Visit Beautiful Vietnam - Günther Anders - E-Book

Visit Beautiful Vietnam E-Book

Günther Anders

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Beschreibung

»Wenn unser Überleben auf der Tagesordnung steht, dann werden Bücher, wie die von Günther Anders, benötigt, die das Bewusstsein verbreiten und stärken, dass wir – vielleicht – die Grenze unserer Existenz erreicht haben« Aus der Urkunde des Theodor-W.-Adorno-Preises 1983 Im Vorwort der Erstausgabe schrieb Günther Anders: "Nicht unmöglich, dass sich durch das Gelingen der vietnamesischen Offensive die Lage radikal zum Guten wendet, oder – wer weiß? – durch den Einsatz taktischer nuklearer Waffen radikal zum Schlimmen wenden werde. Und durchaus nicht undenkbar, dass sich unter Umständen die Frage erheben wird, ob denn die hier vorgelegten Analysen (unterstellt, sie seien zur Zeit ihrer Niederschrift gültig gewesen) auch heute noch gültig seien." Angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, ist man geneigt, diese "Vermutung" zu bejahen. Denn ersetzt man "vietnamesische Offensive" mit "ukrainischer Offensive" und denkt beim "Einsatz taktischer nuklearer Waffen" nicht an amerikanische (was seinerzeit nicht unmöglich war und dann doch nicht stattfand, obwohl amerikanische Militärs darauf gedrängt hatten), sondern an russische, dann haben die Äußerungen des Philosophen Anders etwas sehr "Realpolitisches".

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Seitenzahl: 445

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Günther Anders um 1965

Günther Anders

Visit Beautiful Vietnam

ABC der Aggressionen(damals wie heute)

Mit einem Nachwort von Bernd Greinerherausgegeben von Gerhard Oberschlick

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2023

Abbildung Seite 2: Porträt Günther Anders. Foto Simony, Nachlass Günther Anders, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Signatur ONB Lit 237/S75.

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-645-7

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-161-2

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Inhalt

Vorbemerkung des Herausgebers

Visit Beautiful Vietnam

ABC der Aggressionen heute

Vorwort in letzter Minute. März 1968

Vorwort zu „Eskalation des Verbrechens“. 1971

Visit Beautiful America

Visit Beautiful Vietnam

A B C

Ableugnung durch Zugeständnis | Angeblich | Anklage eingeengt | Ante | Apologetische Vorbemerkung | Die Ärmsten | Segen der Autarkie | Unerlässlicher Avantgardismus

Basically Haters | Beides oder nichts | Betrug vermittels falscher Sprachform | Beurteilung durch Verurteilung | Bewährungen | Blamage

Wir Chamberlains | Crimes Before The Crime | Crimes Within A Crime | Christening I | Christening II

Dankbarkeit | Divina Commedia | Damm-Preise | Demokratie | Dialektik der Größe | Die dreifache Beschädigung | Dry Up The Water

Egal | Der Ehrenschutz | Die Ehrung | Die Eigenschaften | Eiszeitgedanken | Entspannung | Erbarmen für Jedermann | Nicht der Erpresser, der Erpresste ist schuldig | Establishment | Exploitierte Spieler

Falsche Bundesgenossen | Farben-Lehre von heute: Schwarz vor Gelb wird Weiß | Feigheit als Fairness | Feindschaft heute | Fliegende Hengste | »Freigeben« | Freiheit | Freiheit hüben und drüben | Der Friedensfürst

Gangster | Das Gebet von heute | Gegen-Maquisards | Genocid – kein heutiger Kriegsakt ist nicht-genocidal | Geographie der Moral |Gesichtslos | Gleiches Recht auf Unrecht | Gnade | God’s Own Country | Der missbrauchte Gott | Good Kills | Gott als Diffamierungsgerät | Gratis | Grenzen des Herstellbaren | Gutes Gewissen | Offizielle Gewissensforschung

Hochmuth kommt vor dem Fall oder They’ve Had It | Harmonie | Die Hauptsache | Das heilige Leben | Das höchstindustrialisierte Land der Welt, | Was Humanität ist I | Was Humanität ist II | Was Humanität ist III

Ideologielosigkeit | Immoralität, deren Definition | Logik der Infamie | Die fünf Inferioritäten

Johnson, sich selbst dem Papst überreichend

Komplizen | Der konsumierte Krieg | Konterrevolutionäre Dialektik | Auf den Kopf gestellt | Die schlimmste Korruption | Kriecherei | Der Kühne

Das Laboratorium | Der Lebensretter | Johnsons Lippen | Unliquidierbare Liquidierung | Lob der Amerikaner – derer, mit denen wir uns solidarisieren | Love Your Enemies | Die Obsoletheit der Lüge | Die Wahrheit lügen | Lüge unter Spießgesellen überflüssig | Der Luxus

Mad Minute | Das Massaker | Das zweite Massaker | Menschlichkeit, deren Definition | Moden | Das monströseste Datum | Moralistsein heute | Mord im Dom | Mores beibringen | Sed morti | Mündige und Unmündige | Was Mut ist

Nahe | Nicht der Käufer, der Verkäufer ist schuldig | Nicht mehr lügen | Noch nicht einmal scheinheilig | Nuancen | Die Nehmer | It Never Occurred To Me | Nothing To Hide | Nur | Nur monströs

Offener Brief | Only Abroad

Panik | Lob der Plumpheit | Plural und Singular | Politik ohne Bart | Über das Protestieren | Pyrrhussieg

Rationalisierung | Die Regel und die Ausnahme | Das Reifezeugnis | Ein reizvoller Platz | Segen des Reproduktionszeitalters I | Segen des Reproduktionszeitalters II | Die Rettung | Das Reue-Geschäft | Rüstungsindustrie und Entrüstungsindustrie

Schizophrenie | Sanitation | »Säuberungen« und Säuberungen | Saving Face I | Saving Face II | Schande – der Preis der Würde | Schlimmer als das Morden selber | Schönheit | Sich wehren beweist Schuld | Das Land der unbegrenzten Sensationslosigkeiten | Siege und Niederlagen | Die Sieger | Spiel und Ernst | Spielchancen | Spuk | Der Sturmbannführer von heute | Symbolische Kontingente und Symbole des Kontingenten

Tauben, Habichte und Zwischenvögel | Die Test-Niederlage | Todeskuss | Truth Begins At Home

Unilateralität | Das Unscheinbare

Verändern genügt nicht | Was nicht vergessen werden darf | Vergeudung heute | Verkehrstote | Vernichtungen | Verraten – Doppelsinn des Verbums | Der Versager | Verräter heute | Dialektik der Verspätung | Das versteckte Verstecken | Zum Verzweifeln | Vokabelsoziologie | Das Vorzugsrecht | Voyeurs

Unwahre Wahrheit | Die Lüge wahrmachen | We’re All Ears | Klimax der Wahrhaftigkeit | Was geschont wird | Was obszön ist | Der Widerruf | Wiedergutmachung

Zielverfehlung als Ziel | Zwischenfälle | Drei Zeugen

Abermals Visit Beautiful Vietnam

Den Frieden vom Zaun brechen (1969)

Frieden vom Zaun brechen

Verrat macht ehrlich

Warnung vor Falschem

Die Legende vom schönen Missbrauch

Dialektik des Sieges

P. S. Dezember 68

Skandal der Ehrlichkeit

Imperialismus und Kampf dagegen oder Philosophisches Wörterbuch heute

Die Auslassung

Dialektik der Gleichzeitigkeit

Manövertote

Die Legende vom schönen Missbrauch

Es lohnt sich nicht mehr

Das höchste Opfer

In wessen Händen das Schicksal Vietnams liegt

Dialektik der Rückeroberung

Lustmord und Mordlust

The Patience of Hope

Advocatus Diaboli

Der Hinterhalt

Zusammenfassung aller amerikanischen Vietnam-Nachrichten und -Kommentare vom Sommer 1967 bis Sommer 1968, inklusive aller offiziellen

Dialektik des Sieges

Gegengewalt, leider

Violent Non-Action

Dialektik des Esoterischen

Hungerkünstler

Verschämte Happenings

Unsere Mörder

Streik-Ersatz

Schreien erlaubt, reden verboten

Bernd GreinerNachwort: Zur Aktualität von Günther Anders …

Drucknachweise

Vorbemerkung des Herausgebers

Den weltweiten Protesten gegen den Vietnamkrieg verlieh Günther Anders eine gewichtige Stimme.

Sein eingehendes, alphabetisch geordnetes Werk von 1968 über die Untaten der USA im Vietnamkrieg »Visit Beautiful Vietnam« wird hier in einer erweiterten Neuedition vorgelegt:

In dessen Alphabet wurden nun die 13 neuen Abschnitte des ebenso aufgebauten Büchleins »Eskalation des Verbrechens« von 1971 einsortiert.

Beide Vorworte, das »Vorwort in letzter Minute« der Erstausgabe und die »Vorbemerkung« des zweiten Buches, sind der Neuedition vorangestellt.

Zwei weitere Texte, »Den Frieden vom Zaun brechen« sowie »Imperialismus und Kampf dagegen oder Philosophisches Wörterbuch«, sind als Ergänzung in den Band mit aufgenommen.1

An die Aggression der USA gegen Vietnam zu erinnern, eignet sich nicht zur Relativierung der Aggression Russlands gegen die Ukraine. Vielmehr zeigt sich, dass Anders’ Kritik mutatis mutandis, also im Grundsätzlichen, gleichermaßen für beide gilt.

Für sein abschließendes »Nachwort: Die Aktualität von Günther Anders« – gut auch als Einführung zu empfehlen – ist Bernd Greiner herzlich zu danken.

Wien, im Februar 2023

G. O.

1Für alle Drucknachweise siehe S. 327.

Den Studenten und denjenigen jungen Gewerkschaftlern,

die durch ihre Entschlossenheit,

weder sich selbst noch andere

betrügen oder missbrauchen zu lassen,

zur Hoffnung für morgen geworden sind,

und die durch ihren Mut

auch uns Ältere

vor der Entmutigung bewahren.

März 1968

Visit Beautiful Vietnam

ABC der Aggressionen heute

Vorwort in letzter Minute

März 1968

Ursprünglich hatte ich es nicht für erforderlich gehalten, dieser Sammlung von Grundsatzglossen eine Bemerkung vorauszuschicken. Was ich noch vor zwei Monaten, als ich die im Laufe der letzten drei Jahre gesammelten Kommentare zum Vietnamkrieg dem Verleger übergab, als überflüssig betrachtet hatte, das erweist sich nun, da sich die Situation durch den massiven Gegenangriff der Vietnamesen auf den amerikanischen Angreifer täglich verändert, als ratsam. Nicht unmöglich, dass sich durch ein Gelingen der vietnamesischen Offensive die Lage radikal zum Guten, oder – wer weiß? – durch den amerikanischen Einsatz taktischer nuklearer Waffen radikal zum Schlimmen wenden werde. Und durchaus nicht undenkbar, dass sich unter diesen Umständen die Frage erheben wird, ob denn die hier vorgelegten Analysen (unterstellt, sie seien zur Zeit ihrer Niederschrift gültig gewesen) auch heute noch gültig seien.

Ich glaube: ja. Und zwar aus folgendem Grunde.

Nahezu alle hier aufgestellten Thesen beziehen sich auf die Mentalität des heutigen Imperialismus. Wie der Leser schon nach der Lektüre von nur wenigen Seiten erkennen wird, unterscheidet sich diese Mentalität fundamental von der des Imperialismus der Vergangenheit – was vor allem auf die Attitüden zutrifft, die der heutige, in Vietnam sein Exempel statuierende Imperialismus, gegenüber Wahrheit und Lüge einnimmt. Diese neuen Attitüden werden durch die Veränderung der strategischen und taktischen Lage, die in der jüngsten Zeit eingetreten ist, nicht berührt. Ebenso wenig werden natürlich deren Charakterisierungen dadurch tangiert. Im Gegenteil: die hier gelieferten Momentaufnahmen des heutigen Imperialismus gelten nicht nur »noch«, viel eher »schon«. Ich sage »schon« deshalb, weil Vietnam ja, wie Johnson, Rusk etc. zu betonen nicht müde geworden sind, einen Modellfall darstellt, d. h.: weil auch andere, wenn nicht alle unterentwickelten Völker eine Vietnamartige Behandlung zu gewärtigen haben, sofern sie sich nicht (womit wohl nicht zu rechnen ist) durch das ihnen vor Augen geführte Testbild von Dezimierung dazu bringen lassen, auf ihre Freiheitsbewegungen und auf ihr Ziel nationaler Unabhängigkeit zu verzichten. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass, wie immer der Ausgang dieses einen und gewissermaßen »ersten« Vietnamkrieges ausgehen wird, die Mentalität der Aggressoren konstant bleiben wird. Da wir also »Vietnams« im Plural in anderen Ländern Asiens, Afrikas, Mittel- und Südamerikas zu erwarten haben (über die Frage, ob viele gleichzeitige »Vietnams« im Sinne von Che erwünscht sind oder nicht erwünscht, ist durch deren Erwartung noch nichts präjudiziert), wird die Analyse der hinter der heutigen Aggression stehenden Mentalität, sofern diese heute wahr ist, auch morgen und übermorgen wahr sein. An Aktualität haben meine Thesen leider vorerst nichts eingebüßt, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Aktualität morgen oder übermorgen einbüßen werden, die ist leider ebenfalls gleich Null.

Dies trifft auch für jene Stücke des Buches zu, die nach dem Beginn der vietnamesischen Gegenoffensiven im Jahre 1968 geschrieben wurden. Diese Abschnitte fügen sich – wie die anderen Einzelstücke durch den aktuellen Anlass, auf den sie Bezug nehmen, zeitlich ohne weiteres erkennbar – der eigentlichen Absicht der Sammlung ohne Zäsur ein. Verleger und Verfasser ziehen es als möglich in Betracht, diesem Bande einen zweiten, gleichfalls aus täglichen Analysen und Grundsatzglossen zusammengesetzten folgen zu lassen.

Vorwort zu „Eskalation des Verbrechens“

19711

Die Aufzeichnungen von Günther Anders, die zu einem Teil einem 1968 beim Pahl-Rugenstein Verlag, Köln, erschienenen Buch »Visit Beautiful Vietnam – ABC der Aggressionen heute« entnommen sind, zu einem anderen Teil hier zum ersten Male in einer Buchveröffentlichung gedruckt werden, hängen in sich logisch mit den beiden Büchern aus der Feder des österreichischen Kulturphilosophen zusammen, die der Union Verlag 1965 und 1969 veröffentlicht hat: »Der Mann auf der Brücke«2 und »Die Schrift an der Wand«.3

Die antifaschistische Frontstellung, im frühen Engagement gegen den Nazismus und in der Emigration authentisch bezeugt, und die Aufdeckung der moralisch-politischen Verwüstungen als Ergebnis der Atomwüsten von Hiroshima und Nagasaki werden in diesen Aufzeichnungen von dem Moralisten Günther Anders aufgehoben in der zugleich philosophisch verallgemeinerten und politisch zugespitzten Entlarvung der imperialistischen Aggression gegen das vietnamesische Volk.

Im persönlichen Gespräch im Winter 1969 erklärte Günther Anders dem Verfasser, dass er die ihm zur Verfügung stehenden Kräfte auf zwei Ziele konzentriere, auf die Weiterführung seines philosophischen Werkes und auf die Aufdeckung der amerikanischen Verbrechen in Vietnam, überhaupt in Südostasien. Er fügte mit Nachdruck hinzu, dass er sich in dieser Haltung auch nicht habe beirren lassen, als 1968/69 durch die Einleitung der Pariser Verhandlungen bei manchen Illusionen oder sogar euphorische Stimmungen aufgetaucht seien. Son My habe hinter solche Haltung mehr als ein Fragezeichen gesetzt.

Die Entwicklung der amerikanischen Politik in Südostasien Ende April, Anfang Mai 1970 hat ein übriges getan, um die von Anders eingenommene Position als die einzig richtige zu bezeichnen, die Position nämlich des unermüdlichen Kampfes gegen die amerikanische Aggression bis zur endgültigen Niederlage des Imperialismus.

Die Einordnung der neuen Texte von Günther Anders in die aus den Jahren 1966/67 (aus dem Kontext ist jedesmal ersichtlich, aus welchem Zeitraum der jeweilige Text stammt) erfolgt unter Berücksichtigung des Alphabets, das im Sinne von Gattis »V wie Vietnam«, also »Victory wie Vietnam«, durchgegangen wird, und zeitigt so die gründliche Aufdeckung der Kontinuität der amerikanischen Verbrechen am vietnamesischen Volk.

Es spricht für das politische Engagement des Philosophen, dass er seit Jahren unermüdlich im Kampf gegen die »Aggression heute« (nicht nur im Russel-Tribunal) steht, und es spricht für den militanten Friedensfreund und Kriegsgegner, dass er sein Engagement auch im theoretischen Reflektieren der Probleme bewährt, die sich aus der amerikanischen Aggression gegen Vietnam ergeben. Sowohl hinsichtlich der Substanz der hier gedruckten Überlegungen als auch im Blick auf ihre formale Gestalt (Aphorismen, Glossen, essayistische Entwürfe, appellative Notizen) ergibt sich die politische und zugleich philosophisch-literarische Relevanz des Vorgehens von Günther Anders. Es bezieht sich nicht auf die »Antiquiertheit des Menschen« (wovon sein philosophisches Hauptwerk handelt), sondern auf die Antiquiertheit und damit Menschenfeindlichkeit des Imperialismus.

Verbrechen vor dem Verbrechen, Verbrechen im Verbrechen (also Eskalation des Verbrechens) – mit diesen begrifflichen Fixierungen, die alles andere als geistreiche Wortspiele sind und sein wollen, geht es Anders darum, die Totalität des imperialistischen Verbrechens zu erfassen, und zwar die Totalität der verbrecherischen Politik im Ganzen wie im Detail, denn schließlich ist Son My nichts Exzeptionelles, sondern nur etwas besonders Typisches gewesen. Anders hat überdies mit dem Hinweis auf das Verbrechen vor dem Verbrechen die großen Gefahren des kalten, des psychologischen Krieges anvisiert, des Krieges vor dem Kriege, der heute im Grunde schon die wesentlichen Merkmale des Krieges aufweist; der Weg von der psychischen Vernichtung des Menschen zur physischen ist ein kurzer, und er wird offenbar immer kürzer.

Anders hat sich in seinen philosophischen Bemühungen immer auch auf sprachphilosophische Aspekte orientiert. Dies ermöglicht ihm, in seinem politisch-philosophischen Engagement das »ABC der Aggression« durchzugehen, die Fälle der Sprache von Menschenfeinden zu deklinieren, die verräterischen syntaktischen und verbalen Schnitzer und Unschärfen als taktische Varianten einer das Verbrechen mit vielen schönen Worten beschönigenden imperialistischen Position zu enthüllen, aber er vermag auch die durch häufigen Gebrauch schon manchmal nicht mehr identifizierte Brutalität in der Sprache des kalten Krieges als solche zu diagnostizieren.

Wenn er hierbei (gerade auch im Blick auf amerikanische und westeuropäische Propagandaerzeugnisse und auf die dort übliche Interpretation von Begriffen wie Macht, Gewissen, Gerechtigkeit, Freiheit) das Instrument, ja die Waffe der Ironie bis zur letzten Konsequenz gebraucht, muss man ihn in der Traditionslinie der großen gesellschaftskritischen Polemiker sehen. Diese Feststellung gilt auch für die Anwendung von Begriffen wie »Viet Congs«. Anders weiß natürlich genau, dass dies ein »verächtlicher und abfälliger Ausdruck« für die Befreiungsfront ist. Und so ist er bestrebt, derartige Begriffe umzufunktionieren.

In seinen erregenden Aufzeichnungen, gerade auch in den sprachphilosophischen, weist Anders über den unmittelbaren Anlass seines Einsatzes hinaus. Denn was Verbrechen vor dem Verbrechen und im Verbrechen angeht, zieht sich auch der Imperialismus von heute keine Grenzen; im Gegenteil: Ihm geht es in globaler Strategie und lokaler Taktik um die Interdependenz seiner die Menschheit und das Menschsein gefährdenden Politik. Und Anders geht es immer von neuem um die Entlarvung dieser Politik. Würde er Gelegenheit gehabt haben, für das hier vorliegende Buch inzwischen bekannt gewordene Tatsachen in ihrer Substanz freizulegen, er hätte auf ein schier unerschöpfliches Material zurückgreifen können. Man denke nur an die Kontakte zwischen dem faschistischen Gouverneur Wallace und Calley, daran, dass der Mörder von Son My die Rechte an seinen »Memoiren« für 100.000 Dollar verkauft hat, dass er 50.000 Dollar für eine Artikelserie in »Esquire« erhielt, die in dem Satz gipfelte: »Ich bin nur ein Finger, ein kleiner Teil eines Frankenstein-Monstrums.« Vor allem aber denke man an Tatsachen, die zum Kern »eines Falles wie diesem« führen. So war es, wie erst Ende 1970 bekannt wurde, General Westmoreland, der nach Son My telegrafierte: »Glückwunsch den Männern und Offizieren für großartige Aktion.« Und so sind es im Februar 1971 die amerikanischen Aggressoren, die ihren Einfall in Laos damit begründen, dass mit dieser Invasion der Krieg »vietnamisiert« werden solle. Genügend Material für den Analytiker der Sprache des heutigen Imperialismus (wie es Klemperer für die LTI war).

Anders wäre nicht Moralist, wenn er nur analysierte. Seinen Analysen immanent ist der Appell, der Appell an alle humanistischen Kräfte (gerade auch unter uns Christen, denen er in seinen Aufzeichnungen böse Erscheinungen des Missbrauchs des Christentums vorführt), dem Verbrechen zu wehren, allen Verbrechen, denen vor, denen im Verbrechen und ihm natürlich selbst, der Appell aber auch an alle humanistischen Kräfte, sich zu vereinigen, damit der Imperialismus nicht die Gelegenheit hat, das ABC seiner Aggression bis zum bitteren Ende buchstabieren zu können.

1Diese Vorbemerkung eines nicht genannten Autors hatte Anders, wenn nicht selbst verfasst, so doch jedenfalls statt eines Vorwortes genehmigt, und wir folgen hier seinem Beispiel.

2Jetzt in: »Hiroshima ist Überall«, München 1982, S. 1–189.

3Jetzt erster Teil in : »Tagebücher und Gedichte«, München 1985, S. 1–268; zweiter Teil, um zwei Abschnitte erweitert, in: »Besuch im Hades«, München 1996.

Visit Beautiful America

Vielleicht wäre der Titel »Visit Beautiful America« für diese unsere Grundsatzglossen angemessener gewesen als der Titel, den wir tatsächlich gewählt haben. Denn – machen wir uns keine Illusionen – die heute wirklich gültige Frontlinie verläuft nicht mehr zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse, sondern zwischen den herrschenden und den beherrschten Völkern. Die Vereinigten Staaten beweisen das aufs deprimierendste, da es dort ja keine Gruppe gibt, die so loyal hinter dem von ihrer Regierung geführten Zerstörungskrieg stünde wie die Gewerkschaften. Nichts ist diesen lieber, als, obwohl selbst in einem vom Kriege verschonten Lande lebend, doch in eine Kriegswirtschaft integriert zu sein; nichts willkommener, als zu wissen, dass die Produktion der von ihnen Tag für Tag erzeugten Produkte durch prompten Verschleiß garantiert bleibt; nichts angenehmer, als dass dadurch ihre eigene Kaufkraft ständig gesteigert und dadurch sogar auch die Konsumgüterindustrie mitangehoben und dadurch wiederum weiteren Arbeitern Arbeit verschafft wird; dass andererseits durch ihre regelmäßige Massenproduktion von Waffen viele virtuelle Arbeiter oder Arbeitslose als Soldaten außer Land, wenn nicht sogar in einem endgültigeren Sinne zum Verschwinden gebracht werden – nichts also ist den Arbeitern in Amerika willkommener als Johnsons imperialistischer Krieg, der auch sie zu Kriegsgewinnlern macht.

Nein, Proletarier in Vietnam (oder in welchem have-not-country immer der nächste Vietnam-artige Aggressionskrieg organisiert werden wird) – darauf, dass die Proletarier der Aggressionsländer Solidarität für Euch verspüren oder gar durch Streiks beweisen werden, darauf rechnet unter gar keinen Umständen! Für sie existiert Ihr nicht. Selbst in jenen Ländern, die aus der Aggression auf Euch und Euresgleichen noch keine direkten Vorteile ziehen, solidarisieren sie sich bereits mit denen, die Euch angreifen, selbst dort hassen sie bereits jene Intellektuellen, jene Einsichtigen, die Eure Sache, die Sache Eurer Befreiung und die des Friedens zu ihrer eigenen Sache gemacht haben. Und wenn Ihr im Mekongdelta oder in Hué zugrundegeht, also tatsächlich »inexistent« werdet – Eure angeblichen Kameraden in den Aggressionsländern, die dortigen Arbeiter, die weinen Euch ebenso wenig Tränen nach, wie die Unternehmer, in deren Produktionsstätten sie arbeiten. Nein, »Proletarier« sind sie nicht mehr, sondern die Komplizen Eurer Feinde, Und Komplizen nicht nur deshalb, weil sie, wie in früheren Kriegen, als Soldaten gegen Euch ausgeschickt werden – dafür können die wenigsten von ihnen –, sondern gerade als Arbeiter. Macht Euch keine Illusionen! Zwar gibt es in Amerika nur wenige Flecke, wo Präsident Johnson, ohne sich gefährdet zu fühlen, auftreten könnte. Aber einen Platz gibt es: denjenigen, wo die Gewerkschaftskongresse stattfinden. Und wenn Ihr über das Radio zufällig Ovationen für den aus dem blutgedüngten Vietnam zurückkehrenden Johnson gehört habt, dann hattet Ihr zufällig die Station Miami aufgedreht und jenen enthusiastischen Applaus vernommen, den die letzte AFLCIO-conference ihm bereitet hat.4

»Proletarier aller Länder«? Nein, auf deren Vereinigung hofft nun nach 120 Jahren nicht mehr, höchstens auf die Vereinigung der proletarischen Länder. Und auf die Solidarität und Bundesgenossenschaft derjenigen Männer und Frauen in den nichtproletarischen Ländern, die das Spiel durchschaut haben, das der heutige Kapitalismus spielt, und die den Mut gefunden haben, umgeben von ihnen feindlichen Millionen ein Nein zu riskieren.

4Siehe Martin Hall, Widersprüche auf der amerikanischen Szene, Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 68, S. 177/180.

Visit Beautiful Vietnam

– Jawohl: »Besuchen Sie das schöne Vietnam«, so heißt es in der Broschüre, die das vietnamesische Reisebüro herausgegeben hat, und so noch im Januar 1967. Der Ruf ist in der Tat nicht im Leeren verhallt. Obwohl man annehmen sollte, dass diejenigen Häuser, die von den amerikanischen Militärs noch nicht demoliert worden sind, von diesen überfüllt seien, hat sich offenbar doch noch genügend Raum für zusätzliche Eindringlinge gefunden, denn die Zahl der Touristen hat sich im Jahre 1966, während die Napalmbomben fielen, während Dörfer in Flammen aufgingen und die Kinder sich in Gelee verwandelten, verdoppelt, sie ist von 22.000 auf 45.000 gestiegen, das St. Moritz von Vietnam, Dalat, 200 km von Saigon entfernt, genießt als Höhenkurort besondere Beliebtheit, die rasche Flugverbindung zwischen Saigon und dort funktioniert nach wie vor – kurz:

»Relax in Dalat!«5 – Wer es dagegen mehr auf Kultur abgesehen hat, mehr auf Photos als auf Hautbräunung, der begibt sich etwas weiter, in die ehemalige Residenzstadt von Annam, nach Hué, um dort die Tempel und die Paläste der ehemaligen Könige zu knipsen, oder um sich – denn auch die Anmut asiatischer Jungfrauen ist als Kulturwert ja nicht zu verachten – von jungen Mädchen auf dem Hué-Fluss herumrudern zu lassen – kurz: »Be a Pasha in Hué!«6 – während, ein paar Kilometer von dort entfernt, die Napalmbomben fallen, die Dörfer in Flammen aufgehen, und die Kinder sich in Gelee verwandeln.7

5Entspann in Dalat!

6Sei ein Pascha in Hué!

7Ähnliches gilt von Südkorea, dessen eine Million Kriegstote bergender Friedhofsboden nun zum beliebten Reiseziel geworden ist. Nach amtlichen südkoreanischen Quellen betrug die Zahl der Touristen, die im Jahre 1966 Südkorea besucht haben, 45.000.

A B C

Wenn wir uns – und die Gefahr existiert z. B. in der Antiatombewegung – auf die Bekämpfung der »Atomwaffen« beschränken, dann blamieren wir uns als ABC-Schüler unserer Epoche, als Schüler, die bei A steckengeblieben sind. Manche Leute glauben, dass die B- und C-Waffen, die bakteriologischen und die chemischen oder die neuen mechanischen Waffen wie der »lazy dog«,8 deren Produktion heute blüht, und deren Testlaboratorium Vietnam von Tag zu Tag größer wird – dass diese Waffen nicht so direkt den Untergang der Menschheit herbeiführen wie die atomaren Waffen und deshalb weniger gefährlich seien. Das ist eine furchtbare Selbsttäuschung. Entscheidend ist nämlich, dass diese neuen Waffen nur deshalb als »nur relativ gefährlich« und »konventionell« klassifiziert, wenn nicht sogar als »human« in Kauf genommen werden, weil es die Totaldrohung der Atomwaffen gibt; weil diese Drohung zum Maßstab geworden ist; weil, was heute als »human« gilt, von der Atombombe bestimmt wird. In anderen Worten: die Herstellung und die tägliche Erprobung und Verwendung der neuen Waffen in Vietnam finden unter dem Schutz der atomaren Drohung statt. Diese ist in der Tat ein »Schild« – aber wahrhaftig nicht in dem Sinne, in dem das Wort gewöhnlich von den Managern der öffentlichen Meinung verwendet wird. Denn was durch die Atomdrohung beschützt wird, ist nicht etwa der Friede oder die Menschheit, sondern die Produktion jener Vernichtungsmittel, deren Effekt nicht total ist. Und diese Funktion der Atomwaffen: die Funktion, die Herstellung der anderen Waffengattungen zu beschützen, die haben wir genauso energisch zu bekämpfen wie die Atomwaffen selbst.

8Ungelenkte, nicht explosive Projektile mit 13mm Durchmesser, 44mm lang, 13,4g schwer, wurden im Zweiten Weltkrieg, im Koreakrieg und im Vietnamkrieg von Flugzeugen abgeworfen.

Ableugnung durch Zugeständnis

Es gibt verschiedene Methoden der Ableugnung des Massakers von Son My. Die raffinierteste besteht darin, dieses Massaker zuzugestehen, dies jedoch in einer Sprache zu tun, die den Hörer (vermutlich auch den Sprecher) vergessen lässt, von was für einer Art von Geschehen die Rede ist. Diese Methode kann sowohl totaler Phantasielosigkeit wie glatter Infamie entspringen. Welche Wurzel wir bei den Äußerungen des amerikanischen »Verteidigungsministers« Laird unterstellen sollen, das können wir nicht entscheiden; aber was zählt, ist, dass er über das Gemetzel so gesprochen hat, als habe es sich dabei um das Benehmen eines Schülers gehandelt, der sich durch Nägelkauen oder Ähnliches vergangen hat. Wer würde bei Lairds Ausspruch: »I am not pleased with a case like this« (»Ich bin nicht gerade glücklich über einen Fall wie diesen«) – wer also würde da auf den Gedanken kommen, dass es sich dabei um ein Massaker handle? Schon dadurch, dass er dieses Massaker als einen »Fall« anspricht, verschiebt er es in eine Sphäre, in der es noch andere solcher Fälle geben könnte. Zwar, erfreut ist der Mann über das Blutbad nicht, aber da er es (wenn schon »Fall«) nicht »diesen Fall« nennt, sondern »einen Fall wie diesen«, beweist er, dass er in seiner Rede von Massaker nicht mehr bestimmte Männer meint, die an einem bestimmten Platz in einer bestimmten Stunde bestimmte Männer, Frauen und Kinder liquidiert haben, sondern nur ein Beispiel, also etwas ganz Unblutiges und Abstraktes.

Grundsätzlich formuliert: Verharmlosen kann man Wichtiges oder Entsetzliches auf zwei, einander entgegengesetzte Manieren: einmal durch Partikularisierung, dadurch, dass man einen Fall als einzigen hinstellt, als die Ausnahme, die die Regel bestätige – das hat Präsident Nixon getan. Oder durch Typisierung: dadurch, dass man den Einzelfall unter einem Allgemeinbegriff subsumiert, wodurch man die Wichtigkeit und Entsetzlichkeit des Partikularen, um das es sich handelt, abschwächt oder auslöscht. Dies ist die Methode von Laird gewesen.

Wer gut in Sprache hineinzuhorchen versteht, der könnte freilich bei Lairds Redensart »ein Fall wie dieser« auch auf den Gedanken kommen, dass der »Verteidigungsminister« bereits von anderen Fällen dieser Art gehört habe. Soviel ist jedenfalls klar: Nicht allein, ob einer die Wahrheit spricht, zeigt an, ob er wahrhaftig ist; sondern ob einer die Wahrheit auf wahre Art ausspricht.

Angeblich

Es gibt kein Wort, das betrügerischer wäre als das Wort »alleged« (»angeblich«). Seit Wochen bringt nun International Herald Tribune täglich ganze Seiten über das Massaker in Son My, Zeugenaussagen, Stellungnahmen, Bilder. Trotzdem nennt sie das Blutbad noch am 3. Dezember 1969 »angeblich«. Die Tatsache, dass der Umbruchredakteur zwei Zentimeter neben dieses nur »angeblich« genannte Blutbad ein Photo eben dieses Blutbades platziert hat, stört offenbar niemanden in der Redaktion der Zeitung, und vermutlich ebenso wenig irgendeinen Leser. Man muss halt beides bringen: 1. Die Augenzeugenberichte und Bilder – denn täte man das nicht, dann verzichtete man auf den Wettbewerb mit anderen Blättern, 2. aber muss man, solange noch nicht alles bewiesen ist, alles auch durch das Wort »angeblich« in der Schwebe halten; und dass noch nicht alles bewiesen sei, das kann man ja stets mit dem Tone der Verantwortlichkeit behaupten, gerade dass man das behauptet, verschafft einem ja das Aussehen von Seriosität. So bringen es die Blätter zustande, alles Peinliche zugleich mitzuteilen, und es dennoch denjenigen, die gerne zweifeln möchten, als zweifelhaft und ungültig hinzustellen. Und das gilt eben sogar von demjenigen Blatte, das nicht nur »angeblich«, sondern wirklich das seriöseste Blatt der Vereinigten Staaten ist: International Herald Tribune.

Anklage eingeengt

Natürlich ist heute für die am Verbrechen des genocidalen Krieges bzw. am Verbrechen der Fortführung des genocidalen Krieges Schuldigen keine Aufgabe so wichtig wie die, das »Massaker von Son My«, statt es als natürlichen Teil des Gesamtverbrechens zu verstehen, als ein privates Verbrechen hinzustellen und die eigenen Hände in Unschuld zu waschen. An diese Aufgabe ist man daher sofort gegangen – und nicht ergebnislos. Tatsächlich ist es nämlich gelungen, dem Oberleutnant Calley nur wenige Tage, nachdem man ihn des Massenmordes an 109 südvietnamesischen Zivilisten9 angeklagt hatte, einen zusätzlichen Mord anzuhängen. Einen Monat vor dem »Massaker« soll er in der Provinz Quang Ngai einen Zivilisten grundlos erschossen haben. Natürlich sind wir außerstande, zu dieser neuen bzw. älteren Untat Stellung zu nehmen. Das ist auch völlig überflüssig. Was interessant ist und zählt, ist allein, wie man diese Untat »verwendet«. In der Tat ist, von einer »zusätzlichen« Untat zu reden, irreführend. Diese addiert sich nicht etwa zu dem Massenmord in Son My, so dass dieser nun etwas anschwillt; umgekehrt benutzt man den einen Einzelmord, um den Massenmord von 109 nach dessen Vorbild zu verstehen, um diesen also in 109 Einzelmorde zu zerlegen und dadurch den Täter – etwas Besseres hätte der Anklagebehörde gar nicht in den Schoß fallen können – in einen normalen, wenn auch durch das unalltägliche Ausmaß seiner Leistung ungewöhnlichen »Kriminellen« verwandeln zu können. Natürlich sei es nicht zu vermeiden, dass in die sonst nur aus »clean cut boys« bestehenden Streitkräfte auch einmal Mörder hineingeraten.

Auch für die Behandlung des Publikums zu Hause ist es sehr praktisch, dass man dem Massenmörder auch einen Einzelmord hat nachweisen können. In den Augen der meisten ist nämlich ein Mann, der Einen umbringt, auf viel überzeugendere Weise ein Krimineller als einer, der 109 umbringt. Und das nicht nur deshalb, weil 109 Ermordete vorzustellen die Vorstellungskraft der meisten übersteigt, sondern umgekehrt und beinahe paradoxerweise auch deshalb, weil ein Unternehmen, dem 109 zum Opfer fallen, in der Zeit der Napalmteppiche und der Atombomben mit ihren Millionen von möglichen Opfern einen normalen, sogar einen bescheidenen militärischen Akt darzustellen scheint. Ein Umgebrachter dagegen – da sieht man: Es handelt sich um einen Kriminellen, und das zu zeigen, das ist ja, wie gesagt, das Hauptanliegen, damit der Gedanke, dass dieser Krieg selbst das Verbrechen darstellt, innerhalb dessen das Massaker nur ein »crime within a crime« ist, im Keime erstickt wird. Vermutlich wäre es der Anklagebehörde am willkommensten gewesen, wenn sie Calley außerdem noch hätte nachweisen können, dass er einmal silberne Löffel gestohlen oder wegen Trunkenheit am Steuer gesessen habe. Gleichviel: Auch ein Mord erfüllt die Aufgabe, die hier im Vordergrunde steht.

Die Überschrift der kurzen Meldung aus der Wiener Presse vom 1. Dezember 1969 lautete: »Anklage ausgedehnt« – was im ersten Augenblick den Eindruck erwecken könnte, man habe nun den Kreis der Schuldigen erweitert, wer weiß, vielleicht sogar Vorgesetzte von Calley oder deren Vorgesetzte, kurz: auch Washington in den Umkreis der Schuldigen mit hineingezogen. Wenn der für diese Überschrift verantwortliche Redakteur statt des gewählten Titels den anderen: »Anklage eingeengt« gewählt hätte, dann wäre er der Wahrheit wohl näher gekommen. Denn worauf es der Anklagebehörde, dem Pentagon und der Regierung ankommt, ist eben, die Tat in die enge Sphäre der Privatheit zu relegieren, damit die »Ehre« des wirklichen Verbrechens: eben des von den Amerikanern tausendfach und methodisch durchgeführten Genocids »rein« erhalten bleibe.

Ante

Es ist absurd, dass wir die Ereignisdaten der römischen und der griechischen Geschichte mit Hilfe einer auf den Kopf gestellten christlichen Skala festlegen, also Ereignisse dadurch kennzeichnen, dass sie fünfzig oder fünfhundert Jahre vor Christi Geburt, mit der sie nichts zu tun gehabt hatten, stattgefunden hatten. Auf eine derartige Umkehrung der Skala haben allein wir das Recht: denn wir leben in der Tat »ante«. Freilich nicht vor einer Geburt, sondern vor einem Ende.

Apologetische Vorbemerkung

dass ich in den folgenden Seiten von »Viet Congs« spreche statt von – wie sie sich selbst nennen – Viet Minh oder F.L.N., dass ich diese Bezeichnung verwenden muss, ist bereits das Zeichen einer Niederlage. Denn das Wort »Viet Cong« (das eine verdorbene Version von »Vietnamese Commie« darstellt) ist ein verächtlicher und abfälliger Ausdruck, es entspricht den Ausdrücken »Jud« oder »Nigger«. Es ist tief deprimierend, dass man, um sich überhaupt verständlich zu machen, diese Vulgärausdrücke mitverwenden muss. Aber die Vulgären, die diese Ausdrücke geprägt und eingeführt haben, haben eben mindestens als Sprachregler so gründlich gesiegt, dass selbst wir, wenn wir die Erniedrigten und Beleidigten und sich zur Wehr Setzenden in Schutz zu nehmen versuchen, auf die beleidigenden Ausdrücke nicht mehr verzichten können.

Die Ärmsten

Wer klagt an?

Wir? Wir, das Russell-Tribunal?

Wir haben das nicht nötig. Wir sammeln, überprüfen und publizieren die Unterlagen.

Das Anklagen überlassen wir den Amerikanern selbst.

Denn es gibt keine Anklage, die furchtbarer wäre, als jener amtliche amerikanische Bericht über die 77.000 Tonnen von Bomben, mit denen die Armee Johnsons im Monat März 1967 Vietnam auszurotten, bzw. die Freiheit der freien Welt zu retten, versucht hat. Es gibt keine Bezichtigung, die unwiderlegbarer wäre, als die Selbstbezichtigung der Amerikaner.

77.000 Tonnen. Was bedeutet diese Ziffer?

Dass Korea, das monatlich nur den Abwurf von 17.000 Tonnen zu erdulden gehabt hat, in seinen schlimmsten Tagen ein glückliches Land gewesen sein muss.

Und dass England in den entsetzlichen Tagen des »Blitzes«10 sogar ein gesegnetes Land gewesen sein muss, da ja das Tonnage-Quantum, das während der gesamten fünfjährigen Dauer des zweiten Weltkrieges über dem Lande niedergegangen war, geringer gewesen war als das Quantum, das nun monatlich auf Vietnam niederregnet. Nein, es kann kein Tribunal geben, das fähig wäre, die Amerikaner so niederschmetternd anzuklagen, wie sie sich selbst angeklagt haben.

Voll Angst und voll Mitleid fragt man sich: Wie um Gottes willen wollen sich die Johnsons, die Rusks, die McNamaras und die Westmorelands – wie sollen sich diese Ärmsten gegen diese ihre Bezichtigung verteidigen?

Segen der Autarkie

Als »autark« gelten Länder bekanntlich dann, wenn sie auf Importe von auswärts nicht angewiesen sind und ausschließlich heimische Produkte konsumieren. –

Offensichtlich bildet sich heute bei den amerikanischen Truppen in Vietnam ein neuartiger Typ von Autarkie aus. Im Unterschiede zu den Soldaten früherer Kriege, zu jenen Beklagenswerten, die dazu verurteilt gewesen waren, in fremden Ländern, deren Eroberung und Verwüstung ihnen aufgetragen worden war, von fremder Speise zu leben und durch fremdartige und in der Fremde hergestellte Waffen zugrundezugehen, genießen die heutigen amerikanischen Soldaten nicht nur die Chance – diese war ihnen ja auch schon im zweiten Weltkriege vergönnt gewesen – überall und gleich in welchem Dschungel ihr heimatliches Coca-Cola zu trinken und ihre heimatlichen Pin-up-Busen zu beäugen, sondern sogar die, überall und gleich in welchem Dschungel, den American way of Death, den heimatlichen Tod zu konsumieren: nämlich heimischen Erzeugnissen zum Opfer zu fallen, Erzeugnissen, deren Erwerb sie selbst (als Steuerzahler) mitfinanziert hatten, die dann (was ja eigentlich tröstlich ist) von fellow-Americans back home produziert worden waren, und die dann schließlich, wiederum von fellow-Americans, spediert und den südvietnamesischen Alliierten übergeben worden waren. Durch welche Manipulationen diese Produkte schließlich bei den Viet Congs landen,11 ist eine Frage für sich, auf jeden Fall ist dadurch, dass die amerikanischen Waffen in die Hände der Gegner fallen, dafür Sorge getragen, dass »alles schön in der Familie« bleibe, da nun ja außer den Produzenten und Spediteuren des Todes auch dessen Konsumenten Amerikaner sind. Trotz des Umwegs über Viet Congs, oder richtiger mit Hilfe der Viet Congs, bleibt das Monopol der Waffenherstellung und das Ideal des autarken Konsums aufrechterhalten.

Das Geschoss, das Mac als Steuerzahler mit möglich gemacht hatte, war dann nicht nur von einem seiner Brüder hergestellt und von einem seiner Schwäger nach Vietnam gebracht worden, sondern schließlich auch von ihm selbst – nämlich durch den Akt seines Sterbens – konsumiert worden.

Dazu kommt ferner, dass der Gegner durch seine Verwendung der in den USA erzeugten Waffen jede Produktions-Stagnation dort verhindert, dass er die Amerikaner dazu zwingt, weiter zu erzeugen, und zwar nicht nur mehr Exemplare der bereits verwendeten und bewährten Waffentypen, sondern auch (da die Aufgabe nun ja darin besteht, die eigenen, in die Hände des Feindes geratenen Waffen zu schlagen) auch neue und bessere Waffentypen. Kurz: Amerika hat nun die Chance, mit sich selbst in Konkurrenz zu treten. – Wenn es in diesem Akkumulations-Mechanismus jemanden gibt, der unser Bedauern verdient, dann allein der arme Feind, da dieser ja nicht ahnt, welch unentbehrliche Rolle er spielt: dass er nämlich, und dazu noch unbezahlt, als ein Angestellter der amerikanischen Industrie funktioniert. Denn soviel ist gewiss: ohne seine tägliche Mitarbeit (durch die freilich dann und wann auch ein Amerikaner zugrundegeht – aber in welchem Betrieb gäbe es keine Arbeitsunfälle?) wäre die tägliche Steigerung und Verbesserung der amerikanischen Produktion nicht gesichert. Man sollte Gott danken für seine Feinde. Neulich hat Johnson einen Sonntag zum »Tage des Gebets« bestimmt. Wäre es nicht vielleicht angezeigt, Herr Präsident, einen späteren Sonntag einmal zum »Tag des Dankes an die Feinde« zu bestimmen?

Ebenso wenig vergessen sollte man schließlich den Segen der menschlichen Fehlgriffe. Nichts geht über Defekte. Zuweilen gelingt es der American Army nämlich, die ihr vom Viet Cong zufällig nicht gestohlenen Waffen dadurch aufzubrauchen, dass sie ihre eigenen Kontingente samt deren Waffen attackiert – Irrtümer, die nicht nur menschlich sind, sondern, wie gesagt, auch sehr lohnend, da ja durch sie, genauso wie durch die Kämpfe mit Viet Congs, sowohl die Waffen der Angreifenden wie die der Angegriffenen (in beiden Fällen amerikanische, oft identische Typen) aufgebraucht werden; deren Weiterproduktion also endgültig verbürgt bleibt.

Unerlässlicher Avantgardismus

Gewisse Taufen können gar nicht früh genug stattfinden. Dass der »dritte Weltkrieg«, obwohl er ja noch nicht zur Welt gekommen ist, heute bereits seinen Namen trägt, und dass er bei diesem seinem pränatalen Namen sogar schon rund um den Erdball bekannt ist, das ist vollkommen berechtigt. Denn wer sollte ihn denn, wenn er erst einmal da ist, und wenn er erst einmal die Welt, zu der er gekommen ist, zerstört hat, benennen? Und wer ihn als »dritten« abzählen?

9Warum gerade 109, das bleibt, da die Zahl der in Son My Liquidierten 500 übersteigt und da es in solchen Fällen unmöglich ist, individuelle Opfer individuellen Exekutoren zuzuordnen, ein Geheimnis.

10In England wurden nachträglich die Luftangriffe auf Belfast (7. April bis 6. Mai 1941) als »Belfast Blitz« und diejenigen auf London und englische Häfen (21. Jänner bis 29. Mai 1944) als »Baby Blitz« bezeichnet.

11Eine AP-Meldung vom 13.11.1966 besagt, bis zu 40% der Hilfsfonds der USA und der von diesen nach Südvietnam beförderten Güter werden gestohlen oder vergeudet.

Basically Haters

Nach dem großartigen Erfolg der »Spring Mobilization« 1967 gegen den Angriff auf Vietnam – und von einem großartigen Erfolg darf man wohl schon deshalb sprechen, weil sie Hunderttausende auf die Beine gebracht hat – sah der Chairman der North California Section of SANE offenbar keine dringlichere Aufgabe, als die, von dieser Massenkundgebung so weit wie möglich abzurücken. Zu diesem Zwecke gab er die Erklärung ab, die Organisatoren dieser Mobilization seien »basically haters«, also »im Grunde nichts als Hasser«. Recht hat er. Das sind wir.

Aber seit wann ist es denn, sofern man das Übel hasst: z. B. das Genocid und die Teilnahme am Genocid; und sofern man die Üblen hasst: z. B. diejenigen, die uns dazu zwingen, am Genocid teilzunehmen, und diejenigen, die die Tatsache ihres Genocids verschleiern – seit wann ist denn eine Schande, derartiges und derartige zu hassen? Gibt es denn etwas Hässlicheres und Gehässigeres, als seine Mitmenschen, ohne deren Hassmotive und Hassgegenstände anzugeben, als Hasser zu verleumden? Und etwas Hassenswerteres, als wenn der Verleumder, der sich selbst ja als Friedensfreund bezeichnen würde, mit seiner Verleumdung sich bei denen akzeptabel und lieb Kind zu machen versucht, die den Krieg nicht bekämpfen? Oder sogar bei denen, die diesen mit anheizen? Oder sogar bei denen, die diesen erzeugen?

Nein, Gehässigeres, Hässlicheres und Hassenswerteres ist schwer vorstellbar. Aber natürlich auch nichts Praktischeres. Denn ein Zeitgenosse, der einmal als »reiner Hasser« klassifiziert worden ist, der gilt nun damit natürlich als einer, der (wie es im Idioten-Idiom heißt) »im rein Negativen stecken geblieben« ist. Was automatisch zur Folge hat, dass dessen Antipode, also der Kriegslüsterne, zum Repräsentanten des sog. »Positiven« (was immer das sein mag), wenn nicht sogar der Liebe, aufrückt. Ein größerer Dienst als der, den dieser Chairman von SANE den »Habichten« erwiesen hat, kann diesen wohl kaum erwiesen werden.

Beides oder nichts

Die Einsichten Carmichaels,

• dass der Kampf gegen den Krieg in Vietnam und für Civil Rights einer und derselbe ist;

• dass es moralisch inkonsequent, deshalb letztlich erfolglos, ist, für diese Rechte zu kämpfen, wenn man sich zugleich als ein Gerät des Imperialismus, also dazu benutzen lässt, die Lebensrechte anderer Völker zu zerstören;

• und dass man erst recht nicht für die eigenen »Civil Rights« eintreten kann, wenn man andererseits als Berufssoldat, z. B. als Offizier, die Rechte anderer Völker bedroht oder zerstört –

diese Einsichten, dass man sich für die zwei Ziele: für die eigene Gleichberechtigung und für die Entrechtung anderer nicht zugleich einsetzen kann, die sind für die Mehrheit der farbigen Bevölkerung leider alles andere als selbstverständlich. Die ungeheure Beliebtheit Martin Luther Kings scheint, als dieser bei den Spring Mobilization-Demonstrationen spät aber doch seiner unzweideutigen Opposition gegen den Vietnamkrieg Ausdruck gab, mindestens erst einmal geringer geworden zu sein. Nicht nur sehen die (in Dialektik natürlich genauso wenig wie die Weißen eingeübten) Farbigen nicht, dass sie sich dazu entschließen müssen, entweder für Civil Rights und Kriegsende in Vietnam zugleich einzutreten, oder für keines von beiden Zielen; sondern sie glauben sogar, dass, wer wie Martin Luther King an der »Stop-the-War-in-Vietnam«-Bewegung teilnehme, seine Energien, die er eigentlich ausschließlich seiner eigenen Bewegung widmen sollte, zerstreue und vergeude. Trauriges Beispiel für diese Einsichtslosigkeit: Joseph McNeil, der vor sieben Jahren, im Jahre 1960, als erster ein sit-in in einem Lokal in North Carolina, in dem er als Farbiger nicht bedient worden war, organisiert und dafür Arrest-Strafen riskiert hatte. Es ist zum Verzweifeln, aber dieser selbe McNeil hat nun seine Karriere in der Luftwaffe gemacht, dieser selbe McNeil erklärt nun, dass er stolz darauf sei, als Offizier bereits mehr als vierzig »Combat Support Missions« über Vietnam hinter sich zu haben, und dass er sich nun als ein »Military Man« fühle, der – man traut seinen Ohren nicht – spüre, dass er dort »something worthwhile«12 zu tun habe. Worthwhile indeed.13

Die Tatsache, dass er die Freiheit, für die er als Civil-Rights-Man eingetreten war, und die er auch heute noch erhofft, ruiniert, die ist ihm nicht nur unerkennbar geworden, vielmehr findet er, dass »wir« (worunter er nun die United States versteht) den Krieg, da »wir« nun einmal in diesem stecken, auch durchfechten und gewinnen müssen – ein Argument, das die Gegner der Civil-Rights-Bewegung natürlich mit dem gleichen Recht verwenden könnten. Außerdem findet er aber auch, dass die Civil-Rights-Bewegung noch immer viel zu langsam vor sich gehe. Wenn das Letztere zutrifft (und natürlich trifft das zu), dann hat er das nicht zuletzt sich selbst vorzuwerfen. Denn als Kämpfer in Asien zerstört er, im Unterschiede zu Carmichael, der den Zusammenhang erkannt hat, die Bewegung, für die er sich angeblich einsetzt; jeder Schuss, den er in Vietnam feuern wird, wird »backfire«14 und einen der Seinen in den Vereinigten Staaten treffen.

Betrug vermittels falscher Sprachform

Wo Schuldige unterschlagen werden sollen, da werden deren Aktionen als selbständig funktionierende Prozesse hingestellt. »Der Vietnamkrieg droht«, so behauptet die Wiener »Presse« vom 23. August 1966, »sich immer mehr auf weitere Länder Hinterindiens auszudehnen.« Offenbar ist dieser Krieg ein selbständiges Wesen, das sich von sich aus ausdehnen kann, nein, sogar die noch raffiniertere Fähigkeit hat, mit Selbstausdehnung zu drohen. Wenn solche Ausdehnung automatisch vor sich geht, dann ist sie natürlich höchst gefährlich. Kein Wunder also, wenn die Amerikaner darauf reagieren. Was umso berechtigter ist, als ihre Reaktion den höchsten moralischen Erfordernissen genügt. Der übernächste Satz in diesem Zeitungstext teilt nämlich nicht nur mit, dass die Amerikaner auf Grund der mysteriösen Selbstausdehnung, vermutlich um diesen beunruhigenden Vorgang unter Kontrolle zu halten, fünf militärische Flugplätze anlegen, vielmehr »haben die USA« – auch heute gibt es eben noch wahre Selbstlosigkeit – »wie am Montag aus informierten Kreisen in Bangkok verlautete, beschlossen, für die Kosten der Vergrößerung von fünf militärischen Flugplätzen in Thailand aufzukommen.« –

Hut ab! Man stelle sich das vor! Da dehnt sich also aufs unheimlichste und ohne alle Schuld Amerikas in Vietnam ein automatischer Krieg aus. Und die armseligen USA, die doch weiß Gott nicht dazu verpflichtet wären, sich um diesen fernen Kontinent zu kümmern, die springen ein, so als wäre das fremde Land ihr eigenes Land, um dort den sich automatisch ausdehnenden Vietnamkrieg in Schach zu halten. Also diese Leute greifen in die eigene Tasche und lassen harte Dollars springen, damit es in einem fernen Lande Flugplätze gebe.

So sehen Vietnamkrieg-Nachrichten in führenden Zeitungen Europas aus. Als Quellen für diese eine Nachricht hat die Presse gleich die ap, afp, dpa, upi und reuter zusammen zitiert. Die Meldung kann also nicht nur nicht falsch sein, vielmehr strahlt sie sogar die fünffache Wahrheit der fünf Agenturen aus.

Beurteilung durch Verurteilung

Nichts einfacher als zu beurteilen, ob jemand ein Viet Cong ist oder nicht. Man braucht den Mann oder die Frau nur zu töten. Jeder Tote beweist nämlich durch seinen Tod, dass er ein Viet Cong gewesen sein muss.

Bewährungen

Tugenden bewähren sich erst dann als perfekt, wenn sie auch in den heikelsten Situationen durchhalten. Das gilt auch von den tugendreichen Amerikanern, genauer: von deren Tugend der Sparsamkeit. Nachdem diese nämlich, so berichtet Paul Meadlo,15 der im März 1968 in Son My dabei gewesen war, zu Beginn des Massakers die Einwohner des Ortes mit ihren automatischen M-16-guns niedergemäht hatten, begann sich doch das Gewissen eines tugendhaften Sergeanten zu rühren. Derartige Geschoßverschwendung bei der Erschießung von Frauen und Kindern sei einfach unverantwortbar. Um also Munition zu sparen, befahl er, nunmehr auf Einzelfeuer umzustellen, d. h. nicht mehr zu »streuen«, sondern jedes menschliche Zielobjekt mit einem eigens für dieses bestimmten Schuss zu erledigen. Was die gehorsamen GIs auch wirklich taten. Man bedenke: In dieser heiklen Situation zwei Tugenden, die der Sparsamkeit und die des Gehorsams. Und da wagt noch jemand, von der demoralisierenden Wirkung des Vietnamkrieges zu reden.

Dass sie nach getaner Arbeit, und nachdem sie sich in doppelter Tugend bewährt hatten, dazu berechtigt waren, sich hinzusetzen, um ihren Lunch einzunehmen, das wird wohl niemand bestreiten. Aber ihrer Tugend Lohn war doch keine reine Freude. Denn begraben unter den von ihnen Erschossenen lagen verwundete Frauen und Kinder, die noch stöhnten, und durch sie wäre ihnen beinahe ihr Appetit verdorben worden. Hätten sie sich nicht rasch zwischen Chili beans and Corned beef dazu entschlossen, diese Spielverderber durch Nahschüsse in den Leichenhaufen zum Schweigen zu bringen – die Ärmsten hätten keinen einzigen Bissen von ihrem Corned beef hinunterschlingen können.

Blamage

Wie gut es Karl Kraus noch gehabt hatte! Denn gleich, ob er durch den Hohn, den er über seine Opfer ausgoss, seine stupiden, vulgären und blutbefleckten Zeitgenossen wirklich blamiert hat, und ob es ihm wirklich gelungen ist, ein bisschen gegen die Gemeinheit seiner Mitwelt auszurichten – undenkbar scheint es mir, dass er diesen Erfolg für völlig unmöglich gehalten habe. Ohne diese Hoffnung würde seine Unermüdlichkeit rätselhaft bleiben. – Und selbst diese Minimalhoffnung bleibt uns missgönnt.

Blamieren erfordert stets drei: einen Ersten, der einen Zweiten blamiert; diesen Zweiten; und schließlich – denn ohne ein »coram« gibt es keine Blamage – denjenigen, vor dem man diesen Zweiten blamiert.

Nun, an Blamablen mangelt es gewiss nicht. Und Männer, die das Zeug haben, die Blamablen von heute zu blamieren, und die dazu auch die moralische Legitimierung besitzen, die gibt es gewiss ebenfalls. Aber wie steht es mit dem »coram«? Gibt es denn Gruppen oder Instanzen, vor denen die zu Blamierenden sich blamieren könnten? Gruppen oder Instanzen, die die Blamierten oder die sich Blamierenden als blamiert empfänden? Vor wem hat sich denn Adenauer blamiert, als er ohne jede Unterlage, aber auch ohne sich dazu verpflichtet zu fühlen, auch nur den Schatten einer Unterlage vorzuweisen, den Spiegel als einen »Abgrund von Landesverrat« bezeichnete? Und vor wem hat sich denn Augstein blamiert, als er sich trotz dieser Infamie mit Adenauer zu einem gemütlichen Plausch zusammensetzte? Und vor wem hat sich denn – um das vulgärste Beispiel zu nennen – Johnson blamiert, als er den Komiker Bob Hope, ehe er diesen als Spassmacher nach Vietnam schickte, mit dem Ausspruch entließ, dass »ohne Bob Hope kein Krieg ein wirklicher Krieg« sei? Und vor wem denn, als er diese Worte, die er offenbar überwältigend komisch fand, für pressereif hielt und für die Agenturen freigab? Ich wiederhole: vor wem? Vor uns Europäern vielleicht? Reden wir uns doch nichts ein. Um keine Spur besser sind wir als die drüben. Da wir ja in derselben Zeitung, nein, in derselben Korrespondentenmeldung, und zwar nur zehn Zeilen später, den Mann, der den Hanswurst aufs Schlachtfeld geschickt hat, als den selbstverständlich achtungswürdigen und ernstzunehmenden Präsidenten der Vereinigten Staaten wiederfinden.

Nehmen wir diesen Fall als Beispiel. Gehen wir die Faktoren, die zu dieser Situation gehören, der Reihe nach durch.

• Ist Johnson auf den Gedanken gekommen, dass er sich durch seine Gemeinheit blamiert habe oder auch nur hätte blamieren können?

Nein.

• Ist der von Johnson zum Hanswurst der Blutbäder ernannte Bob Hope auf den Gedanken gekommen, dass er dadurch blamiert sei, oder auch nur blamiert sein könnte?

Nein.

• Sind die Korrespondenten auf den Gedanken gekommen, dass sie Johnson und Bob Hope durch ihre Reports blamiert haben oder blamieren könnten?

Nein.

• Oder auf den Gedanken, dass sie (da sie diese Vulgaritäten ja veröffentlichten, ohne deren Anstößigkeit zu kommentieren) auch sich selbst blamierten oder hätten blamieren können?

Nein.

• Oder auf den Gedanken, dass sie ihre Leser (da sie von diesen ja erwarteten, dass sie auf Grund der Erwähnung des Komikernamens den Vietnamkrieg erfreulich finden würden) blamiert haben oder hätten blamieren können?

Nein.

• Oder sind diese Leser schließlich auf den Gedanken gekommen, dass sie sich durch ihre Indolenz oder durch den Spaß, den sie an diesen Gemeinheiten wirklich hatten, blamiert haben, oder hätten blamieren können?

Wiederum nein.

Nein, heute jemanden zu blamieren, das ist, da es keine Instanzen mehr gibt, vor denen man ihn blamieren könnte, nicht mehr möglich. Und die blamable Tatsache, dass das nicht mehr möglich ist, die hängt ebenfalls in der Luft, denn wer fühlte sich denn durch diese blamiert, wer könnte sich denn durch sie blamiert fühlen? »Difficile satiram non scribere«, hatte es einmal geheißen. Gute Zeiten! Denn heute müsste es leider, da die Hand, die nicht mehr weiß, für wen sie eigentlich schreibt, immer in der Gefahr schwebt, zu erlahmen, heute müsste es nun heißen: »Difficile satiram scribere«.

12etwas Lohnendes

13Wahrhaftig lohnend

14zurückfeuern

15Paul David Meadlo war an dem Massaker beteiligt. Im Verfahren gegen den Hauptverantwortlichen William Calley stellte der Richter Meadlo vor die Wahl, umfassend auszusagen oder selbst angeklagt zu werden. (Lesher, Stephan (1971-07-11), »The Calley Case Re-Examined« in: The New York Times, 11.7.1971.

Wir Chamberlains

Wenn eine Parallele zwischen den Geschehnissen des zweiten Weltkrieges und denen des Vietnamkrieges gezogen werden kann, dann darf, so sollte man denken, allein der Aggressor von heute mit dem Aggressor von damals, und das Opfer von heute mit dem Opfer von damals verglichen werden, also z. B. Johnson mit Hitler, Vietnam mit Polen oder dergleichen.

Nein, nichts dergleichen. Nicht seit dem 22. August 1966, seit jenem Tage, an dem Dean Rusk in New York vor amerikanischen Veteranen gesprochen hat. Überflüssig zu erklären, dass man amerikanischen Veteranen genauso widersinniges und unsinniges Zeug servieren kann wie denen anderer Staaten. Gleichviel, vor diesen Männern hatte Rusk die Schamlosigkeit, uns, die Kriegsgegner, uns, die Kritiker des amerikanischen Angriffs auf Vietnam, mit jenen Männern zu vergleichen, die sich im Jahre 38 auf ein »München« eingelassen, die damals also dem aggressionslüsternen Hitler nachgegeben hatten, bzw. sich von diesem in der Hoffnung, mit ihm zusammen eine gemeinsame Front der kapitalistischen Mächte gegen die Sowjetunion aufrichten zu können, hatten beschwichtigen lassen, und die durch diese ihre Nachgiebigkeit und durch diese ihre Spekulation auf eine gemeinsame Front mit Hitler gegen die Weltrevolution den Weltkrieg effektiv mitverschuldet haben. Würde sich, so meinte nämlich unser famoser (nicht etwa nur falsch denkender sondern falsches Denken bewusst produzierender) Rusk, würde sich die amerikanische Regierung auf das gleiche Appeasement, auf die gleiche Beschwichtigungspolitik, einlassen, auf die sich vor dreißig Jahren die Chamberlains eingelassen hatten, kurz: würde sie uns, den Chamberlains von heute, Gehör schenken, dann würde sie damit eine ganz gewissenlose Politik treiben, nämlich eine, die zum Kriege, wenn nicht sogar zum 3. Weltkriege würde führen können. Man mache sich das klar: Da stellt sich der außenpolitische Sprecher einer Regierung hin, einer Regierung, die vor Jahren aufs gewissenloseste einen Krieg vom Zaun gebrochen hat und diesen von Tag zu Tag so gewissenlos weiter eskaliert, dass er in jedem Moment in einen atomaren Weltkrieg umschlagen könnte – und dieser Mann wagt es, den, während er spricht, tatsächlich wütenden Krieg als Friedensordnung hinzustellen und zu verteidigen; dagegen diejenigen, die diesen Krieg bekämpfen, also uns, als Chamberlains zu verleumden und lächerlich zu machen.

Ich gestehe, dass ich eine gewisse Anlaufzeit brauchte, ehe ich diese logische Falschmünzerei, bzw. die Zumutung, derart falsch erdachte Gedanken zu schlucken, ganz begriff. Nun begreife ich:

1. dass heute nicht mehr die klassische Maxime »Si vis pacem, para bellum« also »willst du den Frieden, dann bereite den Krieg vor«, gilt; dass die heutige Maxime vielmehr lautet: »wenn du den für dich opportunen Krieg weiterführen willst, dann stelle ihn als Vermeidung des Krieges dar, und die Bekämpfer dieses Krieges als gewissenlose Kriegsverursacher«;

2. dass Rusk durch seine Warnung vor erneuter Nachgiebigkeit den Glauben zu erzeugen wünscht, dass diejenigen, die für Frieden eintreten, nicht nur einer Drohung nachgeben, sondern einem drohenden Hitler. –

In anderen Worten: die wirklichen Angreifer von heute, die wirklichen »Hitlers«, die Rusks, Johnsons und McNamaras unterstellen durch die Festigkeit, die sie gegenüber den von ihnen Überfallenen einnehmen, dass diese Überfallenen die Angreifer von heute, also die Hitlers, seien. Von Veteranen, in deren Augen alle diejenigen, gegen die Amerika jemals Krieg geführt hat, natürlich a priori stets einer und derselben Front zugehören, kann man gewiss nicht verlangen, dass sie Rusks Betrug durchschauen. Da die Söhne derer, die vor 25 Jahren Hitler bekämpft hatten, heute die Dörfer der Vietnamesen niederbrennen, sind die Vietnamesen eben die Hitlerianer von heute, denen nachzugeben (oder deren Fürsprechern nachzugeben) alle Prinzipien der Freiheit verletzen würde.

Von Mitte November an hat Johnson diesen Vergleich der Gegner seiner Vietnam-Politik mit den Chamberlainianern, also mit den Fürsprechern von München, in seine Reden methodisch aufgenommen. Am deutlichsten und schärfsten in seiner Ansprache vor führenden Industriellen in Washington Anfang Dezember 1967. – In anderen Worten: Diejenigen, die gegen die amerikanische Aggression und Expansion kämpfen, identifiziert er mit denjenigen, die Hitler bei seiner Aggression und Expansion freie Hand ließen. Und eine solche in die Augen springende Absurdität darf und kann der Präsident Amerikas zum Leitmotiv seiner Außenpolitik und seiner Wahlkampagne machen.

Aber darf Rusk damit rechnen, dass die Junioren der amerikanischen Bevölkerung ebenso betrügbar sind wie deren Veteranen? Warten wir ab.

Crimes Before The Crime16