Vom Ende der Endlichkeit - Moritz Riesewieck - E-Book

Vom Ende der Endlichkeit E-Book

Moritz Riesewieck

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Beschreibung

Wir leben in einer Welt, in der fast alles, was wir tun, Spuren hinterlässt. Kann aus den digitalen Daten, die ein Mensch im Laufe seines Lebens produziert, nach dem Tod seine Persönlichkeit ermittelt werden: sein Humor, seine Empathie, seine Art zu denken und zu fühlen? Mehr noch: Kann mithilfe Künstlicher Intelligenz die Persönlichkeit eines Verstorbenen auf einen digitalen Wiedergänger übertragen und von ihm am Leben erhalten werden, mitsamt seiner Stimme? Können wir künftig mit den Toten reden? Was wie ein Science-Fiction-Plot klingt, wird an verschieden Orten auf der Welt bereits erarbeitet: Start-ups tüfteln an einer neuen, digitalen Form von Unsterblichkeit und wecken damit große Hoffnungen bei Menschen, die ihre Partner*innen, Familienangehörige, Freunde und Freundinnen verloren haben. Die preisgekrönten Filmemacher und Autoren Moritz Riesewieck und Hans Block sind dabei, als die ersten Kunden ihren digitalen Klonen begegnen und Stimmen von Verstorbenen mit den Trauernden sprechen. Sie erzählen von herzzerreißenden, skurrilen und witzigen Begegnungen mit den neuen Un-Toten. Und sie bekommen exklusive Einblicke in die Technologien, die die digitale Wiederauferstehung möglich machen sollen. Entsteht hier eine neue, weltliche Heilserzählung - oder handelt es sich bloß um eine besonders skrupellose Geschäftsidee? Auf ihren Reisen ins digitale Jenseits entdecken die Autoren die Wiedergeburt eines uralten Menschheitskonzepts im neuen Gewand: die Renaissance der Seele. Werden unsere digitalen Seelen nach unserem physischen Tod - in der Cloud weiterleben?

Der gekürzte Neuauftritt des Hardcover-Ausgabe »Die digitale Seele« (Herbst 2020).

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Seitenzahl: 477

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Wir leben in einer Welt, in der fast alles, was wir tun, Spuren hinterlässt.

Kann aus den digitalen Daten, die ein Mensch im Laufe seines Lebens produziert, seine Persönlichkeit ermittelt werden: sein Humor, seine Empathie, seine Art zu denken und zu fühlen? Kann mithilfe Künstlicher Intelligenz diese Persönlichkeit nach dem Tod wiederbelebt werden, mitsamt ihrer Stimme? Die preisgekrönten Dokumentarfilmer Moritz Riesewieck und Hans Block beobachten, wie die ersten Kund*innen ihren digitalen Klonen begegnen und Stimmen von Verstorbenen mit den Trauernden sprechen. Sie erzählen von herzzerreißenden, skurrilen und witzigen Begegnungen mit den neuen Un-Toten. Während sich mehr und mehr Menschen von den Religionen abwenden, erfährt der Glaube an ein Leben nach dem Tod im Digitalzeitalter eine überraschende Renaissance. Entsteht hier eine neue, weltliche Heilserzählung: die digitale Unsterblichkeit?

»Ein kluges, extrem spannend zu lesendes Buch.« Radio Eins

»Zwei mutige und kreative Autoren, die die digitale Revolution von ihrer gefährlichen Seite betrachten.« WDR

»Leidenschaftlich, kritisch, neugierig und unvoreingenommen beleuchten [Riesewieck und Block] eine bisher kaum bekannte digitale Welt zwischen Leben und Tod.« Galore

Der gekürzte Neuauftritt des Hardcover-Ausgabe »Die digitale Seele. Unsterblich werden im Zeitalter Künstlicher Intelligenz« (Goldmann, Herbst 2020).

Hans Block und und Moritz Riesewieck

(beide *1985) sind Shootingstars des internationalen Dokfilm-Kinos. Ihr Debütfilm »The Cleaners« wurde unter anderem mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet und für einen Emmy nominiert, ihr TED-Talk über die geheimen Löschtrupps der sozialen Netzwerke erreichte ein Millionenpublikum. Unter dem Label Laokoon entwickeln Hans Block und Moritz Riesewieck zusammen mit Cosima Terrasse viel beachtete künstlerische und crossmediale Projekte. Ihre Arbeiten setzen sich mit der Frage auseinander, wie sich unsere Vorstellung von Mensch und Gesellschaft im digitalen Zeitalter verändert.

MORITZ RIESEWIECK   HANS BLOCK

VOM ENDE DER ENDLICHKEIT

Unsterblichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz

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Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechtsinhaber ausfindig zu machen. Sollte dies im Einzelfall einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir berechtigte Ansprüche natürlich branchenüblich honorieren.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München, unter Verwendung von Motiven von FinePic®, München, und ConsistentHypocrite

Redaktion des HCs: René Stein; Kürzung des PBs: Regina Carstensen

DF · Herstellung: CF

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-29080-1V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

TEIL I BEGEGNUNGEN

0. KAPITEL DER ANFANG VOM ENDE UNSERER ENDLICHKEIT

DIGITALE UNSTERBLICHKEIT

DIGITALE SEELE

INS LEERE GREIFEN

1. KAPITEL EINFACH UNSTERBLICH WERDEN?

DAS EWIGE ICH

2. KAPITEL VON VÄTERN UND SÖHNEN

KI IM KINDERZIMMER

PLÖTZLICH DEM TODE NAH

DAS LEBEN FESTHALTEN

DADBOT

DIE VERDOPPLUNG DES VATERS

ERICA HAT EINE SEELE

ASTRO BOY

KAUF DICH JUNG

PATENT AUF DIGITALE KLONE

3. KAPITEL KÜNSTLICHE LIEBE

EINSAME SEELEN

POSTHUMANE GEFÜHLE

4. KAPITEL INSEL DER SELIGEN

DER ERSTE KUNDE

MAN(N) LEBT NUR ZWEIMAL

IM ANGESICHT DES TODES

DAS LEBEN DANACH

5. KAPITEL NICHT VERGESSEN WOLLEN

SICH SELBST VERLOREN GEHEN

FALSCHES ERINNERN

COMPUTER-GEDÄCHTNIS

DAS LEBEN SPEICHERN

DATEN LÜGEN NICHT

DER NATUR NACHHELFEN

6. KAPITEL LEBENDIG BEGRABEN

BOBOK, BOBOK, BOBOK

TÄGLICH TAUSENDE TOTE FACEBOOK-USER

NETZWERK DER TOTEN

ERSATZ-RELIGION

KIRCHE

70.000 KLONE

GRENZÜBERSCHREITUNGEN

DER MENSCH ALS DREHORGELSTIFT

SEELENVERWANDTE

7. KAPITEL DIE SEELE IST NICHT TOTZUKRIEGEN

AFFENHODEN UND DER TRAUM VON DER UNSTERBLICHKEIT

VIRALE SEELEN

8. KAPITEL KÖRPER LOSWERDEN

DER TODFEIND: DAS MÄRCHEN VOM DRACHEN

DAS INSTITUT FÜR DIE ZUKUNFT DER MENSCHHEIT

MAGISCHES DENKEN

METAMORPHOSE

TEIL II BETRACHTUNGEN

9. KAPITEL KÜNSTLICHE SPRACHE

PERSÖNLICHE AVATARE

CHINA ALS VORBILD

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ LERNT ZU SPRECHEN

BABYX ODER WILL I AM

10. KAPITEL KÜNSTLICHES BEWUSSTSEIN

EINE SEELE GIBT ES NICHT

BEWUSSTSEIN MESSEN

LABOR-SEELEN

WIR SIND UNSERE TRÄUME

11. KAPITEL AUTHENTISCHE KÜHE

DAS SCHIFF DES THESEUS

ÜBER DIE ALLMÄHLICHE VERFERTIGUNG DER PERSÖNLICHKEIT BEIM POSTEN

WER WIR WIRKLICH SIND

12. KAPITEL NICHT VERGESSEN KÖNNEN

SPAM-FILTER-GEDÄCHTNIS

UNHEIMLICHE WIEDERBEGEGNUNG

HÖLLE DER UNSTERBLICHKEIT

UNSTERBLICHER RUHM

13. KAPITEL DAS EWIGE LEBEN

GESCHICHTE SCHREIBEN

KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS

VIRTUELLE HOLOCAUST-ÜBERLEBENDE

GOOGLE ODER: WER DIE VERGANGENHEIT KONTROLLIERT, KONTROLLIERT DIE ZUKUNFT

DIGITALER NACHLASS

DIE WIEDERGEBURT DER SEELE

DANKSAGUNGEN

ANHANG

TEIL I BEGEGNUNGEN

0. KAPITELDER ANFANG VOM ENDE UNSERER ENDLICHKEIT

DIGITALE UNSTERBLICHKEIT

Es gibt ein Leben davor und eines danach. Auch für die Glück­­lichen unter uns, die keine Toten aus dem Familien- oder Freundeskreis zu beklagen haben, hat die Erfahrung der Pandemie den Blick auf unsere Vergänglichkeit entscheidend beeinflusst. Wie kein anderes Ereignis vor ihm hat Covid-19 uns vor Augen geführt, wie verletzlich unsere Körper sind und wie schnell wir selbst oder unsere Liebsten vom Tod betroffen sein können, auch dann, wenn wir das Privileg haben, von unheilbaren Krankheiten, Unfällen, Krieg oder Hungersnot verschont zu bleiben. Der Tod ist mit aller Macht ins kollektive Bewusstsein der Menschen gerückt und mithin bei vielen die Erkenntnis, wie gnadenlos schmerzhaft und überfordernd der Verlust eines geliebten Menschen sein kann, ohne eine tröstende Heilserzählung, an die man glaubt. Nicht nur konnten sich viele Menschen wegen der Schutzmaßnahmen in den Kliniken nicht von ihren sterbenden Part­ner*in­nen, Angehörigen und Freund*in­nen verabschieden, ihnen in den letzten Stunden beistehen und angemessen um sie trauern. Vielen ist erst durch diese schreckliche Erfahrung klar geworden, wie eklatant der Mangel an vor allem kollektiven Formen der Trauer ist, die uns die Religion in Form von Ritualen jahrhundertelang geboten hat. Viele Menschen haben erst in diesem Moment bemerkt, wie wenig sie sich dem erbarmungslos endgültigen Verlust gewachsen fühlen, ohne die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Der fehlende Glaube an eine religiöse Erlösungsgeschichte hat für Millionen von uns den Tod eines geliebten Menschen zu einer unerträglichen Katastrophe werden lassen. Es ist eine der ältesten Fragen der Menschheit: Was geschieht mit uns nach dem Tod? Jahrhundertelang war die Antwort auf diese Frage für die meisten Menschen im Abendland klar. Die Seelen fahren zu Gott in den Himmel auf oder schmoren in der Hölle. Doch wie aktuelle Studien zeigen, glauben immer weniger Menschen in Westeuropa an Gott und das ewige Leben im Jenseits,1 nur noch eine Minderheit betrachtet sich selbst als religiös.2 Andererseits glaubt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung: »Es gibt KEIN Leben nach dem Tod.«3 Offenbar können nur wenige Menschen ohne Aussicht auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod auskommen. Noch fehlt eine neue (weltliche) Heilserzählung. Noch ist es nicht gelungen, den Sinn-Verlust auszugleichen, der für Milliarden von Menschen mit der Abwendung von der Religion entstanden ist. Es klafft eine gewaltige Lücke, was auch den Technologieunternehmen nicht entgangen ist, die die Leerstelle als Chance für die nächste große Geschäfts­idee begreifen. In Aussicht stehen Milliarden potenzieller Kund*innen, die offen sind für eine neue zeitgemäße Botschaft, die sie von der Unausweichlichkeit des Todes erlöst. Im Windschatten der digitalen Revolution treten Start-ups aus der ganzen Welt in einen Wettlauf um einen gewaltigen Markt – den Markt der digitalen Unsterblichkeit.

Seit fünfzehn Jahren kommunizieren Menschen rund um die Uhr über Social Media- und Messenger-Dienste. Wir offenbaren in WhatsApp-Konversationen all die unterschiedlichen Facetten unseres Charakters, wir übermitteln unseren Smartphones tägliche Bewusstseinsströme. Von Shenzhen in China über Iaşi in Rumänien bis nach Pasadena in den USA arbeiten Entwickler*innen weltweit daran, aus solchen intimen Daten nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen auszulesen, sondern die Muster unseres Verhaltens mithilfe Künstlicher Intelligenz zu imitieren. Ihr Ziel: unsere Persönlichkeiten über den Tod hinaus am Leben zu erhalten. Was wie das Skript eines Science-Fiction-Films klingt, ist längst auf dem Weg, Realität zu werden. Doch was steckt hinter solchen fragwürdigen Angeboten? Wie genau funktioniert diese Technologie? Was sind es für Personen, die alles daransetzen, digital unsterblich zu werden? Und wie ergeht es denen, die versuchen, ihre Liebsten wiederauferstehen zu lassen – als digitale Klone?

Um diese Fragen zu erkunden, sind wir um die halbe Welt gereist und haben mit Pionier*innen gesprochen, die Unsterblichkeit fernab von religiösen Vorstellungen des ewigen Lebens suchen, haben diejenigen getroffen, die von digitaler Unsterblichkeit träumen und an ihrer Verwirklichung arbeiten: Menschen, die ihre verstorbenen Väter auf dem Smartphone wiederauferstehen lassen. Menschen, die seit Jahrzehnten sämtliche Facetten ihres Lebens aufzeichnen. Menschen, die leichtfertig mit der Hoffnung Hunderter Todkranker spielen, indem sie ihnen ein Leben nach dem Tod in Aussicht stellen. Menschen, die mit der Unterstützung eines gigantischen chinesischen Tech-Unternehmens virtuelle Doppelgänger von sich oder anderen erzeugen. Gesprochen haben wir auch mit Expert*innen führender Hirnforschungszentren der Welt, die daran glauben, dass neuromorphe Computerchips künstliches Bewusstsein erzeugen können, oder Programmierer*innen, die uns Einblicke in die Arbeit künstlicher neuronaler Netze erlauben und uns anschaulich machen, wie synthetische Wesen erschaffen werden können. Wir erzählen von unseren Begegnungen mit Träumer*innen und Macher*innen, Verzweifelten und Euphorischen, Wagemutigen und solchen, die sich vor den Auswirkungen dieses epochalen Wandels fürchten. Mal führt uns unsere Reise an entlegene Orte, mal ins Innere des Menschen, wo wir erkunden, was uns zu den Menschen macht, die wir sind.

DIGITALE SEELE

Dass wir einmal ein Buch über die Seele schreiben würden, hätten wir beiden Autoren uns auch nicht träumen lassen. Mit religiösen oder spirituellen Ideen haben wir in etwa so viel zu tun wie Donald Trump mit der Relativitätstheorie. Warum wir uns trotzdem mehrere Jahre mit der Seele beschäftigt haben, hat mit einer Meldung zu tun, die im Jahr 2015 weltweit für Furore sorgte: 300 auf Facebook vergebene Likes reichten aus, verkündeten Forscher*innen der renommierten Cambridge University, um die Persönlichkeit eines Menschen besser zu kennen als der Partner oder die Partnerin.4 Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde im Netz. Big Data – das Wundermittel, das die Persönlichkeitsermittlung erlauben soll – wurde zum geflügelten Begriff und ist seitdem in aller Munde. Immer aggressiver erobern Tech-Unternehmen einen Bereich des Menschen, der lange Zeit Gott und Liebenden vorbehalten war: einen Menschen wahrhaftig zu kennen, ihn zu erkennen. Wie aber kommen wir Autoren dieses Buches darauf, dass das, was dank der gewaltigen Datensätze von Menschen, dank Algorithmen und Künstlicher Intelligenz zutage befördert wird, dass das die Seele wäre, genauer gesagt: die digitale Seele?

Auf viele von uns wirkt der Begriff der Seele verstaubt und spekulativ, die Hirnforschung widerspricht ihrer Existenz, und auch die wissenschaftliche Psychologie will schon lange keine Seelenkunde mehr sein. Dennoch ist die Seele bis heute fester Bestandteil unseres täglichen Sprachgebrauchs – oft ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Jemand ist »eine gute Seele« oder »eine Seele von Mensch«. Wir lassen (viel zu selten!) »die Seele baumeln« und geben uns der »Seelenruhe« hin. Zwei Menschen können »ein Herz und eine Seele« sein und ihren »Seelenverwandten« finden. Wenn wir Traumatisches erleben, sorgen wir uns um unser »Seelenheil«. Die Seele soll leiden und erkranken können. Und bisweilen haben wir das Gefühl, unsere »Seele verkauft« zu haben. Während die Seele aus dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht wegzudenken ist, haben die Neurowissenschaften sie jedoch vollständig aus ihrem Wortschatz verbannt. An die Stelle der Seele ist das Bewusstsein getreten, eine Entität, die sich anhand von Hirnströmen schlichtweg besser messen lassen soll. Aber ob ein Mensch, der im Koma liegt oder hirntot ist, damit also nachweislich kein Bewusstsein mehr hat, ob solch ein Mensch darum auch seine Seele verloren hat? Dem würden die allermeisten von uns wohl entschieden widersprechen. Ob während einer Vollnarkose, im Tiefschlaf oder in der Trance: Wir büßen nicht unsere Seele ein, nur weil unser Bewusstsein vorübergehend außer Kraft gesetzt ist. Die Seele eines Menschen vergeht nicht, nur weil sie nicht zutage tritt.5 Aus der Idee der Seele sind die universalen Menschenrechte und unsere Vorstellungen von der Würde aller Menschen hervorgegangen.6 Die Seele steht für das, was sich hinter allen Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen von Menschen verbirgt. Sie steht für unsere Liebenswürdigkeit, unsere (unerfüllten) Potenziale, für den Teil von uns, der sich nicht so leicht erschüttern lässt durch die Wirrungen des Alltags – und der trotzdem offenbar daran erkranken kann. Die meisten von uns Menschen wollen sich nicht als das begreifen, als was uns die Mehrheit der Neurowissenschaftler*innen nun schon seit einigen Jahrzehnten betrachtet: als ein komplexes, aber letztlich unwillkürliches Zusammenspiel aus biochemischen und neurophysiologischen Prozessen, Hormonen, Hirnströmen und der Welt, die uns umgibt. Für Willensfreiheit, wie wir alle sie uns jeden Tag aufs Neue einbilden, ist da wenig Platz. Für eine Seele noch weniger. Wie wir sehen werden, ist die Hirnforschung allerdings beileibe nicht imstande, die schwierigen Fragen über das Bewusstsein des Menschen zu beantworten. Ebenso wenig kann sie erklären, warum die Mehrheit der Menschen in Westeuropa davon überzeugt ist, eine Seele zu haben, obwohl die meisten Menschen spirituelle Konzepte ablehnen.7 Die Seele scheint mehr zu sein als eine religiöse oder spirituelle Idee. Es fühlt sich einfach auf eine bestimmte Weise an, ich selbst zu sein.

An der Seele hängt nicht zuletzt unser Verständnis von Liebe. Auch die ist schließlich aus Sicht von Neu­ro­wis­sen­schaft­ler*in­nen nichts weiter als ein Zusammenwirken von Dopamin, Serotonin und Oxytocin.8 Und trotzdem kämen wir nicht auf die Idee, statt »Ich liebe dich« zu sagen: »Du lässt meinen Dopaminspiegel steigen.« Oder: »Du tust meiner Oxytocin-Ausschüttung gut.« Weil wir wohl zu Recht das Gefühl haben, dass die Botenstoffe nicht Auslöser, sondern Teil eines nicht gänzlich erklärbaren Phänomens sind. Es ist, was es ist, sagt die Liebe.9 Das Gleiche gilt für die Seele. Was sie ist, kann der Verstand nicht erklären, aber Liebende haben wohl nicht ohne Grund das Gefühl, einander ihre Seelen zu offenbaren. Wir sind mehr als die Summe unserer Teile: Diese Überzeugung teilen auch Menschen, die mit Spiritualität nichts am Hut haben. Warum sollte man herumdrucksen, wenn sich für dieses »Mehr« seit Jahrtausenden ein Begriff eingebürgert hat, der das unerklärliche Auftauchen des Geistes auf den Punkt bringt: die Seele. Doch wer beschwört die Seele, wer besingt sie und umsorgt sie, jetzt, da hierzulande immer weniger Menschen einen Fuß in die Gotteshäuser setzen? Es ist eine Leerstelle entstanden, eine »transzendentale Obdachlosigkeit«.10 Und wie immer, wenn irgendwo eine Leerstelle entsteht, ist der Versuch, diese zu füllen, längst im Gange. Doch nicht etwa spirituelle Gurus, neuartige oder fernöstliche Religionsgemeinschaften oder Esoteriker*innen haben die größte Aussicht, der Seele neuen Sinn zu verleihen, sondern ausgerechnet jene Menschen, die glauben, alles in Einsen und Nullen übersetzen zu können: die Apologeten der Digitalität.

INS LEERE GREIFEN

Seit ihrem Anbeginn träumt die Menschheit davon, dem Tod zu entkommen. Die Kulturgeschichte ist voller Erzählungen, in denen der Mensch seine Sehnsucht nach der Unvergänglichkeit zum Ausdruck bringt. Zeit seines Lebens kann er sich nicht damit abfinden, eines Tages zu vergehen. Doch während alle Bestrebungen, den Körper eines Menschen vor dem Tod zu bewahren – sei es durch Konservieren und Einfrieren oder die Pille gegen das Altern – , auch heute noch zum Scheitern verurteilt sind, scheint das detailgetreue digitale Klonen seines Wesens, seiner Art zu sprechen und zu handeln, ja vielleicht sogar seiner Art zu denken in diesen Tagen zum Greifen nah.

Im Februar 2013 erschien eine Episode der Science-Fiction-Serie Black Mirror mit dem Titel »Be right back«, zu Deutsch »Wiedergänger«.11 Der Plot der Serie eröffnet ein fesselndes Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, es wäre uns möglich, mit einer längst verstorbenen Person in Kontakt zu treten. Stellen wir uns vor, eine zukünftige Technologie würde es den Menschen ermöglichen, Tote wieder zum Leben zu erwecken, erst auf den Bildschirmen unserer Computer und Smartphones, dann in Fleisch und Blut. Die junge Frau Martha erlebt die Wiederauferstehung ihres verstorbenen Partners Ash. Inmitten des Trauerns über ihren Lebensgefährten erfährt Martha von einem Angebot, das verspricht, mithilfe der unzähligen gesammelten Daten, die Ash im Laufe seines Leben im Netz hinterlassen hat, ihren Liebsten digital wiederauferstehen zu lassen.

Was noch vor wenigen Jahren als reine Fiktion wahrgenommen wurde, wird in diesen Tagen Realität. Im Februar 2020 schauten mehr als 18 Millionen Menschen auf YouTube das neunminütige Video12 einer südkoreanischen Mutter, die zum ersten Mal ihre Tochter wiedersieht, nachdem das Mädchen mehr als drei Jahre zuvor verstorben ist. Dieses Mal handelt es sich nicht um einen Spielfilm. Der südkoreanische Fernsehsender MBC hat den Ausschnitt seiner Dokumentation ins Netz gestellt und weltweit sehr viel Mitgefühl, aber auch Bestürzung über das gewagte Experiment ausgelöst. Die Begegnung von Jang Ji-sung mit ihrer toten Tochter findet in einem Park statt. Jang geht allein den Weg entlang, den sie so oft mit ihrer kleinen Tochter gegangen ist. Die Frau hört, wie eine Stimme ein Lied singt, das sie ihr einmal beigebracht hat: Es ist die Stimme von Nayeon, ihrer Tochter. Hinter einem Holzhaufen springt das siebenjährige Mädchen auf und läuft auf seine Mutter zu: »Mama, wo bist du gewesen?«, fragt das Kind. Die Mutter bricht in Tränen aus. Sie will ihre Tochter berühren, aber sie greift ins Leere. Denn das Mädchen, das dort unmittelbar vor ihr steht und das doch eindeutig ihr Kind ist – das aufgeweckte, neugierige Gesicht, die schulterlangen schwarzen Haare mit dem Haarreif, den sie ihr einmal geschenkt hat, im violetten Kleid, das sie so gerne getragen hat – , das Mädchen, das mit der unverkennbaren Stimme ihrer Tochter Nayeon in diesem Moment fragt, ob Jang Ji-sung an sie gedacht habe, ist nur eine Simulation, ein Avatar ihrer Tochter, wenn auch nahezu perfekt. Und Jang weiß das. Schließlich steht sie in einem Green-Screen-Studio und trägt eine VR-Brille und Handschuhe, die ihre Bewegungen übertragen. Aber Jang will nicht wissen, dass das alles hier bloß virtuelle Realität ist. Sie ist hier, um ihre Tochter wiederzubekommen, wenn auch nur für eine halbe Stunde. Immer wieder versucht die Frau, nach der Schulter ihrer Tochter zu greifen, sie in den Arm zu nehmen. Jangs Mann sitzt ein paar Meter weiter bei ihren anderen beiden kleinen Töchtern und einem wenig älteren Bruder. Hilflos sieht der Mann zu, wie seine Frau durch das Studio geistert. »Ich will dich berühren, nur ein Mal«, sagt sie schluchzend zu ihrem toten Kind, das sie zum Greifen nah vor sich stehen sieht. Ihrem Mann zerreißt der Anblick fast das Herz. Lange hatte das Paar gehofft, Nayeon könnte wieder gesund werden. Bei dem Mädchen war ein seltener Gendefekt diagnostiziert worden, der die Organe schädigte und schließlich zum Tod führte. In diesem Moment jedoch scheint ihre Tochter lebendiger denn je zu sein. Jang sieht sie zu einem Bett gehen, das auf der Wiese steht, umgeben von Dingen, die Nayeon zu Lebzeiten geliebt hat: einem leuchtenden Hasen, einem aufblasbaren Donut mit bunten Streuseln. Nayeon fragt: »Mama, wir werden immer zusammenbleiben, ja? Ich werde mich für immer an dich erinnern, ja?« Zusammenbleiben? Oder für immer erinnern? So ganz genau scheint Nayeon noch nicht zu wissen, wie es für sie und ihre Mutter nach dieser virtuellen Wiederbegegnung weitergehen soll. Jang hockt sich neben das Bett ihrer Tochter, wie sie es wohl zu Lebzeiten so oft gemacht hat, wann immer Nayeon nicht schlafen konnte oder Albträume hatte. »Mama liebt dich so sehr, Nayeon. Wo auch immer du bist, ich werde nach dir Ausschau halten. Ich habe noch Dinge zu tun. Aber wenn ich damit fertig bin, dann werde ich mit dir sein«, sagt sie. »Dann werden wir wieder zusammen sein. Dann wird es uns beiden gut gehen.« »Ich bin müde, Mama«, sagt Nayeon und kuschelt sich in das Kopfkissen. »Mama, bleib bei mir. Mama, auf Wiedersehen.« Ein weiß leuchtender Schmetterling kommt herangeflogen und setzt sich auf den liegenden Körper des Kindes. »Ich liebe dich, Mama«, sagt Nayeon wie im Halbschlaf. »Ich liebe dich auch«, antwortet Jang unter Tränen. Sie streckt noch einmal ihre Hand zu ihrer Tochter aus – und greift doch wieder nur ins Leere. Da breitet sich das gleißend weiße Licht aus, als hätte Jangs Versuch, ihre Tochter zu berühren, das Bild gelöscht. Als es wieder hell wird, ist ihre Tochter verschwunden. Nur der weiße Schmetterling fliegt noch herum, bevor auch er verschwindet und mit ihm alles Licht.

Acht Monate hat das Unternehmen Vive Studios aus Seoul gebraucht, um aus Video- und Tonaufnahmen der Familie die Stimme der verstorbenen Siebenjährigen zu extrahieren, ihr Gesicht und ihren Körper virtuell zu rekonstruieren und mit den computererfassten Bewegungen eines lebenden Kindes zu verbinden. Die Sätze, die die untote Nayeon im virtuellen Park sagt, haben andere Kinder eingesprochen. Anschließend sind diese Stimmen mit der Stimme Nayeons gemischt worden. Um die Persönlichkeit des Kindes zu erfassen, hat sich der Regisseur durch Terrabytes von Handyvideos und -fotos gearbeitet. Nayeon war 2010 geboren worden, also drei Jahre nach Erfindung des Smartphones. Sie hat in einer Zeit gelebt, in der Eltern jeden Tritt und Schritt ihrer Zöglinge aufzeichnen, zumal im technikbegeisterten Südkorea. Was aus all diesen Daten entstehen kann, dafür ist die lebensechte Simulation des koreanischen Mädchens nur ein erster unheimlicher Beweis. Was vor Jahrzehnten als Fantasie in Science-Fiction und Cyberpunk seinen Anfang nahm, wird in den kommenden Jahren zunehmend unser Leben bestimmen und das »Mensch-Sein« grundlegend verändern. Wir erleben einen Tabubruch.

Was passiert, wenn dem Menschen seine letzte Gewissheit genommen wird – die Endlichkeit seines Lebens? Was bedeuten digitale Klone für das Selbstverständnis des Menschen? Können wir es wagen, in den Kreislauf von Leben und Sterben einzugreifen und Menschen (digital) unsterblich werden zu lassen? Was bedeutet es psychologisch für Hinterbliebene, wenn sie nicht loszulassen brauchen, weil sie mit »Verstorbenen« weiterleben können? Wer hat das Recht zu bestimmen, ob Menschen digital wiederauferstehen: die Angehörigen? Die Unternehmen, die die Daten der Verstorbenen besitzen? Was bedeutet es für unsere Gesellschaften, wenn Präsidenten, die schon zu Lebzeiten unaufhörlich twittern, nicht einmal nach dem Tod die Klappe halten müssen? Wer übernimmt die Verantwortung für die digitalen Untoten, die durch das Netz geistern? Was bedeutet es für den Fortschritt, wenn uns künftig Ewiggestrige bevölkern? Und was bedeutet es für das Erinnern selbst, wenn nichts und niemand mehr verloren geht? Wir sind diesen Fragen nachgegangen und zu erstaunlichen Antworten gekommen. Vielleicht ist das alles nur der Anfang: der Anfang vom Ende unserer Endlichkeit.

1. KAPITELEINFACH UNSTERBLICH WERDEN?

DAS EWIGE ICH

Am Anfang war eine Website. Eine schlichte grüne Website, auf der eine einzige Frage zu lesen war: Who wants to live for­ever? Unter dieser Frage war ein Sign-up-Button – für eine so genannte Beta-Version. Einfach anmelden und unsterblich werden? Was sollte das sein? Ein schlechter Scherz? Wir trugen uns ein und warteten ab, was passieren würde. Sie stehen auf der Warteliste!, bekamen wir kurz darauf in einer Antwortmail zu lesen. Eternime – ewiges Ich – ist der Name des Unternehmens, das mit Unsterblichkeit warb. Von Preisen war bisher nicht die Rede. Auch nicht, wie schnell wir mit der Zusendung des Unsterblichkeitstranks (oder was auch immer man uns liefern würde) rechnen konnten. Ganz schön geheimniskrämerisch gab sich die Firma. Wir schickten eine E-Mail, wollten mehr erfahren, doch eine Antwort bekamen wir nicht. Wer weiß, wo unsere Daten, die wir für die Registrierung eingeben mussten, schon gelandet sind? Von der Recherche zu unserem letzten Dokumentarfilm wussten wir bereits, dass Tech-Unternehmen allgemein wenig auskunftsfreudig sind, meist aus Sorge um Ideenklau und Spio­nage seitens der Konkurrenz. Es geht nicht nur darum, als Erste/r eine Idee zu haben, sondern auch die Idee als Erste/r umzusetzen und auf den Markt zu bringen. Daher geht man einem Kontakt mit Journalist*innen lieber ganz aus dem Weg, anstatt mit einem falschen Wort im falschen Moment das Unternehmen in die Krise zu treiben. Bei einer unserer letzten Recherchen führte das mitunter zu absurden Situa­tionen, in denen Unternehmen die komplette Belegschaft vor uns warnten. Fotos von unserem Team waren plötzlich im Umlauf, und nicht selten drohten uns Mitarbeiter*innen mit Repressalien. Wir waren also einiges gewohnt.

Eternime machte aber wohl überdies ein solches Geheimnis aus seinem Wundermittel gegen die Sterblichkeit, weil das die Fantasie umso mehr beflügelte. Bei uns ging dieser Plan auf: Wir recherchierten weiter und stießen auf das Massachusetts Institute of Technology in Boston in den USA, kurz MIT, wo die Idee ihren Ursprung genommen zu haben schien. Das Institut gehört zu den Spitzenuniversitäten weltweit und ist bekannt für seinen Erfinder*innen-Geist. Simply become immortal, lasen wir auf den Seiten des Instituts. Einfach un­­sterblich werden – nichts leichter als das. Um Daten ging es, um den digitalen Fußabdruck eines Menschen. Wie der zu Unsterblichkeit führen sollte, verstanden wir nicht. Schließlich war das hier kein Skript für eine Science-Fiction-Serie, sondern ein reales Vorhaben an einer der renommiertesten Universitäten der Welt. Genies, Besessene und wohl auch eine Hand voll Verrückter tummeln sich in Boston, um an Visionen für das nächste Jahrtausend zu tüfteln. Was hier geschieht, ist für Menschen ohne besonderen technischen Hintergrund oft unverständlich und unvorstellbar. MIT-Forscher*innen programmierten unter anderem für die US-Weltraumbehörde NASA ein vollautomatisches Mars-Mobil. Hier wurden Toaster, Kühlschränke oder Turnschuhe »smart« gemacht. Schon 1997 legten die Professoren Nicholas Negroponte (* 1943) und Neil Gershenfeld (* 1959) die Grundlage für das so genannte »Internet der Dinge«, das heute in aller Munde ist. Dass an dieser Brutstätte nun auch die Sterblichkeit überwunden werden sollte und an einem »Eternal me« – einem ewigen Ich – gebastelt wurde, schien trotz der beeindruckenden Liste an Innovationen, die aus Boston kamen, mehr als vermessen. Einfach unsterblich werden – die Mischung aus Understatement und Größenwahn machte uns neugierig. Wenn es durch die Vordertür nicht klappte, jemanden von dem Unternehmen sprechen zu können, mussten wir halt den Hintereingang nehmen. Wir fanden im Netz einen mazedonischen Programmierer und Software-Entwickler, der angab, eine Zeit lang für Eternime gearbeitet zu haben. In einem kurzen Telefonat versuchte er, uns ihre Technologie zu erklären: Da ging es um künstliche neuronale Netze, die dem menschlichen Hirn nachempfunden sind und mit Unmengen an Daten gespeist werden müssen, um menschliche Muster zu reproduzieren. Nach dem Tod eines Menschen sollte der Avatar sprechen, denken und handeln können wie der Verstorbene. Das klang tatsächlich nach Black Mirror. Der junge Mann schwärmte regelrecht von der Arbeit an dem Projekt. Über den Status quo des Unternehmens war er dagegen nicht informiert, weil er schon seit längerer Zeit nicht mehr für Eternime arbeitete. Aber er versprach, uns mit dem CEO der Firma in Verbindung zu setzen. Tatsächlich klappte die Kontaktaufnahme. Schon wenige Wochen später sollte es losgehen. Wir trafen uns mit dem Chef der Firma, um gemeinsam mit ihm über die noch immer geheimnisumwobene digitale Unsterblichkeit zu reden. Unsere Reise begann an einem Ort, den wir nicht auf dem Radar hatten: Rumänien. Marius Ursache, der Gründer des Start-ups, lud uns in die kleine Stadt Iaşi in Nordrumänien ein.

Warum, fragen wir, bevor wir alles über sein Start-up Eternime wissen wollen, treffen wir ihn in Iaşi und nicht in Boston? Rumänien ist schon seit Langem ein Geheimtipp für Start-ups der Tech-Szene. Marius ist hier aufgewachsen, die Lebenshaltungskosten sind um ein Vielfaches niedriger als in den Tech-Hotspots der Welt, und Marius findet hier gut ausgebildete Software-Entwickler. Wenn es nach Marius gegangen wäre, hätten wir ihn trotzdem nicht in Rumänien, sondern in den USA treffen sollen: Nach einem Medizinstudium und einem Master in Theaterwissenschaften (!) wagte er einen kompletten Richtungswechsel, gründete eine Design- und Software-Agentur, dann ein Fintech-Start-up und ergatterte einen der begehrten Plätze beim so genannten Entrepreneurship Development Program für junge Unternehmer*innen am MIT. Als die renommierte Universität dazu aufrief, innovative Geschäftsideen einzureichen, war er verrückt genug, mit der abgefahrensten Idee, die ihm gekommen sei, daran teilzunehmen: »Es mag sich merkwürdig anhören, aber alles begann mit dem Gedanken: Was wäre, wenn wir mit Toten skypen könnten? Was wäre, wenn wir ewig leben könnten? Was wäre, wenn wir unsere Erinnerungen in einem Avatar aufbewahren könnten, der aussieht wie wir, der unsere Stimme und unsere Erinnerungen hat? Was wäre, wenn dieser Avatar schließlich mit anderen Menschen interagieren könnte?« Zu seiner Überraschung seien viele Kommiliton*innen und Professor*innen innerhalb des Instituts von seiner Idee fasziniert gewesen, und schnell versammelte sich ein Team um Marius, das die Chance nicht verpassen wollte, Teil einer revolutionären neuen Tech-Idee zu sein. Hier tummelten sich Cracks aller Disziplinen. Der perfekte Nährboden, um in Nullkommanix ein paar Demo-Programme aus dem Boden zu stampfen. Sie entwickelten eine erste Beta-Version des Konzepts und schalteten eine Website mit der simplen Frage: Wer will unsterblich werden? Interessierte sollten sich auf dieser Website registrieren können. Laut Marius meldeten sich innerhalb weniger Stunden einige hundert Interessent*innen an, wenige Tage später sei die Zahl auf Zehntausende angestiegen. »Wir hatten über 40.000 Leute, die sich in den ersten Tagen angemeldet haben, darunter solche, die nicht mehr lange zu leben hatten, Menschen mit Krebs im Endstadium. Wir waren völlig überfordert.« Viele herzzerreißende Anfragen von schwerkranken Menschen hätten sie erhalten. Menschen, deren letzte Hoffnung Marius’ Unternehmen gewesen sei, so sagt er. Zu spät habe er erkannt, dass seine »verrückte Idee« für viele dieser Menschen die vielleicht letzte Hoffnung war. Die Anfragen stellten ihn vor ein Dilemma: Natürlich war die überwältigende Resonanz der Traum eines jeden Entrepreneurs. Dass seine Idee offenbar einen Nerv traf, motivierte ihn dazu, sich ernsthaft mit ihrer Realisierung auseinanderzusetzen. Doch die Hoffnungen der schwerkranken Menschen erzeugten einen enormen Druck. Zu diesem Zeitpunkt hatte Marius nichts Handfestes vorzuweisen. Die hohen Kosten für die Entwicklung von künstlichen neuronalen Netzen, die lernfähig sind und die Verhaltensmuster der Verstorbenen aus einem großen Datensatz auslesen können, ließen sein Vorhaben bei nüchterner Betrachtung mehr als vermessen erscheinen. Er hatte schwerkranken Menschen die Möglichkeit genommen, mit dem Leben abzuschließen, und sie stattdessen aufgewühlt und verwirrt. Als Marius uns von dieser Zeit erzählt, wird er nachdenklich und still. Mit gesenktem Blick erinnert er sich an die Anfragen, die er nie vergessen wird: »Einige Leute schrieben uns, dass sie nur noch wenige Wochen zu leben hatten. Sie wollten so schnell wie möglich Zugang zu Eternime. Sie wollten die wenige Zeit nutzen, um Erinnerungen für ihre Familien und für ihre Liebsten zu bewahren. Es fiel mir sehr schwer, ihnen zu antworten. Ich konnte es einfach nicht. Was hätte ich ihnen sagen können? Dass das alles ein verrücktes Experiment am MIT war? Dass wir ­eigentlich keine Ahnung hatten, wie wir das alles stemmen sollten?« Er würde das heute anders machen, versichert er uns – verantwortungsbewusster und überlegter vorgehen. Aber die Geschwindigkeit, mit der die Unternehmung damals losging, habe keine Zeit für größere Reflexionen gelassen. Auch die Presse stürzte sich auf sie: All die großen Tech-Magazine, wie Fast Company oder Wired, begannen über uns zu berichten.13 Es fühlte sich surreal an.« Doch es kam, wie es früher oder später kommen musste: Nach dem ersten Rausch folgte der Absturz. Durch den Medienrummel und die Menge der Anfragen, die in kürzester Zeit auf ihn einprasselten, blieb die Arbeit am Projekt auf der Strecke. Die Stimmung im Team verfinsterte sich. Das Geld wurde knapper, seine Teamkolleg*innen sprangen der Reihe nach ab, bis er schließlich allein dastand – ohne Ressourcen, ohne Investor*innen und schließlich ohne Zukunft für seine Idee. Er verließ das MIT und die gerade erst eroberte schöne neue Welt der erfolgreichen Start-up-Unternehmer*innen genauso schnell, wie er hineingeraten war, um nach Rumänien zurückzukehren. Es sollte ein halbes Jahr dauern, bis er sich von dieser Bruchlandung erholte. Marius fühlte sich wie ein Versager: Mit fast vierzig Jahren wieder bei seinen Eltern zu wohnen, die ihm noch Taschengeld zusteckten, war für ihn, der gerade noch nach den Sternen zu greifen geglaubt hatte, eine Zumutung. Hinzu kamen die Gewissensbisse gegenüber den Menschen, die womöglich immer noch auf die Unsterblichkeit warteten. Warum er die Website trotzdem nicht abschaltete? Er konnte nicht aufhören zu glauben, dass es ihm vielleicht doch noch gelänge.

Roca, sein bester Freund, unterstützte ihn. Roca ermutigte Marius, seine Idee weiterzuverfolgen, und sie entwickelten einen Businessplan. Wie Marius glaubte auch Roca, dass man mit einer guten Technologie die Welt verändern konnte. Schnell war Marius wieder motiviert. Er versuchte, sein kleines Start-up auf solidere Beine zu stellen, organisierte sich neue Kontakte im Umfeld der Tech-Universitäten der USA, wo man Fehlschläge eher verzeiht, weil es zu viele Geschichten von Pionieren gibt, die es mit ihrer bahnbrechenden Business-Idee erst beim vierten oder fünften Anlauf geschafft haben.

Marius war bereit, es erneut zu wagen, doch kurz bevor er sich tatsächlich nach San Francisco aufmachen wollte, erhielt er einen Anruf, der sein Leben auf den Kopf stellen sollte. »Eine Freundin rief mich an und sagte, Roca habe einen Autounfall gehabt.« Er war noch am Unfallort verstorben.

Der Tod seines besten Freundes ließ Marius noch fester an seine Idee glauben: »Vor dem Unfall war es ein verrücktes Experiment, ein interessantes Projekt mit technischen Herausforderungen, aber jetzt ist es eine Lebensaufgabe.«

Nach dem Tod von Roca blieb Marius in Rumänien. Und die digitale Unsterblichkeit? »Wir sind wieder auf Kurs«, sagt Marius. Mittlerweile gibt es immerhin schon mal eine App, die automatisch alle möglichen Informationen über die Nutzer*innen sammelt, wie Facebook-Posts, Kalendereinträge, Bewegungsprofile, alle möglichen Daten von Fitnessarmbändern und anderen Wearables, Fotos, Videos, und so weiter. Noch ist die App nur zugänglich für eine kleine Gruppe von Tester*innen. Doch Zweifel, ob die Arbeit an Eternime richtig ist, scheinen komplett verflogen zu sein. »Mir wurde klar, dass wir nicht wissen, wie wir mit dem Tod umgehen sollen. Wir versuchen, vor ihm wegzulaufen. Wir versuchen zu vergessen, weil wir denken, dass das unser Trauma heilen würde. Ich denke aber, dass die Erinnerung der Schlüssel ist. Wir können unser Gedächtnis positiv beeinflussen. Es gibt da diesen Neurowissenschaftler namens David Eagleman, der behauptet: ›Wir sterben drei Mal. Zuerst sterben wir, wenn wir uns nicht um uns selbst kümmern können. Das zweite Mal, wenn man uns unter die Erde bringt, und das dritte Mal, wenn unser Name zum letzten Mal gesprochen wird.‹14 Die ersten beiden Tode können wir nicht wirklich bekämpfen, aber ich denke, dass wir dank technologischen Fortschritts den dritten Tod verhindern können.« Auch wenn es für ihn noch immer schwierig ist, genügend Startkapital an Land zu ziehen, gibt Marius nicht auf. »Leider ist der Tod ein Tabuthema. Viele große Investoren schrecken davor zurück, in eine solche Idee zu investieren, weil niemand offen über den Tod redet«, erzählt er uns. Aber das werde ihn nicht hindern, weiterhin gegen die Windmühlen zu kämpfen.

Wir nehmen Abschied. Es hat uns beeindruckt zu sehen, was Marius in Rumänien aufgebaut hat. Dass er es geschafft hat, aus dem tragischen Verlust seines besten Freundes Kraft zu schöpfen und die Trauer in etwas Lebensbejahendes zu überführen, imponiert uns. Schon lange ist Eternime keine reine Geschäftsidee mehr. Es geht hier nicht um Allmachtsvorstellungen oder eine Boykotthaltung gegenüber dem Tod. Vielmehr sucht Marius einen offenen, reflektierten Umgang mit dem Tod. Wenn man so will, ist Roca längst unsterblich geworden: Jedes Jahr erzählen sich seine Freund*innen Geschichten über ihn, singen seine Lieblingslieder. Kann eine digitale Anwendung auf dem Smartphone das gemeinsame Trauern der Hinterbliebenen ersetzen? Kann es die Trauerbewältigung erweitern und ergänzen? Sind das Gespräch mit den Toten am Telefon und das Sich-Erinnern auf dem Bildschirm nicht sehr einsame Prozesse? Ob seine Technologie am Ende Heilsbringerin oder Übeltäterin sein wird, lässt sich in diesem Augenblick nicht sagen, zu nah liegt Gutes und Schlechtes beieinander.

Um auf diese Fragen Antworten zu finden, müssen wir die Menschen treffen, die weiter sind als Marius, die schon jetzt Schöpfer*innen von digitalen Klonen sind oder andere Ansätze verfolgen, überall in der Welt.

2. KAPITELVON VÄTERN UND SÖHNEN

KI IM KINDERZIMMER

Unsere Erzählung von einem Mann, der mit seinem toten Vater spricht, beginnt in einem fremden Kinderzimmer, in dem der Mann ein Kind beim Spielen beobachtet. Keine Sorge, das hier wird keine Gruselgeschichte. Oder, na ja, ein bisschen gruselig wird’s schon. Das Kinderzimmer, in dem der Kalifornier James Vlahos zuschaut, wie ein Kind mit einer Barbie-Puppe spricht, hat mit dem Grusel aber nur bedingt zu tun. Allerhand Spielzeug in Kisten, ein kleiner Schreibtisch zum Erledigen der Hausaufgaben und ein ulkiges Bild eines Baumes auf der Rückseite der Wand – das Kinderzimmer, in dem Ariana mit ihrer Barbie spielt, sieht in etwa so aus wie Millionen von anderen Kinderzimmern auf der Welt, in denen Millionen von anderen Kindern mit Millionen von anderen Barbie-Puppen spielen. Der Unterschied: Dieses Kinderzimmer ist eine Kulisse, aufgebaut im Mattel Imagination Center in El Segundo, Kalifornien. Und die sechs Erwachsenen, die hinter einer verspiegelten Wand das kleine Mädchen beim Spielen beobachten, sind weder Eltern, Großeltern, Tanten noch irgendwelche Creeps, sondern Angestellte der Firma Mattel. Die Barbie, die Anfang der 1960er-Jahre auf den Markt kam, wurde bald zum Verkaufsschlager des Unternehmens. Und was jahrzehntelang nur in der Einbildung der Kinder geschah, passiert seit Kurzem tatsächlich: Barbie spricht. Aber nicht so wie frühere Exemplare von Puppen, bei denen durch Fingerdruck auf den Bauch ein Lautsprecher aktiviert wurde, der eine blecherne Stimme ertönen ließ, sondern so menschlich, umfangreich und flexibel, wie sich eine gute Freundin mit dem Kind unterhalten würde. So das Versprechen.

Das Kinderzimmer, in dem die kleine Ariana an diesem Tag im Jahr 2015 mit Barbie plaudert, ist ein Testlabor. Der Journalist James Vlahos ist hier, weil er an einer Geschichte über sprachbegabte Künstliche Intelligenz arbeitet. In seinem Buch Talk to me (Sprich mit mir) wird er neben seinen Recherchen zu »Hello Barbie«, wie die sprechende Puppe heißt, vor allem über Alexa, Siri und Cortana schreiben, die Sprachcomputer, die sich zwar langsam, aber stetig den Weg von unseren Smartphones in unsere Wohnungen bahnen. Vlahos ist beileibe nicht Tech-gläubig, er ist umsichtig, kritisch, reflektiert, also durch und durch Journalist. An diesem Tag im Jahr 2015, in dem Vlahos die kleine Ariana beobachtet, wie sie mit Barbie angeregt über Freundschaften, Berufswünsche und Lieblingsessen plaudert, da ist ein Kinderzimmer für Vlahos noch ein Ort der Unbeschwertheit und Lebensfreude. Nichts verbindet ihn mit dem Tod. Wenn Vlahos heute sein eigenes, altes Kinderzimmer betritt, sieht die Sache schon anders aus. Aber der Reihe nach.

Eine schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und ein silbernes Jäckchen, so saß Barbie Ariana gegenüber. Die beiden hatten sich einander schon vorgestellt und vereinbart, Freundinnen werden zu wollen. Ariana und Barbie hatten über Berufswünsche gesprochen (Tauchlehrerin oder Heißluftballon-Pilotin) und eine imaginäre Pizza gebacken. »Ich habe mich gefragt, ob ich einen Rat von dir bekommen könnte«, gestand Barbie Ariana nach einer Weile so zögerlich, wie es ein Mensch machen würde, der sich nicht ganz sicher ist, ob er sich ihr anvertrauen kann. Teresa und sie hätten gestritten, und jetzt würde Teresa nicht mehr mit ihr sprechen, erzählte Barbie dem kleinen Mädchen. »Ich vermisse sie so, aber ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.« »Sag: ›Es tut mir leid‹«, riet Ariana der Puppe, und ein Gespräch über ihre Gefühle begann. »Du hast recht, ich sollte mich entschuldigen«, sagte Barbie, »ich bin auch schon gar nicht mehr wütend. Ich will nur wieder Freundinnen sein.« Es war die Intimität dieses Gesprächs, die Vlahos beeindruckte. Hier ging es nicht mehr um Kommandos zwischen Mensch und Maschine, die Barbie wurde in diesem Augenblick zu etwas anderem als einem Automaten im Puppenkörper, der Sätze ausspuckt. Barbie hatte eine Persönlichkeit, und sie hatte sie nicht allein wegen der Fantasie des Kindes, sondern weil ihr Verhalten und ihre Art, sich auszudrücken, ihr diese Persönlichkeit verliehen. Vlahos’ Neugierde war entfacht, er wollte mehr erfahren über die Entwicklung der sprechenden Puppe und durfte den Entwickler*innen eine Zeit lang über die Schulter schauen. Dabei lernte er, wie wenig dem Zufall überlassen wurde, um dem Kind im Gespräch mit der Puppe größtmögliche Freiheit zu geben. Die Grundlage der Sprachbegabung bildete eine so genannte NLP-Software. NLP steht in dem Fall für »Natural Language Processing«, was nichts anderes bedeutet, als dass die Software nicht nur gesprochenen Text erzeugen, sondern auch gesprochene Worte ihres menschlichen Gegenübers aufnehmen und auslesen kann. Damit es dabei im Gespräch nicht zu unnatürlichem Stocken kommt, muss die Software beides zugleich bewerkstelligen: zuhören und sprechen, so, wie auch wir Menschen das die ganze Zeit tun. Außerdem muss Barbie Sachen behalten, die ihr das Kind zuvor erzählt hat, damit das Gespräch voranschreiten kann. Sie muss reagieren können auf das Gesagte, egal, was von ihrem kindlich menschlichen Gegenüber kommt. Besonders viel Eindruck erzeugt es, wenn Barbie Dinge wieder aufgreift, die ihr das Kind am Vortag oder vor ein paar Stunden erzählt hat. Etliche tausend Zeilen möglichen Gesprächs dachten sich die Entwickler*innen aus, zu denen auch Theaterschauspieler*innen gehören, die sich mit authentischer Dialogführung auskennen. Diese Sätze werden je nach Fragen oder Aussagen des Kindes unterschiedlich variiert beziehungsweise zusammengesetzt. Wie die Äste eines Baums werden die möglichen Gespräche abgebildet, und wie bei einem Baum gibt es dickere Zweige, aber auch ganz dünne Verästelungen, je spezieller das Gespräch wird. Barbie sollte witzig sein, nicht zu ernst, einfallsreich. Eine »einfühlsam bejahende Sensibilität« sollte Barbie haben, berichtet Vlahos. Barbie sollte »auch mal Schwäche zeigen, Unsicherheit eingestehen oder Sorgen«, wie eine richtig gute Freundin.15 Natürlich ging es den Barbie-Macher*innen vor allem darum, das Interesse des Kindes möglichst lange aufrechtzuerhalten. Denn je mehr es mit der Puppe sprach, desto mehr Training für den Algorithmus und desto besser die Sprachfähigkeit von Barbie, desto interessanter – ausgiebiger, intimer, tiefer – die Gespräche. Den Journalisten Vlahos hatte das ursprünglich vor allem unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung interessiert, die Unternehmen wie Mattel eingingen: für den Datenschutz (Kinder vertrauen Barbie persönlichste Informationen an, die selbst sorglose Erwachsene wohl nur zögerlich herausrücken würden), Verantwortung aber auch für das Seelenheil des Kindes, denn hielt die Plastik-Freundin das Kind nicht davon ab, wahre – menschliche – Freundschaften einzugehen?

Je mehr Zeit Vlahos in den Entwicklungslaboren verbrachte und je mehr er zu verstehen begann, wie diese scheinbar empathischen Sprachcomputer funktionierten, desto mehr faszinierte ihn diese Technologie und desto mehr wuchs der Reiz, selbst einmal damit zu experimentieren. Seine Bedenken waren zwar nicht verschwunden. Aber Vlahos verstand, dass die sprechenden Maschinen Kindern wie auch Erwachsenen guttun konnten, ihnen Halt in emotional stürmischen Zeiten geben konnten. Er ahnte noch nicht, dass er es sein würde, der schon bald mit einer Maschine sprechen würde und dem das, was die Maschine sagt, die Tränen in die Augen treiben würde.

PLÖTZLICH DEM TODE NAH

Auch wenn die sprechenden Maschinen erst heute den Weg in die Kinderzimmer und die intimsten Bereiche unseres Lebens finden, sind die Grundlagen ihrer Technologie spätestens Mitte der 1930er-Jahre geschaffen worden. Vor allem mit einem Namen verbindet sich die Grundsteinlegung: Alan Turing. Der britische Mathematiker (1912 – 1954) ist einer der ganz großen Wegbereiter des Computerzeitalters gewesen, ohne dafür zu Lebzeiten gewürdigt zu werden. Noch heute basieren die allermeisten PCs auf der »universellen Turing-Maschine«, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von ihm theoretisch entwickelten Rechenmaschine, die über einen einheitlichen flexiblen Speicher für eine Vielzahl unterschiedlicher, austauschbarer Programme und Daten verfügte. Wenn wir heute von Algorithmen sprechen, die fast alles nach festgelegten Regeln berechnen können sollen, dann fußen sie auf mathematischen Beschreibungen, die Turing entwickelte. Doch damit nicht genug, denn Turing erkannte schon damals, dass die Menschen eines Tages größtes Interesse daran entwickeln würden, mit kleinen tragbaren Maschinen zu interagieren, und dass die Computer für die Menschen zu mehr werden würden als zu Rechenmaschinen: »Eines Tages werden die Damen ihre Computer auf Spaziergängen im Park mitnehmen und zueinander sagen: ›Mein kleiner Computer hat heute Morgen so eine lustige Sache gesagt‹«, soll er prophezeit haben.16 Turing hat recht behalten. Dieser Tag ist gekommen. Nur dass der kleine Computer alle möglichen Gestalten annehmen kann, die Barbie-Puppe wird längst nicht das einzige Beispiel bleiben, das wir in unserem Buch vorstellen. Turing war seiner Zeit weit voraus. Schon in seinem 1950 erschienenen Artikel Computing Machinery and Intelligence17 eröffnete er eine Debatte über die Künstliche Intelligenz, die bis heute das Nachdenken über die Thematik prägt. Die Grundfrage, die Turing stellte, lautet: Können programmierte Maschinen »intelligent« sein? Können Maschinen denken? Als Kriterium schlug Turing einen Test vor, der unter seinem Namen bekannt geworden ist. Der Turing-Test besteht aus einer ganz simplen Versuchsanordnung: Eine Testperson chattet via Tastatur mit zwei ihr unbekannten Gesprächspartner*innen. Einer der beiden Beteiligten ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Die Testperson weiß jedoch nicht, mit wem sie kommuniziert, weil weder Augen- noch Hörkontakt besteht. Wenn der oder die Tester*in im Laufe des Chats nicht unterscheiden kann, ob er oder sie mit einem Menschen oder einer Maschine kommuniziert, hat die Maschine den Test bestanden. Seit Turing wird mit Hochdruck daran gearbeitet, einen Chatbot zu entwickeln, der diesen Test besteht. Doch eine wirklich starke Künstliche Intelligenz, die so flexibel wie ein Mensch auf Gesprächsinhalte reagieren und das Gespräch vorantreiben kann, lässt länger auf sich warten als erhofft: Zu einhundert Prozent bestanden hat den Test bis heute keine einzige Maschine, auch wenn die Entwickler*innen ihrem Ziel immer näher kommen. Um beantworten zu können, ob eine Maschine denken kann, müsste man erst einmal definieren, was sich hinter dem Begriff denken überhaupt verbirgt. Sind wir Menschen vielleicht gar nicht so verschieden von einer sehr komplexen Maschine, weil all unsere Schaltungen und Verkabelungen, unsere neuronalen Netze im Gehirn nur die Illusion eines Bewusstseins erzeugen? Sind wir in Wirklichkeit gar nichts anderes als unglaublich komplexe Roboter? Andererseits: Selbst wenn eine Maschine den Turing-Test bestanden hat und man sagen kann, dass diese Maschine eine Art Künstliche Intelligenz besitzt, ist das noch lange kein Indiz dafür, dass die Maschine über ein Bewusstsein verfügt oder sich angeeignet hat. Und ist Bewusstsein nicht ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Intelligenz? ­Darüber stritten schon die Informatiker, die auf einer Konferenz in Dartmouth im US-Bundesstaat New Hampshire im Jahr 1956, zwei Jahre nach Turings Tod, den Startschuss für die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz gaben. Bis heute sind viele solcher Fragen offen. Wir werden den Unterschieden und den Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und hoch entwickelten Maschinen im Laufe unseres Buches auf vielfältige Weisen nachgehen.

Der Tag, der für den kalifornischen Tech-Journalisten James Vlahos aus dem faszinierenden Thema der sprachbegabten Maschinen das Thema macht, das von nun an sein Leben bestimmt, ist der 24. April 2016: »Ich habe zu Hause im Garten gearbeitet. Meine Frau rief mich. Sie sagte, meine Mutter sei am Telefon gewesen. Mein Vater liege im Krankenhaus, wahrscheinlich ein Herzinfarkt. Ich sprang sofort ins Auto und fuhr zur Klinik. Meine Mom war schon dort, meine Schwester auch, mein Bruder traf kurz darauf ein. Und mein Vater, der saß auf dem Bett und scherzte und tat so, als sei nichts gewesen. Ich schaute meine Mutter und meine Schwester fragend an. ›Oh, weißt du, sie haben schon herausgefunden, dass es kein Herzinfarkt war. Sie machen nur noch ein paar weitere Untersuchungen. Wahrscheinlich falscher Alarm‹, sagten meine Mutter und meine Schwester. Ich atmete auf. Ein Arzt kam rein, eine Krankenschwester im Schlepptau. Sie sagte, sie hätten noch einen Test machen müssen, weil sie unsicher gewesen seien, ob es eine Lungen­embolie war. Aber auch die könnten sie jetzt ausschließen. Wir atmeten auf. Und dann, dann war es fast so eine Art nachträglicher Gedanke, der sie vom Gehen abhielt, als hätte sie es beinahe vergessen. Der Arzt war schon in der Tür, als die Krankenschwester meinte, dass sie auf dem Scan eine Gewebeanomalie in seiner Lunge gefunden hätten, was sie sich noch genauer anschauen müssten. Ab da ging es nur noch bergab mit jeder neuen Nachricht: Sie wissen jetzt, dass der Krebs die Knochen angegriffen hat. Sie wissen jetzt, dass die Leber betroffen ist. Der Krebs hat sich auf das Gehirn ausgebreitet. Der Krebs hat neben der Lunge andere Organe befallen. Auch wenn diese ganzen Nachrichten Stück für Stück kamen: Eigentlich war uns ziemlich bald klar: Okay, das war’s für ihn. Er hat einen schlimmen Krebs. Und es ist viel zu spät, die Krankheit aufzuhalten.« Da war es, das Gefühl, dass der Tod jeden Moment ins Leben treten kann.

DAS LEBEN FESTHALTEN

»Meine Geschwister, meine Mutter und ich weinten so viel in dieser Zeit. Wir wollten mit meinem Vater weinen. Aber das hat er nicht zugelassen […] Ich hätte meinen Vater so gerne gefragt, was er fühlte. Ich meine, ich konnte es erraten, aber ich wollte es von ihm hören. Wie ist das, wenn man weiß, dass man nur noch wenige Monate zu leben hat?« Aber sein Vater dachte gar nicht daran, seine Gefühle zu teilen. Nicht mit seinen Kindern, nicht mit seiner Frau. Er wich aus, wann immer möglich. Es standen jetzt laufend Untersuchungen an, die Bestrahlung sollte so schnell wie möglich beginnen. Hoffnungen, dass der Krebs besiegt werden konnte, machten die Ärzte ihnen nicht, dafür war er schon zu weit fortgeschritten. Aber vielleicht konnte man die Lebenszeit noch etwas verlängern? Es ist diese schwere Entscheidung, die fast alle Menschen und ihre Angehörigen kennen, die von Krebs in fortgeschrittenem Stadium betroffen sind: Soll man die kostbare Zeit, die einem im Leben bleibt, in Behandlungszimmern zubringen, um den Tod hinauszuzögern? Oder lieber das Leben genießen, solange es irgendwie geht, auch wenn das Ende dann sehr bald eintreten kann? Sein Vater musste jetzt immer wieder »in die Mikrowelle«, wie James die Strahlentherapie nennt. Seine Mutter, seine Geschwister und er verbrachten Stunden und Stunden in Wartezimmern. Wenn James abends nach Hause kam, setzte er sich an den PC. Durch Zufall las er im Netz, dass die Firma PullString die Software zur Benutzung freigab, mit der sie Barbie das Sprechen beigebracht hatte. Na und, dachte er, was interessierte ihn das, jetzt, in dieser Lage? Sein Bruder schlug vor, die gesamte Lebensgeschichte ihres Vaters aufzunehmen, damit sie nicht verloren ging; da die Chemotherapie das Erinnerungsvermögen einschränken konnte, sollten sie sich beeilen. Wer wusste schon, wie lange ihr Vater noch in der Lage sein würde, die vielen Geschichten zu erzählen, die er mit seinen Eltern und seinen Geschwistern, später dann mit seiner Frau (ihrer Mutter) erlebt hatte. Sein Bruder bat James, diese Interviews zu führen, schließlich war es genau sein Metier. Klar, sagte James und verabredete sich mit seinem Vater. James wurde bald klar, dass dieses Unterfangen ein Fass ohne Boden war. Irgendwie musste es seinem Vater wohl so vorkommen, als wären diese Aufnahmen für den Audio-Nachlass so etwas wie eine ultimative Lebensbilanz. Was für ein sonderbares Ding, das Gedächtnis, ging es James durch den Kopf. Welche Geschichten für uns am Ende eines Lebens Wichtigkeit haben! Er ließ seinen Vater noch einmal die Witze erzählen, die er schon so oft und gut erzählt hatte. Er bat ihn, noch einmal die Lieder zu singen, die er so oft gesungen, gesummt oder gepfiffen hatte. Er fragte ihn auch nach intimeren Momenten, nach Krisen, Dinge, von denen die meisten Menschen vor ihrem Tod nur widerwillig sprechen (da machte sein Vater keine Ausnahme). Immer mehr dämmerte James, dass es aber genau diese Dinge, die kleinen, unscheinbaren Momente waren, die für die offizielle Biografie keine Rolle zu spielen schienen, aber etwas dar­über erzählen konnten, wie sein Vater war und nicht bloß wer er vorgab zu sein. Zugleich beschlich James der Eindruck, dass niemand je diese Endlos-Tapes hervorkramen und anhören würde. Die WAV-Dateien würde das gleiche Schicksal ereilen wie unsortierte Kisten voller Fotos, Festplatten voller unbeschrifteter Urlaubsvideos und so weiter. Mehr als ein Dutzend solcher Treffen hatte James mit seinem Vater im Frühjahr 2016: Am Ende wanderten 91.970 Wörter oder auch zweihundertdrei eng beschriebene Seiten mit Niederschriften der Gespräche in einen dicken Aktenordner.

Während er so dagesessen und seinem Vater zugehört hatte, wie er sein gesamtes Leben aufrollte, war ihm eine Idee gekommen, die er eigentlich verwerfen wollte, im Laufe der kommenden Wochen aber nur schwerlich unterdrücken konnte. Er fand einen Aufsatz zweier Google-Forscher, die über lernfähige Algorithmen schrieben, die Sequence-to-Sequence-Methode, Recurrent Neural Networks, nerdiges Insider-Wissen. Wann immer möglich, verschwand James jetzt in seinem Arbeitszimmer und vertiefte sich in die Anleitungen zum Programmieren, die er im Netz fand. In einem Aufsatz berichteten Programmierer von einem Gespräch, das sie mit einem der Bots führten, den sie programmiert hatten: »Was ist der Sinn des Lebens?«, fragten die Forscher. »Ewig zu leben«, antwortete die Maschine. James, der eigentlich so besonnene, ganz und gar nicht abergläubische Journalist, kam nicht umhin, es als Zeichen zu deuten. Wahrscheinlich brauchte er auch bloß noch einen solchen Anstoß, um sich endlich durchzuringen. Er beschloss, seiner Familie von seiner Idee zu erzählen. Es war eine vermessene Idee. Er wagte sie kaum selbst zu denken, aber, ja, er wollte seinen Vater unsterblich machen. Also quasi digital unsterblich. Wie er es anstellen wollte, ohne Informatik-Studium, ohne größere Programmierkenntnisse einen »Dadbot« zu entwickeln, also ein digitales Ich seines Vaters, das auch nur im Entferntesten an John Vlahos erinnerte, wusste er nicht. Aber es war schon zu spät: Er war Feuer und Flamme für seinen Dadbot. Die Vorstellung, seinen Vater auf diese Weise »am Leben zu halten«, ließ ihm keine Ruhe mehr. Was aber, wenn sein Vater bestürzt wäre über die Idee, dass sein Sohn eine Maschine aus ihm machen wollte? Was, wenn seine Mutter oder seine Geschwister geschockt wären über den Vorschlag? Wenn sie ihn geschmacklos oder pietätlos fänden angesichts des Ernstes der Lage? Was, wenn die Geschichten seines Vaters profan, läppisch, nichtssagend klängen, sobald die Maschine über sie sprach? Was, wenn der Dadbot alles nur noch trauriger machte? Er musste von Sinnen sein, dachte James in Momenten, in denen seine Euphorie nachließ. »Ich war besessen«, sagt er heute im Nachhinein.

DADBOT

Es ist ein Tag im August, als er sich entschließt, endlich auszusprechen, was ihn schon so lange umtreibt. James’ Mutter sitzt neben ihm auf der Couch, sein Vater quer gegenüber in einem Lehnstuhl. »Ich habe eine verrückte Idee«, sagt James nach langem Zögern. Während er sein Vorhaben erklärt, versucht er, den Gesichtsausdruck seines Vaters zu deuten. Aber der bleibt starr. »Was ist ein Chatbot?«, fragt seine Mutter. James erklärt, er wolle die Persönlichkeit seines Vaters am Leben erhalten, seine Art zu denken, zu sprechen und zu scherzen, das Wort unsterblich lässt er weg. »Was denkt ihr?«, fragt James in die stille Runde hinein. Sein Vater zuckt mit den Achseln: »Okay.« James stockt. Okay? Nichts weiter? Was ist bloß aus diesem Mann geworden?, fragt er sich. Sein Vater war immer ein fröhlicher, neugieriger Mensch gewesen, doch seine Diagnose hatte ihn lebensmüde und gleichgültig gemacht. Seine Mutter ist enthusiastischer. Sie will alles darüber wissen, versucht zu verstehen, wie sie sich das seltsame Etwas, das James aus seinem Vater machen will, vorzustellen hat. James’ Schwester ist unsicher, James’ Bruder teilt die Bedenken, die James selbst äußert. »Weird« sei James’ Plan allemal, sagt er. »Weird« – das ist einer von diesen Ausdrücken, für die es im Deutschen keine rechte Entsprechung gibt, und die nie genau durchblicken lassen, ob damit etwas Gutes oder ein Übel gemeint ist. Vermutlich wusste sein Bruder auch nicht so genau, was er von der Idee halten sollte. Aber jetzt war sie in der Welt. James hatte sich aus dem Fenster gelehnt. Er hatte seiner Mutter Hoffnung gemacht, dass etwas von ihrem Mann bleiben würde, das seinen Tod überdauern würde und vielleicht sogar ihren eigenen. Etwas, das James’ Söhnen trotz des Todes ihres Großvaters erlauben sollte, mit ihm zu sprechen, wenn sie Rat brauchten.

Als wir im Sommer 2019 James und seine Mutter besuchen, steht eine Reihe bunter Figürchen auf dem Kaminsims. Es sind Figürchen, die einmal James’ Vater gehört haben und einem der Kostümfilme entsprungen sein könnten, die er so liebte. Seine größte Leidenschaft sei das Theater gewesen, erzählt uns James. Fünfunddreißig Jahre lang hat sein Vater das Lamplighters Music Theatre geleitet, eine kleine semi-professionelle Bühne, bei der die Schauspieler höfische Kostüme mit Perücken trugen und altenglische Texte deklamierten. Sein Vater sei gerne gereist, sprach Griechisch, Englisch, dazu etwas Spanisch und Italienisch. Vor allem aber habe er es geliebt, Wörter zu erfinden, sich Wortspiele auszudenken. Sprache, das war für seinen Vater immer etwas, das einem Freiheit verlieh; sie erlaubte ihm, die Rolle zu wechseln, sich selbst zu erfinden. Die Spitzfindigkeiten der Sprache waren es wahrscheinlich auch, die seinen Beruf als Anwalt mit seiner Leidenschaft als Theaterschauspieler verbanden – so unterschiedlich beides auch sein mochte.

In der Computerlinguistik versuchen Wissenschaft­ler*in­­nen, aus der Wortwahl eines Menschen dessen Persönlichkeit zu analysieren. Den Forscher*innen geht es meistens darum, Dinge über den Menschen in Erfahrung zu bringen, die er oder sie zurückhält oder am liebsten zurückhalten würde. Da geht es um das Unbewusste, das, was sich unwillkürlich offenbart. Die ganze Psychoanalyse baut auf diesem Grundsatz auf, aber auch die zeitgenössische Psychologie. Der Algorithmus des Unternehmens Precire etwa analysiert, welche Wörter jemand nutzt, wie schnell, laut und wie hoch jemand spricht, wie er oder sie die Wörter betont und wie sie zu Sätzen angeordnet sind. Das genügt angeblich, um zweiundvierzig Dimensionen einer Persönlichkeit zu ermitteln, die auf wissenschaftlich anerkannten Persönlichkeitsmodellen fußen.18 »Precire basiert auf der weltweit größten Studie zur Kombination von Psychologie und Künstlicher Intelligenz. Darin haben mehr als 19.000 Teilnehmer bislang über 29 Millionen Textbewertungen abgegeben«, erklärt das Unternehmen.19 »Diese Daten dienen der Technologie als Lerngrundlage, um durch die Analyse von über 110 Millionen Parametern und 4 Milliarden Wörtern verschiedene Wirkungsweisen von Sprache abzuleiten.« Die analysierten sprachlichen Muster werden mit den Spracheigenschaften verglichen, die Menschen besitzen, deren Persönlichkeit durch herkömmliche Tests ermittelt worden ist.20 Das Start-up 100 Worte braucht zwar fünfmal so viele Wörter, wie sein Name verspricht, um Persönlichkeitsmerkmale zu ermitteln, aber ihm genügen geschriebene Texte. Der Algorithmus analysiert vor allem Funktionswörter. Sie werden dauernd benutzt, sind aber für den Autor oder die Autorin eines Textes selbst so unscheinbar, dass sie schwer willkürlich gewählt werden können.21 Der Algorithmus analysiert jene Signalwörter, die Aufschluss über die psychologischen Motive der Autor*innen geben. Solche Motive könnten etwa ein Machtmotiv oder ein Bindungsmotiv sein. Die Motivforschung ist ein schon lange anerkanntes Gebiet der Psychologie.22 Die algorithmische Analyse baut darauf auf, objektiviert und automatisiert die Auswertung. Bei den Methoden der Tech-Unternehmen handelt es sich nicht um die Quacksalberei weniger Tech-Gläubiger, sondern um ein noch wenig erforschtes computergestütztes Verfahren, das weltweit auf dem Vormarsch ist. Wie aussagekräftig die Tests sind, darüber sind sich Psycholog*innen uneinig. Fest steht: Die algorithmische Persönlichkeitsermittlung wird bereits bei Einstellungstests großer renommierter Unternehmen eingesetzt.

Wenn James davon spricht, dass sich in den Worten seines Vaters seine Persönlichkeit offenbart, dann meint er keine solchen Spuren des Unbewussten. James meint im Gegenteil das Spiel, das sein Vater zeitlebens mit Worten betrieben hat, die Rollen, in die er manchmal nur für Sekunden geschlüpft ist, wenn er die Ausdrucksweise einer Figur bei Hofe nachgeahmt hat, ein bestimmtes Wort ihn an ein Lied erinnerte, das er prompt anstimmen musste, oder er sich in einer seiner Wortkaskaden verlor.