Vom Himmel die Sterne - Jeannette Walls - E-Book + Hörbuch

Vom Himmel die Sterne Hörbuch

Jeannette Walls

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Beschreibung

 Der neue Roman von der Autorin des Weltbestsellers "Schloss aus Glas"   Die meisten Leute halten nicht viel von der jungen Sallie Kincaid. Sie ist die Tochter des Duke, mehr nicht. Aber Sallie hat andere Pläne – und sie wird alle davon überzeugen ...   Sallie ist die Tochter des mächtigsten Mannes einer Kleinstadt in Virginia. Geboren zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist sie fünf Jahre alt, als ihre Mutter stirbt nach einem Streit mit Sallies Vater, dem charismatischen Duke Kincaid. Er heiratet erneut und bekommt einen Sohn. Als Sallie dem Halbbruder beibringen will,  so stark  wie der Vater – und sie selbst – zu sein, führt ihre waghalsige Nachhilfe zu einem  schweren  Unfall. Sallie wird verstoßen und muss das Anwesen verlassen.  M it siebzehn Jahren kehrt sie zurück ins Große Haus, entschlossen, sich ihren Platz in der Familie zurückzuerobern.  D och  d er Duke ist tot, es gilt die Prohibition  und in der  Stadt  herrscht  Lynchjustiz. Sall ie ist entschlossen, nicht ein zweites Mal zu weichen – und widersetzt sich der harten Männerwelt selbstbewusst und scharfsinnig, um sie für immer zu verändern.

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Zeit:13 Std. 9 min

Sprecher:Irina Scholz

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Jeannette Walls

Vom Himmel die Sterne

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Hoffmann und Campe

Für John. Als ich nicht weiterwusste, zeigte er mir den Weg.

Ich weiß, ich habe den Leib eines schwachen und kraftlosen Weibes, doch ich habe das Herz und das Mark eines Königs.

 

Queen Elizabeth I., 1588, in einer Rede an ihre Soldaten in Erwartung der spanischen Armada.

 

 

 

Qualität? Quatsch, unser Whiskey konnte immer nur dann reifen, wenn wir eine Reifenpanne hatten.

 

Rex Walls, Vater der Autorin, der in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren Schwarzgebrannten schmuggelte.

Prolog

Das schnellste Mädchen der Welt. Das will ich mal werden.

Hab ich heute Morgen beschlossen. Der Morgen war so richtig schön, sonnig, aber nicht zu heiß, mit weißen Wolken, die aussahen wie Mehlklöße hoch oben am strahlend blauen Himmel, mit Vögelchen, die um die Wette zwitscherten, und tanzenden kleinen gelben Schmetterlingen. Ich hatte gerade meinen Matrosenanzug angezogen und war dabei, mir die Schuhe zuzumachen, als die Tür aufging. Es war mein Daddy. Der Duke. So nennen ihn alle.

»Ich hab eine Überraschung für dich, Frechdachs«, sagte er. »Ein Geschenk.«

»Ein Geschenk? Aber ich hab doch noch gar nicht Geburtstag.«

»Ich brauch doch keinen besonderen Anlass, um meiner eigenen Tochter ein Geschenk zu machen. Wenn ich sage, heute ist Geschenketag, dann ist heute Geschenketag, basta. Und ich garantiere dir, dieses Geschenk wird dein Leben verändern.«

»Was ist es denn?«

»Na, na, du kleiner Naseweis. Du willst wohl, dass ich mich verplapper, was?« Der Duke redete mit seiner gespielt wütenden Stimme, und ich musste lachen. »Dann wär’s ja keine Überraschung mehr.« Er lächelte. »Oben im Kutschenhaus. Komm mit.«

Und wenn ich hundert Jahre alt werde, den Tag heute vergess ich nie. Der Duke nahm mich an die Hand, und wir gingen durch die Diele am Wohnzimmer vorbei, wo meine Stiefmutter Jane mit meinem Halbbruder Eddie Tonleitern auf dem Klavier übte. Er spielte furchtbar gern Klavier und guckte nicht mal in meine Richtung. In der Küche sagte ich der Alten Ida, das ist unsere Köchin, wohin wir wollten, und sie sagte, dass sie Überraschungen mag, und zupfte an einem von meinen Zöpfen. Dann gingen der Duke und ich raus in den Garten.

Wenn ich mich auf was Schönes freue, möchte ich am liebsten hüpfen – ich versteh nicht, warum so viele Leute ganz normal gehen, wenn sie auch hüpfen könnten –, aber heute Morgen wollte ich die Hand vom Duke auf keinen Fall loslassen, also riss ich mich ausnahmsweise mal zusammen und war brav, genau wie Jane mir das dauernd eintrichtert.

Der Duke und ich gingen an der Steinmauer vorbei, die wir zusammen für Jane gebaut haben, bevor Eddie geboren wurde. Sie ist niedrig wie eine Bank, sodass ich drauf sitzen kann, und breit genug, um drauf entlangzurennen und dann ganz hoch in die Luft zu springen. Hinter der Mauer sind Janes rosa und rot-weiße Pfingstrosen, die wie große Kugeln Eiscreme aussehen. Jane ist die Einzige, die sie pflücken darf.

Wir liefen die lange Einfahrt mit den großen Pappeln hoch, vorbei an unserem Hühnerstall und dem Eishaus und der Räucherkammer und dem Brunnenhaus. Die sind alle weiß gestrichen und haben grüne Blechdächer, genau wie das Große Haus, und sie stehen jetzt alle leer, weil wir unser Fleisch und unsere Eier im Ort kaufen und der Eismann Eisblöcke für den Eisschrank in der Küche bringt. Trotzdem, es macht Spaß, dort herumzustöbern. Eddie ist erst drei, fünf Jahre jünger als ich, aber wenn er mal alt genug ist, können wir bestimmt richtig toll Cowboy und Indianer da spielen.

Als wir an der Weide vorbeikamen, winkte ich den Kutschpferden, die friedlich grasten und mit ihren Schwänzen die Fliegen verscheuchten. Sie sind fett geworden, weil wir sie nicht mehr so oft einspannen, seit der Duke sich den Ford gekauft hat, das erste Automobil in ganz Claiborne County. Mir tun die Pferde ein bisschen leid, aber der Duke meint, dass bald nur noch Cowboys und Fuchsjäger und Zirkusreiter Pferde haben.

Das Kutschenhaus oben auf dem Hügel ist auch weiß und grün, und als wir endlich dort ankamen, wäre ich fast geplatzt vor Neugier auf meine Überraschung. Der Duke streckte die Hand nach dem Türgriff aus und sagte: »Mach die Augen zu, Frechdachs.«

Und das tat ich. Im nächsten Moment hörte ich das dumpfe Rumpeln der großen Doppeltür.

»Jetzt mach die Augen auf«, sagte er.

Und da sah ich ihn. Einen Bollerwagen. Er stand hübsch wie nur was auf dem Steinboden zwischen dem Ford und der Kutsche, ein waschechter Kinderbollerwagen mit großen roten Rädern – größer als Essteller – und einer glänzend schwarzen Lenkstange aus Metall und knallrot lackierten Seitenwänden aus Holz.

»Ist der für mich?«

»Und ob er das ist. Hab ihn im Katalog gesehen und mir sofort gesagt, der ist was für meine kleine Sallie.« Ich sah zu dem Duke hoch. Er betrachtete den Bollerwagen mit lächelnden Augen. »Gefällt er dir?«

Sonst hab immer so viel zu sagen, dass mich keiner dazu bringen kann, den Mund zu halten, aber in dem Moment bekam ich vor lauter Glück kein Wort heraus, deshalb nickte ich bloß, und dann nickte ich noch rund zwanzigmal weiter.

»Hatte selbst so einen, als ich so alt war wie du. War gar nicht mehr aus ihm rauszukriegen. Sollen wir ihn mal ausprobieren?«

»Wir beide?«

Die Alte Ida sagt immer, für mich wäre der Duke mein größter Held, der mir die Sterne vom Himmel holen kann. Vielleicht stimmt das ja. In dem Moment glaubte ich es jedenfalls ganz sicher.

Der Duke zog den Bollerwagen raus auf die Einfahrt und ging daneben in die Knie. Ich hockte mich neben ihn, während er mir zeigte, wie man mit der Metallstange lenkt, wie der Bremshebel auf der linken Seite die Hinterräder stoppt, aber nicht die Vorderräder.

»Was meinst du, warum das so ist?«, fragte er.

Ich schob die Lenkstange hin und her und sah, dass sich die Vorderräder bewegten. »Weil die Vorderräder sich nach links und rechts drehen?«

»Genau. Die Hinterräder sind starr. Du bist ein Naturtalent, Frechdachs. Auf geht’s.«

Er zog den Bollerwagen bis ans obere Ende der Einfahrt und stellte die Bremse fest. Der Duke ist groß, selbst für einen erwachsenen Mann, aber er setzte sich in den Wagen. Ich kletterte zwischen seine Beine und drückte den Rücken gegen seine Brust. Er roch gut, nach Zigarren und dem Zeug, das sie ihm in Clydes Friseurladen ins Gesicht klatschen, wenn sie seinen Bart gestutzt haben. Ich hatte nur ganz wenig Platz, weil die Beine vom Duke rechts und links von mir waren, seine Knie an meinen Schultern wie ein Paar große dunkle Flügel, aber es fühlte sich gut an, als könnte ich alles schaffen, als könnte nichts schiefgehen, als könnte mir nichts etwas anhaben.

Er legte meine linke Hand auf die Lenkstange und meine rechte auf die Bremse.

Zusammen lösten wir die Bremse.

Wir setzten uns in Bewegung, rollten die Einfahrt hinunter, zuerst langsam, holprig über den Kies, dann wurden wir schneller, immer schneller, und wir sausten an den Pferden vorbei, und ich beugte mich vor, starrte den Hügel runter, die großen Pappeln kamen direkt auf uns zu, und die Arme vom Duke waren neben meinen Schultern, während wir beide lenkten, seine Wange an meine gedrückt, sein Bart kitzelig an meinem Hals, seine Stimme in meinem Ohr. »Sachte, Mädchen. Du kannst das. Sachte.«

Als wir durch die Biegung vor der größten Pappel sausten, legten wir uns in die Kurve, dann steuerten wir geradeaus und erreichten den flachen Teil der Einfahrt vor dem Großen Haus. Jane stand mit Eddie auf der Hüfte im Garten und schaute uns zu, und wir winkten ihr, aber nur ganz kurz, wir brauchten nämlich unsere Hände zum Lenken, weil die Einfahrt unterhalb vom Großen Haus wieder bergab geht, unter noch mehr Bäumen hindurch, also wurden wir schneller, der Kies knirschte unter uns, der Wind blies mir ins Gesicht, ins Haar, ließ meine Zöpfe flattern. Am Fuß des Hügels kamen wir zu der kleinen Steinbrücke über den Crooked Run. Direkt daneben steht eine alte Trauerweide, und wir rollten über den dicken Buckel, wo sich eine Wurzel unter dem Weg durchschlängelt. Von dem Stoß zitterten die Räder, und wir flogen hoch, aber wir blieben auf Kurs, und gleich darauf rasten wir über die Brücke auf die Steinpfeiler am Ende der Einfahrt zu, und in dem Moment schrie der Duke: »Jetzt!« Wir rissen an der Bremse – fest – und kamen schlingernd genau auf der Crooked Run Road zum Stehen.

Mein Gesicht kribbelte ganz doll, meine Hände auch, und ich spürte mein Herz wie wild in der Brust pochen. Noch nie in meinem ganzen Leben hab ich je so etwas gefühlt. Wir waren schnell, unglaublich schnell, der Duke und ich. Wir waren geflogen.

Ich fing an zu lachen, einfach so. Es kam so plötzlich aus mir raus, wie wenn Suppe überkocht, und der Duke fing auch an zu lachen. Dann sprang ich aus dem Bollerwagen und machte ein Freudentänzchen, hüpfte herum und reckte die Arme und warf den Kopf hin und her, und das brachte ihn noch mehr zum Lachen.

»Du hast deine Berufung gefunden, Frechdachs«, sagte er. »Bleib dabei, und du wirst das schnellste Mädchen der Welt.«

 

Ich muss immerzu daran denken, was der Duke gesagt hat.

Wenn ich groß bin, kann ich nicht Senator oder Gouverneur werden, und ich kann nicht den Nordpol erforschen oder das Familienunternehmen leiten, wie der Duke sich das von Eddie wünscht. Jane sagt immer, dass Ladys sich nicht mit solchen Dingen beschäftigen. Aber das schnellste Mädchen der Welt werden, tja, wenigstens das kann ich. Sagt sogar der Duke. Er liest uns gern Zeitungsartikel über Automobilrennen vor – Autos, die schneller als zwei Meilen die Minute fahren. So was beeindruckt ihn mächtig – Menschen, die am schnellsten, stärksten, besten sind –, und genau so jemand will ich werden.

Wir haben jetzt Schulferien, und der ganze Sommer liegt vor mir, deshalb übe ich jeden Tag, wenn ich nicht mit dem Duke in die Kaufhalle darf. Der Duke hat mir eine von seinen alten Taschenuhren geschenkt, und die hat einen Sekundenzeiger, sodass ich meine Zeit messen kann, wenn ich durch den »Parcours« rase. So nennen der Duke und ich die Strecke. Wir haben auch Namen für die verschiedenen Abschnitte des Parcours. Es gibt die Startlinie, den Steilhang, die Kurve, die Gerade, die Kehre, die Senke, die Haarnadel, die Schlange – so nennen wir den kleinen Buckel von der dicken Weidenwurzel, die unter die Einfahrt hindurchwächst –, die Brücke und die Ziellinie.

Ich versuche herauszukriegen, wie ich mit jeder Fahrt schneller werden kann, wenn auch nur um eine Sekunde. Oder eine halbe. Ich mache einen fliegenden Start, wie der Duke es mir gezeigt hat, schiebe den Bollerwagen erst an und springe dann hinein. Sobald ich rolle, zieh ich die Schultern nach unten und drücke das Kinn an die Brust, damit der Wind weniger von mir zu fassen bekommt – weniger Luftwiderstand, hat der Duke gesagt, als er mir erklärt hat, wie ich das machen soll. Ich lege mich in die Kurven, wie der Duke es mir beigebracht hat, nehme für die flacheren Streckenabschnitte Fahrt auf, und nach ein paar Tagen bin ich so weit, dass ich erst ganz am Ende bremsen muss, wenn ich die Steinpfeiler erreiche – die Ziellinie.

Dann ziehe ich meinen Wagen zurück nach oben und fahre noch mal. Und noch mal. Ich fahre stundenlang. So komme ich den ganzen Tag über nur zum Lunch ins Große Haus, und ich esse in der Küche mit der Alten Ida. Ich glaube, das ist vielleicht einer der Gründe, warum der Duke mir den Bollerwagen gekauft hat – damit ich weniger im Haus bin, Jane weniger störe. Sie sagt, ich bin zu ungestüm – das ist das Wort, das sie benutzt –, denn wenn ich drinnen eingepfercht bin, rutsche ich das Treppengeländer runter, mache in der Diele Handstand, zerbreche aus Versehen die Glasfigürchen, mit denen man nicht spielen darf, weil sie kein Spielzeug sind, mache Kissenschlachten mit Eddie und ziehe ihn im Speiseaufzug hoch und runter.

Jane sagt, ich hätte einen schlechten Einfluss auf Eddie, aber ich finde, wir verstehen uns prima. Er ist sehr lieb und auch sehr klug. Er kann schon alle Buchstaben, und er übt immerzu Klavier, ohne dass Jane ihm das sagen muss. Aber Eddie hat oft Schnupfen und Ohrenschmerzen, und Jane gibt ihm jeden Tag Orangensaft, damit er keine Rachitis kriegt. Außerdem will Jane nicht, dass er lange draußen ist, weil er sonst Sonnenbrand bekommt und von den Blumen niesen muss. Deshalb bin ich meistens allein mit meinem Bollerwagen. Ist mir nur recht.

 

Heute bin ich meine bisher beste Zeit gefahren. Es war morgens wahnsinnig windig, die Äste von den Pappeln haben wie verrückt geschwankt, und ich hatte Mühe, überhaupt in den Bollerwagen zu kommen, weil der blöde Wind andauernd versucht hat, ihn ohne mich die Einfahrt runterzuschubsen. Das hat mich auf eine Idee gebracht, und als ich dann endlich drin saß, hab ich mich nicht wie sonst geduckt. Ich hab den Rücken gerade gehalten und die Schultern hochgezogen. Mit dem starken Wind von hinten bin ich die Einfahrt so schnell wie noch nie hinuntergerast. Ich konnt’s kaum erwarten, das dem Duke zu erzählen.

Sobald er zur Tür hereinkommt, tu ich das auch, und er wirft den Kopf in den Nacken und lacht. »Das nenn ich einfallsreich, Frechdachs. Den Wind so für dich arbeiten zu lassen.« Er zeigt mit dem Finger auf mich. »Ich hab’s dir doch gesagt, du wirst mal das schnellste Mädchen der Welt. So was liegt dir im Blut. Und das macht dich zu einer echten Kincaid.« Mir wird davon ganz warm, als würde ich in der Sonne stehen. Er dreht sich zu Eddie um. »Was meinst du, mein Sohn? Dir liegt das doch auch im Blut, oder?«

Eddie nickt. Jane wirft dem Duke einen Blick zu, einen kalten, und er wirft genauso einen zurück, und mein warmes Gefühl ist futsch. Ich hoffe, sie streiten sich nicht. Manchmal geraten der Duke und Jane aneinander, weil er findet, dass sie Eddie verhätschelt. »Herrje, Frau, Sallie hat das auch schon gemacht, als sie in seinem Alter war«, sagt er zum Beispiel. Dann wirft Jane mir diesen kalten Blick zu, als wäre ich schuld.

Und dann kommt mir eine Idee. Ich werde Eddie beibringen, den Bollerwagen zu fahren. Ich werde es ihm genauso beibringen, wie der Duke es mir beigebracht hat, und wenn er dann richtig gut geworden ist, führen wir es dem Duke vor. Das wird eine Überraschung, unser Geschenk an ihn, und er wird unheimlich stolz auf seinen Sohn sein, und wenn der Duke sich über Eddie freut, wird Jane mich mögen müssen. Aber ich werde ihr nichts von meinem Plan erzählen. Weil sie vielleicht Nein sagt. Und wenn ich Jane nichts davon erzähle, dann tu ich auch nichts, was sie mir verboten hat, breche keine von ihren Regeln – jedenfalls nicht richtig.

Als der Duke am nächsten Morgen zur Arbeit gefahren ist, warte ich, bis Jane in dem Zimmer verschwindet, das sie ihr Boudoir nennt, und sich die Haare macht, was immer sehr lange dauert. Dann gehe ich mit Eddie hoch zum Kutschenhaus. Er mag meinen Plan, mustert den Bollerwagen, hört genau zu, was ich sage, und nickt dabei. Ich sehe ihm an, dass er alles versteht, und ich sehe ihm an, dass er aufgeregt ist. Aber er ist auch sehr ernst. Er will, dass der Duke stolz auf ihn ist.

Es ist sonnig und warm, genau wie an dem Tag, als der Duke mit mir die erste Fahrt gemacht hat, blauer Himmel mit bauschigen Wolken, aber kein Wind. Ein toller Tag für einen Anfänger. Ich stelle den Bollerwagen oben auf der Einfahrt so hin, dass er bergabwärts zeigt, dann steige ich ein und ziehe die Beine an, wie der Duke das gemacht hat, und Eddie setzt sich dazwischen, wie ich damals. Ich lege meine rechte Hand auf seine an der Lenkstange und löse mit der linken Hand die Bremse.

Wir rollen los, zunächst langsam, dann schneller, und ich gebe Eddie Anweisungen, genau wie der Duke das bei mir gemacht hat, flüstere: »Sachte, Junge, du kannst das. Sachte.«

Die Wagenräder rattern über den Kies, und Eddies seidiges blondes Haar weht nach hinten, als wir den Hang hinuntersausen, vorbei an den Pferden und durch die Kurve unter der großen Pappel, dann die Gerade entlang und hinunter in die Kehre, wo wir wieder Tempo aufnehmen, und jetzt rasen wir genau auf die Schlange am Crooked Run zu, wo der Wagen immer diesen lustigen kleinen Hopser macht.

»Sachte«, sage ich. »Sachte.«

 

Das gibt Ärger.

Ich sitze allein im Wohnzimmer. Die große alte Standuhr tickt in der Diele, und von oben höre ich die gedämpften Stimmen von besorgten Erwachsenen.

Ich hoffe, Eddie wird schnell wieder gesund.

Alles lief prima, bis wir über die Schlange gerollt sind. Ich hatte Eddie gewarnt, dass wir einen kleinen Hopser machen würden, aber ich glaube, wir sind doller gehopst, als Eddie dachte, weil er nämlich aufschrie und die Lenkstange herumriss, sodass wir gegen die Steinbrücke knallten, der Bollerwagen auf die Seite kippte und wir beide rausfielen. Ich hab mir Knie und Ellbogen aufgeschürft, aber Eddie blieb mit dem Gesicht nach unten im Kies liegen, die Arme ausgestreckt. Er bewegte sich nicht. War er verletzt? War er …? Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Ich hab ihn an der Schulter berührt, aber er hat sich noch immer nicht bewegt.

Dann ist Jane aus dem Haus gerannt gekommen und hat wie verrückt geschrien. Sie hat mich angefaucht, ich sollte ihren Sohn nicht anfassen, und dann hat sie ihn aufgehoben – sein Gesicht war zerkratzt, seine Arme und Beine waren schlaff wie bei einer Stoffpuppe – und hat ihn ins Große Haus getragen.

Ich bin hinter Jane her, wollte ihr die Treppe rauf folgen, aber sie hat mich wieder angefaucht, ich sollte bloß wegbleiben, also bin ich ins Wohnzimmer gegangen, und da war ich noch, als der Duke und Dr. Black ankamen und nach oben liefen.

Ich glaube, ich kann Eddies Stimme hören. Ich glaube, er ist am Leben. Das hoffe ich so sehr. Ich wollte ihm nicht wehtun. Ich wollte doch nur alle froh machen. Aber ich weiß, das gibt Ärger. Großen Ärger. Ich weiß nur nicht, wie groß.

 

Ich sitze noch immer allein im Wohnzimmer, als ich höre, wie im ersten Stock eine Tür geschlossen wird, dann kommen Schritte die Treppe runter. Der Duke. Ich kenne seinen Gang, schwer, aber schnell. Er kommt ins Wohnzimmer. Meistens lächelt der Duke, wenn er mich sieht, tätschelt mir den Kopf oder drückt mir die Schulter oder nimmt mich in den Arm, aber jetzt nicht.

Stattdessen geht er vor mir in die Hocke, damit er mir direkt in die Augen sehen kann.

»Wie geht’s Eddie?«, frage ich.

»Er war bewusstlos, aber er ist wieder zu sich gekommen.«

Ich spüre, wie ich ausatme, als hätte ich die ganze Zeit die Luft angehalten.

»Wir müssen abwarten«, redet der Duke weiter. »Dr. Black will, dass er ein paar Tage im Bett bleibt, falls er eine Gehirnerschütterung hat.«

»Es tut mir leid.«

»Ach was, mich hat’s als Kind auch oft umgehauen. Ist für einen Jungen ganz normal.«

»Es war ein Unfall.«

»Glaub ich dir. Aber wir haben da jetzt ein Problem, Frechdachs. Jane ist nämlich der Meinung, dass du deinen kleinen Bruder beinahe umgebracht hast.«

»Ich wollte ihm doch nur beibringen, wie man den Bollerwagen fährt. Das sollte eine Überraschung für dich sein.«

»Verstehe. Das Problem ist, Jane findet, du bist eine Gefahr für den Jungen. Sie ist wütend. Sehr wütend. Wir müssen sie beruhigen, Frechdachs, du und ich. Und du kannst deinen Teil dazu beitragen, indem du für ein Weilchen zu deiner Tante Faye in Hatfield ziehst.«

Tante Faye? Die Schwester von meiner Mama? Mir schnürt es die Kehle zu, bis ich fast keine Luft mehr kriege. Ich kann mich kaum an Tante Faye erinnern. Sie hat früher bei uns gewohnt und geholfen, auf mich aufzupassen, und sie schickt mir jedes Jahr eine Geburtstagskarte, aber ich hab Tante Faye nicht mehr gesehen, seit Mama gestorben ist und der Duke Jane geheiratet hat, da war ich drei. Und Hatfield ist ganz oben in den Bergen am anderen Ende vom County, weit weg vom Großen Haus.

So wie der Duke mich ansieht, hab ich das Gefühl, dass er das eigentlich nicht will. Vielleicht kann ich ihn dazu bringen, mich nicht wegzuschicken, wenn ich ihm verspreche, dass ich brav und nie wieder ungestüm sein werde, dass ich alles tun will, um Jane zu beruhigen, und nie wieder irgendwas mache, wobei Eddie sich wehtun könnte – wenn ich das auf einen ganzen Stapel Bibeln schwöre. Aber der Duke redet auch mit der Stimme, die er immer benutzt, wenn sein Entschluss feststeht, und wenn du dann versuchst, ihn davon abzubringen, werden seine Augen ganz schmal und wütend, und du machst alles nur noch schlimmer.

Also frage ich: »Für wie lange?«

»Bloß, bis sich die Lage beruhigt hat.«

Teil I

1

Bald wird die Sonne herauskommen. Unser Haus liegt am Fuß des Berges – nicht weit entfernt von den Bahngleisen –, und direkt gegenüber erhebt sich ein anderer Berg, sodass wir nur einen schmalen Streifen Himmel über uns haben. Meistens ist der Himmel morgens mit dichtem Nebel verhangen, schwer wie eine nasse Wolldecke, und an manchen Tagen brennt die Sonne ihn erst am späten Vormittag weg. Bis dahin haben wir längst die Flecken aus diesen verflixten Laken gekocht und geschlagen, und wir können sie zum Trocknen aufhängen und am nächsten Tag zum Krankenhaus bringen, um unser Geld zu kassieren. Damit kommen wir wieder eine Woche über die Runden.

Aber wir brauchen die Sonne.

Ich schiele immer wieder nach Osten, will, dass die blöde Sonne endlich scheint, und dann sehe ich das Auto. Es kommt auf der anderen Talseite die Serpentinen herunter, verschwindet immer wieder in Nebelschleiern. Auch Tante Faye sieht es. Wir hören auf, die Bettwäsche umzurühren, und beobachten schweigend, wie es am Fuß des Berges die Brücke über den Shooting Creek überquert, in dem kleinen Ort verschwindet und dann aus dem Nebel auf unserer Straße auftaucht, die am Fluss und an den Gleisen entlangführt. Es ist ein großes Auto, lang wie eine Lokomotive und grün – so ein dunkles hartes Grün wie bei einem nagelneuen Dollarschein. Niemand hier in den Bergen fährt so ein Auto. Soweit ich weiß, kann sich im ganzen County nur ein Mann so ein Auto leisten. Es kommt vor dem verblassten Schild mit der Aufschrift FAYES DAMENSCHNEIDEREI & FRISIERSALON zum Stehen.

»Ich seh furchtbar aus«, sagt Tante Faye, während sie die Hände an ihrer Schürze abtrocknet und sich das Haar richtet. »Bin gleich wieder da.« Sie huscht ins Haus.

Ich weiß, dass auch ich furchtbar aussehen muss, und wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann steigt ein großer, schlaksiger Mann in einem dunklen Anzug aus dem Auto.

»Tom!«, rufe ich, lasse das Wäschepaddel fallen und laufe auf ihn zu wie ein Kind, das schulfrei bekommen hat. Ich kenne Tom Dunbar schon mein ganzes Leben, habe ihn aber nicht mehr gesehen, seit er aufs College gegangen ist. Wenn Tom zurück ist, wenn er mitten in der Woche in einem schicken grünen Auto den weiten Weg nach Hatfield gefahren ist, dann will er sich nicht bloß erkundigen, wie’s mir geht. Irgendetwas ist passiert. Etwas sehr Gutes. Oder sehr Schlimmes.

Ich umarme Tom fest, und er umarmt mich mindestens ebenso fest, dann nimmt er meine Hände, und wir stehen einfach nur da, grinsen uns an.

»Du siehst gut aus, Sallie Kincaid.«

»Das ist eine Lüge.« Mein Arbeitskleid ist klitschnass, meine Haare rutschen aus dem lockeren Knoten, den ich heute Morgen gebunden habe, und meine roten, rissigen Hände riechen nach Lauge. »Aber es ist eine nette Lüge, deshalb lass ich sie dir durchgehen. Ich sag dir etwas, das stimmt. Es tut verdammt gut, dich zu sehen. Und du siehst auch gut aus.«

Das tut er wirklich. Sein dunkles Haar wird an den Schläfen bereits schütter, aber er hat wieder mehr Farbe im Gesicht als bei unserer letzten Begegnung, nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt war und völlig hoffnungslos und freudlos aussah, seine Haut aschfahl, die Augen in die Ferne gerichtet mit diesem verstörten Blick, den so viele junge Männern hatten, die in Frankreich waren. Jetzt sieht er wieder wie mein Freund Tom aus.

Ich schaue an Tom vorbei und betrachte das grüne Auto mit der langen Motorhaube und noch längeren Karosserie, den scharfen Kanten und weichen Kurven, der glänzenden Lackierung und den noch glänzenderen Chromverzierungen – so schnittig und modern und so völlig deplatziert hier in Hatfield, wo Nebel, Regen und Tau die Konturen der schiefen Häuser aufweichen und alles Menschengemachte mit Schimmel und Rost überziehen. »Dieses Prachtexemplar von Auto gehört bestimmt dem Duke. Was ist das für eins? Und wieso zum Kuckuck kommst du damit den weiten Weg hierher?«

»Das ist ein Packard Twin Six, fabrikneu. Und, Sallie« – Tom drückt meine Hände und blickt mir direkt in die Augen –, »der Duke schickt mich. Ich soll dich zurückholen.«

Mich zurückholen. Neun lange Jahre habe ich darauf gewartet, diese Worte zu hören. Mich zurückholen. Mich nach Hause holen. Ich hatte dem Duke geglaubt, als er sagte, ich müsste nur kurze Zeit in Hatfield bleiben, und ich redete mir ein, dass er mich schon bald holen lassen würde, doch die Wochen vergingen, dann die Monate, und ich verlor den Glauben an schon bald. Der Duke kam ein- oder zweimal im Jahr vorbei, wenn er in diesem Winkel des County zu tun hatte, doch seine Besuche waren kurz. Er hatte es immer eilig, und wenn ich fragte, wann ich nach Hause kommen darf, sagte er immer, die Zeit sei noch nicht reif, bis ich irgendwann nicht mehr fragte. In den letzten paar Jahren ließ er sich hier kein einziges Mal blicken. Doch eines Tages, eines Tages, das wusste ich, würde ich diesen kleinen Ort in den Bergen verlassen. Jetzt ist der Tag da. »Warum? Warum jetzt?«

»Jane ist tot«, sagt Tom. »Die Grippe hat sie in drei Tagen dahingerafft.«

Jane ist tot. Tom hat das leise gesagt, aber die Worte dröhnen mir durch den Kopf. Wie viele Male habe ich gedacht, dass Jane mein Leben zerstört hat, dass sie mir alles genommen hat, was mir lieb war. Wie oft habe ich mir gewünscht, ihr würde etwas zustoßen, aber ich habe mich immer bemüht, solche Gedanken zu vertreiben und stattdessen dafür zu beten, dass Jane ihre Meinung ändert und einsieht, dass ich Eddie nie wehtun wollte, dass mir ein Platz im Haus meines Daddys zusteht, genauso wie meinem Bruder. Ich schwöre, ich habe nie dafür gebetet, dass Gott sie auf diese Weise zu sich nimmt, dass Eddie seine Mama verliert. Kein Kind sollte das durchmachen müssen.

»Alle Kincaids versammeln sich im Großen Haus«, sagt Tom.

Tante Faye kommt wieder nach draußen, und genau in dem Moment brennt die Sonne sich durch die letzten Nebelschwaden. Meine Tante hat rasch ihr gutes Kleid angezogen und ordnet ihr volles schwarzes Haar mit ihren schlanken Fingern, die sie zu ihrem Kummer beim Wäschewaschen verschandelt. Die Leute sagen, dass sie mal eine richtige Schönheit war, und das sieht man heute noch an ihren Rehaugen und den üppigen Kurven. Aber das Leben in Hatfield lässt einen Körper sehr schnell altern. Das dichte schwarze Haar ist mit Grau durchzogen, und die Haut um die Winkel dieser Rehaugen hat winzige Fältchen.

»Tom, du stattlicher Student, das ist ja eine Überraschung. Was führt dich her?«

»Jane ist gestorben«, sage ich. »An der Grippe.

»Oh.« Tante Faye schlägt die Hand vor den Mund. »Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.«

»Die Beerdigung ist morgen«, sagt Tom. »Der Duke schickt nach Sallie.«

Tante Faye lächelt. »Ich hab’s doch gesagt, Sallie. Ich hab dir gesagt, dass es eines Tages so weit sein wird.« Dann stößt sie ein unsicheres kleines Lachen aus. »Was ist mit mir, Tom? Ich soll doch bestimmt mitkommen, oder?«

»Tut mir leid, Miss Powell.« Toms Stimme ist sanft. »Von Ihnen hat der Duke nichts gesagt.«

Tante Faye dreht sich zu mir um, zieht an den schlanken Fingern, einen panischen Ausdruck in den Augen. Ich kann sie nicht hier zurücklassen – die Frau, die mich in den letzten neun Jahren großgezogen hat –, ich kann sie nicht hier alleinlassen, mit einem Kessel voller fleckiger Bettwäsche.

»Tante Faye sollte auch dabei sein«, sage ich. »Sie gehört zur Familie.«

Tom nickt. »Natürlich. Aber du kennst ja den Duke. Er hasst Überraschungen, wenn sie nicht von ihm selbst kommen, und er hat gesagt: ›Hol Sallie‹, nicht: ›Hol Sallie und Faye.‹«

»Ohne sie komm ich nicht mit.«

Tante Faye fasst meinen Arm. »Sallie, verärgere den Duke nicht. Fahr nur. Du wirst ja nicht lange fort sein. Du kommst doch zurück, oder?«

Werde ich das? Oder will der Duke mich womöglich für immer nach Hause holen? Falls es bloß für die Beerdigung ist, wird Tante Faye schon ein paar Tage ohne mich zurechtkommen. Die Bettwäsche ist jetzt fast sauber, die Sonne scheint, sie kann sie allein aufhängen und in meinem kleinen roten Bollerwagen zum Krankenhaus bringen. Aber was macht sie, wenn der Duke will, dass ich bleibe?

»Werde ich das?«, frage ich Tom. »Wieder hierherkommen?«

»Hat der Duke mir nicht gesagt. Aber die Totenwache hat schon begonnen. Wir machen uns besser auf den Weg.«

Tante Faye folgt mir durchs Haus, vorbei an der Schneiderpuppe und den an die Wände geklebten Modefotos aus Frauenzeitschriften. In unserem Schlafzimmer ziehe ich den Bezug von meinem Kopfkissen. Das wenige, was ich besitze, wird mühelos hineinpassen.

»Du kommst doch wieder, oder?«, fragt sie noch mal. Ihre Stimme klingt dünn und brüchig.

»Tante Faye, ich weiß nicht mehr als du.«

»Der Duke hat gesagt, er wird für mich sorgen, solange ich für dich sorge. Was soll aus mir werden, wenn du nicht zurückkommst?«

»Ich werde für dich sorgen«, erwidere ich. »So oder so.«

»Wie denn?«

»Ich finde schon eine Möglichkeit.«

Das hoffe ich zumindest. Ich weiß nur nicht, wie. Und Tom wartet, und der Duke wartet, und ich muss los.

Vielleicht fordere ich das Schicksal heraus, wenn ich meine Sachen packe, als würde ich nicht zurückkommen, aber ich tu’s trotzdem. Meine zweite Garnitur Unterwäsche, meine Sommersocken, meine Haarbürste mit Wildschweinborsten, meine abgegriffene Bibel, in der ich nicht so viel lese, wie ich sollte – alles wandert in den Kissenbezug. Ich drehe Tante Faye den Rücken zu und ziehe mein braunes Musselin-Arbeitskleid aus, und obwohl es noch nass ist, rolle ich es zusammen und packe es ebenfalls ein. Ich streife mein anderes Kleid über, ein blaues aus Gingan mit einer welligen Zierborte, das ich nur zu besonderen Anlässen trage. Bleibt nur noch eines. Mein Gewehr, mein kostbarster Besitz, lehnt in der Ecke.

»Tante Faye, ich lass dir meine Remington hier. Scheu dich nicht, sie zu benutzen.«

2

»Fühlst du dich bereit dafür?«, fragt Tom, als wir durch Hatfield fahren.

»Natürlich. Mir geht’s bestens«, erwidere ich schneidender als beabsichtigt. Ich bin doch angespannter, als ich dachte. Tom nickt, als wüsste er, wie ich mich fühle. Wir überqueren den Shooting Creek, und Tom erzählt mir, wie sehr er diesen Fluss liebt, dessen Wasser vom Berghang in die Luft schießt und dann fast senkrecht herabstürzt, über die Steine gischtet, kalt und schnell und eng, aber dann, am Fuß des Berges, wenn das Land sich abflacht, langsamer wird und in Windungen weiterfließt, andere Flüsse und Bäche aufnimmt, seinen Namen an sie verliert, Felsen und Hügel umspült, in die Niederungen gleitet, wo es freier strömen kann.

Tom erklärt, dass das andere Auto des Duke, der Ford, dafür gebraucht wird, Speisen für die Totenwache herbeizuschaffen, und der Duke ihn deshalb in dem Packard losgeschickt hat. »Wenn er auch nur einen Kratzer abkriegt«, hat er gesagt, »versohl ich dir den Hintern.« Tom ist schon immer ein vorsichtiger Fahrer gewesen, aber jetzt, wo er das neue schicke Auto des Duke steuert, kriecht er förmlich dahin, schleicht durch die engen Kurven, meidet die Spurrillen von den Holztransportern und bremst vor jeder Schlammpfütze ab.

Die Fahrt zurück nach Caywood gestaltet sich also langsam. Und sie kommt mir noch langsamer vor, weil mein Verstand auf Hochtouren läuft. So viele Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf. Widersprüchliche Gedanken. Ich kann’s kaum erwarten, im Großen Haus anzukommen, aber ich habe keinerlei Vorstellung, wie man mich dort empfangen wird. Ich habe diesen Tag jahrelang herbeigesehnt, hatte schreckliches Heimweh, doch die ganze Zeit habe ich nie richtig darüber nachgedacht, was ich zurücklassen würde, und ich kann das Bild nicht abschütteln, wie Tante Faye, zum Abschied winkend, allein neben ihrem Damenschneidereischild steht und sich alle Mühe gibt, für mich zu lächeln.

Wir lassen die Blue Ridge Mountains hinter uns und gelangen in den westlichen Teil von Claiborne County, in das Tal, wo die schöne Landschaft Virginias flach ist und sich gut für Landwirtschaft eignet, wo die Äcker und Weiden von Zäunen und Hecken begrenzt sind. Oben in den Bergen hat der Winter das Land noch fest im Griff, aber hier unten hat der Frühling die Erde aufgeweicht, hat die ersten zarten grünen Triebe am Straßenrand hervorgelockt, und die Knospen an den Bäumen sind prall wie Zecken.

Als wir die sanften Hügel im Osten erreichen, kommen wir erstmals an Orten vorbei, die ich noch aus meiner Kindheit in Erinnerung habe: ein verlassenes Farmhaus mit einer langsam bröckelnden Steinmauer, ein kugelförmiger Getreidespeicher neben einer blutroten Scheune, verwitterte Tabakschuppen.

Am Rand von Caywood biegen wir auf die Crooked Run Road und passieren kleine Häuser mit noch kleineren Veranden. Viele Farmer in Geldnot haben ihre Grundstücke am Straßenrand zum Verkauf angeboten, und der Duke hat einige erworben, um dort diese kleinen Häuser zu bauen und zu vermieten.

Endlich kommen wir zu den Steinpfeilern vor dem Großen Haus. Auf der anderen Straßenseite sind zwei neue Häuser, doch die Einfahrt sieht noch genauso aus wie in meiner Erinnerung, flankiert von den mächtigen Bäumen.

Wir überqueren die kleine Brücke über den Crooked Run, und unwillkürlich sehe ich den dreijährigen Eddie dort liegen, mit dem Gesicht nach unten. Jenseits der Brücke stehen Autos und Kutschen entlang der Einfahrt, und weiter hinten windet sich eine lange Menschenschlange zum Großen Haus.

»Stell dich nicht hinten an, Sallie«, sagt Tom. »Geh einfach rein.«

»Das wäre unverschämt.«

»Du bist hier geboren, Sallie. Du musst nicht warten. Und lass deinen Beutel im Auto. Ich bring ihn für dich durch die Hintertür rein.«

Ich drücke seine Hand und öffne die Tür, ehe er irgendwas Albernes anstellen kann, wie ums Auto herumlaufen, um sie mir aufzumachen. Einige Leute schauen zu mir rüber, als ich aussteige, aber sie denken sich nicht groß was dabei, sondern widmen sich wieder ihren Unterhaltungen, und ich stehe allein da, starre das Große Haus an.

Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man endlich das erblickt, was man sich so lange vorgestellt hat, und ehrlich gesagt, ich hatte befürchtet, dass das Große Haus gar nicht mehr so groß sein würde wie in meiner Erinnerung. Aber das ist nicht der Fall.

Das Große Haus ist weitläufig. Auf der einen Seite ist das ursprüngliche Farmhaus, klein und robust, zwei Zimmer über zwei Zimmern, erbaut aus Feldsteinen, die mein Urgroßvater Bull Kincaid sammelte, als er das Land urbar machte. An das Steinhaus schließt sich der Holzschindelflügel an, den der Colonel – der Daddy des Duke – vor rund fünfzig Jahren anbauen ließ, als die Familie wohlhabender wurde. Und dann ist da noch der elegante Flügel mit den hohen Fenstern, um den der Duke das Große Haus erweiterte, als es in seinen Besitz überging.

Ich gehe die Einfahrt hoch, vorbei an den Pappeln, die noch größer geworden sind, und den Buchsbäumen, die breiter geworden sind, und frage mich einmal mehr, ob ich endgültig nach Hause zurückkehre oder ob ich bloß zu Besuch komme, wie all die Menschen in der Warteschlange. Ich steige die Verandastufen hinauf und versuche, mir einen Weg durch die Menge vor der Tür zu bahnen, als jemand ruft: »Hinten anstellen!«

»Ich gehöre zur Familie.«

»Das tun wir alle.«

»Ich bin die Tochter vom Duke.«

»Großer Gott«, sagt eine Frau fast im Flüsterton. »Das ist Sallie Kincaid.«

Köpfe schnellen herum, die Menge teilt sich, und ich trete durch die Tür.

Ich bin im Innern des Großen Hauses. Trauergäste füllen die Diele, doch einen Moment lang sehe ich sie nicht. Die geblümte Tapete, der Teppich, der aus dem fernen Persien stammt, der Hutständer aus Messing mit den Löwenkopfknäufen, die Standuhr mit Sonne und Mond auf dem Zifferblatt – alles ist so vertraut und zugleich eine Welt entfernt von dem Leben, das ich bei Tante Faye geführt habe. Hier gibt es keine Not, keine Geldsorgen – und ich kann kaum glauben, dass ich mal hier gewohnt und diesen Luxus, diesen Überfluss für selbstverständlich gehalten habe. Unablässig strömen die Erinnerungen auf mich ein: wie ich das verzierte Treppengeländer heruntergerutscht bin, mich beim Versteckspiel mit Eddie in den Schrank dort gequetscht habe, durch die Diele gerannt bin, wenn der Duke rief: »Bin zu Hause«, um ihm in die Arme zu springen. Ich packe den Treppenpfosten, um mich festzuhalten. Ich bin zu Hause.

Ich gehe zögerlich den Flur hinunter, achte auf meine Haltung – benimm dich würdevoll, sagt Tante Faye immer. Die Trauergäste haben ihre gute Sonntagskleidung angezogen. Einige unterhalten sich ernst in kleinen Grüppchen, andere trinken aus Flaschen und werfen lachend den Kopf in den Nacken, denn eine Totenwache ist auch eine Gelegenheit, Freunde und Verwandte zu treffen.

Ich meine, seine Stimme zu hören, die Stimme des Duke, die über Gemurmel und Geschirrgeklapper hinwegdröhnt, also folge ich dem Klang, biege nach links ins Wohnzimmer, wo die roten Samtvorhänge zugezogen sind, und da, mitten unter all den Leuten, sehe ich Janes Leichnam, ausgestreckt auf dem langen Walnussholztisch. Ihr hübsches Gesicht und das weiße Seidenkleid leuchten im sanften Licht der Kerzen, die sie umgeben.

Dann sehe ich ihn. Den Duke. Er sitzt neben Janes Leichnam in seinem wuchtigen ledernen Ohrensessel und begrüßt Gäste. Jeder andere, alles andere verschwindet neben ihm. Er ist so groß, so massig, selbst im Sitzen ragt er heraus, der rotbraune Bart gestutzt, der weiße Kragen gestärkt, eine weiße Nelke am Revers seines schwarzen Jacketts, mit seiner dicken Zigarre gestikulierend.

Er schaut zu mir herüber. Mein Gesicht kribbelt. Ich winke, ich lächele, und der Duke nickt knapp, höflich, dann gleitet sein Blick zurück zu dem Mann, mit dem er sich gerade unterhält, und das Kribbeln ist verschwunden, verdrängt von einer brennenden Scham. Ist es möglich, dass der Duke mich nicht erkannt hat? Seine Augen huschen wieder in meine Richtung, als würde er stutzen, dann leuchten sie auf, und er schenkt mir sein berühmtes Duke-Lächeln und erhebt sich langsam aus dem Ohrensessel.

»Sallie«, sagt er, »mein kleiner Frechdachs.«

Ich durchquere den Raum – ich muss mich zügeln, um nicht zu rennen, nicht zu hüpfen. Ich umarme ihn fest, und er erwidert die Umarmung, aber er lässt eher los als ich, schiebt mich weg, hält mich auf Armeslänge von sich weg und mustert mich von oben bis unten.

»Nicht mehr ganz so klein, was?«, sagt er.

»Nein, nicht mehr.« Auch er sieht aus der Nähe anders aus. Er ist dicker geworden, hat einen Bauch und weiße Strähnen in seinem rotbraunen Haar und Bart.

»Schön, dass du wieder da bist, Mädchen. Wie lange warst du weg? Acht Jahre?«

»Neun«, sage ich. Neun Jahre, elf Monate und fünf Tage. Ich war acht, als er mich wegschickte. Acht Jahre alt. Nächsten Monat werde ich achtzehn.

»Neun.« Er schüttelt den Kopf. »Die Zeit. Geld kommt und geht, aber die Zeit vergeht nur.«

»Es tut mir so leid um Jane.«

Er sieht mir in die Augen, packt meine Schultern, zieht mich an sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Seine Barthaare kitzeln. »Erzähl mir keinen Mist«, flüstert er. »Wir reden später.«

Dann blickt er an mir vorbei zu der nächsten Person in der Warteschlange, seine Hände gleiten am meinem Rücken herab, und er schiebt mich sanft weiter.

Da erst bemerke ich den dünnen jungen Burschen, der zusammengesunken neben dem Sessel des Duke sitzt. Er hat den Kopf so tief gesenkt, dass ich sein Gesicht nicht sehen kann, aber ich kenne ihn, ich erkenne das seidig-blonde Haar. Ich gehe vor ihm in die Knie.

»Eddie.«

Er sieht mich ausdruckslos an. Er ist klein für einen Jungen, der gerade dreizehn geworden ist, und zart, mit den grauen Augen seiner Mama und dem feinen Haar. Ein überraschender Ansturm von Gefühlen für meinen Bruder überkommt mich. Liebe, ja, doch ich müsste lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass da auch ein gewisser Neid ist. Er hatte den Duke die letzten neun Jahre für sich – und alles andere, was ich nicht hatte –, aber jetzt sieht er so untröstlich aus, dass er mir von Herzen leidtut.

»Eddie, ich bin’s, Sallie. Deine Schwester.«

»Sallie.« Seine grauen Augen mustern meine einen Moment lang. »Mutter hat gesagt, du hättest mich fast umgebracht.«

»Das war ein Unfall.« Meine Worte klingen lauter als beabsichtigt. Der Duke blickt zu mir herüber, und ich senke die Stimme. »Ich wollte dir beibringen, mit dem Bollerwagen zu fahren. Das hab ich doch in meinen Briefen erklärt.«

»Was für Briefe?«

Jane hat sie ihm also vorenthalten, die Briefe, die ich schrieb, als ich meinte, Eddie wäre alt genug, um zu verstehen, was passiert war, alt genug, um mir vielleicht zu verzeihen. Ich kann nur ahnen, was sie ihm alles über mich erzählt hat. Wie soll er sich da freuen, mich wiederzusehen? Wenn ich schon gemischte Gefühle ihm gegenüber habe, müssen seine noch widersprüchlicher sein.

»Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe. Es war ein Unfall, aber es war trotzdem mein Fehler. Ich war damals viel zu ungestüm, wie Jane oft gesagt hat. Und es tut mir leid, dass du deine Mama verloren hast. Ich weiß, wie das ist.«

Eddies graue Augen werden frostig, genau wie Janes immer. »Meine Mutter war ganz anders als deine Mutter.«

Ich stehe auf, erneut gekränkt. »Du hast recht. Meine Mama war ganz anders als deine Mama.«

Eddie wendet den Blick von mir ab, sieht zu Jane hinüber. Auch ich betrachte sie. Sie ist so hell, so still, in diesem dunklen lauten Raum. Ihr Gesicht ist weiß gepudert, das flaumige, seidig-blonde Haar perfekt frisiert. Selbst im Tod gelingt es ihr, überlegen auszusehen.

Sie war keine Schönheit – hatte eng stehende Augen und schmale Lippen, aber als Jane auf den Plan trat, so wurde gemunkelt, hatte der Duke genug von schönen Frauen. Außerdem hatte Jane das, was die Leute eine gute Kinderstube nennen. Sie entstammte der wohlhabendsten Familie in einer nicht so wohlhabenden Stadt, und das erkennt man noch immer an ihren feingliedrigen gefalteten Händen und ihrem schmalen, ovalen Gesicht, faltenfrei bis auf die kleine Furche zwischen den Brauen, die sich immer vertiefte, wenn ihr etwas missfiel. Was häufig vorkam. Zum Beispiel die Fotografie von meiner Mama, die ich auf dem Nachttisch stehen hatte, kurz nachdem der Duke Jane geheiratet hatte. Eines Tages war sie verschwunden. Ich war damals vier, und es dauerte lange, bis ich den Mut aufbrachte, Jane zu fragen, wo das Bild geblieben war, und als ich es endlich tat, wurden ihre Augen frostig, die kleine Furche auf ihrer Stirn vertiefte sich, und sie sagte: »Mein Mann möchte nicht an diese Frau erinnert werden.«

Ich strecke die Hand aus und berühre Janes kalte Wange. Adieu, Jane. Hast du irgendetwas bereut, bevor du starbst? Hast du je das Bedürfnis gehabt, dich mit mir zu versöhnen? Ich bezweifle es.

Während ich durch die Menge schlendere und nach vertrauten Gesichtern suche, nicke ich Menschen zu, die ich nicht kenne, und alle nicken zurück, doch ich spüre, wie sie mich im Vorbeigehen mustern, überlegen, was sie von mir halten sollen. Benimm dich würdevoll, höre ich Tante Faye sagen, aber ich hatte bloß ein kleines Stück Maisbrot zum Frühstück, und jetzt habe ich einen Bärenhunger, und ich kann gebratenes Fleisch und frisch gebackenes Brot riechen. Im Esszimmer biegen sich die Tische unter allen möglichen Trauerspeisen – fette Fleischpasteten, glänzende Gewürzpfirsiche, goldgelbe Maiscreme, mit Zimt bestreute Bratäpfel, Kürbisauflauf mit einer Kruste aus ofengerösteten Butterkekskrümeln, Süßkartoffelauflauf mit lockerer Schlagsahne, Taubenpastete mit überbackenem Kartoffelpüree, knusprige Brathähnchen, dicke Scheiben fettmarmorierter Schinken, trocken gereifter Rehrücken und zartes Schweinefleisch in einer dunklen Sauce.

Schon allein der Duft lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen, aber ich werde den Teufel tun, mir hier vor aller Augen den Bauch vollzuschlagen, während die Leute mich taxieren. Gerade überlege ich, ob ich mich unbemerkt mit einem vollen Teller in den Keller schleichen kann, als ich Tom und seinen Dad Cecil draußen in der überfüllten Diele sehe. Ich will zu ihnen gehen, doch da sagt eine Frau hinter mir: »Der Duke hat sie also doch zurückkommen lassen.«

Die Worte werden laut geflüstert, als wollte die Frau, die sie ausspricht, gehört werden. Sie hat ein kräftiges Kinn, breite Schultern, stahlgraues Haar und die harten blaugrünen Augen, die man manchmal bei den Kincaids sieht. Meine Tante Mattie. Neben ihr steht eine junge Frau, die hübsch und unscheinbar zugleich ist. Es ist neun Jahre her, aber ich erkenne Matties Tochter, meine Cousine Ellen.

»Tante Mattie. Ellen.«

»Sallie«, sagt sie. »Du bist groß geworden.«

»Das will ich doch hoffen. Was hast du da gerade gesagt?«

»Dass du groß geworden bist.«

»Davor.«

»Davor hab ich nicht mit dir geredet.«

»Nein. Du hast über mich geredet.«

»Sallie, du bist gerade erst wieder da. Mach hier keine Szene. Die Leute werden sagen, dass du nach deiner Mutter kommst.«

Getreten. So fühle ich mich. Als wäre ich getreten worden und würde gern zurücktreten, aber die Leute hören zu – benimm dich würdevoll –, deshalb wende ich mich jäh ab. Doch da ist jemand direkt hinter mir, und ich will mich noch bremsen, aber es ist zu spät, und ich pralle mit voller Wucht gegen eine Frau. Sie trägt ein Tablett mit Schüsseln, die alle auf den Boden krachen, sodass Grünkohl, Rote-Bete-Salat und dergleichen durch die Luft fliegen, auf dem Perserteppich landen und vorne auf mein schönes blaues Gingan-Kleid spritzen.

Ich stoße ein Schimpfwort aus – vielleicht auch mehrere –, und prompt verstummen sämtliche Gespräche. Ich stürme durch die Küchentür, schnappe mir einen Lappen von der Spüle und beginne, an den Flecken auf meinem Kleid herumzuschrubben. Gleich darauf kommt die Frau herein. Sie trägt eine weiße Schürze, und sie entschuldigt sich überschwänglich, beteuert, es tue ihr schrecklich leid, es sei alles ihre Schuld, sie sei so tollpatschig, und ich nicke, während ich weiterschrubbe, und in dem Moment kommt der Duke herein.

»Was ist hier los?«, fragt er.

»Mein Kleid ist ruiniert.«

»Ein Missgeschick«, sagt die Frau. »Es war meine Schuld.«

»Unsere Nell ist ziemlich vorsichtig, aber so was passiert nun mal, Sallie.«

»Es ist nur passiert, weil Tante Mattie gesagt hat, du hättest mich lieber nicht zurückholen sollen.«

»Wen interessiert, was Mattie denkt? Ich treffe hier die Entscheidungen. Wenn du dich mit ihr anlegst, lieferst du ihr nur den Streit, den sie haben will.«

»Aber das ist mein einziges gutes Kleid, und jetzt seh ich aus, als hätte ich darin Schweine geschlachtet.«

»Das krieg ich schon wieder sauber«, sagt die Frau, die der Duke Nell genannt hat. »Aber ich muss es einweichen, und jetzt muss ich erst mal die Bescherung im Esszimmer beseitigen.«

»Vergiss das Kleid«, sagt der Duke. »Sallie, komm mal mit.«

Vergiss das Kleid. Sagt einer, der für jeden Wochentag einen anderen Anzug hat. Es gibt viele wie Mattie, die glauben, dass ich nicht hierhergehöre, und der große rote Fleck auf meinem Kleid ist wie ein Mal, das ihnen recht gibt. Ich verschränke die Arme, um den Fleck so gut es geht zu verbergen, und folge dem Duke nach draußen auf die hintere Veranda, dann die Stufen hinab und vorbei an einer Gruppe von Männern, die im Garten stehen. Die Sonne geht unter, und qualmende Flammen von Petroleumfackeln beleuchten ihre Gesichter und flackern auf den Whiskeyflaschen, die auf dem Tisch stehen, während sich die Männer über die Ernte und das Wetter unterhalten – der späte Frost könnte die Erdbeeren ruinieren, Zeit, die Erde für den Mais umzupflügen, Fred Mullen verlangt zehn Dollar Deckgebühr für seinen neuen Percheron-Hengst. Im Vorbeigehen klopft der Duke einigen von ihnen auf den Rücken, und sie nicken, dankbar, dass er ihnen seine Aufmerksamkeit schenkt. Schließlich setzen wir uns auf die niedrige Steinmauer, die den Garten umgibt.

Die dämmrige Luft ist kühl. Der Duke zieht sein schwarzes Jackett aus und legt es mir um die Schultern – das Seidenfutter ist noch warm von seinem Körper –, dann klopft er auf die Mauer.

»Erinnerst du dich noch an den Sommer, als wir die hier gebaut haben?«

»Und ob.« Wie könnte ich den vergessen? Er ist eine meiner liebsten Erinnerungen, jener Sommer, als ich vier war und Jane guter Hoffnung und der Duke und ich jeden Sonntagnachmittag damit verbrachten, diese Steine zusammenzufügen wie die Teile eines Puzzles.

»Du hast hart gearbeitet, Frechdachs. Selbst an den heißesten Tagen. Du hast geschickte Hände. Und du hast was im Kopf.« Er zerzaust mein Haar wie früher, als ich ein Kind war. »Ich weiß, die letzten Jahre waren schwer für dich, aber es ging nicht anders, verstehst du?«

»Verstehe.« Und ein Teil von mir versteht es wirklich, der Teil, der sich unbändig freut, weil wir dieses Gespräch führen, weil der Duke so fürsorglich ist, darauf achtet, dass mir nicht kalt wird, unsere gemeinsame Zeit heraufbeschwört. Ein anderer Teil von mir wird es nie verstehen.

»Neun Jahre«, sagt der Duke. »Das ist eine lange Zeit. Es sollte nur für einen Monat sein, höchstens zwei. Aber ich muss dir gestehen, sobald du weg warst, wurde das Leben mit Jane sehr viel einfacher.« Der Duke seufzt und studiert seine Fingernägel. »Vielleicht hätte ich lieber Eddie wegschicken sollen. Auf eine Militärschule. Damit er ein dickeres Fell kriegt. Aber Jane meinte, das würde ihn umbringen. Hätte es wahrscheinlich auch. Also bist du diejenige, die abgehärtet wurde. Aber jetzt bist du wieder da.«

»Für immer?« Es platzt aus mir heraus. Ich kann nicht anders.

»Für immer. Damit du dich um Eddie kümmerst.« Er nickt, zufrieden mit seiner Entscheidung. »Jetzt, wo Jane nicht mehr ist, braucht er jemanden, der auf ihn aufpasst. Schaffst du das?«

»Das schaffe ich. In Hatfield hab ich der Lehrerin, Miss Cain, mit den jüngeren Schülern geholfen.«

»Ich weiß. Miss Cain hat mir Berichte über dich geschickt.« Er reibt sich die Hände. »Der Junge bedeutet mir alles. Keine Unfälle mehr. Ist das klar?«

Ich nicke, versuche, den Seitenhieb zu überhören.

»Er wird mal Gouverneur werden«, sagt der Duke. »Vielleicht Senator.«

Ich nicke wieder.

Genau in dem Moment leuchten die großen Wohnzimmerfenster strahlend hell auf. Ich schnappe nach Luft. Elektrizität. Als ich das Große Haus verließ, wurde es mit Kerzen und Gas erhellt. Ich sehe, wie Nell sich von Zimmer zu Zimmer bewegt und nacheinander die Lichter angehen, wie die Fenster magisch in der Dämmerung leuchten.

»Willkommen im modernen Zeitalter«, sagt der Duke. Er reckt die Arme über den Kopf und lässt die Knöchel knacken – ein Geräusch, das ich schon immer geliebt habe. »Ich bin ein bisschen angetrunken, aber ich sollte wieder reingehen. Muss heute Abend noch einige Hände schütteln. Ich nehm das mal wieder.« Er zieht sein Jackett von meinen Schultern – die Kälte ist jäh und heftig – und betrachtet mein Kleid, als sähe er es zum ersten Mal. »Heiliges Kanonenrohr, Mädchen, du siehst wirklich aus, als hättest du Schweine geschlachtet.«

»Ich hab sonst nichts zum Anziehen.«

»Weißt du was?« Er schiebt die Arme in sein Jackett. »In Janes Zimmer hängen jede Menge Kleider. Zieh eins davon an. Da ist ein schwarzes Kleid, das sie vor ein paar Monaten gekauft hat. Für Beerdigungen. Nie getragen. Sie wusste ja nicht, dass die nächste Beerdigung, an der sie teilnimmt, ihre eigene sein würde.« Er stößt ein freudloses Lachen aus, wischt sich dann über die Augen. »Ich weiß, ihr beide habt euch nicht gut verstanden, aber mir wird die Frau fehlen. Dem Jungen auf jeden Fall.«

Der Duke atmet noch einmal tief die Abendluft ein, um sich zu wappnen, dann geht er wieder ins Haus.

Ich bin also zurück. Für immer. Falls ich es richtig anstelle. Und ich werde einen Weg finden, wie ich Tante Faye von hier aus unterstützen kann.

 

Janes Geruch – also ihr Fliederparfüm – schlägt mir entgegen, als ich die Tür zu ihrem Boudoir öffne. Wenn ich Flieder rieche, kommt mir unweigerlich Jane in den Sinn. Ich sehe Schränke voll mit Kleidern, Reihen von Schuhen, Schachteln mit Hüten, Schubladen gefüllt mit Korsetts und Ähnlichem – alles von Jane. Die gemusterte Tapete gehört Jane ebenso wie das Hutnadelkissen und der Ringhalter und die hellblonden Haare zwischen den Borsten ihrer Bürste aus Sterlingsilber. Beim Anblick von Janes Haaren fühle ich mich wie ein Eindringling. Ich habe hier nichts zu suchen, also werde ich mich beeilen.

So viele Kleider – aus feiner Seide, weichem Kaschmir, zarter Spitze –, und dann sehe ich es, das schwarze Kleid. Ich streife mein besudeltes aus Gingan ab. Hier, in Janes Zimmer, lediglich in Unterwäsche zu stehen, kommt mir regelrecht unzüchtig vor, und ich ziehe mir rasch ihr Kleid über.

Es passt, was bedeutet, dass ich jetzt die Größe der Frau habe, die mich wegschickte, als ich ein kleines Mädchen war. Es ist, als würde sie mir aus dem Jenseits einen Gefallen tun, dabei will ich mich ihr gegenüber auf gar keinen Fall verpflichtet fühlen, aber mir bleibt keine andere Wahl, und das Kleid ist maßgeschneidert, anders als alles, was ich je getragen habe, mit Innenfutter und Biesen und Plissees, Abnähern und Schulterpolstern.

Als ich die letzten Haken schließe, betrachte ich mich in dem großen Spiegel. Ich bin nicht das, was man eine hinreißende Schönheit nennen würde. Bei Weitem nicht. Ich habe die blaugrünen Augen des Duke und sein rotbraunes Haar, aber die breiten Wangenknochen und das spitze Kinn meiner Mama. Mama. Das war früher ihr Zimmer. Wenn ich es mir recht überlege, könnte noch eine Spur von ihr hier sein, und obwohl ich mir vorgenommen habe, schnell wieder zu gehen, fange ich plötzlich an, in Schubladen und Kisten zu stöbern, öffne die Schmuckschatulle aus Rosenholz auf der Frisierkommode und wühle mich durch die dick mit Juwelen besetzten Halsketten und Armbänder und Broschen von drei Generationen Kincaid-Frauen. Endlich, ganz unten, finde ich sie. Die Halskette, die der Duke meiner Mama geschenkt hat. Sie ist schlicht und elegant, mit drei schimmernden Mondsteinen, die wie Regentropfen an einer silbernen Kette hängen. Jane hat offenbar nicht gewusst, dass sie Mama gehörte. Ich lege sie an. Sehe ich damit ein bisschen wie Mama aus? Sie vor all den Leuten unten zu tragen ist ausgeschlossen, also nehme ich sie wieder ab und lege sie zurück in die Schmuckschatulle. Auch das fühlt sich falsch an, und ich stecke sie in eine Tasche von Janes Kleid. Ich bin keine Diebin, aber ich finde es richtig, mir das zu nehmen, was mir gehört. Und ich bin der Meinung, dass mir Mamas Halskette zusteht.

Unten sind jetzt noch mehr Menschen zur Totenwache gekommen. Es ist wuselig, heiß, schweißtreibend, und ich hebe den Arm, um mir über die Stirn zu wischen. Dieses verflixte Fliederparfüm. Das schwarze Kleid riecht stark danach. Ich gehe auf die hintere Veranda, um das Kleid auszulüften.

Eddie sitzt auf den Stufen. Er sieht mich an, zunächst erschrocken und verwirrt, doch dann füllen sich seine grauen Augen mit Schmerz und Wut. »Das ist das Kleid meiner Mutter!«, schreit er.

Unten im Garten verstummen alle Gespräche über die Ernte und das Wetter. Die Männer starren zu uns herauf. »Die arme Frau ist noch nicht mal unter der Erde«, ruft ein großer bärtiger Mann. »Und Annie Powells Tochter reißt sich schon ihre Kleider unter den Nagel.«

Das wird mit nervösem Gelächter quittiert.

»Der Duke wollte es so«, erkläre ich Eddie so laut, dass alle es hören können. »Es war sein Vorschlag. Auf meinem anderen Kleid war ein großer Fleck.«

»So kannst du nicht über die Tochter vom Duke reden«, schnauzt ein kleiner Mann den großen an.

»Willst du mir etwa vorschreiben, wie ich zu reden habe, du Zwerg.«

Wieder nervöses Gelächter. Dann schubst der Bärtige den kleineren Mann gegen den Tisch. Whiskeyflaschen fallen zu Boden. Der kleine Mann richtet sich auf, und im Fackellicht sehe ich eine Messerklinge in seiner Hand aufblitzen. Der Bärtige schnappt sich eine Whiskeyflache vom Boden und geht zum Angriff über. Die beiden ringen miteinander, bewegen sich beinahe wie ein Tanzpaar, doch dann sinkt der große Mann langsam auf die Knie. Er lässt die Flasche fallen, presst beide Hände auf die Brust. Sein Gesicht nimmt einen verwunderten Ausdruck an, dann kippt er nach vorn.

Ich drehe mich zu Eddie um, der nach Luft ringt, umfasse seine Schultern und drücke sein Gesicht an meine Brust, damit er nicht sehen kann, was im Garten geschieht, wo Männer herumschreien und aufeinander losgehen. Genau in dem Moment kommt der Duke aus der Hintertür gestürmt.

»Schluss jetzt!«, brüllt er. »Was zum Teufel ist hier los?«

Eddie windet sich aus meinen Armen und tritt von mir weg. Ich vermute, er schämt sich, weil der Duke gesehen hat, wie ich ihn beschützt habe. »Eine Messerstecherei«, sage ich. »Es ging alles sehr schnell.«

Der Duke sieht die Männer an, die den zusammengesackten Körper umringen. »Ist das Dutch Weber?«

»Ja, Sir«, ruft einer.

»Was ist mit ihm?«

Zwei Männer beugen sich über Dutch, um ihn sich genauer anzusehen.

»Tot, Sir«, sagt einer von ihnen.

Der Duke schüttelt den Kopf, eher angewidert als bestürzt. »Hier kann man nicht mal eine Frau zur ewigen Ruhe betten, ohne dass diese Kerle Randale machen.« Dann beginnt er, Anordnungen zu blaffen, als wäre er der Vorarbeiter auf einer Baustelle. Er befiehlt den beiden Männern, die den kleineren Mann festhalten, ihn ins Gefängnis zu schaffen, sagt denjenigen, die neben Dutch knien, sie sollen den Leichnam zum Bestatter bringen, schickt einen weiteren Mann zu Dutchs Frau, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen, und fordert die Übrigen auf, die Spuren des Kampfes zu beseitigen. »Und zwar sofort. Ich lass nicht zu, dass ein paar Raufbolde im Suff die Totenwache meiner Frau ruinieren.«

3

Jane hat ihre Blumen geliebt, und am nächsten Tag liegen Hunderte davon rings um ihr offenes Grab, Treibhausrosen und Lilien, geflochten zu Kränzen und Kreuzen und Kronen und Herzen. Ich trage jetzt wieder mein braunes Musselinkleid und sitze an Eddies Seite neben dem Grab. Es riecht noch immer leicht nach Lauge vom Waschen der Bettwäsche. Aber der Wind kommt und geht in kräftigen Böen – das letzte Aufbäumen des Winters –, und wir alle tragen Mäntel; deshalb hoffe ich, dass außer mir keiner den Laugengeruch bemerkt.

Ich wollte auf keinen Fall noch einmal Janes schwarzes Kleid anziehen, das Kleid, das Eddie so aufbrachte und dazu führte, dass ein Mann getötet wurde. Ich rede mir ein, dass es nicht meine Schuld war, aber Tatsache ist, dass Dutch Weber noch leben würde, wenn ich nicht da gewesen wäre. Außerdem geht mir ständig der Gedanke durch den Kopf, ob Tante Mattie vielleicht recht damit hatte, dass der Duke mich besser in Hatfield hätte lassen sollen.

Alle sitzen schweigend da, dann steht der Duke auf und blickt in die Menge. Ich weiß, dass er trauert, aber irgendwie zeigt er sich hier und jetzt, auf dem Friedhof, vor dem Sarg der Frau, die ihm endlich den Sohn schenkte, den er immer haben wollte, von seiner stärksten Seite. Er ist der Duke, er hat sein Publikum im Griff, schweigt kurz an den richtigen Stellen, weint unverhohlen, als er von dem großen Verlust spricht, den nicht nur er empfindet, sondern alle Kincaids, ja ganz Claiborne County. »Meine Frau war der Inbegriff von Gastfreundschaft, stets öffnete sie ihre Tür für Besucher und ihr Geldbörse für die Bedürftigen«, sagt er, aber er reißt auch ein paar Witze – »Wenn Jane mal für uns kochte, läutete nicht die Essensglocke, sondern der Feuermelder« –, was alle zum Lachen bringt, und es ist ihnen anzusehen, wie froh sie darüber sind, wie dankbar, dass der Duke es ihnen erlaubt.

Eddie dagegen lacht nicht. Er starrt den Sarg seiner Mama an, als würde er ihn nicht wirklich sehen. Der Duke beendet seine Grabrede, wirft eine Handvoll Erde auf den Sarg, dann nimmt er Eddies Hand, und sie verlassen den Friedhof. Die anderen Trauernden folgen ihnen, doch ich bleibe zurück, bis ich schließlich allein mit den Totengräbern bin, die ihre Schaufeln von einem Handwagen ziehen. Als sie nicht herschauen, zupfe ich eine Rose aus einer der Blumengaben. Es sind so viele, dass es nicht auffallen wird.

Es muss irgendwo hier sein, Tante Faye hat es mir einmal gezeigt, und im hintersten Winkel des Friedhofs knie ich mich hin und wische mit der Hand welkes Gras und trockene Blätter weg, bis ich fündig werde. Es ist kein richtiger Grabstein, sondern eine kleine Granitplatte, flach in den Boden eingelassen.