sie vorher einen Termin bei der Polizei hatten. Nein, diese armen Menschen konnte man wahrlich mit nichts Zusätzlichem belasten. Luca Pertini machte den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Und seine Frau Mira hatte kein Wort gesagt, nur stumm Sabrinas Wangen gestreichelt. Dann waren sie zurück in die Toskana gereist.

Und die Südtiroler Verwandtschaft ihrer verstorbenen Mutter? Nun, da gab es keine, hatte er von Roberto erfahren. Die Großeltern lebten schon lange nicht mehr, und Sabrinas Mutter hatte keine Geschwister gehabt.

Hipp sah hinüber zur Mole Antonelliana, jenem unglaublichen Gebäude, das ursprünglich eine Synagoge hätte werden sollen, sich dann aber im 19. Jahrhundert in einer eigenwilligen Architektur zum höchsten gemauerten Gebäude Europas verwandelt hatte. Wenn er noch länger in Turin bleiben sollte, würde er mal zur Aussichtsgalerie hinauffahren. Außerdem sollte es in der Mole Antonelliana ein interessantes Filmmuseum geben, hatte er gelesen. Prompt fielen ihm einige Filmklassiker ein, von Alfred Hitchcock zum Beispiel oder von Orson Welles, wo auch jemand sein Gedächtnis verloren hatte. Manche hatten es nie mehr zurückerlangt, aber das würde in Sabrinas Fall wohl kaum passieren, vielmehr glaubte er an eine rasche Rückkehr der Erinnerung. Sobald dies geschah, könnte er beruhigt zurück in die Toskana fahren und sich wieder in den Liegestuhl unter den Olivenbaum legen.

Mittlerweile hatte er die Piazza Castello erreicht, bog links in die Via Roma ein und gelangte wenig später zur famosen Piazza San Carlo, die es nach seinem Geschmack mit den großartigsten Plätzen Europas aufnehmen konnte, mit ihren umlaufenden Arkadengängen, den Kirchen San Carlo und Santa Cristina und dem Reiterstandbild von Emanuele Filiberto I. in der Mitte. Nicht zu vergessen die beiden alten Kaffeehäuser San Carlo und Torino, zwischen denen er sich jetzt zu entscheiden hatte. Dort wollte er eine Kleinigkeit essen, einen Blick in La Stampa werfen, dem Treiben zusehen – und entspannen.

Später würde er wieder zu Sabrina ins Krankenhaus gehen, sich von Fabris Besuch erzählen lassen und ihr eine gute Nacht wünschen. Das zumindest hatte Roberto erreicht – er fühlte sich tatsächlich in die Pflicht genommen. Hipp schmunzelte. Obwohl es dessen vermutlich gar nicht bedurft hätte. Er hatte es bislang bei seinen Überlegungen geflissentlich versucht zu ignorieren, aber es war dennoch nicht zu leugnen. Um es zurückhaltend zu formulieren: Eine solche Tochter hätte er Roberto Valentino nie und nimmer zugetraut. Vielleicht machte er sich also was vor, wenn er davon träumte, bald wieder alleine im Liegestuhl zu liegen?

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8

Das zum Weingut gehörende Haupthaus stammte aus dem 17. Jahrhundert, war dicht mit Laub bewachsen und wurde von einer Reihe hoher Zypressen flankiert. Die Tenuta del Leone, die sich im Besitz von Eva-Maria Pertinis Vater befand, erfreute sich unter Weinkennern eines vorzüglichen Rufes. Kein Wunder bei dieser bevorzugten Lage im Weingebiet von Montalcino, jenem mittelalterlichen Ort rund vierzig Kilometer südlich von Siena, der weltberühmt ist für seinen Brunello*. Zwar gäbe es auch eine Historie, die für kunstsinnige Menschen durchaus von Interesse wäre, zum Beispiel, dass Montalcino einst zur Abtei von Sant’Antimo gehört hatte, später zu Siena, dass aus dieser Zeit die gewaltige Festung Rocca stammte oder dass sich Montalcino 1559 Cosimo de’ Medici und damit Florenz unterwerfen musste. Aber wen interessierte das schon? Montalcino, das war nun mal ein Synonym für Brunello, und umgekehrt Brunello für Montalcino. Ein Spitzenwein, sortenrein gekeltert aus Sangiovese grosso, üppig und körperreich, dennoch voll feiner Nuancen, mit einem leichten Brombeerduft, mindestens fünf Jahre alt, davon garantierte zwei Jahre im Holzfass ausgebaut. So gesehen war kein Medici, sondern Ferruccio Biondi-Santi* die wichtigste Persönlichkeit in der Geschichte Montalcinos. Hatte er doch im 19. Jahrhundert die Brunello-Traube, die ein Klon der Sangiovese*-Traube ist, kultiviert und entgegen den Gepflogenheiten beim Chianti* unverschnitten auf Flasche gezogen. Im Alleingang hatte Biondi-Santi im Folgenden den Ruf des Brunello aufgebaut und schließlich bis nach Amerika getragen. Mittlerweile gibt es namhafte Rivalen, die im gleichen Atemzug mit Biondi-Santi genannt werden, Pieve Santa Restituta* zum Beispiel oder Case Basse*. Die Tenuta del Leone von Luca Pertini war nicht ganz so bekannt, erfreute sich unter Kennern aber höchster Wertschätzung. Pertini machte seinen Brunello auf die traditionelle Art, er ließ die Trauben lange am Stock und lehnte den Ausbau in Barriques kategorisch ab.

 

Heute, an diesem schönen, aber traurigen Sommertag, da stand auf der Tenuta del Leone ausnahmsweise nicht der Wein im Mittelpunkt. Es war in der Toskana nach einem Todesfall alter Brauch, dass die nächsten Hinterbliebenen für einen Tag ein offenes Haus führten, damit Freunde und Verwandte Gelegenheit bekamen zu kondolieren. Und so fuhren auch beim Weingut von Eva-Marias Eltern seit einigen Stunden, kaum waren sie aus Turin zurückgekehrt, fortwährend Autos vor. Die Besucher blieben nicht lange, sie bekreuzigten sich vor dem Porträtphoto, das mit einer schwarzen Schleife versehen auf einem Tisch stand, nahmen Luca in die Arme, küssten Mira die Wangen, sprachen einige Worte der Anteilnahme, des Trostes, und zogen sich wieder leise zurück.

Mit dem Besucher, der jetzt auf ihn zukam, hatte Eva-Marias Vater, der in einem Lehnstuhl saß, freilich nicht gerechnet. Mehr noch, er hätte gerne auf seine Gesellschaft verzichtet. »Il Tedesco« wurde der Mann in der Region von Montalcino genannt, was in seinem Fall nicht nur darauf hindeutete, dass er ein Deutscher war, sondern auch ein Auftreten hatte, das manche Vorurteile bestätigte. Vor etwa zehn Jahren war Dr. Friedrich von Lausitz, so hieß er mit richtigem Namen, auf der Bildfläche erschienen, hatte ein renommiertes Weingut erworben, das direkt an jenes von Pertini angrenzte, und setzte seitdem seinen ganzen Ehrgeiz und beträchtliche Finanzmittel ein, um einen hochklassigen Brunello zu erzeugen. Sehr zum Ärger von Luca Pertini und vielen anderen eingesessenen Weinbauern gelang ihm das von Jahr zu Jahr immer besser. Das alleine wäre noch kein Grund für Mira gewesen, beim Auftauchen von Dr. Lausitz sofort den Raum zu verlassen. Aber sie wusste, dass der Tedesco seit Monaten versuchte, Luca zum Verkauf seines Weingutes zu bewegen, wobei er immer massiveren Druck ausübte, sogar vor kaum verschleierten Drohungen nicht zurückschreckte.

»Signor Pertini, ich möchte Ihnen und Ihrer Frau mein tiefstes Mitgefühl zum Ausdruck bringen«, sagte Dr. Lausitz in perfektem Italienisch, aber mit deutlich deutschem Akzent. Die ausgestreckte Hand blieb unbeantwortet, sodass er sie mit einem leisen Lächeln zurückzog. »Ein schreckliches Unglück«, fuhr er fort, »ein schlimmer, ein unglaublicher Verlust. Seien Sie meiner Anteilnahme versichert. Eva-Maria, ihr einziges Kind, eine junge Frau in der Blüte ihres Lebens.«

»Sì, un incidente incredibile«, wiederholte Luca Pertini die Worte, die er in den letzten Stunden schon so oft gehört hatte.

Dr. Lausitz sah sich im Raum um und stellte fest, dass sie alleine waren. Er räusperte sich. »Nun, Signor Pertini, das ist sicherlich der falsche Augenblick …«

»Es ist definitiv der falsche Augenblick«, unterbrach ihn der trauernde Vater.

»… aber ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen«, sprach Dr. Lausitz unbeirrt weiter, »dass ich es sehr begrüßen würde, wenn Sie mir Ihr Weingut baldmöglichst verkaufen.«

»No, mai! Niemals!«

»Zu einem angemessenen Preis, versteht sich von selbst. Gerade jetzt offenbart sich Ihnen doch, wie vergänglich alles ist. Und nach dem bedauernswerten Tod Ihrer Tochter ist niemand mehr da, der die Familientradition fortsetzen könnte. Wofür wollen Sie sich noch aufopfern?«

»Verlassen Sie diesen Raum!« Luca Pertini deutete mit ausgestrecktem Arm zur Tür. »Fuori!«

»Ich bin schon im Gehen begriffen«, sagte Dr. Lausitz, »aber merken Sie sich meine Worte: Nicht jedes Unglück kommt von selbst, oft hat eine höhere Macht ihre Hand im Spiel. Nennen Sie es Schicksal, oder glauben Sie an die Wege des Herrn, die unerforschlich sind, das ist Anschauungssache. Aber niemand, auch Sie nicht, lieber Luca Pertini, sollte sich dieser höheren Fügung widersetzen. Denken Sie darüber nach! Arrivederla, e le faccio le mie condoglianze.«

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9

Es war irgendwann nach Mitternacht, als Sabrina aufwachte. Das heißt, so ganz sicher war sie nicht, ob sie vorher geschlafen hatte. Oder schlief sie jetzt, und sie träumte nur, wach zu sein? Ihr Atem ging flach, hinter den Schläfen pochte es. Gott sei Dank hatte man die akustischen Signale an den Apparaturen abgestellt. Das stimmte doch? Ja, sicher, daran konnte sie sich erinnern. Außerdem war nichts zu hören. Daran erinnern? Sabrina ließ den vergangenen Tag Revue passieren. Ab jenem Moment, wo sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte, konnte sie sich an alles erinnern, ganz genau, bis ins letzte Detail. Dieser Hipp, der im Auftrag ihres Vaters an ihrem Bett gesessen war. Von ihm ging eine große Ruhe aus, das hatte ihr gut getan. Dann die hektischen Arztvisiten am Nachmittag. Die dicke Stationsschwester Carlotta. Das Auswechseln der Infusionsflasche. Der neue Kopfverband. Der Besuch von Fabri, der ihr Blumen gebracht und begeistert vom Piemont erzählt hatte. Ein netter Kerl. Auf ihre Frage nach Eva-Maria antwortend, hatte er auch von ihr berichtet. Schien ein sympathisches Mädchen zu sein. Obwohl Fabri bei ihrem Namen irgendwie traurig geguckt hatte. Egal, sie freute sich schon darauf, ihre Cousine kennen zu lernen.

Sabrina atmete tief durch. An alles konnte sie sich erinnern – ab heute! Aber was war vorher in ihrem Leben geschehen? Von Hipp wusste sie, dass sie Amerikanerin war, aber aus einer italienischen Familie stammte, mit einer Mutter aus Südtirol, weshalb sie offenbar gleich drei Sprachen beherrschte. Na ja, immerhin etwas. In welcher dachte sie eigentlich? Englisch oder Italienisch oder Deutsch? Sie war sich nicht im Klaren darüber. Ihr Vater lebte in Kalifornien und hatte gerade eine neue Herzklappe bekommen. Deshalb durfte er nicht fliegen, sonst wäre er schon längst hier, hatte Hipp gesagt. Ihr Vater? Sie hatte keine Erinnerung an ihn. Wie er wohl aussah? Groß oder klein, mit einem Bäuchlein, vielleicht hatte er eine Glatze, einen Schnurbart? Warum nur konnte sie sich an nichts und niemanden erinnern? Und was war eigentlich mit ihrer Mutter? Sie merkte genau, dass irgendetwas in ihrem Kopf nicht stimmte. Das war ziemlich beunruhigend.

Sabrina sah zum weißen Vorhang am Fenster. Hatte der sich gerade bewegt? Da, ein flüchtiger Schatten an der Wand. Ein Geräusch, nur ganz leise, wie von einer Gummisohle auf Linoleum. Traum oder Wirklichkeit? Sie hielt die Luft an. Jetzt glaubte sie ganz deutlich zu spüren, dass sie nicht alleine war. »Hipp, sind Sie es?«, fragte sie mutig in den dunklen Raum. Eine Antwort blieb aus. War sie jemand, der sich im Dunkeln ängstigte? Schon seltsam, wenn man so wenig von sich wusste, sich selbst so vertraut war wie eine Fremde. Hatte sie sich als Kind gefürchtet, in den Keller zu gehen, konnte sie nur einschlafen, wenn Licht im Zimmer brannte? Oder war sie ein kleines Mädchen gewesen, das frohen Mutes pfeifend durch den finsteren Wald spazierte?

Sie hörte erneut ein leichtes Quietschen schräg hinter ihr. Das war doch keine Einbildung? Jetzt pochte es nicht nur in ihrem Kopf, sie spürte auch ihr Herz schlagen. Am liebsten hätte sie sich aufgesetzt, das Licht angemacht und sich im Zimmer umgesehen. Aber da sie keine Ahnung hatte, wo der Lichtschalter war, blieb sie wie paralysiert liegen. Konnte es sein, dass sich jemand ganz langsam an sie heranschlich, im Zeitlupentempo? Mit welcher Absicht sollte jemand so etwas tun? Es sprach nicht viel dafür, dass ein solcher Besucher ihr nur einen freundschaftlichen Kuss auf die Stirn geben wollte, die zudem hinter einem Kopfverband verborgen war. Stattdessen glaubte sie zu sehen, wie jemand ein großes Kissen in der Hand hielt, um sie damit zu ersticken. Warum hatte sie solche Assoziationen? Gab es Feinde in ihrem Leben? Nicht einmal auf diese einfache Frage wusste sie eine Antwort. Oder hielt der unbekannte nächtliche Besucher statt des Kissens eine Spritze in der Hand, mit einem tödlichen Nervengift?

Sabrina kniff die Augen zu. Vor ihr hing dieses Dreieck, an dem sie sich hochziehen konnte. Sie konnte es im Halbdunkel ganz deutlich erkennen. Vor allem sah sie den Druckknopf, der mit einem Kabel in diesem Dreieck verknotet war. »Siamo sempre in servizio«, hatte die dicke Stationsschwester gesagt. Sie müsse nur auf den Knopf drücken, und Sekunden später helfe man ihr.

Hinter ihr stand jemand, da gab es überhaupt keinen Zweifel. Sie glaubte den Atem zu hören, so nah war ihr dieser Mensch bereits gekommen. Also musste sie schnell sein, sehr schnell. Waren ihre Hände noch angegurtet? Nein, nicht mehr. Links waren die Infusionsschläuche angeschlossen, aber rechts konnte sie agieren, vor allem da ihr Arm, wie sie zu ihrer großen Erleichterung feststellte, nicht unter, sondern auf der Bettdecke lag. Wenn es ihr jetzt gelang, auf den Knopf für den Notruf zu drücken, wenn sie das Plastik zwischen den Fingern spürte, spätestens dann wusste sie, ob das gerade ein Traum war oder Realität.

Ansatzlos schoss sie mit der rechten Hand nach oben, sich gleichzeitig aufstützend, schon den Knopf erreichend. Über der Tür ging ein rotes Licht an. Sie hörte im Flur ein Summgeräusch. Die Vase mit Fabris Blumen fiel zu Boden. Ein Schatten glitt die Wand entlang, die Tür wurde aufgerissen, sie sah, wie jemand ihr Zimmer verließ. Von hinten erkannte sie nur einen grünen Arztkittel und eine Haube, wie sie Chirurgen im Operationssaal trugen. Dann fiel die Tür ins Schloss. Jetzt war sie alleine, wirklich alleine. Sabrina ließ sich ins Kopfkissen zurückfallen und atmete tief durch. Das war kein Traum gewesen, keine Halluzination. Wer hatte da hinter ihrem Bett gestanden, was hatte er von ihr gewollt? Hatte er wirklich ein Kissen gehabt, um sie zu ersticken, oder eine tödliche Spritze? Oder entsprangen diese bedrohlichen Bilder ihrem durch den Unfall verwirrten Geist?

»Hanno suonato, Sie haben geläutet. Geht es Ihnen nicht gut, was kann ich für Sie tun?« Die Schwester in der Tür machte das Licht an und kam mit einem freundlichen Lächeln auf sie zu. »Ich bin Schwester Margherita«, stellte sie sich vor, »die Nachtschwester.«

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10

Fabri wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Grazie, Mamma, il risotto era buonissimo«, lobte er gewohnheitsmäßig die Kochkünste seiner Mutter. Er saß ihr an dem Holztisch in der großen Küche gegenüber, wo sie unter der Woche gemeinsam ihren pranzo einzunehmen pflegten.

Luciana, die während des ganzen Essens kein Wort gesagt und nur stumm auf den Teller gestarrt hatte, zog aus dem Ärmel ein Taschentuch und schnäuzte sich. »Nein, mein Lieber, das Risotto war schrecklich. Ich habe es zu lange gekocht und außerdem die Zucchini vergessen.«

Fabri langte über den Tisch und nahm ihre Hand. »Macht doch nichts, Mamma, mir hat es geschmeckt.«

»Ich war mit den Gedanken …«

»Ich weiß, du warst mit deinen Gedanken bei Papà. Und jetzt macht es dich traurig, dass wir hier nur zu zweit am Tisch sitzen. È veramente triste.«

»Gianfranco hat uns verlassen«, sagte Luciana mit einem Schluchzen in der Stimme, »er ist weg, auf und davon. Nach achtundzwanzig Jahren Ehe.«

»Papà, nie und nimmer, das würde er nicht tun.«

»Doch, ganz sicher.«

»Das glaube ich nicht.«

»Heute Morgen habe ich sein Nachtkästchen aufgeräumt.«

»Sein Nachtkästchen? Na und?«

»In der Schublade müsste sein Reisepass liegen.«

Fabri zog fragend die Augenbrauen nach oben. »Sein Reisepass?«

»Ja, da liegt er immer, aber jetzt ist er weg. Gianfranco hat seinen Reisepass mitgenommen.«

»Wirklich? Bist du sicher?«

»Ja, den Reisepass.«

»Das muss nicht viel besagen«, versuchte er seine Mutter zu beruhigen.

»Außerdem ist die Schatulle leer.«

»Was für eine Schatulle?«

»Die alte Schatulle vom Nonno im Versteck unter dem Bett.«

»Vom Großvater? Unter eurem Bett? Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Dort haben wir Bargeld aufbewahrt. Und Goldmünzen. Für schlechte Tage. Man kann nie wissen.«

»Und diese Schatulle, sie ist leer?«

Luciana schluchzte. »Ja, das heißt, nicht ganz. Leider.«

»Nicht ganz?«

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es ist so unglaublich. Nach achtundzwanzig Jahren Ehe.«

Fabri stand auf, ging um den Tisch herum, beugte sich zu seiner Mutter hinunter und nahm sie in die Arme.

»Nun sag schon, was ist in dieser Schatulle?«

»La sua fede.«

»Sein Ehering?«

»Ja, kein Wort des Abschieds, keine einzige Zeile, nur sein Ehering.«

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11

Entspannt gegen den Fenstersims gelehnt, die Arme über der Brust verschränkt, hatte sich Hipp von Sabrina die Erlebnisse der vergangenen Nacht schildern lassen. Von einem unbekannten Besucher hatte sie erzählt, vom Quietschen seiner Sohlen auf dem Linoleumboden, vom Schatten an der Wand, von ihrer Angst, dass er ihr etwas antun könnte, von ihrem beherzten Griff zum Knopf mit dem Notruf, von der daraufhin flüchtenden Gestalt im grünen Arztkittel. Und davon, dass der Nachtschwester im Flur niemand begegnet sei.

»Die Ärzte glauben mir nicht«, sagte Sabrina mit leiser Stimme. Sie sah Hipp Hilfe suchend an. »Was ist mit Ihnen? Denken auch Sie, dass ich phantasiere?«

Hipp wartete eine Weile mit der Antwort. »Ich glaube, dass Sie das alles genauso wahrgenommen haben, wie Sie es erzählen. Gleichwohl muss es nicht der Realität entsprechen …«

»Also denken auch Sie, dass ich mir diesen Besucher ausgedacht habe«, unterbrach sie ihn enttäuscht.

»Nein, ausgedacht haben Sie sich ihn gewiss nicht. Ich sagte ja, Sie haben das so wahrgenommen.«

Sabrina langte sich an die Stirn. »Was ist mit mir los? Bin ich verrückt? Ich weiß nicht, wer ich bin, wo ich herkomme. Ich bilde mir Figuren ein, die es nicht gibt. Habe ich den Verstand verloren?«