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Marc Hamer liebt Pflanzen und Tiere und hat fast sein ganzes Leben in der freien Natur verbracht. In Vom Blühen und Vergehen erzählt er anschaulich und kurzweilig aus dem Alltag eines Gärtners und kombiniert Achtsamkeit und Zen mit der Freude an der Natur und am Gärtnern.
Seit über zwanzig Jahren hegt und pflegt er »seinen« über 4 Hektar großen Landschaftsgarten in Wales. Er kennt sämtliche Geheimnisse des Gartens und ist mit jeder Pflanze vertraut. Monat für Monat berichtet er von anfallenden Arbeiten und entwirft er ein buntes Porträt des Gartens mit seinen zahlreichen Bewohnern: die frühe Blütenpracht der Primeln, die farbenprächtigen Dahlien, die emsigen Bienen, die aparten Schmetterlinge und die Vögel mit ihrem morgendlichen Gesang – sie alle sind Teil seiner Welt und zeugen vom ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens.
»Hamer greift zurück auf das, was ihn allseits umgibt – Rotkehlchen und Krähen, Buchen und Kirschbäume, Jasmin, Narzissen und Erde – als Ausgangspunkt für seine Reflexionen, wie im Kleinen ein spirituell bewusstes Leben gelingen kann … indem er uns auffordert, unseren Platz in der Natur zu erkennen und uns an der Verbindung zu ihr zu erfreuen.« Herald
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Seitenzahl: 438
Veröffentlichungsjahr: 2022
Marc Hamer
Vom Blühen und Vergehen
Ein Gärtnerleben
Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich
Insel Verlag
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Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Seed to Dust bei Harvill Secker, London.
eBook Insel Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.
Deutsche Erstausgabe © der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022Copyright © Marc Hamer 2021
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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln, unter Verwendung des Originalumschlags von Greystone Books Ltd., Illustrationen: Shutterstock, Berlin
eISBN 978-3-458-77323-8
www.suhrkamp.de
Dieses Buch ist, wie mein Leben, Peggy gewidmet
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Prolog
Januar
Weiß
Anfänge
Birkenspanner
Februar
Rückkehr
Eis
Jasmin
Ein anderer Gärtner
Kletterhortensie
Eine Geschichte
Zyklopen
Codeknacker
Ringeltaube
Der alte Norden
»Ich bin hier, bist du da?«
Sie braucht einen Stock
März
Das Gras sprießt, die Bäume treiben aus
Schmuckkörbchen
Märzfrost
Rosenschnitt
Schnee
Pfingstrosen
Kartoffeln poltern im Topf
Er
st
e Knospen am Kirschbaum
Der Mittelweg
Die Spatzen ni
st
en
Bienen
Narzissen
Narziss – bist du da?
Minotaurus
April
Ferner Donner
Eine Vase mit Kirschzweigen
Dahlien
Mädchenhaft
Liebe ist …
Der Fen
st
erputzer
Tulpen
Die Mauersegler treffen ein
Gesang
Die Welt singt
Ein gebrochenes Herz
Maus
Mähen im Regen
Schwimmende Inseln
Mai
Die Pfingstrosen blühen
Die Möwen rupfen Gras aus
Heiliger Dorn
Mercedes
Ein Strom endloser Tage
Fossilien
Nächtliche Düfte
Bücher verbrennen
Sonne!
Herz
Maikäfer
Regen, kein Regen
Juni
Ein dummer Arbeiter kommt zu Besuch
Ein neuer Weg
Die Kälte kehrt zurück
Sommersonnenwende
In Your Garden
Eine Runde Applaus
Blattläuse
Juli
Stoiker
Wabi-sabi
Pelargonien
Tag der fliegenden Ameisen
Die Mauersegler ziehen weiter
Kiefernzapfen
Karpfen
Grüne Flammen
August
›
Cofiwch Dryweryn
‹
(Coffee-ookh Dre-weh-rin)
Doldenblütler
Springbrunnen
Katzen und Hunde
Ferne Geräusche
Schaum auf dem Teich
Lorbeeren
Eine Pause
Samen sammeln
September
›
Wüstes Land
‹
»Geht, nun geht schon, sprach der Vogel«
Der verästelte Pfad
Herbstzeitlose
Die Wiese sensen
Herbst-Tagundnachtgleiche
Oktober
Jetzt geh, Bonnie Boy
Oktobernebel
Geburt
st
ag
Whisky
Maulwurfsfänger
›
Notre-Dame-des-Fleurs
‹
Äpfel
Er
st
er Schnee
November
›
Hop-tu-Naa
‹
Frost
Von
›
Anemone
‹
bis
›
Zantedeschia
‹
Das große Rätsel des Selbst
Haiku
Nicht sesshaft
Die Liliengärten
Dahlien ausgraben
Verlassen
Dezember
Wir haben kaum miteinander geredet, sage ich mir
Zurück bei der Arbeit
Diese fließende Welt
Zuhause
Blumen
Dank
Informationen zum Buch
Abbildungsnachweis
Die Mauersegler haben den Glockenturm verlassen und sind unterwegs nach Afrika.
Ich wollte üben, meine Aufmerksamkeit auf eine Sache zu konzentrieren, und richtete mein inneres Auge auf das Muster, das ein einzelner Vogel als wandernder Bleistift an den Himmel malte. Ein zweiter Mauersegler kreuzte diese Linie, dann mehrere, schließlich kehrten sie, wie alle Dinge, in das schöpferische Chaos zurück, dem sie entstammen. In den Schlingen und Schlaufen der Stränge, die sie zeichneten, erkannte ich die Struktur dieses Buchs – Zyklen um Zyklen gelebtes Leben, Beziehungen, entstanden und vergangen, von Samen zu Staub.
Verfasst in einer Tradition, so alt wie das Geschichtenerzählen selbst, ist das, was hier vorliegt, im Kern Wahrheit, auch wenn es oftmals de facto nicht so ist. Das Folgende entstammt der Erinnerung, und wie bei jeder anderen Zeichnung, jedem anderen Blick in die Vergangenheit, sind die Perspektiven verzerrt, die Zeit wurde zusammengezogen, und in der Fantasie scheint die Sonne, während es in Wirklichkeit nur Schatten gab.
Villedieu-les-Poêles, Nordfrankreich
Gefallene Blätter rollen sich, als ballten sie die Finger zu Fäusten, um sich zu wärmen. Heißer Atem dampft aus den klaffenden Mäulern der Leitungen an den Außenmauern der Häuser, während im Innern gefräßig fauchende Flammen oder tief in Heizkessel gebettete Elektroschlingen die Menschen behüten, fern von den eisigen Klauen der Natur. Draußen ist die Luft voller Kristalle, die sie in einen so dichten Nebel verwandeln, dass ich durch die kahlen Bäume nicht bis zum nahen Kirchturm blicken kann. Alles ist still. Still und unbewegt. Die Weihnachts- und Neujahrsfestlichkeiten scheinen lange vorbei, die Menschen, die Arbeit haben, sind dorthin zurückgekehrt, ich jedoch nicht. Ich werde diesen Monat, wie viele Gärtner, wenig zu tun haben. Im Januar habe ich Zeit, Samenkataloge zu studieren und davon zu träumen, was sein könnte, wenn ich das umsetzen, jenes ausgraben und dieses dort drüben einpflanzen würde. Der Garten, der mir vorschwebt, verändert sich wie ein Mark-Rothko-Gemälde, wenn ich eine Farbgruppe hierhin verschiebe und dort zwei neue Farben kombiniere, einen Pfad anlege, um etwas auseinanderzuhalten, eine Hecke strichle und so einen magischen freien Winkel schaffe. Alle Gärtner haben Fantasiegärten, und viele von ihnen sind Maler. Ich male nicht mehr: Malen erfordert Berge von Ausrüstung und einen dauerhaften Arbeitsplatz, wo man alles unterbringt. Stattdessen schreibe ich. Das kann ich überall.
Die Welt, in meinem Haus und außerhalb, wirkt friedlich. Obwohl es unter Menschen selten friedlich zugeht, ist meine eigene, eng begrenzte Welt entspannt. In Rockwood, wo ich wohne, scheint alles schwarz oder weiß. Die Dohlen sammeln sich bedächtig und still um die Kamine oder picken halbherzig in der gefrorenen Erde; die Glücklicheren zerren schlaffe kalte Würmer ans Licht oder gekringelte Schnakenlarven. Die Bäume wiegen sich nicht, sondern recken ihre Äste aufwärts oder nach außen und warten. Auch die Spatzen verhalten sich ruhig, flattern weiter von Gebüsch zu Gebüsch, doch ohne viel zu sagen, und ich sehe von meinem Fenster aus zu, als wartete ich, ohne zu warten.
Die Kälte ist mit lebenswichtiger Arbeit befasst, schiebt sich zwischen die Erdkrumen und senkt die Temperatur der Wassermoleküle, damit sie langsamer werden und alle Bewegung einstellen, sich dann ausdehnen und die Krume auseinanderschieben, so dass die Erdklumpen an der Oberfläche mit Einsetzen des Tauwetters zerkrümeln. Sie kriecht in die Körperzellen der Tiere und wird eins mit ihnen, während sie erwärmte Luft ausstoßen, die zu Dampf kondensiert. Sie sickert in armselige Häuser und kühlt Füße und Kleider der Kinder, die sich für die Schule anziehen; klebt an den Obdachlosen, wenn sie nachts in Hauseingängen Schutz suchen, und bildet Kristalle an den Rändern der abgestorbenen gelbbraunen Hortensienblätter, küsst Grün-, Rosen- und Winterkohl und lässt sie süß und schmackhaft werden. Sie wickelt die Apfelbäume fest ein und schickt sie in einen so tiefen Schlaf, dass sie, sobald sie daraus erwachen, nur so strotzen vor Energie und schmackhaften Früchten.
Ich bin im Haus und ruhe mich aus, wie meine Katze, die auf meinen Schoß springt, sobald ich mich irgendwo hinsetze. Eine Schildpatt namens Mimi, die mich ebenso liebt wie ich sie, selbstsüchtig auf meine Wärme erpicht wie ich auf ihre Bewunderung und Pracht. Sie schaut mir ins Gesicht, sie hat gefleckte Augen, mit braunen Einsprengseln im Bernstein, wie Sommersprossen. Für Sommersprossen hatte ich immer schon etwas übrig. Ich bin hin und her gerissen zwischen meiner Lektüre und dem, was draußen vorgeht. Wieder einmal lese ich W.G. Sebalds Ringe des Saturn und fühle mich behaglich aufgehoben, während ich seiner mäandernden Reise folge, die mir von nirgendwo zu kommen und nirgendwo zu enden scheint. Ich mag Geschichten, die sich so echt anfühlen.
Ein neues Jahr, ein neuer Kalender, ein neues Notizbuch. Das Leben im Haus fühlt sich weniger neu an; der gleiche Staub wirbelt unter meinen Schreibtisch, der gleiche Schmerz in meinem linken Knie. Das einzig Neue ist mein Notizbuch, das neben dem alten lehnt, von dem ich immer noch ein paar Einträge kopieren muss. Hätte das alte mehr Seiten, würde es weiter verwendet werden und seine Aufgabe genauso gut erfüllen. Es müsste nicht an dieser Stelle enden.
In ferner Vorzeit entschieden unsere Vorfahren, das neue Jahr mitten im Winter zu beginnen, lange nachdem das Erntefest vorbei war und die Felder nichts mehr hergaben und warteten, dass der Frühling kam und Erbarmen zeigte. Vielleicht fürchteten die Menschen in weniger entwickelten Zeiten, der Winter sei das Ende der Welt, die langsam in ewiger Kälte und Dunkelheit verging. Irgendwann erkannte ein in warme Tierfelle gehüllter Mensch, dass die tiefer sinkende Sonne ihr Verhalten geändert hatte und jetzt Tag für Tag wieder höher stieg. »Schaut, Leute, es wird wieder gut!« Sie beobachteten, wie alles vorüberging, und erkannten, dass die Welt sich immerzu verändert, und stets in einem anderen Tempo. Immer biegt etwas Neues um die Ecke und erscheint auf der Bildfläche. Geht man zu nahe heran, scheinen die Dinge plötzlich da zu sein und dann wieder zu verschwinden. Tritt man zurück, sieht man, wie sich alles dreht und nur ein Wirbel ist. Ich habe gelernt, zurückzutreten, wenn ich mich aus irgendeinem Grund traurig fühle, doch unsere Sinne verfügen nur über eine begrenzte Aufnahmefähigkeit; es gibt so vieles, das sie nicht erkennen können, und wir werden niemals wissen, was außerhalb unserer engen Wahrnehmung existiert.
Die Zeit um den 22.Dezember, wenn die Sonne nach der längsten Nacht des Jahres langsam wieder zurückkehrt, scheint gut geeignet für den Beginn eines neuen Zyklus. So ritzen wir ein Zeichen in den Rand des endlos sich drehenden Rads; wir setzen es auf halber Strecke, wenn die Finsternis im Licht aufgeht, und sagen: »An dieser Stelle beginnt der Kreislauf.« Dieser Tag war das allererste Datum im allerersten Kalender und der Beginn unserer Kultur. Ich frage mich, wie menschliches Leben auf diesem Planenten wohl ausgesehen hätte, wenn wir uns nicht vor der Dunkelheit gefürchtet und keinen Grund dafür gesehen hätten, Tage und Jahreszeiten zu zählen; wenn wir nie ein Zahlensystem entwickelt hätten, so wie manche Stämme am Amazonas oder Kinder, die zwischen drei oder vier Süßigkeiten keinen Unterschied erkennen.
Unsere Kultur wurzelt in unserer Fähigkeit zu unterscheiden: den Tag von der Nacht, das Mittagessen vom Frühstück, uns von den anderen, Gut von Böse. Der Fähigkeit, eine Sache gegen eine andere abzuwägen. Wir lernen, die Dinge aus ihren natürlichen Zusammenhängen zu lösen und klare Anfänge und Enden zu bestimmen. Bei dem uralten Kreissymbol des Uroboros, der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, befinden sich Kopf und Schwanz zwar an derselben Stelle, doch das Symbol hat eindeutig Anfang und Ende, auch als ewiges Kontinuum. Im Zen-Buddhismus existiert ein ähnliches Bild mit dem enso, einem einfachen, schmalen oder massiven Kreis. Von einem Kalligraphie-Meister in ein, zwei Pinselstrichen hingeworfen, beginnt dieser Kreis damit, dass er den Pinsel irgendwo auf dem Blatt ansetzt, einen Kreis ausführt und an genau derselben Stelle endet. Häufig verwackelt und unvollkommen, symbolisiert er den Lebenszyklus – es gibt nichts außerhalb des Kreises und nichts im Innern. Es heißt, der Charakter des Malers lasse sich daran ablesen, wie er diesen Kreis malt.
Hoch oben in den Wipfeln, versteckt in den tiefen Rindenspalten eines Baums, legt der Birkenspanner im Mai oder Juni um die zweitausend winzige, weiche, weiße Eier von der Größe eines Stecknadelkopfs. Der Inhalt der überlebenden Eier wächst, nach zwei Wochen platzen sie auf, und eine Raupe kriecht heraus. Diese frisst ihr eigenes ledriges Ei, dann die weichsten Bestandteile des nächstgelegenen Blatts. Sie frisst, bis sie um ein Tausendfaches gewachsen ist. Hoch oben zwischen Blattwerk und Ästen dient sie Vögeln und Fledermäusen als Nahrung. Sie befindet sich im ›Larvenstadium‹ in der Entwicklung eines Kleinlebewesens, bevor es seine letzte Haut abwirft und erwachsen wird. Raupen, Nymphen und Kaulquappen sind solche Larven. Die Birkenfalterraupe war eines der ersten wildlebenden Lebewesen mit einer Tarnung, das die Wissenschaftler entdeckten. Sie sieht tatsächlich aus wie ein Zweig des Baums, auf dem sie geboren wurde: grünlich-braun, steif und gerade, reglos. Die Schuppen auf den Flügeln des Falters, zu dem sie werden wird, sind so gefärbt, dass er zwischen den Flechten verschwindet, die auf den Bäumen wachsen, in denen er lebt, brütet, Eier legt und stirbt. In jedem Stadium seines Lebens ist das Tier an diesen Baum angepasst.
Die Larve frisst, wird fett und fest, ihre Haut platzt, und der gewölbte Rücken einer neuen Raupe bricht hervor; sie befreit ihren Kopf und kämpft sich aus der alten Haut, die sie samt der hohlen, knospenartigen Beine an dem Zweig kleben lässt. Einfach ein weiteres Zweiglein. Die Raupe häutet sich zwei bis drei Mal in ihrem Leben. Später im Jahr, im Oktober ungefähr, lässt sie fett, wie sie inzwischen ist, das Laub hinter sich, wo sie geboren wurde, müht sich taumelnd hinunter auf die Erde und gräbt sich in den Boden ein, wo sie den Winter verbringt und sich verpuppt. Sie produziert eine harte braune Schale, und im Innern dieses kleinen Gehäuses löst sich die Raupe zu einer amorphen braunen Masse auf, die unangenehm zappelt, wenn man sie berührt. Zellsuppe in einem natürlichen Reagenzglas, die sich kräftig bewegt und vor dem kommenden Frühling neu erfindet.
Das Gebilde wird größer, und im April/Mai schlängelt es sich an die Oberfläche, wo der vertrocknete Kokon aufplatzt und, nach seltsamem Schlaf, ein neues Lebewesen auftaucht. Mit langen, gelenkigen Beinen hängt es sich an ein Blatt oder einen Zweig. Es kriecht und vergräbt sich nicht mehr, sondern pumpt seine Flügel mit Blut auf, lässt sie von Sonne und Wind trocknen und erhebt sich in die Luft. Das Weibchen fliegt in seinem Leben nur ein einziges Mal; es wartet hoch oben in dem Baum, von dem es in einem früheren Leben als ein anderes Geschöpf herunterkam, und sendet Pheromone aus, um ein Männchen anzulocken. Die Männchen fliegen Nacht für Nacht, bis sie eine Gefährtin finden; tagsüber ruhen sie sich auf den Bäumen aus. Nach der Paarung bleibt das Männchen bei seinem Weibchen, um es vor anderen Männchen zu beschützen, bis es tief in den Schrunden der Rinde seine zahlreichen Eier ablegt, während Vögel und Fledermäuse danach trachten, es aufzufressen. Gegen Ende des Sommers wird der Falter tot sein. Er hat in seinem Leben nie eine Entscheidung getroffen; er tut, was ihm vorgegeben ist, und folgt dem Lauf des Lebens, bis es zu Ende geht.
Ich beginne meinen Tag in der Dämmerung und schreibe häufig darüber. Zeichne den unvollkommenen Kreis wieder und wieder. Gestern ist ferne Vergangenheit, und ich beginne den Tag an der Stelle, wo ich bin, nicht dort, wo ich war; hier frühstücke ich gerade und mache mir Notizen; der Tag liegt vor mir, die Nacht hinter mir. Ich empfinde den Tagesanbruch als die schönste Zeit, wenn Peggy und ich es behaglich warm haben und uns der ersten unredigierten Zeile des kreisförmigen Gedichts dieses Tages und all unserer Tage bewusst werden. Ich konzentriere mich, und jedes Erwachen ist ein Geburtstag, freudig, neu geboren. Ich mache ihr Tee, und wir plaudern.
Peggy, die mit der dampfenden Tasse in der Hand neben mir sitzt, sagt: »Dein Bart ist inzwischen ganz weiß.«
Ich sage: »Wir haben es doch bis hierhin geschafft, oder?«
»Er ist so weiß, dass er leuchtet«, sagt sie.
Es war nicht immer so einfach.
Miss Cashmere sieht älter aus. Ein bisschen papierener. Wie etwas Japanisches, Zartes. Eine Laterne, hübsch und hell. Sie nimmt Raum ein, ist aber zerbrechlich; ein leichter Wind könnte sie den ganzen Weg dorthin zurückwehen, woher sie gekommen ist, ein kleiner Regenschauer sie zu Mus verwandeln, die Neugier eines Vogels sie zu Boden werfen. Einer Blaumeise. Eines Falters, der in ihre Helligkeit flattert. Eine rote Seidenpäonie hält ihr Haar in einem weißen Knoten zusammen. Ein paar Strähnen haben sich gelöst und fallen ihr, zu Korkenziehern gelockt, in den sommersprossigen Nacken.
Es ist Februar. Ich habe sie seit Anfang Dezember nicht mehr gesehen. Sie hat den Winter allein zugebracht. Wie eine in die Erde eingegrabene Larve ist sie verändert aus der Dunkelheit wieder aufgetaucht: stärker gebeugt, in sich verdreht wie eine verrostete Holzschraube. Sie ist beinahe achtzig.
Ich war den ganzen Winter über auf den Feldern, habe Maulwürfe gefangen und auf den Frühling gewartet und versucht, mich warm zu halten, indem ich stets in Bewegung blieb und so tat, als wäre ich nicht alt; doch das bin ich. Ich fühle mich so abgenutzt wie ein quietschendes Tor; ich sehne mich danach, dass meine Scharniere sich öffnen und ich an der netten Stelle lande, wo das Holz auf den Schlamm trifft und die Welt vorüberzieht. Schmerzen Miss Cashmeres Scharniere und Muskeln? Geht ihr Atem flach, ihr Herz unregelmäßig? Kann sie im Dunkeln das Kreischen und Heulen des Tinnitus hören? Kann sie sich die Zehennägel schneiden oder erledigt jemand in einem weißen Kittel mit einem Namensschild um den Hals das für sie, indem er mit Schutzhandschuhen auf einem Kissen zu ihren Füßen kniet?
Nach der langen Winterpause ist dies der erste Tag, an dem ich wieder im Garten arbeite. Auf dem Rasen wölben sich Maulwurfshügel; eine weiße Reifschicht liegt auf der frischen Erde, die sie letzte Nacht ausgegraben haben, kleine schneebedeckte Berglandschaften. Wenn sie tauen, werde ich die Hügel zu einer dünnen Schicht Erde glattharken. Ich werde den Maulwürfen keine Fallen mehr stellen und ihre weichen Körper nicht länger den Krähen zum Fraß hinwerfen. Das erniedrigende Geschäft, Lebewesen zu töten, habe ich hinter mir gelassen, ein Geschäft, das mir immer mehr zusetzte, bis ich das Gefühl hatte, innerlich zu erstarren.
Sie sitzt am Küchentisch, liest Zeitung und raucht eine Zigarette, weißes Haar schimmert durchs Fenster. Die Rauchschwaden ihrer Zigarette, ihr Haar und das Fenster scheinen aus demselben phantasmagorischen Stoff gemacht, da und nicht da. Die rote Pfingstrose leuchtet verschwommen, die einzige richtige Farbe. Durch die zart ineinanderlaufenden Wolken aus Rauch und Haar hindurch erkenne ich, als ich am Haus vorbeigehe, ihre empfindliche, rosige Kopfhaut, wie Nebel durch die aufgerollten, blassen Blüten des Wintersüß (Chimonanthus fragrans), gelb und braun. Einige sind bereits ins Gras gefallen. Alle zusammen sind wir nichts als verwehender Dunst.
Diese zierlichen Blüten am Rand des braunen Verfalls sind am süßesten und erfüllen mich mit einer Liebe ohne Verlangen – zumindest keinem, das ich verstehen oder benennen könnte. Für mich sind diese Blüten stets im Fallen begriffen. Im Dezember habe ich die kleinen blassen Blütentroddeln, fest und hart wie Kiesel, entlang der dünnen, kahlen, sparrigen Zweige hoppeln sehen, die erblühten Knospen, die weichen Blüten sah ich jedoch nie. Weder die Knospen noch die Blüten. Sie öffnen sich im Januar, und im Januar gehe ich nicht in den Garten. Niemand geht dorthin. Weder sie noch ich sahen, wie sie aufsprangen, sich entfalteten und blühten, und ich allein habe sie sterben sehen. Sie sind nicht für uns da. Vom Wintersüß heißt es, es habe von allen Pflanzen den lieblichsten Duft, ich habe ihr frisches Bouquet jedoch nie gerochen, nur ihr süßliches Vergehen. Voll aufgeblüht ist die Blüte blass, doch jetzt ist sie braun, hängt welk am Zweig und fällt ab. Verdorrt und vertrocknet. Leere Muschelschalen. Tote Insekten. Rückenschilde. Panzer. Flügel. Kokons. Hauchzartes, mürbes Seidenpapier, vom Regen durchweicht, dann Schleim, schließlich Erde.
In den Büchern steht, dass das Wintersüß nach der Blüte nichts mehr zu bieten habe, doch seine rötliche Rinde und die dünnen, sparrigen Zweige wirken für mich auch vor dem Austreiben der Blätter sehr vielversprechend. Wenn sich das Grün zeigt, verschwindet der kleine Strauch unauffällig und blass im Hintergrund, bis zum nächsten Winter, wenn er, von allen unbemerkt, erneut tanzen wird, allein, zu seiner eigenen Melodie. Er versucht nicht, mit den großen, lauten Blüten des Sommers zu konkurrieren, doch im Winter erfüllt er den Garten mit seinem eigenen lieblichen, feinen Duft. Später schneide ich die ältesten Zweige mit Säge und Schere bis zum Boden zurück, damit frische junge Zweige austreiben und blühen können.
In der Winterkälte ist alles hoch anfällig, kurz davor, zu zerspringen oder abzufallen und zu verfaulen, doch die Jahreszeiten wechseln, und ganz langsam drehen wir uns näher zur Sonne, wie ein Auge, das sich öffnet und der Wärme und dem Licht dieses lebenswichtigen Sterns entgegenblickt. Lebewesen beginnen zu essen und fetter zu werden, sich zu ernähren, damit sie genug Energie haben, Kopien von sich zu erschaffen und wohlgenährt ein weiteres Abdriften in die unvermeidliche Dunkelheit zu überleben. Alles ist Veränderung, und nur die Veränderung bleibt sich gleich.
Ich fühle mich schwerfällig und plump. Der Geruch der letztjährigen Blätter steigt nass und muffig von der Erde auf. Platanenblätter von der Farbe und Beschaffenheit meiner Schuhe liegen auf meinen Schnürsenkeln wie dünnste Lederflicken, als ich durch das glitschige Gras gehe – ein laubverziertes Tier mit Blätterfüßen unter dicken, braunen Cordhosen, die von Hosenträgern gehalten werden und unten in einem Aufschlag enden. Die feuchte, alte Segeltuchtasche schlägt wuchtig gegen meine Hüfte und beschwert mich noch mehr. Sie enthält eine Pflanzkelle, eine Handgabel, ein klappbares Okuliermesser mit geschwungener Klinge, einen Wetzstein, eine Spule grünen Pflanzendraht, ein Schnurknäuel. Dazu gesplitterte Holz- und verrostete Metallreste, geteerten und gezwirnten Hanf, zu Werkzeugen geformt und durch langen Gebrauch genau meiner Hand angepasst.
Die kalte Luft dringt in mich ein, Dampf quillt aus meiner Nase und bildet warme Ranken und feuchte Wolken, die ich an meiner Gesichtshaut spüre und die meinen Bart nass machen. Ich hinke ein bisschen. Mein linkes Knie ist steif. Winterliche Völlerei und die Ruhe haben mich dick werden lassen, aber durch die harte Arbeit werde ich bald wieder fit sein. Trotz Kälte und Schmerzen bin ich froh, wieder hier zu sein, durch das mit Reifkristallen bedeckte Gras zu laufen. Meine Füße lassen das Gras knistern wie Seidenpapier: knister, knister, knister.
Sie winkt mir durchs Fenster zu; sie sitzt dort mit ihrer Zeitung und raucht, trinkt aus einem hässlichen braunen Becher und schnippt die Asche in die Untertasse. Wir haben in diesem Jahr noch nicht miteinander gesprochen. Es war kein Winken, das sagte ›Komm rein und plaudere mit mir‹; es war ein Winken, das sagte ›Hallo, schön, dich zu sehen, komm nicht zum Plaudern rein‹. Ich winke lächelnd zurück, als ich am Haus vorbeigehe, das über einem weitläufigen Garten auf einer steinernen Terrasse thront wie ein Vogelkäfig auf einem Tisch. Ich bin auf meinem Rundgang. Meine erste Aufgabe um halb neun ist es, mir im Garten einen Überblick zu verschaffen und zu sehen, was es heute zu tun gibt. Ihre alte Schildpattkatze verfolgt irgendeine Fährte im Gras und verschwindet im Unterholz einer Hecke. Ich freue mich, die alte Katze wiederzusehen, die sich gerade mit dem Tag und seinen Abenteuern anfreundet.
Eine niedrige Mauer umgibt das Haus, gerade hoch genug zum Sitzen. Ein gepflasterter Bereich mit metallenen Klapptischen und -stühlen. Eine Kletterhortensie (Hydrangea petiolaris) wächst an der Südwand des Hauses und muss beschnitten werden. Sie trägt noch immer die abgestorbenen braunen Blüten aus dem vergangenen Sommer. Rostfarben und durchgeweicht.
Eiszapfen hängen vom Dachrand, langsam tropft es, plopp, plopp, auf die steinerne Terrasse. Die alten, schwarzblauen Schieferplatten auf dem Dach glänzen, wo sie die Sonne widerspiegeln; ein Blick in ihre Helligkeit, die von den Fenstern zurückstrahlt, lässt mich blinzeln. Elstern schnattern auf dem First. Dohlen zanken sich auf den Kaminen, und ich bleibe stehen, um ihnen zuzusehen und kräftig durchzuatmen; ich nehme den neuen Tag tief in mich auf – kühl und feucht und durchdrungen vom Geruch nach kalter, grüner Luft, meiner Körperwärme und Jasmin – und fühle mich wunderbar.
Von der mit Steinplatten belegten Terrasse, die von einer verwitterten Sandsteinmauer eingefasst ist, führen ein paar Stufen zu den abfallenden, terrassierten Rasenflächen mit ihren Blumenbeeten hinunter bis zu dem ummauerten Teich, wo drei grüne Delphine ihre Nasen in Richtung eines mit Blattwerk verzierten Springbrunnens strecken, der, wenn er angestellt ist, einen hohen Wasserschirm ausspeit und dann bei jedem Windstoß einen Schauer auf die Vorübergehenden niederregnen lässt. Eiszapfen hängen von den Delphinen, und der Grünspan auf der Bronzeskulptur, die inmitten der stillen, opak graugrünen Wassermasse steht, ist von einer glänzenden Eisschicht überzogen. Links des Rasens befindet sich, hinter einer hohen Eibenhecke verborgen, ein Obstgarten mit einigen Apfel- und Birnbäumen und hier und da verstreut ein paar Bänken.
Jenseits des Teichs, hinter einer Buchenhecke, ist der Garten sich selbst überlassen wie ein Hund, den man von der Leine lässt, damit er sich austoben kann. Das Sommerhaus blickt über die weite Wiese, die kahl und flach ist und von Reif überzogen; ein paar hartnäckige Disteln stehen noch, abgestorben und weiß, die lange Schatten werfen, und Maulwurfshügel und Riedgrasbüschel dort, wo die Wiese sich senkt; ein kleiner Bach sickert aus einer eisigen Quelle und gefriert zu einem kleinen Sumpf. Hinter der Wiese verleiht ein Wald aus kahlen Bäumen dem Garten den Anschein, als ginge er in die fernen Berge über. Rechts vom Sommerhaus befinden sich, hinter einer weiteren Hecke verborgen, die Ställe und die Komposthaufen, drei verfallene Gewächshäuser und ein Kiesweg, wo ich meinen Van parke. Kein anderes Wohnhaus ist in Sichtweite, nur einige Windmühlen, die unbewegt in der dumpfen Luft stehen, weit entfernt auf einem Kamm, dort, wo die Luft blau wird. Vor dem Haus gibt es einen kleineren, von Rabatten im Cottage-Stil eingefassten Rasen mit einer alten Steinmauer, an der sich Rosen emporranken; sie trennt den Garten von der ruhigen Straße. Weiter unten steht rechts ein größeres Haus – mit weidenden Pferden und Stallungen. Auch hier gab es früher Pferde, doch heute sind die Ställe leer; eine Box beherbergt Werkzeug, eine andere die Rasenmäher. Der Garten ist nicht ganz fünf Hektar groß. Tagsüber ist er meine Welt. Das Haus habe ich noch nie betreten.
Jeden Tag schließe ich nach getaner Arbeit das Tor, fädele die schwere graue Kette durch die rostigen, ehemals schwarz gestrichenen Gitterstäbe und lasse das Vorhängeschloss einschnappen. Ich kehre dem Garten den Rücken und verlasse diese private Welt für ein anderes Universum, meine Schattenwelt, wo ich die Wochenenden, Abende und Nächte mit Peggy verbringe, die aus dem Fenster schaut und selbsterfundene Geschichten schreibt; gehe heim zu meinen Regalen, die mit den Gedanken von Dichtern und Denkern angefüllt sind. Mein Leben ist einfach: Es gibt Licht und Schatten, das Licht ist schön, der Schatten noch schöner.
Die winzigen sechsblättrigen gelben Blüten des Winterjasmins (Jasminum nudiflorum) bilden ein fröhliches Durcheinander auf der schorfigen Mauer. Schneeflocken, Sterne, ferne, zart duftende Sonnen, eine auseinanderstrebende Galaxie, zusammengehalten von der Schwerkraft galvanisierter Drähte, die durch Eisenösen geflochten sind; ich habe sie in den krümelnden Mörtel geschlagen, nachdem die Pflanze mit ihrem Gewicht das morsche Holzgerüst zum Einsturz gebracht hat. Rot und krustig braun glitzern oxidierte Eisenkristalle durch die stumpfe graue Zinkummantelung des Drahts dort, wo er durch stetige Reibung mit der lebendigen Pflanze abgenutzt und brüchig geworden ist, wenn sie im Versuch, zu entkommen und zu Boden zu fallen, im Wind hin und her schwingt. Die Struktur wird vielleicht noch weitere vier oder fünf Jahre halten, bevor das Metall an der Luft korrodiert und so viel Rost ansetzt, dass es bricht und ersetzt werden muss. Wie schon einmal vor einigen Jahren werde ich die Pflanze dann im Frühjahr nach dem Beschneiden sachte im Gras ablegen, die alten Drähte entfernen, ein glänzendes neues Geflecht weben und sie danach Zweig für Zweig wieder aufheben und die Ranken so anbringen, dass sie sich nicht überkreuzen und die dünne, einfache wächserne Zellschicht – die Epidermis – abscheuern, die die Pflanze vor Krankheiten und dem Verrotten schützt. Dann werde ich dieses Sternenuniversum mit grüner Gartenschnur, deren staubigen, trockenen Geruch ich so liebe, an dem Geflecht befestigen. Ich mag Dinge, die riechen. Die kleinen Blüten riechen, ein schwacher Duft Hunderter von Blüten, die von den biegsamen grünen Zweigen tropfen. Ein gedrosseltes Feuerwerk, ein Universum, das ein Jahr braucht, um zu explodieren, und im selben Moment auch schon wieder vorbei zu sein scheint. Wonach duftet dieses Universum? Meines riecht nach Pflanzengrün und Öl, nach alten Büchern, kalter Luft und warmem Körper. Hier bin ich glücklich, verbringe meine Tage in tiefer Zufriedenheit.
Was auch immer in der Erde lebt – welch gewaltiges Tier auch immer diese Lebewesen aus sich heraustreibt und die Welt zum Singen bringt –, es schlummert noch; doch während die Welt sich erwärmt, erwacht »sie«, und die Dinge beginnen zu wachsen. Für mich ist es eine Sie, weil dies meinem Naturell entspricht, aber natürlich hat dieses Tier alle möglichen Geschlechter in einem. Nur Menschen definieren und benennen die Dinge; die Natur verschwendet darauf keine Zeit. Ich gehe unter einem gewaltigen Rosskastanienbaum entlang, dessen Knospen klebrig, spitz und glänzend braun sind und darauf warten, sich zu entfalten. Demnächst werden sich die geschlossenen, schützenden Fäuste der Blätter zu einer Million fünfblättriger Sonnenmodule entkräuseln, zu geöffneten Händen, die sich ausstrecken, um die Strahlen einzufangen, heimzuführen und in Zucker zu verwandeln, damit der Baum wachsen und seine massiven, glänzenden Samen produzieren kann, die die Kinder lieben.
Aus der Erde blitzt etwas frisches Grün zwischen den Eiskristallen hervor, die sich auf den winzigen Gipfeln umgepflügter Erdschollen gebildet haben. Ein aufgerollter Farnwedel – ein Straußenfarn, schmiegt sich zwischen seine bepelzten Kumpane in Wartestellung: ein Widderhorn, ein begrabenes Zicklein mit glitzerndem Eis auf dem behaarten Rücken. Gelbe und blaue Krokusse sind im Begriff, ihre geschlossenen Köpfe durch einen Rasen zu schieben, der noch wochenlang nicht gemäht werden wird. Wie kann etwas so Papierdünnes, Zartes die harte, gefrorene Erde durchstoßen, ohne Schaden zu nehmen?
Indem jedes Lebewesen sachte in eine neue Daseinsform übergeht, erscheint es als etwas Neues, das sich ausdehnt, zu etwas anderem wird und dann noch einmal zu etwas anderem. Etwas, das sich manchmal vor meinen Augen sichtbar verändert: die Gänseblümchen, die sich öffnen, wenn die Sonne aufgeht, und sich in der Dämmerung wieder schließen. Das Leben kommt, das Leben geht, das Leben kehrt wieder zurück. Das Erdtier atmet. Die mehrjährigen Pflanzen breiten sich aus und finden ihre Standorte, dann verschwinden sie für ein paar Monate, nur um auf vorhersehbare, rhythmische, zyklische Weise zurückzukehren. Und um jedes Mal ein wenig mehr Platz zu beanspruchen.
Von den Blüten abgesehen, hat die Luft keinen Duft außer dem der Kälte; auf meiner Haut gibt es kein anderes Gefühl als das der Kälte. Das Licht ist grau und spärlich, flach und kalt. Es gibt keinen Schatten. Die Bäume sind kahl und still und kalt, und die Härchen auf meinen Armen sind aufgerichtet.
Die Küchentür schlägt zu, als ich die Leiter holen gehe, und Miss Cashmere fährt ihren großen, alten, grünen Jaguar die Auffahrt hinunter. Sie hat diesen Wagen schon seit Jahren. Ich erinnere mich an die Zeit, als er noch neu war. Gemeinsam leben wir verschiedene Leben an diesem Ort. Ich komme und gehe ungesehen durch ein massives, bejahrtes, schmiedeeisernes Tor in einer Wand aus Bäumen, eine halbe Meile von ihrem Haus entfernt, und fahre über eine schmale Fahrspur bis zu den Gewächshäusern und den Komposthaufen. Sicher haben Sie am Straßenrand schon solche Tore gesehen und sich gefragt, was sich wohl dahinter verbirgt. Sie sind tatsächlich der Eingang zu den Wundern, die Sie sich vorgestellt haben. Miss Cashmere dagegen kommt und geht durch ein lackiertes fünfstrebiges Tor am Ende einer Kiesauffahrt, die zur Vorderseite ihres Hauses führt, ein Tor, das nur geschlossen wird, wenn sie im Urlaub ist.
Jetzt bin ich allein. Ein paar große Horste winterblühender Schwertlilien einer Sorte, deren Name mir schon vor langer Zeit entfallen ist und die bereits da waren, bevor ich hier zu gärtnern begann, präsentieren einige wenige purpurfarbene Blüten. Diese Schwertlilien gedeihen an einer sonnigen Stelle am Fuß einer Südwand, wo es trocken ist, und locken zunächst mit spärlichen Einzelblüten, bevor die Blüten im März und April massenhaft aufgehen. Schnecken lieben die langen, schmalen, bänderförmigen Blätter, die zu braunen Fäden werden, wenn die Tiere, die jetzt, von ihren eigenen Sekreten zusammengeschweißt, wie Nüsse heimlich in den Spalten der Steinmauer lauern, sich von der Basis bis zur Spitze hocharbeiten, unterwegs das weiche, grüne Fleisch zwischen den Adern fressen und sich gierig über die zarten purpurfarbenen Blüten hermachen. Das passiert jedes Jahr, doch wir halten an diesen Schwertlilien fest, und ich lasse die Schnecken, wo sie sind.
Ich sage »wir«, doch in Wirklichkeit bin allein ich es, der die Arbeit erledigt: all das Planen und Kaufen und Pflanzen im Garten, all die Entscheidungen, ohne sie je zu fragen. Sie will nie etwas wissen; sie gibt keine Anweisungen, bittet nur gelegentlich um etwas. Wir tun so, als arbeiteten wir zusammen, als wären die Pflanzen das Orchester, ich der Dirigent und sie das Publikum; vermutlich verwenden wir deshalb auch das Wort »wir«. Wir stellen uns vor, wir hätten die Blumen unter Kontrolle und würden mit ihnen ein Schauspiel inszenieren. Ein finsterer Gedanke kommt auf: Vielleicht sprechen wir beide auch von »wir« aus Achtung ihr gegenüber. Denn es ist ihr Garten, nicht meiner. Zu sagen, dass »ich« die ganze Arbeit mache, klingt irgendwie anmaßend. Sehr selten, vielleicht wenn sie im Fernsehen oder in einer Zeitschrift etwas gesehen hat, sagt sie etwas wie: »Sollen wir dieses Jahr rosa Tulpen pflanzen?« Und natürlich verstehe ich das als Anweisung, rosa Tulpen zu pflanzen. Es ist jedoch viele Jahre her, seit das vorgekommen ist.
Ich kannte einmal einen Gärtner, der vom Garten seines Arbeitgebers sprach, als wäre es sein eigener. Seine Kunstfertigkeit, sein Handwerk, sein Wissen, sein Geschick und seine Vorstellungskraft, seine Mühe und seine Geduld, die Tage und Wochen und die Liebe waren in seinem Leben alle in die Anlage und die verschiedenen Ansichten dieses Gartens geflossen. Er ließ achtlos die Worte »mein Garten« fallen und meinte damit »der Garten, den ich angelegt habe«, wurde jedoch von dem neuen, jungen Eigentümer energisch darauf hingewiesen, dass er lediglich dort arbeite. Mir würde ein solcher Fehler nicht unterlaufen. Dies hier ist nicht mein Garten, aber er ist auch nicht ihrer. Dass man etwas bezahlt, bedeutet noch nicht, dass es einem gehört. Nichts gehört einem jemals. Menschen, die die Erde bearbeiten, und Menschen, die glauben, Teile von ihr zu besitzen, sehen die Welt mit völlig verschiedenen Augen.
Dieser Gärtner wurde vom Besitzer des Gartens in seine Schranken gewiesen, fühlte sich gedemütigt und schmiss die Arbeit hin. Der Besitzer musste sich nach einem Ersatz umsehen und hat im Lauf der Zeit vielleicht gelernt, dass auch andere Menschen ihren Stolz haben und durchaus dazu berechtigt sind. Der Gärtner fand innerhalb weniger Tage eine neue Stelle. Er musste wieder von vorn anfangen, die Arbeit eines anderen übernehmen und zu seiner eigenen machen, so wie eines Tages jemand meine Arbeit übernehmen wird und ich die meines verstorbenen Vorgängers übernommen habe.
Beide, der Gärtner wie der Eigentümer, bezahlten dafür, dass sie den Mund aufmachten – Schweigen ist immer gut und selten unangebracht. Worte fallen zu schnell. Zu leicht entstehen Missverständnisse. Die Sprache ist ein grobes Instrument, es gelingt ihr nicht, heikle Gedanken auszudrücken. Worte rutschen uns manchmal ohne echte Bedeutung oder Substanz heraus und bringen uns in Schwierigkeiten. Da ich allein arbeite, weiß ich mehr über Schweigen als über fast alles andere. Als Kind wurde mir beigebracht, zu schweigen. Aber es gibt eigentlich kein wirkliches Schweigen; selbst das Grab raschelt.
Es ist nicht einfach, jemanden zu finden, der sich mit Pflanzen auskennt und bereit ist, für das Geld zu arbeiten, das die Leute zu bezahlen bereit sind. Und noch schwieriger ist es, jemanden zu finden, der kreativ und einfühlsam ist. Ich erfuhr nie, wer – falls überhaupt – jenen Garten übernahm. Gärtner sind oftmals verschlossene Einzelgänger und eher wortkarg; wenn wir uns begegnen, nicken wir einander zu und erkennen uns an unserer Art, unseren Fahrzeugen, an den Kleidern und am Geruch. Gesprächen gehen wir jedoch aus dem Weg. Gärtner sind häufig barsch und eigensinnig, geraten leicht in Streit, überwerfen sich und weigern sich dann jahrelang, miteinander zu reden, und das alles wegen einer Meinungsverschiedenheit über den richtigen Schnitt einer Rose oder darüber, wer den besseren Arbeitgeber hat oder sonst irgendeinen Unsinn.
Ein Garten gehört immer dem jeweiligen Betrachter – er ist wie ein Buch, und jeder Besucher wird darin etwas anderes finden. Diesen Garten hier sehen inzwischen nur noch wenige: der Fensterputzer, Miss Cashmere, ich, hin und wieder ein Händler oder ein Lieferant, der die Haustür nicht findet und zur Rückseite geht. Wie die meisten Gärten ist dieser Garten ein Trick, der ein bisschen die Natur nachahmt, aber eben nicht natürlich ist. Er ist in der Absicht »geschrieben« worden, den Besucher in eine Sammlung von Geschichten zu führen, die mit Hilfe von Farbe und Form, Licht und Schatten persönliche Gefühle wecken, die Fantasie anregen, eine Reise in die Erinnerung an längst vergessene Dinge, ein Versinken in Kindheitsspielen oder junge Verliebtheit, die Gedanken an andere Menschen, an die Eltern oder vergangene Leben in Gang setzen. Er ist ein Ort für Wunschträume an hellen, weiten Orten oder private Kontemplation im Schatten, ein Ort, dazu entworfen und in Schuss gehalten, zu verführen, sich zu finden und zu verlieren. Die Art und Weise, wie ich diese oder jene Stelle angelegt habe: wild oder straff und ordentlich, geschlossen oder offen. Ein Duft und ein Hauch Purpur, wenn man um die Ecke biegt zu einem von einer dichten Hecke eingefassten Schattenplatz, oder blaue und rosafarbene Blüten unter Bäumen oder ein breites Band aus Gelb, Orange und Rot. Eine Bank, die wie zufällig an einem Ort platziert ist, wo, im Laubdach darüber, Millionen von Bienen nach Nektar suchen und diese Stelle – nur diese eine Stelle – mit ihrem Summen erfüllen. Der ganze Garten ist Menschenwerk. Würde man den Ort ein paar Monate sich selbst überlassen, übernähme ihn das fruchtbare Tier Natur, und es würde etwas ganz anderes daraus. An manchen Standorten, nicht in Sichtweite des Hauses, lasse ich das geschehen, dort entsteht Wildwuchs, und die Natur entfaltet sich. Da gibt es feuchte Stellen für Farne und verrottendes Holz, Pilze und Käfer und Zufluchtsorte für Igel.
Ich gehe die große dreibeinige Leiter hinter dem Schuppen holen, weil ich mit dem Schneiden der Hortensie anfangen will, die an der Vorderseite des Hauses emporwächst. Ich überlege noch einmal kurz. Miss Cashmere ist nicht zu Hause, und bei einem Sturz müsste ich auf der Erde liegen bleiben, bis sie zurückkäme oder Peggy sich bei Einbruch der Dunkelheit allmählich Sorgen machte. Sie würde also zu Hause am Fenster sitzen, ihre Geschichten schreiben und die vorbeigehenden Nachbarn beobachten. Peggy würde mich vielleicht erst auf meinem Mobiltelefon anrufen und keine Reaktion bekommen. Hier auf dem Land ist sie meilenweit von mir entfernt, es gibt in der Nähe keine Busverbindungen, und sie kann nicht Auto fahren. Mir fällt ein, dass ich nicht einmal weiß, ob sie die Adresse hat – könnte sie genau sagen, wo auf diesem Planeten ich mich seit Jahr und Tag tagsüber aufhalte? Wahrscheinlich nicht. Die dreibeinige Leiter steht, ohne zu wackeln, stabil auf dem Boden, wie Dreibeine das so an sich haben. Wenn ich aufpasse und mit Bedacht auftrete, mich gut festhalte, keine Risiken eingehe und mich nicht hetze, kann ich es als Meditation verbuchen.
Es handelt sich um eine einfache, aber langwierige Arbeit. Auf dem Weg nach oben entferne ich überall die alten Blüten und schneide die Hortensie stark zurück bis auf ein kräftiges Knospenpaar. Vom Boden bis zu den Schlafzimmerfenstern, überall vertrocknete, verblichene, vom Winter angegriffene Blüten. Verfall hat häufig die Farbe von Rost. Wie im Malkasten eines achtlosen Kindes vermischen sich sämtliche Farben und werden zu dem chaotischen Erdbraun, das Leben gebiert, einen Kosmos von Farbe. Die glänzenden, neuen Knospen sind ebenfalls rostfarben. Mit meiner alten Gartenschere mit den roten Griffen schneide ich die knisternden Blüten ab, die langsam zu Boden trudeln, während Ohrwürmer und Spinnen vor meinen Händen hastig davonhuschen und die Schnecken, die ihre Abgeschiedenheit lieben, einfach bleiben, wo sie sind, mit ihrem eigenen Schleim an der Wand festgeklebt und auf Wärme wartend.
Das Wetter ist in den letzten Jahren zunehmend wärmer und feuchter geworden, so dass die Hortensie schneller und weniger dicht wächst als früher; zähe weiße Luftwurzeln aus frischen, blassgrünen Zweigen greifen entschlossen nach dem Stein, winzige, weiße Härchen schieben sich, auf der Suche nach Feuchtigkeit und Sicherheit, tief in das Mauerwerk. Ich muss energisch ziehen, um sie abzulösen und wegzuschneiden. Ich werde nervös, zerre mit beiden kalten Händen und stütze mich mit den Knien so fest gegen die bebenden Aluminiumsprossen, dass ich mir an den Beinen blaue Flecken hole. Dann hinunter, und wieder auf festem Boden, ziehe ich die Leiter klappernd ungefähr einen Meter weiter und steige wieder hinauf. Der Haufen filigraner Blüten am Boden wächst, und da das Licht allmählich nachlässt, beende ich meine Arbeit mit dem Rechen und schaffe sie alle in eine Ecke, um sie später mit der Schubkarre zum Kompost zu fahren. Müde hieve ich die Leiter auf meine Schulter und gehe zu meinem Van, um zusammenzupacken. Miss Cashmeres Wagen knirscht langsam über die Kiesauffahrt, als sie nach Hause kommt und das Tageslicht schwindet.
Sie ist ganz in Schwarz gekleidet: eine kurze Jacke, ein knielanger Rock, Strumpfhosen, Lackschuhe mit einem kleinen Absatz und eckiger Satinschleife. In der Hand hält sie einen schwarzen Hut mit Krempe. Das Haar wie immer zu einem ordentlichen, weißen Knoten frisiert. Sie war offenbar bei einem Begräbnis, deshalb frage ich mich, ob es passend wäre, ein paar Höflichkeiten mit ihr auszutauschen. Ich ignoriere ihre Trauerkleidung und mache weiter wie gewöhnlich. Mein großes Lächeln, ihr kleines. Sie ist scharf umrissen, mit sauberem Strich, während ich verschwommen bin.
»Dorothy, wie geht es Ihnen?«, frage ich, ganz der Gutgelaunte. »Es ist schön, Sie zu sehen. Hatten Sie schöne Weihnachten?«
»Hallo, Marc«, antwortet sie lächelnd, fröhlich, »ich freue mich auch, Sie zu sehen – und sogar schon bei der Arbeit. Wundervoll.« Meine Frage beantwortet sie nicht und geht Richtung Haus. »Es ist schön, Sie wieder hier zu haben. Meine Tochter schaut später vorbei. Ich komme gerade von der Taufe meiner Urenkelin«, sagt sie und hantiert mit dem Hausschlüssel. »Wir müssen bei Gelegenheit einmal miteinander plaudern.« Sie tritt ins Haus.
»Glückwunsch«, sage ich, als sie die Tür hinter sich schließt. Ihre andere Katze, die rötlich braune, läuft zum Haus und streicht mir unterwegs um die Beine, dann hockt sie sich vor die Haustür und starrt durch das Glas ins Haus, während Miss Cashmere entschwindet.
Ich räume den Haufen vertrockneter Blüten von gestern weg. Miss Cashmere ist nicht zu sehen, obwohl das Auto da ist. Die Vorhänge im Schlafzimmer sind zugezogen, und ich bin froh, dass ich gestern zum Schneiden dort oben war; es hätte peinlich werden können, wenn sie heute ihre Vorhänge aufzöge und mein Gesicht sähe oder mein Schatten darüber wanderte, während sie im Bett liegt.
Ich habe meine Arbeit für Miss Cashmere begonnen, als sie noch in London arbeitete und sie und ihr Mann an den Wochenenden herkamen, zu Weihnachten, in den Sommerferien und zu Geburtstagen und Partys. Später blieb sie dann hier wohnen und bekam drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, und ich sah, wie sie heranwuchsen und flügge wurden, während sie blieb. Ihr Mann fuhr weiterhin nach London und kehrte abends zurück, doch dann, an einem Februartag vor ungefähr zehn Jahren, kam er nicht zurück. Ich erinnere mich, dass ich damals da war und der gleichen Arbeit nachging, doch ich erinnere mich nicht mehr an das Jahr. Ungefähr eine Woche später kam er für ein paar Stunden zurück – das Leben hatte ihn verlassen. Autos fuhren vor. Freunde, die erwachsenen Kinder und deren kleine Kinder, seine Kollegen und Bekannten, von denen ich einige wiedererkannte, die schon früher zu Besuch hier gewesen waren und die ich zu Partys oder Mittagessen hatte kommen sehen; elegante Menschen, die großen Autos in dezenten Farbtönen entstiegen, und andere, die sich aus kleineren Autos in helleren Farben schälten. Die Menschen standen um ihn herum in seiner Kiste, dann wurde er zum Friedhof gefahren; sie verwandelten ihn und seine Kiste zu Asche, trocken und bröselig wie das Leben, vermischten sie mit der Erde und schickten ihn dorthin zurück, woher er gekommen war, und das war es dann. Heute ist er nur noch eine Geschichte.
Ich hatte Miss Cashmere gefragt, ob ihr lieber wäre, wenn ich an diesem Tag nicht zur Arbeit käme, aber sie sagte: »Machen Sie weiter wie immer, es wird mir guttun, Sie zu sehen.« Vielleicht wünschte sie sich die Normalität meines Herumwerkelns. Und so ging das Leben für mich, die Pflanzen und die Insekten weiter, während die Menschen in Schwarz auf der anderen Seite der beschlagenen Scheiben des Wintergartens zwischen den importierten Gewächshauslilien in ihrer gläsernen Box herumstanden und an kurzstieligen, dunkel gefüllten Gläsern nippten – Sherry möglicherweise. Ich hielt draußen Distanz und arbeitete in der Nähe der Ställe und der Komposthaufen wegen der Wärme. Ich habe mehr Zeit in seinem Garten verbracht als er. Er war ein netter Mann; wir unterhielten uns gelegentlich, er war freundlich. Wir waren verschieden. Wir mochten denselben Whisky. Er war sauber, gepflegt und geschliffen; ich bin all das nicht. Wir stammten aus verschiedenen Welten. Wir glaubten an verschiedene Dinge.
Jetzt hat man ihn in der Natur verstreut. Er glaubte an die Sündhaftigkeit des Fleisches, und deswegen hatten wir Mühe, uns über Sinnhaftigkeit und Bedeutung zu verständigen, doch Themen wie: Liebe ist gut, und Schönheit ist gut, Arbeit ist ermüdend, und Whisky ist gut – waren einfach. Es gab Millionen von Regeln und Überzeugungen und Systemen und Ritualen zwischen ihm und mir und der Wahrheit des Schlamms. Er lebte für ein höheres Ideal, eine große Idee, die dem Leben in seinem Fall einen Sinn verlieh. Er war dazu erzogen, etwas Besonderes zu sein. Ich war dazu erzogen, nichts zu sein, aber ich habe mich sehr bemüht, das Nicht-Sein zu etwas Gutem zu machen.
Sie hatte ihn geliebt und trauerte lange und interessierte sich, soweit ich weiß, nie für einen anderen Mann. Miss Cashmere ist allein. Manchmal kommen die Kinder, meistens aber nicht. Ich bin jeden Tag hier. Ich betrete das Grundstück, erledige meine Arbeit und fahre dann nach Hause zu Peggy, die ich liebe. Liebe ist simpel: Sei einfach aufmerksam, gib dir Mühe, nimm dein Ego zurück. Peggy tut das Gleiche, und so funktioniert es.
Ein paar Primeln blühen, rosa und gelb. Einige der Helleboren – Christrosen – zeigen ihre weißen Blüten. Auf Latein heißt die Christrose Helleborus niger (schwarzer Helleborus), obwohl die Blüte weiß ist – die Wurzel ist schwarz. Mit hängenden Köpfen wachsen sie zwischen den vertrocknenden Blättern unter der Hecke, an einer kühlen, schattigen Stelle, wie sie es mögen. Wenn sie verblühen, schwellen die Samenkapseln und verfärben sich braun, und ihre Verwandten, die Lenzrosen (Helleborus orientalis), öffnen ihre weinroten Blüten. Helleboren sind gewöhnliche Gartenpflanzen, die wie so viele andere hochgiftig sind: Fingerhut, Eisenhut, Rhododendron und weitere. Eine nicht verwandte Pflanze, bekannt als »falscher Helleborus«, enthält ein Gift namens Cyclopamin. Das Kind einer schwangeren Frau, einer Katze, einer Ziege, eines Huhns, die von dieser Pflanze gegessen haben, wird mit einem Auge mitten auf der Stirn und einem primitiven, undifferenzierten Gehirn geboren, ähnlich dem einer Schlange oder eines Maulwurfs. Dieses Wesen stirbt bald nach der Geburt. Es gibt keinen nachgewiesenen Fall eines Zyklopen, der bis ins Erwachsenenalter überlebt hätte.
Helleborus-Blätter neigen dazu, sich während der Blütezeit schwarz zu färben; ich gehe auf die Knie und nehme die Gartenschere aus dem rissigen Lederholster, das an meinem Gürtel hängt, und schneide sie ab, so können die Pflanzen ihre Blüten besser präsentieren. Hierbei handelt es sich um eine traditionelle Vorgehensweise, die Pflanze braucht die Blätter nicht mehr, sie ist kurz vor der Winterruhe. Auch der Saft ist giftig, hatte aber nie eine Wirkung auf mich; aber wer kann schon sagen, was Ursache, was Wirkung ist bei all den täglichen Gedanken und Gefühlen, Wehwehchen und Schmerzen, Tinnitus und sonderbaren Herzrhythmen? Miss Cashmere wird die Blüten wahrscheinlich nicht einmal bemerken, und ich erledige diese kleinen Aufgaben jetzt ebenso sehr zu meinem eigenen Vergnügen wie zu ihrem.
In Warming Her Pearls bedichtet die Lyrikerin Carol Ann Duffy die einst übliche Praxis, wonach eine Bedienstete die Perlen ihrer Herrin wärmt, bevor diese abends ausgeht – ein sinnliches Gedicht über eine Beziehung, die für die Bedienstete einen persönlichen, für ihre Herrin jedoch nur einen praktischen Wert hat. Ich frage mich, ob ich Miss Cashmeres Perlen wärme. Ich liebe sie, wie ich die giftigen Helleboren liebe und das verblasste Wintersüß. Sie ist eine Blume in meinem Garten, und ich frage mich manchmal, was sie für mich empfindet. Wir sind schon so lange miteinander verbunden; vielleicht ist es für sie ein Vergnügen, mich in ihrer Nähe zu wissen; wahrscheinlicher ist jedoch, dass ich ihr mit der Arbeit, die ich hier verrichte, einfach eine ihrer Sorgen abnehme. Ich glaube, in den vergangenen Jahren hatte ich einen gewissen Unterhaltungswert, wenn ich sah, wie sie und ihre Freundinnen im Wintergarten oder auf der Terrasse miteinander lachten und tranken, während ich in Shorts meiner Arbeit nachging, das Gras mähte oder die Rosen zurückschnitt. Ich war jung und gab mich Fantasien hin, wie ich ins Haus eingeladen und was dann wohl passieren würde. Aber das geschah natürlich nie.
Mit der Zeit kam mir der Gedanke, dass sie mir lediglich bei der Arbeit zusah; sie hatte keinerlei Absichten mir gegenüber. Ich stellte mir vor, dass sie vielleicht versuchte, zu verstehen, was ich tat, aus welchen Gründen ich an den Apfelbäumen ein paar Äste zurückschnitt, nicht aber an den anderen Bäumen, oder warum ich an einer bestimmten Stelle grub oder was ich wohl zu ihrer Freude und Überraschung pflanzte. Doch dann, nach einer Weile, als nie Fragen kamen, erkannte ich, dass sie mich auf dieselbe Weise lächelnd ansah, wie sie die Blumen ansah, ihr schönes Haus oder den neuen Sportwagen, einen Jaguar, oder eine teure Vase auf ihrem Tisch. Mit Besitzerstolz. Ihre Gedanken und Gefühle mir gegenüber waren vermutlich die gleichen, die sie allem anderen in ihrem Garten entgegenbrachte – den Blumen, den Vögeln und Insekten; ich gehörte derselben Kategorie an. Ich war eine bezahlte Figur auf einer Bühne.
Jeder Garten braucht jemanden, der sich um ihn kümmert, vorzugsweise jemanden, der wie ein Gärtner aussieht und im Gesamtbild einen wirkungsvollen Part übernehmen kann. Im achtzehnten Jahrhundert waren als dekoratives Gartenelement Einsiedler en vogue, die in einer eigens errichteten Einsiedelei auf dem Gelände des Landbesitzers wohnten. Sie dienten der britischen Aristokratie und ihren Gästen zur Zerstreuung, die sie zu deren persönlichen Vergnügen beobachteten oder deren Rat suchten. Miss Cashmere beobachtet mich, doch sie dient auch mir zum Vergnügen; jeder von uns vervollständigt den Garten für den anderen.
Miss Cashmere kommt selten aus dem Haus, wenn es kalt ist. Früher war sie einmal sehr schön gewesen; ihre Fesseln sind knochig geworden und lassen ihre Füße groß erscheinen, ihre dicken, braunen Strumpfhosen haben die Farbe von Milchkaffee, sie ist gebeugt und redet nicht viel; ihr Augenlicht lässt nach, sie wirkt kleiner.
Wenn ich Miss Cashmere, selten genug, anderen gegenüber erwähne, dann nenne ich sie so, unter diesem Namen ist sie bekannt, doch eigentlich heißt sie Dorothy, und so nenne ich sie, wenn ich mit ihr spreche. Wenn ich Peggy von ihr erzähle, nenne ich sie »Dotty«, obwohl sie überhaupt nicht »dotty«, also nicht mehr ganz richtig im Kopf, ist. Alte Menschen haben eine Kraft und eine Zerbrechlichkeit, die junge nicht haben – nun, eine andere Art von Kraft; eine Zerbrechlichkeit, die sich von der der Jungen unterscheidet. Sie ist körperlich schwach, doch ihr Denken, ihr Geist, ihre Selbstwahrnehmung sind stark. Die Jungen sind das Gegenteil: körperlich stark, doch ihre Selbsterkenntnis, ihre innere Ruhe sind schwach ausgeprägt, und das ist der natürliche Lauf der Dinge. Ich besitze eine große Ruhe, sie ist das stärkste, was ich habe. Ich habe sie seit Jahren als etwas Kostbares gehegt und gehütet.
Sie raucht etwa vierzig Zigaretten am Tag. Ich habe sie einmal gefragt, wie sie es schafft, so fit und gesund zu sein, obwohl sie so viel raucht, und sie antwortete: »Wissen Sie, Marc, ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet. Ich bin nutzlos – nützliche Dinge verschleißen und werden müde.« Und: »Die Nutzlosen werden irgendwo auf einem Regal abgestellt und völlig in Ruhe gelassen. Wie die königliche Familie oder eine gesprungene Teekanne. Ich bin völlig nutzlos, deshalb halte ich ewig, genau wie sie. Ich diene lediglich der Dekoration.«