Tödlicher Tartufo - Michael Böckler - E-Book

Tödlicher Tartufo E-Book

Michael Böckler

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Beschreibung

Im Piemont wird ein Trüffelsucher erschossen. Ein Feinschmecker wird von einem Weinregal erschlagen. Und in Parma liegt ein Delikatessenhändler tot in einer Tiefkühltruhe voller Scampi! Maresciallo Viberti, Polizist und Freund von Hippolyt Hermanus, ist an der Aufklärung dieser Fälle nur wenig interessiert. Schließlich ist Trüffelzeit, und da gibt es viel Wichtigeres für einen berüchtigten Feinschmecker. Und wenn Hippolyt ganz ehrlich ist, wüsste auch er mit seiner Zeit etwas Besseres anzufangen. Doch das schlechte Gewissen treibt ihn schließlich nach Alba ins Piemont, wo er herausfindet, dass der Tod des Feinschmeckers kein Unfall war. Bald überstürzen sich die Ereignisse, und wie immer ist nicht nur Hippolyts Scharfsinn, sondern auch sein Weinverstand gefordert.

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Seitenzahl: 507

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Michael Böckler

Tödlicher Tartufo

Der 2. Fall für Hippolyt HermanusRoman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungLandkartePrefazione1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. KapitelGiro finale!EpilogoSupplemento
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Das Buch ist allen Trüffelliebhabern gewidmet. Unter anderem:

 

Cheops (Pharao), Pythagoras,

Lucullus, Lucrezia Borgia, Caterina de’ Medici,

Alexandre Dumas, Casanova, Madame de Pompadour,

George Sand, Napoléon, Toscanini,

Harry S. Truman, Winston Churchill,

Rita Hayworth, Louis Armstrong,

Marylin Monroe, Alfred Hitchcock, Luciano Pavarotti,

Alain Delon, Giorgio Armani, Sophia Loren

und Gérard Depardieu.

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Prefazione

Seit jeher ranken sich um die Trüffeln Mythen und Legenden. Diese reichen von ihrer mysteriösen Entstehung durch den Blitz des Zeus über ihre angeblich aphrodisierende Wirkung bis hin zum Phänomen, dass die alten Römer zwar keine Gabel kannten, aber sehr wohl den Trüffelhobel. Hinzu kommen die fabulösen Geschichten ihrer geheimnisumwitterten Suche, die Faszination, die von ihren oft exorbitant hohen Preisen ausgeht – und die lukullischen Freuden, die sie zu vermitteln imstande sind. Außerdem scheinen Trüffeln prädestiniert zu sein für kriminelle Machenschaften und Betrügereien. Was zwar bedauerlich ist, aber ein spannendes Umfeld schafft für den aktuellen Fall, mit dem sich Hippolyt Hermanus konfrontiert sieht. Dass die Story mit einer Trüffelsuche beginnt, versteht sich beim Titel des Romans fast von selbst …

 

Hippolyt Hermanus, der sich mehr auf Weine denn auf Trüffeln versteht, zudem notorisch wenig Lust verspürt, sein dolce far niente zu unterbrechen, fühlt sich moralisch verpflichtet, ins Piemont zu reisen und den Tod eines Feinschmeckers aufzuklären. Diese Exkursion gerät wesentlich aufregender als erwartet, hält weitere Leichen parat und bringt ihn gar selbst in Tatverdacht. Zum kulinarischen Ausgleich für all diese Unbilden wird er in die Welt der Trüffeln eingeführt. Bevorzugt in jene der weißen Alba-Trüffel, des Tartufo bianco, der auf Lateinisch Tuber magnatum Pico heißt. Übrigens ist der unterirdisch wachsende Edelpilz als italienischer Tartufo männlichen Geschlechts, in der deutschen Schriftsprache jedoch weiblich – ein weiteres Rätsel, das er/​sie allerdings gemeinsam hat zum Beispiel mit dem Mond (la luna) und der Sonne (il sole).

 

Das Schicksal, das keine Rücksicht auf Hippolyts kultiviertes Phlegma nimmt, führt ihn nicht nur nach Alba, wo er mit Maresciallo Viberti von den Carabinieri kooperiert, sondern weiter in das Schlemmerparadies der Emilia-Romagna. Zwischen Parma, Modena und Bologna – respektive Prosciutto, Aceto Balsamico und Parmigiano – nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Und es bedarf mehr als eines Glases Sangiovese und eines Tellers mit Tagliatelle con tartufo bianco, um einen Ausweg (und den Mörder) zu finden.

 

Im Anhang dieses Buches gibt es ein »Supplemento« zur Vertiefung und mit ergänzenden Informationen. Alle Begriffe, die im Roman mit einem * gekennzeichnet sind, finden sich dort mit Erläuterungen wieder. Außerdem ist ein kompakter Trüffelführer integriert, der die entbehrungsreichen Recherchen des Autors reflektiert. Dieser hat nicht nur mit erfahrenen Trüffelsuchern lange Streifzüge absolviert (dabei mal mehr, mal weniger Trüffeln gefunden), sondern auch bei Trüffelmessen, bei Ausbildern von Trüffelhunden, bei professionellen Händlern, bei Herstellern von Trüffelprodukten und nicht zuletzt in den Küchen der regionalen Trüffelrestaurants »spioniert« und konspirative Gespräche geführt. Selbstverständlich sind alle Rezepte im Selbstversuch verkostet – wie natürlich auch die zitierten Weine. Unter den Ortsnamen finden sich im Anhang alle Restaurants aus dem Roman, darüber hinaus weitere empfehlenswerte Adressen zur Nahrungsaufnahme und Nächtigung.

 

Für alle Leser/​-innen, die den vorangegangenen Roman Vino Criminale nicht kennen, sei noch angemerkt, dass Hippolyts Freundin Sabrina in selbigem fast zu Tode gekommen wäre und vorübergehend ihr Gedächtnis verloren hatte. Einige Äußerungen Sabrinas spielen auf diese Vorgeschichte an, sind aber für die aktuelle Geschichte ohne Belang. Auch der Maresciallo Viberti ist ein alter Bekannter. Die Aufklärung von Verbrechen hat für ihn einen nachgeordneten Rang, viel wichtiger sind die kulinarischen Genüsse seiner piemontesischen Heimat. Agnolotti, Tajarin, Fonduta, Risotto … zur Trüffelzeit grundsätzlich: con tartufo! Dazu eine Flasche Barolo, und sein Glück ist perfekt. Nur gefälscht sollte der Wein nicht sein, da versteht der Maresciallo keinen Spaß! Aber noch ist es nicht so weit. Es ist früh am Morgen, der Nebel hängt über dem Tal …

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1

Er war kein Mann, der zur Furcht neigte. Nein, ganz bestimmt nicht. Ildefonso war es gewohnt, zu noch nachtschlafender Zeit seinen Fiat Punto auf einsamen Feldwegen abzustellen, bei Tagesanbruch durch dunkle Wälder zu streifen, sich unter tief hängenden Ästen hinwegzuducken, über Böschungen zu rutschen, einen Bach zu überqueren, kleine Hänge zu erklimmen. Das Rascheln im Laub, der Schrei eines Kauzes, leises Knacken im Unterholz, ein flüchtiger Schatten, die Sichel des Mondes – diese mystische Stimmung war ihm vertraut, mehr noch, er liebte sie von Kindesbeinen an. Dazu das eifrige Schnüffeln seines Hundes, der mit der Schnauze dicht über dem Boden von einem Baum zum nächsten kurvte, seinen Kommandos mehr oder weniger folgend, schließlich irgendwo innehielt, um aufgeregt im Erdreich zu scharren. Was konnte es Schöneres geben?

 

Aber heute, das spürte er, heute war kein Tag wie andere. Jedenfalls nicht hier, in diesem dichten Wald aus alten Eichen und Pappeln, einsam gelegen und weit entfernt von seinen üblichen Pfaden. Ildefonso fröstelte. Dabei war es gar nicht kalt. Der Schauder kam von innen. Auch sein Hund verhielt sich sonderbar. Profumo, so hieß er, weil er einen siebten Sinn für den Duft des Tartufo hatte, wirkte unkonzentriert, blieb häufig stehen, richtete den Kopf auf, um nervös zu wittern. Waren Wildschweine in der Nähe? Oder sollte etwas dran sein an den Legenden? Ildefonso dachte an die »vecchia strega«, an die alte Hexe, die in diesem Wäldchen hausen sollte. An die kleinen Monster, die in Höhlen unter den Wurzeln lebten. An die riesige Fledermaus, die sich wie ein Adler auf Eindringlinge stürzte, um sie …

Ildefonso schalt sich einen Narren, das waren Märchen, um Kinder zu erschrecken, Kinder und Fremde. Und diese magisch wirkenden Kreise im vertrockneten Waldboden, das war kein Teufelswerk, das waren auch keine Spuren von Außerirdischen, sondern ganz reale Hinweise für einen möglichen Fundort. Das sollte auch Profumo wissen. Warum fand er dann nichts?

 

Ildefonso umklammerte den Barot, den Stock, der für Trüffelsucher obligatorisch war. Er schnalzte mit der Zunge, um Profumo anzuspornen.

»Baica bin …«, rief er mit gedämpfter Stimme, »such, such gut!«

Der Hund sah ihn kurz an und begann dann wieder zu schnüffeln.

Ildefonso deutete mit dem Barot auf eine vielversprechende Pappel. »Baica sí, such hier.«

Profumo schlug einige Haken, fand eine Stelle und begann kurz zu scharren.

»Trovato?«

Nein, doch nicht. Der Hund hob ein Bein und setzte eine Duftmarke. Ildefonso nutzte die Pause, um sich erneut umzudrehen. Niemand zu sehen. Ihm war klar, sie waren hier nicht willkommen. Er musste darauf achten, dass Profumo keinen vergifteten Köder in die Schnauze bekam. Ob die Reifen bei seinem alten Fiat noch heil waren, wenn sie zurückkamen? Im letzten Jahr, als er schon mal hier auf Trüffelsuche gewesen war, da hatte man ihm zwei aufgestochen. Zwei! Das war besonders perfide gewesen. Wer hatte schon zwei Ersatzräder im Auto? Aber der Ausflug hatte sich dennoch gelohnt. Alle Taschen seiner Jacke hatte er voll gehabt mit weißen Trüffeln. Und dann dieses Prachtexemplar: ein Tartufo bianco* mit dem unglaublichen Gewicht von über einem Kilogramm.

Solch herausragende Funde waren es, denen er seinen Ruf als bester Trifolao* rund um Alba* verdankte. Das Fernsehen und die Zeitungen hatten darüber berichtet. Natürlich mit Foto – von ihm und der gigantischen Trüffel* in beiden Händen. Er wusste die Stelle noch ganz genau. Akkurat hatte er den Fundort im Diario, seinem geheimen Trüffeltagebuch, vermerkt. Da vorne, am Ende dieser kleinen Lichtung, fünf Meter links von der knorrigen Eiche – da hatte die Trüffel auf ihn gewartet. Sechzig Zentimeter tief im Erdreich verborgen. Aber das war nicht tief genug für den feinen Riechsinn seines Hundes.

 

Und heute? Die Lichtung hatte Profumo in fast gerader Linie überquert. Zielsicher steuerte er auf den Fundort des letzten Jahres zu. »Bravo, bravissimo«, murmelte Ildefonso, der seinem Hund rasch folgte. Entweder hatte Profumo ein ebenso gutes Gedächtnis wie er, oder es war ihm erneut der Duft eines Tartufo in die sensible Nase gestiegen. Nur wenig entfernt von der alten Stelle begann der Hund mit den Vorderpfoten zu scharren.

»Pijlo«, motivierte ihn Ildefonso im piemontesischen Dialekt, »hol ihn raus!«

Kurz darauf gab er den Befehl aufzuhören. »Speta sí!« Er wollte vermeiden, dass Profumo die Trüffel, die er gleich zu finden hoffte, mit seinen Krallen beschädigte.

Schweine, die in Italien zur Trüffelsuche aus gutem Grund verboten waren, würden dieses Kommando ignorieren, stattdessen wie wild den Boden aufwühlen und sich das Objekt der Begierde grunzend einverleiben – außer man hielt sie unter Einsatz körperlicher Anstrengung zurück. Profumo dagegen gehorchte aufs Wort. Ildefonso gab ihm zur Belohnung schon mal einen Hundekuchen, nahm die Hacke aus dem Gürtel, kniete sich hin und vergrößerte mit dem Sapin das Erdloch. Es dauerte nicht lang, bis er die Trüffel freigelegt hatte. Sie war nicht ganz so groß wie jene vom letzten Jahr, aber auch ein herausragendes Exemplar ihrer Gattung. Vor dem Loch kniend, den Tartufo in den Händen, verdrängten unbeschreibbare Glücksgefühle all jene merkwürdigen, irrationalen Ängste, die ihn bis vor wenigen Minuten geplagt hatten. Kein Gedanke mehr an zerstochene Reifen, keine Sorge, dass Profumo einem vergifteten Köder zum Opfer fallen könnte, keine alte Hexe, weder kleine Monster noch die Riesenfledermaus, kein Teufel …

 

Der Schuss, der von der anderen Seite der Lichtung abgefeuert wurde, traf Ildefonso in den Rücken, das Projektil durchschlug sein Schulterblatt, zerfetzte das Herz des Trüffelsuchers und trat vorne wieder aus. Profumo machte einen mächtigen Satz zur Seite und ging jaulend hinter einem Baum in Deckung. Ildefonso stürzte kopfüber auf den Waldboden, lag in einer rasch größer werdenden Blutlache, die Trüffel auch im Tod fest in den Händen. Hätte er noch gelebt, wäre ihm vielleicht die alte Sage eingefallen, dass die besten Trüffelplätze jene seien, die mit Menschenblut getränkt seien. Aber Ildefonso konnte nicht mehr denken. Sein Leben, es war vorbei. Für einen Trüffelsucher vielleicht sogar ein schöner Tod – den letzten Blick auf einen wunderbaren Tartufo bianco gerichtet, den überwältigenden Duft in der Nase und in Erwartung großer Anerkennung. Aber der Tod Ildefonsos, er war gewaltsam, brutal – und vor allem zu früh, viel zu früh für einen Trifolao in den besten Jahren.

 

Der Schuss war längst verhallt. Friedlich lag sie da, die Lichtung. Der Mond am Himmel verblasst, die noch tief stehende Morgensonne ihre ersten Strahlen in den Wald werfend. Profumo hatte sein Versteck verlassen, stupste Ildefonsos Leichnam mit der Schnauze, rollte ihn mit den Vorderpfoten auf die Seite und schleckte ihm das Gesicht. Als alles nichts half, suchte er in der rechten Jackentasche nach den Hundekuchen – die Trüffel ignorierte er!

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2

Gianfranco oder Giorgio? Eine schwierige Frage. Jedenfalls dann, wenn man sonst keine Probleme hatte. Hippolyt Hermanus stand in der Küche seines toskanischen Bauernhauses und betrachtete das Fleisch vom Wildschwein, das er auf einem Holzbrett in kleine Würfel geschnitten hatte. Er würde sich an einem Cinghiale in umido* versuchen, einer Art Wildschweingulasch mit schwarzen Oliven und Polenta. Gianfranco oder Giorgio? Nun, diese fundamentale Entscheidung ließ sich guten Gewissens bis morgen aufschieben. Zunächst forderte das Gulasch seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Was brauchte er für die Marinade? Schalotten, eine Karotte, Lorbeerblätter, drei Knoblauchzehen, Thymian und Rosmarin. Hippolyt arbeitete grundsätzlich ohne Kochbuch. Das ungefähre Rezept hatte er im Kopf – ansonsten hoffte er auf die Inspiration des Augenblicks. Den Sellerie würde er kreativ weglassen, schlicht deshalb, weil er vergessen hatte, einen zu besorgen. Aber an die Gewürznelken hatte er gedacht, die waren unverzichtbar. Dann das Ganze mit dem Fleisch in eine große Schüssel geben, die Oliven dazu, mit Chianti aufgießen, Alufolie darüber und kalt stellen. Perfetto, das war’s. Wenigstens für den Augenblick. Er mochte dieses Gericht schon deshalb, weil die Zubereitung große schöpferische Pausen zuließ. In denen würde er es sich in dem Korbsessel auf der Loggia bequem machen und seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen – dem dolce far niente, dem süßen Nichtstun.

 

Hippolyt Hermanus lebte seit nunmehr gut zwei Jahren in diesem kleinen, bescheidenen Rustico in der südwestlichen Toskana*, genauer gesagt in der Nähe von Montescudaio. Präzisere Ortsangaben machte er nur selten, er wollte sich das unschätzbare Privileg bewahren, einfach nicht auffindbar zu sein. Wer etwas von ihm wollte, konnte ja versuchen, ihn telefonisch zu erreichen. Was allerdings auf dem Festnetz fast immer scheiterte, denn ihm stand nur selten der Sinn nach Konversation. Erfolgversprechender waren E-Mails. Diese pflegte er zu beantworten – natürlich nicht sofort, aber immerhin. Seine Handynummer? Die kannte vorsichtshalber nur ein kleiner, handverlesener Personenkreis.

 

Hippolyt, der von seinen Freunden Hipp genannt wurde – für seinen umständlichen Namen konnte er nichts –, hatte in seinem früheren Leben als Psychologe bei der Polizei gearbeitet. Nach einigen brutalen Morden, von denen er bis heute glaubte, dass er sie vielleicht hätte verhindern können, hatte er den Job hingeschmissen. Eine kleine Erbschaft ermöglichte es ihm, auch ohne Arbeit mit Stil und einigem Komfort über die Runden zu kommen. Seine Ansprüche waren relativ bescheiden – sah man einmal davon ab, dass er eine kostensteigernde Vorliebe für großartige Weine hatte. Aber auch diese Passion konnte er sich leisten, wurde sie doch sozusagen gegenfinanziert durch kleine Ermittlungsaufträge, die er gelegentlich annahm. Er hatte sich auf Betrügereien spezialisiert, die im weitesten Sinne mit Wein zu tun hatten. Da konnte er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

 

Gianfranco oder Giorgio? Er würde im Korbsessel darüber nachdenken. Auf dem Weg von der Küche zur Loggia fiel sein Blick im Wohnzimmer auf sein Notebook. Ob er es zur Abwechslung mal einschalten und nach seinen E-Mails sehen sollte? Vielleicht bekam er auf diese Weise heraus, warum unter dem dicken Kissen sein Telefon immer wieder erstickte Klingeltöne vernehmen ließ. Er startete seinen Computer und ging online. Da hatte er tatsächlich eine neue Nachricht im virtuellen Briefkasten. Er stellte sein Glas ab und rief sie auf: »Buon giorno, lieber Hippolyt Hermanus. Kann Sie telefonisch leider nicht erreichen …«

Das glaube ich gerne, dachte Hipp mit einem Blick auf das Kissen.

»Ich brauche dringend Ihre Hilfe. Ich werde bedroht und weiß nicht, wie ich mit der für mich ungewohnten Situation umgehen soll. Es geht um Leben und Tod! Bitte melden Sie sich. Mit herzlichen Grüßen, Ihr Hubertus G. Rettenstein. Alba, Piemont.«

Hubertus G. Rettenstein? Hipp kannte den Mann, recht gut sogar. Er war ihm schon häufig auf Weinproben begegnet. Das letzte Mal in einer renommierten Enoteca in Turin. Sie hatten sich gelegentlich zum Essen verabredet, hatten in seinem Weinkeller ganz privat einige Raritäten verkostet und über die hohe Kunst des Weinmachens philosophiert. Rettenstein wusste von Hipps Vergangenheit als Polizeipsychologe, auch dass er gelegentlich Ermittlungsaufträge übernahm.

»Es geht um Leben und Tod!« Nun, wenn es etwas gab, dem er geflissentlich aus dem Weg ging, dann allem, was nur entfernt mit Mord und Totschlag zu tun hatte. Dass ihm das in den letzten Jahren trotz dieses hehren Vorsatzes nicht immer gelungen war, stand auf einem anderen Blatt und machte ihn alles andere als glücklich. »Es geht um Leben und Tod!« Sehr theatralisch formuliert. Und in aller Regel dramatisch überspitzt. Beim Wildschwein für das Gulasch, ja, bei diesem Cinghiale war es vor kurzem um Leben und Tod gegangen. Aber doch höchst unwahrscheinlich bei diesem Signor Rettenstein. Und selbst wenn, er war gewiss der falsche Ansprechpartner. Er war froh, dass er nicht ans Telefon gegangen war. Hipp beschloss, sich mit der Beantwortung Zeit zu lassen. Und Hubertus Rettenstein dann den Rat zu geben, sich an die Polizei zu wenden. Oder an die Carabinieri in Alba, da könnte er ihm mit dem Maresciallo Viberti sogar einen Kontakt vermitteln.

 

Im Korbsessel ruhend, die Beine hochgelegt, im Glas den Rest des Chianti aus der Küche, dachte Hipp an den Besuch, den er morgen erwartete. Nein, weder Gianfranco noch Giorgio. Sein Gast sah zweifellos besser aus als die beiden, hatte schwarze Haare, dunklen Teint und konnte herzhaft lachen. Das war nicht immer so gewesen. Sabrina würde über Nacht bleiben. Hipp schloss die Augen. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich für Giorgio. Sicher, ein Brunello* von Gianfranco, von Gianfranco Soldera, wäre als Begleitung zum Cinghiale über jeden Zweifel erhaben. Aber die E-Mail aus dem Piemont hatte den Ausschlag für Giorgio gegeben. Er würde eine Flasche Barbaresco* öffnen, von Giorgio Rivetti. Das war eine vortreffliche Wahl. Im Einschlafen glaubte Hipp feine Fruchtaromen wahrzunehmen, ihm stieg ein Hauch von Lakritze und Schokolade in die Nase. Da war noch ein anderer, schwer beschreibbarer, betörender Duft. Hipp lächelte. Nein, dieses feminine Aroma gehörte definitiv nicht zum Barbaresco.

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3

Maresciallo Viberti von den Carabinieri* in Alba* war alles andere als erfreut, als er an der Theke des Caffè Calissano angesprochen wurde. Nicht, dass er grundsätzlich etwas gegen eine Unterhaltung einzuwenden hätte, ganz im Gegenteil, diese attraktive Signorina am Tischchen neben dem Eingang würde er gern einem kleinen Verhör unterziehen, am liebsten nach Dienstschluss … Viberti räusperte sich. Aber dieser begriffsstutzige Journalist aus Mailand, der hatte ihm gerade noch gefehlt. Riccardo war ein Rompipalle, eine Nervensäge, wie sie in dieser Impertinenz nur aus der Lombardei kommen konnte. Schon allein die Tatsache, dass dieser Schmierenschreiber ein bekennender Fan von Inter Mailand war, diskreditierte ihn in jeglicher Hinsicht. Außerdem arbeitete er für die falsche Zeitung, aber das war vergleichsweise unerheblich.

Mit gedämpfter Stimme versuchte Riccardo sein Anliegen vorzutragen. »Maresciallo, ich würde gerne Ihre persönliche Einschätzung hören …«

»Perfetto«, unterbrach ihn Viberti mit einem schelmischen Grinsen, dabei am Kaffee riechend, »könnte nicht besser sein. Come sempre!«

»Scusi, ich wollte nicht Ihre Bewertung des Caffè macchiato in Erfahrung bringen.«

Viberti stellte die Espressotasse ab. »Tut mir leid, aber der Caffè ist wirklich eccellente. Das sollten Sie wissen. Ich war letzte Woche in Mailand, in einem sogenannten Caffè hinter der Scala …«

»Maresciallo, auch in Mailand gibt es guten Caffè macchiato, das können Sie mir glauben, wie überall in Italien …«

»Aber Ihr könnt keinen trinkbaren Bicerin machen«, ließ sich Viberti nicht so schnell vom Thema abbringen. »Den professionellen Umgang mit Kaffee, Milch und Schokolade beherrschen nur die Baristi im Piemont. Wissen Sie, dass wir den Kakao unserem Herzog Emanuele Filiberto zu verdanken haben? Ich glaube, das war bereits im 17. Jahrhundert …«

»Maresciallo«, beschloss Riccardo endlich auf den Punkt zu kommen, »wie erklären Sie sich den gewaltsamen Tod Ihres berühmtesten Trüffelsuchers?«

Der Maresciallo gab dem Barista ein Zeichen. »Piero, bitte einen Bicerin, unser Freund aus Mailand braucht etwas Nachhilfeunterricht.« Dann wendete er sich Riccardo zu. »Ildefonso Battardi? Nun, die Erklärung ist so einfach, dass ich Ihre Frage nicht verstehe. Ein Stahlmantelgeschoss, das von hinten ins Herz eindringt, führt normalerweise zum Tode. È così semplice.«

»Das ist mir klar, Maresciallo. Aber wer könnte ein Interesse daran haben, Signor Battardi zu töten? Was ist Ihre persönliche Meinung?«

Viberti zog eine Augenbraue nach oben. »Mein lieber Riccardo, erstens bin ich mehr oder weniger im Dienst und deshalb nicht befugt, eine persönliche Meinung kundzutun. Zweitens ist der Tod im Distrikt von Asti* erfolgt und fällt deshalb nicht in den Zuständigkeitsbereich der Carabinieri von Alba.« Er bekreuzigte sich. »Grazie a Dio! Drittens war Ildefonso ein ehrenwerter Bürger unserer Gemeinde – da ist niemand, der ein Interesse haben könnte, ihn zu töten. Und viertens muss ich in Kürze zurück in mein Büro. Der Aufenthalt in diesem Caffè soll meiner Entspannung dienen. Ich sehe mich nicht in der Lage, kompliziertere Zusammenhänge zu erläutern.«

Der Barista kippte etwas Caffè in heiße Schokolade und ließ über einen umgedrehten Löffel halbfest geschlagene Sahne laufen.

»Wie wahrscheinlich ist ein Jagdunfall?«, gab Riccardo noch nicht auf.

Viberti wischte einen kaum wahrnehmbaren Zuckerbrösel von seiner Uniformmütze, die er auf der Theke abgelegt hatte. »Leider ist es so, dass die Trüffelzeit mit der Jagdsaison zusammenfällt. Sie können das selbst ausprobieren: Schleichen Sie in gebückter Haltung frühmorgens durch den Wald und finden Sie heraus, ob Sie einige Stunden später noch am Leben sind. Falls nicht, stellt sich nur die Frage, ob Sie mit einem Hasen oder mit einem Wildschwein verwechselt wurden. Reicht Ihnen das als Antwort?«

»Ich denke schon. Auch wenn ich auf das von Ihnen vorgeschlagene Experiment verzichten möchte.«

Viberti flüsterte: »Wie schade!«

»Das heißt«, fuhr Riccardo unverdrossen fort, »es könnte ein Jagdunfall gewesen sein. Ich gehe mal davon aus, dass in diese Richtung ermittelt wird. Möglich wäre aber doch auch, dass Ildefonso Battardi von einem anderen Trüffelsucher getötet wurde, oder?«

»Drei Schuss!«

»Wie bitte?«

»Per Gesetz darf der Jäger drei Schuss in Folge abgeben. Bei Ildefonso war bereits der erste ein Volltreffer, wie die Spurensicherung eindeutig ergeben hat. Das spricht für einen Cacciatore. Ein Trüffelsucher ist selten ein so guter Schütze. Jedenfalls ist die Guardiacaccia, die Jagdaufsicht, in die Ermittlungen eingebunden. Aber Sie haben recht, rein theoretisch könnte ein anderer Trifolao* der Täter sein. Dann würden wir allerdings nicht mehr von einem Unglück sprechen, sondern von Mord.«

»Was journalistisch viel ergiebiger wäre«, stellte Riccardo fest.

»Die Realität richtet sich gottlob nicht nach Ihren journalistischen Bedürfnissen. Dunque, wir alle wissen, dass es unter den Trüffelsuchern erhebliche Rivalitäten gibt. È vero! Mag sein, dass Ildefonso in diesem Wäldchen unerwünscht war. È possibile! Dann hätte man die Reifen seines Autos aufgestochen oder seinen Hund vergiftet. È giusto! Aber erschossen? Nein, erschossen wird deshalb niemand, glauben Sie mir.«

Riccardo schüttelte zweifelnd den Kopf. »Was ist eigentlich aus der Trüffel geworden, die Ildefonso noch als Leiche in den Händen hielt?«, wollte er wissen.

Viberti lächelte. »Das ist die erste intelligente Frage, die Sie heute stellen. Der Tartufo ist von meinen Kollegen in Asti zunächst als Beweisstück aufgenommen worden. Er wurde fotografisch erfasst, gewogen und protokolliert. Nach einem Tag in der Asservatenkammer hat man die Blutspuren sachkundig entfernt und die Trüffel an ein Ristorante verkauft. Dort wurde sie meines Wissens über Bandnudeln gehobelt. Der Verkaufserlös ging an die bedauernswerte Witwe.« Viberti machte eine kurze Pause. »Und nun interessiert mich Ihre Meinung.«

Riccardo sah den Maresciallo ratlos an. »Meine Meinung? Wozu?«

»Zum Bicerin vor Ihrer Nase. Falls Sie wissen, was ich sehr bezweifle, wo es etwas so Köstliches in Mailand gibt, dann rufen Sie mich an.« Viberti setzte seine Uniformmütze auf und deutete mit zwei Fingern an der Krempe einen Gruß an. »Aber nur dann! Arrivederci e buona giornata!«

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4

Entsetzt sah der Feinschmecker und passionierte Weinsammler Hubertus Rettenstein auf das Parmesanmesser, das mitten in die lederne Arbeitsfläche seines Schreibtisches gerammt war. Er blickte auf das Messer, dann auf die Flasche Wein, die daneben stand, ein Sassicaia* aus dem vortrefflichen Jahrgang 1988, und schließlich wieder auf das Blatt Papier, das von der kurzen Klinge durchbohrt war. Was darauf geschrieben stand, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Ohne die Flasche anzulangen, unterzog er die Verkapselung über dem Korken einer genaueren Prüfung. Nichts zu sehen, absolut nichts. War das vielleicht doch nur ein schlechter Scherz? War dieser Wein, wie auf dem Zettel behauptet, tatsächlich vergiftet? Und war es wirklich möglich, dass in seinem Weinkeller fünf weitere und nicht näher bezeichnete Flaschen mit derselben tödlichen Substanz »verfeinert« waren? Einige tausend Flaschen hatte er im Kellergewölbe gelagert, das Beste und Feinste, was italienische Weinerzeuger hervorbrachten: Barolo*, Barbaresco*, Brunello* … ausgesuchte Jahrgänge von La Spinetta, Angelo Gaja, Ornellaia*, Biondi-Santi, Pieve Santa Restituta … Ob nur fünf vergiftet waren oder alle, das spielte keine Rolle. Er müsste den kompletten Bestand seines Weinkellers auf der Mülldeponie entsorgen. Er konnte doch nicht bei jeder geöffneten Flasche erst eine Laboruntersuchung durchführen lassen. In der Zeit würden sich alle Aromen verflüchtigen. Und was sollten seine Gäste denken? Rettenstein fühlte sich schwach und elend. Er zog den Schreibtischstuhl heran und setzte sich. Die Drohungen und die Erpressungsversuche, denen er seit einiger Zeit ausgesetzt war, wurden immer dramatischer. Sollte er vielleicht doch bei der Polizei eine Anzeige gegen Unbekannt erstatten? Erneut verwarf Rettenstein diesen Gedanken. Er hatte dabei mehr zu verlieren als zu gewinnen.

Sulawesi, so hieß seine Katze, schlich ins Zimmer, sprang auf seinen Schoß und ließ sich streicheln. Zu ärgerlich, dass Hippolyt Hermanus weder ans Telefon ging noch auf seine E-Mails antwortete. Mit ihm hätte er sich gerne besprochen. Er brauchte dringend Rat von jemandem, der sich mit so etwas auskannte. Diskretion vorausgesetzt. Außer Hippolyt kannte er niemanden.

Sein Blick fiel wieder auf die Flasche mit der blau-goldenen Kompassrose auf dem Etikett. Wie konnte er herausfinden, ob der Wein wirklich vergiftet war? Irgendwie glaubte er nicht daran. Die Flasche an ein Labor zu geben kam nicht in Frage. Bei positivem Befund würde das Verhängnis seinen Lauf nehmen, so etwas blieb nicht geheim.

Ob man das Gift am Geruch feststellen konnte? Rettenstein hob die Katze vom Schoß, stand auf, holte einen Korkenzieher, nahm die Flasche Sassicaia, schnitt entschlossen die Kapsel ab, betrachtete den unversehrt wirkenden Korken, zog ihn heraus und roch an ihm. Er konnte nichts Verdächtiges feststellen. Nun goss er etwas Wein in ein Glas und hielt dieses gegen die weiße Wand. Die intensive Rubintönung war für den Sassicaia charakteristisch. Er ließ den Wein im Glas rotieren, steckte seine Nase hinein und nahm den Duft auf. Schwarze Johannisbeeren, reife Brombeeren, leichte Zedernnoten … Perfekt, ganz so wie sich dieser großartige Cabernet von der Tenuta San Guido zu präsentieren pflegte. Kein bisschen Fremdaromen. Jetzt war er sich so gut wie sicher. Die Behauptung, der Wein sei vergiftet, war nichts anderes als ein billiger Bluff.

Er war kurz davor, aus dem das Glas zu trinken, da fiel sein Blick auf seine Katze. Sulawesi mochte Wein, das wusste er. Rettenstein grinste. Einen Sassicaia hatte er ihr bislang noch nie kredenzt, so weit ging seine Liebe nicht. Er holte aus der Küche eine Schale, füllte sie mit dem edlen Tropfen und stellte sie auf den Boden. Es dauerte nicht lange, bis Sulawesi auf seine Lockungen reagierte. Sie kam näher, roch an der Schale, tauchte eine Pfote hinein und schleckte diese ab. Von der Degustation offenbar überzeugt, begann sie den Wein aufzuschlabbern. Rettenstein lobte ihre Weinkennerschaft. Vor allem war er erleichtert zu sehen, dass sie sich dabei bester Gesundheit erfreute. Ein Bluff, hatte er es doch geahnt! Die Katze hatte ein feines Näschen, sie würde sich nie und nimmer vergiften. Rettenstein ging zum Tisch, zog das Messer heraus, knüllte das Papier mit der lächerlichen Botschaft zusammen, goss den restlichen Wein in sein Glas und führte es zum Mund.

Sein Glück war, dass er Sulawesi aus Spaß zuprosten wollte. Und so sah er im letzten Augenblick, wie sich seine Katze in der Ecke zusammenkrümmte, noch kurz zuckte, auf den Rücken rollte und ekelhaft verrenkt erstarrte.

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5

Vor dem Cinghiale hatte sich Hippolyt als Antipasto für Bruschetta entschieden. Und zwar für Bruschetta con lardo*, geröstete Brotscheiben mit hauchdünn geschnittenem Speck. Er hatte eine Vorliebe für die einfachen italienischen Gerichte, für die Klassiker der »cucina povera«, der Küche der armen Leute. Dazu ein gutes Glas Wein – und sein kulinarisches Glück war vollkommen. Den Wein hatte er bereits eingegossen, nun aber doch nicht den vorgesehenen Barbaresco von Giorgio Rivetti, denn Sabrina hatte ihre eigene Flasche mitgebracht, einen Brunello von der Tenuta del Leone, die sie im Auftrag ihres Vaters seit einigen Monaten leitete. Aber das war eine andere Geschichte. Jedenfalls war der Brunello durch die Fahrt gut durchgeschüttelt, lag auch temperaturmäßig nicht gerade im grünen Bereich – und mundete trotzdem ganz wunderbar, was wieder mal bewies, dass man alles nicht so ernst nehmen sollte.

 

Sabrina saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Küchentisch, ihr Weinglas in der Hand. Aus dem Wohnzimmer war ein Violinkonzert zu hören. Sie fühlte sich wohl. Wie immer, wenn sie in Hipps Nähe war. Von den Verletzungen nach ihrem schweren Autounfall hatte sie sich komplett erholt, auch war ihr Erinnerungsvermögen fast vollständig zurückgekehrt.Was blieb, war ein nur schwer beschreibbares Gefühl der Unsicherheit und des generellen Misstrauens anderen Menschen gegenüber. Sie war häufig nervös und leicht reizbar. Aber diese Anspannung war wie weggeblasen, kaum war sie mit Hipp zusammen. Sie genoss diese seltenen Stunden, die zeitlose Ruhe in seinem Haus, seine Gelassenheit, die Gespräche, die mal albern waren und heiter, dann wieder tiefgründig und ernsthaft. Sie ließ sich gerne von ihm berühren, freute sich schon jetzt darauf, in seinen Armen einzuschlafen. Sie vermied es, mit ihm über ihre psychischen Probleme zu sprechen. Wahrscheinlich wusste er sowieso, wie es um sie stand. Er schien es immer zu wissen, vom ersten Moment ihrer Begegnung an.

 

Sabrina sah ihm zu, wie er den schneeweißen Speck in hauchdünne Scheiben schnitt. Er erwähnte, dass der Lardo* aus Colonnata in der Toskana stamme, einem kleinen Ort in den weltberühmten Marmorsteinbrüchen von Carrara, dass er aus dem Rücken von schweren Landschweinen gewonnen würde, raffiniert gewürzt, zum Beispiel mit Lorbeer, Nelken, Rosmarin, Zimt und Pfeffer, dann mit Meersalz in Trögen aus Carrara-Marmor eingelegt, wobei diese vorher mit Knoblauch ausgerieben würden, schließlich mit einem Marmordeckel beschwert und einer mehrmonatigen Reifezeit überlassen. Die Marmortruhen sähen aus wie kleine Särge.

Hipp röstete in der Pfanne einige Brotscheiben, rieb diese mit einer Knoblauchzehe ab, dann legte er die Lardoscheiben darauf und schob die Pfanne in den heißen Ofen …

»Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst«, stellte Sabrina fest, »es eröffnen sich völlig neue Perspektiven.«

Hipp schloss die Ofentür. »Erstens bedarf es der Richtigstellung, dass ich leider nur sehr einfache Gerichte zustande bringe, und auch das mit höchst ungewissem Ergebnis. Zweitens sind meine Kochversuche existenziell notwendig, da ich gelegentlich wie ein Einsiedler lebe, aber auf regelmäßige Nahrungszufuhr angewiesen bin. Drittens würde ich gerne wissen, welche Perspektiven meine küchenhandwerklichen Tätigkeiten eröffnen sollten?«

Sabrina lächelte. »Nun, unsere Beziehung hat sich intensiviert, seit ich nicht mehr in Kalifornien, sondern in Montalcino lebe …«

»Damit bist du mir schon bedrohlich nahe gekommen«, warf Hipp ein, wobei es Sabrina schwerfiel, seinen Gesichtsausdruck zu deuten.

»Für die Fahrt hierher, die ja einige Stunden in Anspruch nimmt«, fuhr sie fort, »muss es für mich gute Gründe geben. Bruschetta mit Lardoschinken und ein Wildschweingulasch stellen zweifellos einen gewissen Anreiz dar.«

Hipp lehnte lässig an der Wand, die Hände in den Hosentaschen, darauf wartend, dass der Lardo eine leichte Schmelze entwickelte. »Andere Motive als kulinarische sind auszuschließen?«, fragte er.

Sie hauchte ihm ein Küsschen zu. »Mir fallen keine ein. Dir vielleicht?«

»Nicht spontan«, gab er grinsend zurück, »aber da war noch was, ich kann mich dunkel erinnern.«

Er nahm die Pfanne mit den Bruschette aus dem Ofen, stellte sie auf ein Holzbrett und reichte Sabrina Messer und Gabel.

»Es ist angerichtet. Teller gibt’s für renitente Gäste keine, wir essen direkt aus der Pfanne.«

»Ist eh viel schöner.«

»Genau. Buon appetito!«

*

Es war spät am nächsten Vormittag, als Hipp aufwachte. Im Halbschlaf tastete er nach Sabrina. Vergeblich. Langsam dämmerte ihm, dass sie sich schon vor Stunden verabschiedet hatte. Danach war er wieder eingeschlafen. Warum auch nicht? Er hatte keine Termine. Und die Küche aufräumen, das konnte er später. Oder morgen. Noch hing ihr Duft im Bett, im Kopfkissen. Hipp drehte sich zufrieden auf den Rücken und sah an die Decke. Eigentlich ging es ihm nicht schlecht. Er hatte keinen Grund, sich zu beklagen. Die Freundschaft zu Sabrina war für ihn wie maßgeschneidert. Er war gern alleine, das ergab sich bei dieser Beziehung von selbst. Und er war gern mit ihr zusammen, auch das gelang immer häufiger. Er erinnerte sich, dass Sabrina gestern Abend scherzhafterweise von Perspektiven gesprochen hatte. Nun, welche Zukunftsaussichten ihre Beziehung hatte, war schwer zu sagen. Aber musste man immer klar definierte Erwartungen haben? Kam es darauf an, Ziele zu definieren, um sie dann doch nicht zu erreichen? Musste das Leben geplant werden? Lebensplanung, das war die Planung des Unplanbaren – also in sich selbst ein Widerspruch. Wenn das jemand wusste, dann er. Aber Träume, ja, die durfte man haben.

 

Hipp gab sich einen Ruck, stand auf und ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Im Vorbeigehen startete er das Notebook. In der Küche warf er die Espressomaschine an und machte sich einen Cappuccino. Zurück am Computer, checkte er seine eingegangenen E-Mails. Nichts von Belang. Abgesehen von einem erneuten Hilferuf von Hubertus Rettenstein. Der Mann schien wirklich unter Druck zu stehen. Schrieb was von einem vergifteten Wein, einer toten Katze und einem Parmesanmesser. Ziemlich verworren. Oder lag es an ihm? Vielleicht war er noch nicht so richtig wach und deshalb schwer von Begriff? Hipp ging zum Hocker am Kamin und nahm das Kissen vom Telefon. Kurz anrufen, das sollte er. Womöglich konnte er ihm einen Rat geben – und wenn es der war, zur Polizei zu gehen oder zu Viberti von den Carabinieri. Hipp gab die Nummer ein, hörte sich eine Minute das Freizeichen an, es nahm niemand ab. Er zuckte mit den Schultern und legte auf. Na gut, dann eben nicht. Er hatte seinen guten Willen gezeigt. Rettenstein würde auch ohne ihn klarkommen.

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6

Auch Maria Battardi versuchte, Rettenstein telefonisch zu erreichen. Immer wieder wählte sie seine Nummer. Dass er den Hörer nicht abnahm, kam ihr mehr als seltsam vor. Denn sie kannte seine Gewohnheiten, immerhin war sie seit Jahren seine Haushälterin. Maria wusste, dass Rettenstein keine Reise geplant hatte. Außerdem war Trüffelzeit, da fuhr er nie weg.

Eigentlich wollte Maria ihm nur sagen, dass sie sein Angebot nun doch annehme, seinen Vorschlag, eine weitere Woche freizunehmen. Zunächst hatte sie sich gesträubt, hatte erklärt, dass sie nach dem Tod ihres Mannes die Arbeit in seinem Haus als Ablenkung brauche. Aber Rettenstein hatte recht gehabt. Sie konnte einfach nicht, noch nicht. Zu wenige Tage erst waren vergangen, seit man Ildefonso im Wald erschossen aufgefunden hatte. Noch hatte sie keine Zeit für sich und für ihre Trauer gefunden, ständig gab es etwas zu tun – und wenn es nur darum ging, Beileidsbekundungen entgegenzunehmen.

Obwohl sie mit den Gedanken also ganz woanders war – bei ihrem verstorbenen Mann, bei den ungeklärten Umständen seines dramatischen Todes, bei lieben Freunden, die ihr kondolierten –, bereitete es ihr doch zunehmend Sorge, dass Rettenstein nicht ans Telefon ging. Nun gut, vielleicht war sie momentan etwas hysterisch, das mochte sein. Aber gerade weil ihre Nerven so angegriffen waren, wollte sie sichergehen, dass ihm nichts passiert war.

 

Mit ihrem Fiat Panda fuhr sie kurz entschlossen zur Enoteca ihres Bruders Carlo und fragte ihn, ob er den Laden zusperren und sie begleiten könne. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es besser sei, nicht alleine zu sein. Carlo Giardina hatte gerade keinen Kunden, und außerdem konnte er seiner Schwester in ihrer jetzigen Situation sowieso keinen Wunsch abschlagen. Also hängte er ein Schild mit »chiuso« an die Tür und stieg zu Maria ins Auto. Nur wenige Kilometer waren es von Neive* bis zu Rettensteins Haus in Altavilla, einer exklusiven Wohngegend oberhalb von Alba. Das schmiedeeiserne Tor war nur angelehnt, für Maria ein sicherer Hinweis, dass Rettenstein keine Reise angetreten hatte. Wie üblich parkte sie ihr Auto unter der Kastanie neben der Garage. Durch das kleine Fenster sah sie seinen Mercedes.

Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte. Irgendwas stimmte hier nicht, das fühlte sie. Vielleicht hatte ihr Padrone einen Schwächeanfall erlitten? Sie war schon immer der Meinung gewesen, dass er ungesund lebte – zu viel Grappa, zu viele Zigarren, zu wenig Bewegung. Carlo rüttelte an der verschlossenen Haustür. Dann folgte er Maria, die um die Ecke zum Nebeneingang eilte, für den sie einen Schlüssel hatte. In der Villa stellten sie fest, dass der Schlüssel für die große Tür von innen steckte. Sie riefen Rettensteins Namen, sahen im Wohnzimmer nach, im Schlafzimmer. Sein Reisekoffer war im Schrank. Die Brieftasche lag auf dem Nachtkästchen. Wo war eigentlich Sulawesi, seine geliebte Katze? »Micio, micio, micio …«, rief Maria. Na ja, wahrscheinlich war sie durch den Schlupf nach draußen, um auf Mäusejagd zu gehen.

 

Auf seinem Schreibtisch entdeckten sie ein Parmesanmesser. Carlo deutete fragend auf das Loch in der Arbeitsfläche. Es sah so aus, als ob es von dem kleinen kräftigen Messer herrühren würde. Maria zuckte ratlos mit den Schultern. Rettenstein konnte recht impulsiv sein, neigte zu gelegentlichen Wutausbrüchen, die er gottlob nie an ihr ausließ. Über irgendetwas musste er sich unbändig geärgert haben, da war er zu solchen Reaktionen fähig.

»Signor Rettenstein, dov’è? Signore …«

Im Degustationsraum angelangt, stieg ihnen ein immer intensiverer Weingeruch in die Nase. Er kam aus der offenen Tür, hinter der die Treppe in Rettensteins Heiligtum führte, in seinen Weinkeller. Das Licht brannte.

»Signore, è giù in cantina? Sind Sie da unten?«

Sie eilten die Stufen hinab, wobei ihnen der schwere Duft, der ihnen entgegenschlug, fast den Atem nahm.

Auf dem letzten Absatz blieben sie abrupt stehen. Carlo schlug die Hände vors Gesicht. Maria, die ihr Gleichgewicht zu verlieren drohte, musste sich am Geländer festhalten. »Dio mio«, flüsterte sie. Unter dem umgestürzten Weinregal, aus dem infernalischen Chaos zerbrochener Flaschen und Bretter, ragte Rettensteins Leichnam hervor, in einer klebrigen Brühe auf dem Rücken liegend, mit starren Augen und ausgebreiteten Armen. Eine abgebrochene Flasche hatte sich in seinen Hals gebohrt. Auf dem Etikett war deutlich eine blau-goldene Kompassrose zu erkennen.

Hubertus Rettenstein, der weithin bekannte Feinschmecker, Trüffelfreund und Liebhaber exquisiter Weine, er war ausgerechnet von seinem wertvollsten Regal erschlagen worden, jenem, in dem er komplett alle Sassicaia-Jahrgänge versammelt hatte – beginnend mit 1968.

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7

Die vergangenen Tage hatte Hipp damit verbracht, lange auszuschlafen, mit Sandro über den richtigen Zeitpunkt der Olivenernte zu philosophieren, mit der ENEL in Volterra zu telefonieren, um hinter die Ursachen der häufigen Stromausfälle zu kommen, ein Buch über die Etrusker und ihre Grabbauten zu lesen, Kaminholz zu schlagen, einige Weinflaschen einer Vergleichsdegustation zu unterziehen, die Reste des weißen Specks zu verzehren – und Sabrina zu versprechen, am Wochenende nach Montalcino zu kommen.

Dass er sich auf diesen Ausflug besonders freute, lag nicht nur in ihrer Person begründet, sondern, er schämte sich fast, dies zuzugeben, auch in der Wahl des Fortbewegungsmittels. Vor einigen Tagen nämlich hatte er sich zum Kauf eines Autos hinreißen lassen. Seine dreirädrige Ape, mit der er die Besorgungen vor Ort zu erledigen pflegte, war für längere Wegstrecken nun wirklich ungeeignet. Und Franco von der Bar Centrale hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass ihm sein privater Lancia nicht länger als »Leihwagen« zur Verfügung stehen würde – weder bei Voranmeldung noch in Notfällen. Das konnte er sogar verstehen. Dennoch hatte er den Erwerb eines Automobils lange hinausgezögert. Bis er kürzlich in einer Werkstatt bei Montescudaio den alten Alfa Romeo entdeckt hatte. Nicht irgendeinen Alfa, sondern eine offene Giulietta Spider, Baujahr 1961. Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Kein Wunder bei solch einer legendären Schönheit, deren blechernes Kleid Pinin Farina geschneidert hatte. Die in die Jahre gekommene Giulietta hatte nichts von ihrem Charme eingebüßt. Sie war von der Werkstatt restauriert worden, nicht ganz perfekt, aber laut Roberto »con molta passione«, mit großer Leidenschaft. Die zweisitzige Giulietta hatte vorne Einzelradaufhängung, hinten Starrachse, einen Motor mit oben liegenden Nockenwellen – und ein wunderbares Auspuffgeräusch.

Zweifellos war das Auto völlig unpraktisch, wahrscheinlich nur bedingt alltagstauglich, das Verdeck nicht dicht, der Motor alles andere als zuverlässig … Kurzum, die Giulietta entsprach genau seinen Vorstellungen! Sie brachte alle Attribute mit für eine leidenschaftliche Beziehung voller Höhepunkte und dramatischer Krisen. Roberto wollte noch den Vergaser einstellen, den Wasserkühler abdichten und die Bellezza auf Hochglanz polieren. Heute Nachmittag durfte er sie endlich abholen. Er würde anschließend in der Bar Centrale mit Franco auf die Giulietta anstoßen, im Kiosk die gesammelten Zeitungen der letzten Tage abholen, schließlich den Spider unter der Pergola parken, sich auf die Veranda setzen und in der örtlichen Tageszeitung, dem Tirreno, blättern.

 

Einige Stunden später hatte Hipp die Beine entspannt auf einem Hocker liegen, ein Glas Wein auf dem Tisch stehen, die Zeitungen auf dem Boden verstreut, und aus dem Haus war gedämpft eine Arie aus Puccinis Tosca zu hören. Die Giulietta erholte sich wie geplant unter der Pergola von ihrer ersten gemeinsamen Fahrt, die sie mit großer Bravour gemeistert hatte. Hipp entnahm den neu ausgestellten Fahrzeugpapieren, dass sie über 1300 ccm, 90 PS und eine Höchstgeschwindigkeit von 165 km/​h verfügte, was für seine beschaulichen Exkursionen völlig ausreichen sollte.

Er legte die Papiere zur Seite und nahm sich die nächste Ausgabe des Tirreno vor. Unkonzentriert las er, dass der Wasserstand der Cecina leicht gestiegen war, in Castellina Marittima war eine Straße abgerutscht, vor Livorno hatte eine Fähre ein Fischerboot gerammt. Da war schon interessanter, dass die Tenuta dell’Ornellaia nach erfolgter Weinernte überschwenglich die Qualität des Merlot lobte. Das berechtigte zu großen Hoffnungen.

Hipp wollte die Zeitung gerade zur Seite legen, da fiel sein Blick auf eine kleine Meldung unter der Rubrik varie.

»Scaffale di vini travolge Tedesco ad Alba«, las er die Überschrift, »Deutscher im Piemont von Weinregal erschlagen.« Zwei Zeilen später dann der Name des Unglücksopfers: Hubertus G. Rettenstein. Hipp setzte sich erschrocken auf. Rettenstein tot, erschlagen von einem Weinregal?

»Nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen geht die Polizei von einem tragischen Unfall aus. Alle Umstände sprechen dafür, dass Hubertus G. Rettenstein bei der Entnahme einer Flasche das hohe Regal in seinem Weinkeller zum Einsturz gebracht hat. Durch die Wucht ist der deutsche Staatsbürger in seiner Villa bei Alba zu Boden gerissen worden. Die dabei erlittenen Verletzungen haben sofort zum Tode geführt. Entdeckt wurde der Leichnam von seiner Haushälterin Maria B. und ihrem Bruder Carlo G.«

Das war’s. Hipp schloss die Augen, ließ die Zeitung sinken und die Nachricht auf sich wirken. Da versuchte dieser Rettenstein ihn tagelang zu erreichen, hatte in seinen E-Mails von einer Bedrohung geschrieben, der er sich ausgesetzt fühle, hatte behauptet, dass es um Leben und Tod gehe, dass man ihm Wein vergiftet habe … Und kurz danach war genau dieser Hubertus Rettenstein durch einen »tragischen Unfall« ums Leben gekommen? Hipp erinnerte sich an seinen Versuch, Rettenstein telefonisch zu erreichen. Er sah auf das Datum der Meldung. Kein Wunder, dass Rettenstein nicht abgehoben hatte, zu diesem Zeitpunkt war er schon tot gewesen. Ein »tragischer Unfall«? Hipp glaubte nicht an Zufälle, jedenfalls nicht an solche.

Er stand auf und ging ins Haus, um auf seinem Computer die E-Mails von Rettenstein aufzurufen. Wenig später stand er wieder auf der Veranda. Mit dem Fuß trat er gegen eine der Säulen. Und obwohl es überhaupt nicht seiner Wesensart entsprach, stieß er einen lauten Fluch aus. Er warf das Glas mit dem Wein in einen Ginsterbusch. »Porca miseria!« Warum nur hatte er auf Rettensteins Hilferufe nicht reagiert? Dabei spielte es keine Rolle, ob er ihm wirklich hätte helfen können. Aber sie einfach zu ignorieren, das war nicht in Ordnung gewesen. Weil ihm ein Gulasch vom Wildschwein und Bruschetta con lardo wichtiger gewesen waren? Nun gut, er war nicht auf der Welt, anderen Menschen zu helfen, nein, wirklich nicht. Es war gelegentlich schwierig genug, sich selbst zu helfen. Und er hatte diesem Rettenstein gegenüber keinerlei Verpflichtungen. Trotzdem, seit einigen Minuten fühlte er sich alles andere als wohl.

»Ich brauche dringend Ihre Hilfe«, zitierte er flüsternd aus Rettensteins erster Mail. Jetzt war es zu spät, er würde ihm nicht mehr helfen können.

Aber vielleicht war er ihm was schuldig?

Hipp setzte sich und stützte den Kopf in die Hände. Langsam reifte eine Entscheidung. Er musste herausfinden, ob Rettenstein wirklich Opfer eines Unfalls geworden war. Doch, das zumindest sollte er tun. Für ihn und für sich selbst. Sein Entschluss stand fest. Er würde den Besuch bei Sabrina verschieben, stattdessen die Giulietta volltanken und ihre Reisetauglichkeit auf die Probe stellen. Mit etwas Glück schien die Sonne, dann konnte er wenigstens offen fahren. Und eilig hatte er es auch nicht. Rettenstein war schon tot!

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8

Die Trüffel lag als Corpus Delicti auf einem braunen Packpapier. »Seit wann werden Trüffeln mit Schrot geschossen?«, fragte der Tourist aus Dänemark. Seine blonde Begleitung nickte zustimmend.

Viberti schmunzelte. Na, immerhin hatten die beiden Humor. »Wie kommen Sie denn darauf?«, antwortete er scheinheilig mit einer Gegenfrage. Dabei war ihm völlig klar, worauf sie hinauswollten.

»Sehen Sie hier!« Der junge Däne pulte mit einem Taschenmesser aus der Trüffel eine Schrotkugel hervor und zeigte sie triumphierend dem Maresciallo.

»Tatsächlich«, spielte Viberti den Überraschten, »eine Schrotkugel. Unglaublich, incredibile.«

»Die Trüffel wurde beim Kauf mit 80 Gramm gewogen«, sagte Soeren.

Viberti schüttelte den Kopf. »Non è possibile, dafür ist sie entschieden zu klein.«

»Sie wird noch kleiner, wenn man den Lehm wegbürstet«, sagte Lene, Soerens Freundin. »Sehen Sie hier, da sind tiefe Rillen in der Trüffel, die mit Erde zugekleistert sind.«

»Krallenspuren«, stellte Viberti fest.

»Wie bitte?«

»Das sind Spuren von Hundekrallen«, erklärte er, »so etwas kommt vor. Gelegentlich sind Trüffelhunde* etwas ungestüm.«

»Und dieses Loch hier?«

»Das wiederum dürfte eine Schnecke gewesen sein. Auch im Tierreich gibt es Feinschmecker.«

»Jedenfalls hat man uns betrogen, die Trüffel ist nicht einmal die Hälfte wert. Wir möchten Anzeige erstatten!«

»In Ordnung«, sagte Viberti. »Gegen wen?«

»Leider wissen wir nicht, wie der Mann heißt«, musste Soeren zugeben.

»Schade. Sie haben diese Trüffel ganz offiziell auf dem Trüffelmarkt, dem Mercato del Tartufo im Cortile della Maddalena erworben?«

Soeren sah den Maresciallo verlegen an. »Nun, nicht direkt. Das ist uns zu teuer. Wir haben diese Trüffel in einer Nebenstraße von einem Mann in einem grauen Sakko mit ausgebeulten Taschen gekauft.«

»Damit haben Sie erstens den Pfad der Tugend verlassen«, erklärte Viberti mit strenger Miene. »Zweitens haben alle Trüffelhändler in Alba Sakkos mit ausgebeulten Taschen. Diese Personenbeschreibung ist also völlig unzureichend …«

»Aber wir sind mit dieser Knolle doch ganz offensichtlich übers Ohr gehauen worden«, unterbrach ihn Lene mit einem treuherzigen Augenaufschlag.

»Drittens«, fuhr der Maresciallo unbeirrt fort, »ist dieser Tartufo keine Knolle, sondern ein Pilz von der Gattung der Schlauchpilze. Wenn Sie eine Knolle essen wollen, kaufen Sie sich eine Kartoffel.« Viberti beugte sich über die Trüffel, fächelte sich etwas Luft zu, nahm einen Bleistift zur Hand, drehte ihn um und drückte ihn leicht auf die Oberfläche. »Und viertens hat dieses Exemplar, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, seine beste Zeit längst hinter sich. Ich würde diese Trüffel nicht zum Verzehr empfehlen – mit oder ohne Schrotkugeln.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Lene und sah die Trüffel fast mitleidig an.

»Absolut sicher«, bestätigte Viberti, »zufällig bin ich ein Experte auf diesem Gebiet. Dieser Tartufo ist definitiv ein Fall für die Pathologie.«

»Für die Pathologie? Wie meinen Sie das?«

»Im übertragenen Sinne. Wäre dieser Tartufo ein menschliches Wesen, wäre er ein Fall für den Leichenbeschauer. Er ist sozusagen verstorben. Exitus. Finito! Sie verstehen?«

»Man hat uns eine Leiche verkauft«, flüsterte Lene.

»Umso schlimmer«, insistierte Soeren. »Wir möchten Anzeige erstatten!«

Viberti schüttelte den Kopf. »Ich würde dringend davon abraten. Sie müssten Stunden damit verbringen, meinem Appuntato beim Protokoll behilflich zu sein. Bedenken Sie doch, draußen scheint die Sonne, unsere Amtsstuben sind klein und stickig. Außerdem müssten wir Sie über die grobe Fahrlässigkeit Ihres Verhaltens aufklären. Auch dazu müssten wir ein Schriftstück aufsetzen. Weitere Stunden würde es in Anspruch nehmen …«

»Nein, wir ziehen unsere Anzeige zurück«, entschied Lene über Soerens Kopf hinweg. »Können wir jetzt gehen?«

Viberti machte eine großzügige Handbewegung Richtung Tür. »Naturalmente, amici. Mi dispiace, es tut mir leid. Sie wollten besonders schlau sein und Geld sparen. Das kann ich verstehen, ich war auch mal jung. Die nächste Trüffel kaufen Sie bitte auf dem Mercato del Tartufo. Da wird man Sie nicht betrügen.« Viberti hüstelte. »Nun ja, vielleicht ein kleines bisschen, das gehört zum Geschäft, aber nicht wirklich.«

Lene und Soeren standen auf, um zu gehen.

Der Maresciallo deutete auf die Trüffel. »Ich würde Sie bitten, dieses traurige Exemplar wieder mitzunehmen.«

»Was sollen wir damit machen? Sie sagten doch, die Trüffel sei zum Verzehr nicht mehr geeignet.«

»Werfen Sie den Tartufo in eine Mülltonne, gießen Sie ihn als Souvenir in Acryl, beerdigen Sie ihn würdevoll auf der Wiese hinter dem Parkplatz – aber tun Sie mir bitte einen Gefallen«, Viberti faltete die Hände, »nehmen Sie ihn mit! Dieser Tartufo stimmt mich depressiv.«

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9

Zunächst hatte Hippolyt mit Vernaccia und Cabernet geliebäugelt, mit Sangiovese di Romagna, Lambrusco*, Gutturnio und schließlich Barbera* und Moscato*. Nein, nicht um all diese Weine zu trinken, höchstens gelegentlich ein kleines Degustationsglas. Vielmehr hatte er seine Giulietta durch die Anbaugebiete steuern wollen, getreu der Maxime, dass der Weg das Ziel wäre. Er liebte die romantischen Strade dei vini, die durch die reizvollsten Landschaften Italiens führten. Der Vernaccia hätte ihn nach San Gimignano ins Elsa-Tal geleitet, von dort durchs Chianti Classico und an Florenz vorbei nach Carmignano, wo traditionell Cabernet Sauvignon angebaut wird. Dann den Apennin überquerend in die Emilia-Romagna*, der antiken Via Emilia folgend durch die Anbaugebiete des Sangiovese di Romagna und des oft zu Unrecht geschmähten Lambrusco, an Parma* vorbei in die Colli Piacentini mit dem roten Gutturnio. Schließlich in die Lombardei und ins Oltrepò Pavese, wo einen der Barbera schon aufs Piemont* einstimmte, dann nach Asti* mit den schäumenden Weinen aus der Moscato-Traube – und in die Weinberge bei Alba mit dem großartigen Barolo und dem nicht minder ansprechenden Barbaresco.

Recht bald aber hatte er diese reizvolle Streckenführung verworfen, sie war ihm dann doch zu zeitraubend und lustorientiert erschienen. Immerhin gab es für seinen Ausflug einen ernsten, einen todernsten Anlass. Entweder hatte sich Rettenstein durch einen makabren Unglücksfall ins Jenseits befördert, oder er war Opfer einer brutalen Gewalttat geworden. In jedem Fall erforderte es der Respekt, sich dem Ziel auf direktem Weg zu nähern. Also an dem Chianti der Colline Pisane und dem Vermentino bei La Spezia vorbei, durch die Cinqueterre, über Genua, den Cortese von Gavi ignorierend, unmittelbar ins Nebbiolo*-Gebiet.

 

Unter weitgehender Vermeidung von Autobahnen und Schnellstraßen, die ihm schon immer ein Greuel waren und erst recht nicht mit seiner neuen, aber gleichwohl altersschwachen Freundin Giulietta harmonierten, erreichte Hippolyt ohne jegliche Pannen die Langhe*. Er parkte den Alfa in Altavilla oberhalb von Alba in einer kleinen Ausbuchtung am Straßenrand. Kurioserweise lief der Motor eine Zeit lang weiter, obwohl er den Zündschlüssel schon abgezogen hatte. Als die Giulietta schließlich zur Ruhe kam, streichelte er ihre Motorhaube. »Braves Mädchen, brava piccola!«

Er war sich darüber im Klaren, dass es eigentlich wenig Sinn machte, auf gut Glück Rettensteins Villa zu besuchen. Der Hausherr würde ihm nicht öffnen können. Wann war er das letzte Mal hier gewesen? Vor zwei Monaten anlässlich einer vorzüglichen Weinprobe. Das musste man Rettenstein lassen, er hatte sich immer von seiner großzügigsten Seite gezeigt.

Hipp lief auf der Straße die wenigen Meter zum Eisentor, stellte fest, dass es nur angelehnt war, und betrat das Grundstück. Ein breiter Kiesweg führte hinauf zur Villa. Den kleinen Fiat, der neben der Garage stand, konnte er von hier nicht sehen. Die Haustür war verschlossen. Auch war kein Fenster offen. Es war still, totenstill. Hipp ging ums Haus herum, sah sich die Rosenstöcke an, die gepflegten Oleandersträucher, schlenderte zu einer Bank, setzte sich hin und dachte nach.

Wie er den Blick über die Wiese schweifen ließ, glaubte er am Rand zwischen zwei Zypressen ein kleines Kreuz zu erkennen. Er erhob sich und ging hinüber. Tatsächlich, ein Kreuz, wie es schien ganz neu, zusammengenagelt aus zwei schmalen Holzlatten, mit einem eingebrannten Namen: Sulawesi. Davor ein kleiner frischer Erdhaufen. Sulawesi? Eine indonesische Insel? Wer oder was war hier beerdigt worden? Ein Hund? Er erinnerte sich an Rettensteins letzte E-Mail. Nein, Sulawesi war …

»Scusi, Signore, ma che sta cercando? Questa è proprietà privata!« Die Stimme kam vom Haus und hatte einen energischen Ton. »Verlassen Sie sofort das Grundstück, oder ich hole die Polizei!«

Hipp drehte sich um und sah, wie in einem geöffneten Fenster im ersten Stock eine Frau gestikulierte.

»Mi dispiace«, entschuldigte er sich, »aber ich möchte Hubertus Rettenstein besuchen, ich bin ein alter Freund. Hippolyt Hermanus mein Name. Ist Hubertus da?«

»Signor Hermanus? Io mi ricordo di lei, ich erinnere mich an Sie, wir haben uns mal kennengelernt. Sie wollen den Padrone besuchen? Dio mio, Sie wissen es also nicht? Warten Sie, ich komme herunter.« Die Haushälterin bekreuzigte sich und schloss das Fenster.

Kurz darauf machte Maria Battardi die Eingangstür auf. Sie war bis auf rote Turnschuhe schwarz angezogen.

»Ist was passiert?«, spielte Hipp den Unwissenden.

Maria nickte. »Der Padrone, Signor Rettenstein, er ist tot.« Wieder bekreuzigte sie sich. »Ein tragisches Unglück, vor gut einer Woche. Gestern war die Beisetzung.«

Hipp sah Maria betroffen an. »Hubertus tot? Ich bin erschüttert. Deshalb auch Ihre Trauerkleidung, ich verstehe.«

Maria deutete nach unten. »Entschuldigen Sie meine Schuhe, sie sind unpassend. Aber ich trage sie immer bei der Arbeit. Die Trauerkleidung, nein, nicht wegen dem Padrone, das heißt, nicht nur wegen ihm, ich trage schon länger Schwarz. Vor einiger Zeit ist mein Mann verstorben.«

Jetzt war Hipp tatsächlich überrascht. »Mein aufrichtiges Beileid.« Und nach einer kurzen Pause. »Darf ich fragen, wie …?«

»Mein Mann oder der Padrone?«

»Signor Rettenstein, Sie sagten, er ist einem Unglück zum Opfer gefallen?«

»Sì, certo, ich selbst habe ihn gefunden, zusammen mit meinem Bruder Carlo. Er ist im Weinkeller von einem einstürzenden Regal erschlagen worden. Eine Tragödie.«

»Hubertus Rettenstein ist tot, erschlagen von einem Regal«, murmelte Hipp. »Sie haben recht, eine Tragödie. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich reinkomme?«

Maria zögerte. »Aber nur kurz. Ich möchte gleich gehen. Ich bin nur hier, um ein bisschen zu putzen und Ordnung zu schaffen. Sie können sich vorstellen, es war alles verdreckt, die Polizisten, Sanitäter, Journalisten, Fotografen, keiner hat sich die Schuhe abgeputzt, sie sind auf die Toilette gegangen, haben die Schüssel nicht saubergemacht, die dreckigen Handtücher auf den Boden geworfen, Espresso getrunken, die schmutzigen Tassen in die Spüle gestellt. Auf dem Boden in der Küche habe ich Glassplitter gefunden und Spuren von Rotwein. Alles kleine Schweine, Sporcaccioni! Und einen Teppich hat dieses Diebesgesindel auch mitgehen lassen, aus dem Flur.«

»Unglaublich. Könnte ich wohl ein Glas Wasser haben? Ich habe einen trockenen Mund. Das ist sehr freundlich, vielen Dank.« Auf dem Weg in die Küche fragte er: »Wer hat Sie eigentlich beauftragt, das Haus zu reinigen?«

»Niemand«, antwortete Maria. »Signor Rettenstein, er war ein guter Chef, er hat immer zum Monatsanfang gezahlt. Aber ich würde es auch umsonst machen. Ich war seit vielen Jahren seine Haushälterin. Was sollen die Erben von mir denken, wenn sein Haus so verdreckt ist?«

»Seine Erben? Wissen Sie, wer das ist?«

»Nein, keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht. Morgen putze ich noch die Fenster, und dann ist Schluss. Ich habe zu Hause genug zu tun. Der Tod meines Mannes, Sie verstehen?«

»Ja, natürlich. Sie tun mir wirklich leid. Ich hoffe, Sie werden damit fertig.« Er nahm das Glas und trank einen Schluck. Maria ließ ihn in der Küche kurz allein, um einen Besen zu holen. Die Zeit reichte ihm, eine spontane Idee in die Tat umzusetzen.

»Wer war Sulawesi?«, fragte Hipp, als Maria zurückkam.

»Seine Katze, er hat sie geliebt. Sie muss kurz vor ihm gestorben sein, er hat sie im Garten begraben. Sie haben ja das Kreuz gesehen. Ich habe es auch erst nach Rettensteins Tod entdeckt.«

»Seine Katze?« Hipp nickte. »Ich erinnere mich, ein schönes Tier.« Er stellte das Glas ab. »Ich will Sie nicht länger belästigen. Eine letzte Frage: Ob ich wohl kurz einen Blick in Rettensteins Weinkeller werfen dürfte, dort, wo er ums Leben gekommen ist?«

Maria schüttelte energisch den Kopf. »Bitte seien Sie mir nicht böse. Nein, das kann ich Ihnen nicht erlauben. Ich muss Sie jetzt wirklich bitten zu gehen. Ich hätte Sie wahrscheinlich gar nicht reinlassen dürfen. Ich sperre in wenigen Minuten alles ab, ich möchte nach Hause.«

Hipp verbeugte sich. »Selbstverständlich, Signora. Tut mir leid, dass ich Sie so überfallen habe. Ich bin immer noch völlig fassungslos. Rettenstein tot. Auch Ihr Mann. Sie haben mein Mitgefühl. Le mie condoglianze. Arrivederci, cara Signora. Le auguro ogni bene!«

 

Hipp versteckte die Giulietta auf einem kleinen Feldweg, beobachtete das Tor, bis er Maria wegfahren sah, stieg dann über die Mauer und lief erneut zu Rettensteins Villa. Das von ihm präparierte Küchenfenster ließ sich mit einem leichten Schlag aufstoßen. Er kletterte ins Haus, schloss das Fenster, ein Taschentuch verwendend, um Fingerabdrücke zu vermeiden, und atmete tief durch. Es war schon länger her, dass er sich als Einbrecher betätigt hatte. Er blickte auf den von Maria sorgfältig gereinigten Terrakotta-Boden, kontrollierte, ob seine Schuhsohlen sauber waren, kniete sich hin und inspizierte einige Fugen und Ritzen. Dann begann er ziellos durch das Haus zu wandern. Im Arbeitszimmer blieb er vor dem Notebook stehen. Er schaltete das Gerät ein, es gab kein Passwort, er war sofort drin. Unter »Gesendete Post« fand er die E-Mails, die ihm Rettenstein geschickt hatte. Ein Parmesanmesser in den Schreibtisch gerammt? Hipp sah auf die Arbeitsfläche. Richtig, dieses hässliche Loch in der Mitte mochte von einem solchen Messer herrühren. Ein vergifteter Wein, dem die Katze zum Opfer gefallen war? Nun, ihr Grab hatte er gefunden. Sozusagen ein Tierversuch mit letalem Ausgang. Aber wo war der erwähnte Drohbrief? Hipp durchsuchte die Schreibtischschubladen, ohne Ergebnis. Auch las er sich durch die aktuellen E-Mails. Er vermochte nichts zu finden, das in einem Zusammenhang mit Rettensteins Tod stehen könnte. Er nahm einen Speicher-Stick aus Rettensteins Arbeitsutensilien und kopierte die elektronische Post der letzten Wochen. Dann schaltete er das Gerät wieder aus und machte sich auf den Weg zum Weinkeller. Die Tür war unverriegelt. Außerdem stammte das Schloss aus dem späten Mittelalter, er hätte es mit einem Stück Draht aufgebracht. Nicht nur er, auch jeder andere. Hipp schaltete das Licht ein und ging die Stufen hinab. Es roch nach Wein, aber leider auch nach Putzmittel. In einer Ecke waren die Überreste des Regals gestapelt, in mehreren großen Plastikwannen fanden sich Scherben und zerbrochene Flaschen. Wie Hipp feststellte, handelte es sich tatsächlich um Sassicaia. Einige Flaschen schienen das Unglück überlebt zu haben. Sie standen aufgereiht auf dem gescheuerten Boden, der aber gleichwohl Spuren von eingesickertem Rotwein erkennen ließ. Hipp zuckte mit den Schultern. Hier hatte Maria so konsequent Ordnung gemacht, dass beim besten Willen nichts mehr zu erkennen war. Selbst der obligatorische Kreidestrich fehlte, der die Umrisse des Leichnams markierte. Er ging wieder hinauf, machte das Licht aus, schloss die Tür, setzte sich im Wohnzimmer einige Zeit in den großen Ohrensessel, dachte nach – und verließ schließlich das Haus durch die Küche, das Fenster hinter sich zuziehend.

Wäre er auf dem Weg hinunter zur Mauer plötzlich und unerwartet stehengeblieben, hätte sich rasch umgedreht und zu dem Schuppen mit den Gartengeräten geblickt, dann hätte er wahrscheinlich bemerkt, dass er nicht alleine war. Aber Hipp blieb weder stehen, noch sah er sich um.

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10

Die große Lagerhalle der Firma Delicatezze dall’Italia, die der Einfachheit halber auch unter Delita firmierte, befand sich vor den Toren Parmas, verkehrsgünstig gelegen an der Autobahn, die von Mailand nach Bologna führte. Hier waren die feinsten italienischen Spezialitäten gelagert: Prosciutto di Parma*, Parmigiano Reggiano*, Mortadella, Ricotta, getrüffeltes Olivenöl, Aceto Balsamico Tradizionale* di Modena. Hinzu kamen Fische und Meeresfrüchte, Wein … Alles für den Export bestimmt, bevorzugt nach Deutschland, nach Österreich und in die Schweiz, zunehmend auch in die Ostmärkte, nach Russland, sogar bis nach China.

Die Geschäftsleitung von Delita residierte im Centro storico von Parma*, jener alten Residenzstadt, die einst von den Farnese regiert wurde, später zum Herrschaftsbereich der Bourbonen zählte und heute als Zentrum der italienischen Nahrungsmittelindustrie gilt. Die Büros lagen im ersten Stock eines klassizistischen Altbaus in unmittelbarer Nähe der Piazza Garibaldi. Ugo Zorzi und sein österreichischer Partner Amedèo Steinknecht gönnten sich diesen Luxus schon deshalb, weil sich das Flair Parmas auf ihre Kunden aus nördlicheren Gefilden durchaus verkaufsfördernd auswirkte. Außerdem schätzten sie für ihr eigenes Wohlbefinden die vielen Straßencafés und Trattorien in der unmittelbaren Nähe. Und wenn die Geschäfte mal nicht so gut liefen, dann konnte man in der Pfarrkirche Madonna della Steccata eine Kerze stiften, bei größeren Problemen gab es entsprechend teurere und wirkungsvollere Kerzen im Duomo Santa Maria Assunta. Aber Zorzi und Steinknecht hatten schon länger keine Kerzen mehr stiften müssen, Umsatz und Gewinn entwickelten sich prächtig.