Vom Leben getötet - Tagebuch eines 14-17jährigen Mädchens - Band 130e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - Liesbeth K. – Anonym (alias Grete Machan) - E-Book

Vom Leben getötet - Tagebuch eines 14-17jährigen Mädchens - Band 130e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski E-Book

Liesbeth K. – Anonym (alias Grete Machan)

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Beschreibung

Die anonyme 14- bis 16jährige Jugendliche aus kleinbürgerlichem Milieu schrieb etwa um 1922 ein Tagebuch. Sie zeichnete darin ein Bild der 1920er Jahre in Deutschland. Es handelt sich um ein Mädchen, das aus kleinen Verhältnissen herauskommt, außerordentlich künstlerisch begabt, regsamen Geistes allem Schönen aufgeschlossen, in einem Tagebuch von ihrem 14. Lebensjahre an, vom 20. Mai 1922 bis wenige Tage vor ihrem ergreifenden Tod bis zum 9. Mai 1924 ihr kurzes, schweres Schicksal darlegt. Es handelt sich um ein durchaus unverdorbenes Mädchen, gegen das der Schein sprach und die böse Zunge falscher Freundinnen. Die Veröffentlichung dieses Tagebuches ist ein Verdienst in jeder Hinsicht. Es bietet dem Psychologen und Pädagogen reiche Anregung. Am meisten Ausbeute aber verspricht es den Vertretern der caritativen Fürsorge. - Rezension zur maritimen gelben Reihe: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechslungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlicht hat. Alle Achtung!

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Seitenzahl: 305

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Liesbeth K. – Anonym (alias Grete Machan)

Vom Leben getötet - Tagebuch eines 14-17jährigen Mädchens - Band 130e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

Band 130e in der gelben Buchreihe

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Vorbemerkungen des Herausgebers 1927

Das Tagebuch – Jahr 1922

Jahr 1923

Jahr 1924

Stimmen zur Beurteilung dieses Buches

Die gelbe Buchreihe

Weitere Informationen

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers

Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche.

Dabei lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

Im Februar 1992 entschloss ich mich, meine Erlebnisse mit den See­leuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzu­tragen. Es stieß auf großes Interesse. Mehrfach wurde in Leser-Reaktio­nen der Wunsch laut, es mögen noch mehr solcher Bände erscheinen. Deshalb folgten dem ersten Band der „Seemannsschicksale“ weitere. Inzwischen habe ich gut 130 Buchbände gestaltet, überwiegend mit maritimem Hintergrund.

Mein Beruf bringt es mit sich, dass mich sozialpädagogische und psychologische Themen sehr interessieren. Darum habe auch dieses Tagebuch einer Schülerin zur Neuveröffentlichung aufgegriffen.

Die anonyme 14- bis 17jährige jugendliche Autorin aus einfachen Verhältnissen schrieb um 1920.

Hamburg, 2020 Jürgen Ruszkowski

Ruhestands-Arbeitsplatz des Herausgebers. Hier entstehen seine Bücher und Webseiten.

* * *

Vorbemerkungen des Herausgebers 1927

Original:

https://www.projekt-gutenberg.org/anonymus/lebentot/index.html

Vorbemerkungen des Herausgebers 1927

Am 1. Juni 1924 starb die Schreiberin dieses Tagebuches kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Vielleicht ein Vierteljahr später fand die Mutter unter ihren Schulbüchern die vorliegenden Aufzeichnungen in einem schlichten Heft, so wie sie es in der Schule wohl für ihre Aufsätze gebraucht hatte. Nachdem die Mutter das Tagebuch gelesen, legte sie die Aufzeichnungen im Krankenhaus aus den letzten Wochen dazu und brachte das Ganze dem Lehrer ihrer noch schulpflichtigen Kinder in der Hoffnung, ihn zu überzeugen, dass ihr Kind unglücklich, aber nicht schlecht war. Sie wollte dadurch verhindern, dass der Ruf der älteren Schwester den jüngeren Kindern im Urteil der Schule schade. So wurde das Heft zunächst in einem engeren Kreise bekannt. Wenn wir es jetzt der Öffentlichkeit übergeben, so geschieht es aus der Überzeugung heraus, dass es als menschliches Dokument vereinzelt dasteht, und dass es eine Aufgabe zu erfüllen hat.

Als einmal von der Zukunft gesprochen wurde, soll die Schreiberin in leidenschaftlichem Ungestüm ausgerufen haben: „Ich möchte alles lernen und alles wissen, und dann möchte ich allen Menschen Gutes tun!“ Ob das ein unbewusstes Ahnen ihres Schicksals war? Sie hat ein tragisches Wissen empfangen aus Schuld und Sünde, und durch das Gnadengeschenk ihres Talentes konnte sie ihr eigenes Lebensopfer als Gabe darbieten, hoffentlich zur Rettung vieler.

Mehr als einmal wurde der Zweifel an der Echtheit des Buches laut. Ein Proletarierkind von vierzehn bis siebzehn Jahren könne unmöglich so schreiben! Man solle doch nur auf die feine Beobachtung, die Stimmung, das Einfühlen in die Natur, die wunderbare Darstellung der seelischen Entwicklung achten! Es sei das Werk eines Künstlers, nicht eines Kindes. Darauf lautet die Antwort, dass das Original bis auf das kleinste abgegriffene Zettelchen vorliegt, und dass uns eben nur der eine Schluss erlaubt ist: dieses Kind hatte eine gottbegnadete Künstlerseele. Wohl hat sie ihren Reichtum geahnt, aber nicht gewusst. Die Kraft zur Form war so gewaltig in ihr, dass sie nicht widerstehen konnte, und es ist erschütternd, wenn man die Zettelchen sieht, auf denen sie in den letzten Wochen ihres Lebens im Krankenhaus, immer tagebuchmäßig mit Datum, treu sachlich, ihre Eintragungen machte. Oft aber ist es nur ein einziger herzerschütternder Schrei ihrer armen gequälten Seele. Es sind alte, umgekehrte Briefumschläge, Postkarten, auf denen noch ein freies Plätzchen war, die weiße Rückseite eines Stickmusters, gerade beschrieben, wenn es ging, sonst quer und schräg und rund. Nirgends eine Andeutung, dass sie ihre Worte an bestimmte Personen richtet. Wohl hat sie das Heft zweimal in ihrem Leben hergegeben, einmal um sich das Vertrauen einer mütterlichen Freundin zu sichern, einmal um ihre junge Liebe zu retten. Es scheint nicht, dass sie sich etwas anderes beim Schreiben gedacht hat, als was sie einmal ausspricht, nämlich dass sie, wenn sie grau und alt sei, mit stiller Freude einmal wieder durch die Welt ihrer Jugend gehen könne. Freilich, den ersten Anstoß, das Heft zu schreiben, gab die Kränzchenregel der Haushaltschülerinnen, aber man merkt schon nach einigen Seiten, dass die Fortsetzung unter dem inneren Drang schöpferischen Könnens geschrieben ist.

Eine andere Frage lautet: Wie kommt dieses Kind aus dem Volke zu solchen Fähigkeiten? Die Schule hat ihr wenig gegeben, man nannte sie eine gute, nicht eine beste Schülerin, nur im Aufsatz hatte man ein Mehr festgestellt gegenüber den andern Kindern. Nach dem Bericht der Mutter bestand die Lektüre aus der nichtssagenden, vielfach oberflächlichen Backfischliteratur, harmlos und unschädlich, aber sicher kein erhebliches Bildungsmittel. Ihr Können ist also wohl in keiner Weise als etwas Erworbenes zu betrachten, sondern vielmehr als die Äußerung starker eigener Kraft. Man wundert sich über die Begabung nicht mehr, wenn man die Mutter kennt. Die im Tagebuch eingefügten Briefe der Mutter, die wörtlich den Originalen entsprechen, und auch die, welche die Mutter im letzten Jahre als Antwort auf Anfragen wegen ihrer Tochter schrieb, und die sämtlich vorliegen, kennzeichnen sie als eine intelligente Frau mit feinster Gemütsbildung. Auch sie hat nur die Volksschule besucht, eine sogenannte äußere Bildung irgendwelcher Art blieb ihr versagt, was jedoch im Umgang mit ihr in keiner Weise als Mangel hervortritt. Sie schrieb in einem Brief über ihre Tochter von sich: „Als ich jung war, stand ich auch oft vor Rätseln, und ist es nicht so, gerade den armen Menschen ist die Illusion und Sehnsucht nach allem Schönen angeboren, weil die Entbehrungen zu groß sind. Da häuft sich so vieles an, was man alles in wachen Träumen erlebt, weil es bei uns niemals in Wirklichkeit zu erreichen ist. Und das macht ja den armen Menschen das Leben schön, dieses Träumen, diese Illusionen; die Wirklichkeit ist so unbarmherzig, und die ist immer da, zu jeder Stunde. Ich habe in meiner Kindheit bis in die Ehe hinein viel in mir erlebt, was ich mit meinem Manne nie erleben konnte.  Ich habe einen guten, nüchternen, praktischen Mann, der ehrgeizig seine Familie allein ernährt und brave Menschen aus seinen Kindern machen will. Aber Träume und Ideale, alles das, was ich in ... aus meiner Jugend wiederfand, das ist meinem Mann gänzlich fern ...“ Sie sieht in der Begabung ihres Kindes das glücklose Erbe ihres eigenen Vaters, der Arbeiter in einer Großstadt Mitteldeutschlands war. Er hatte zwölf Kinder zu versorgen. In seiner Freizeit, so erzählt seine Tochter, habe er stets geschrieben, und auf die Frage, was er denn aufgezeichnet habe, antwortete sie: „Er schrieb über alles, was groß und schön ist.“ Aber die Mutter habe später alle Papiere verbrannt. Das „später“ bezeichnete die Zeit, als er, gebrochen vom Zwiespalt des Lebens, nach einigen Jahren im Irrenhaus gestorben war. Die Tochter kannte das Geschick des Großvaters, und mehr als einmal hat sie die Angst ausgesprochen, dass sie ähnlich wie er am Leben zu Grunde gehen werde. Alle, die sie im Leben gekannt haben, bezeugen, dass ihr jüngstes Schwesterchen, von dessen Ankunft sie eine so wundervolle Skizze schreibt –, in jeder Hinsicht ihr Ebenbild sei. Jedenfalls äußern sich bei dem Kind heute schon Gaben, die auch ihr ein unendlich glücklicher Reichtum, aber ebenso leicht ein tragisches Schicksal werden können.

Eine weitere, wichtige Frage, die zugleich sehr schwer zu beantworten ist, lautet: Ist das Buch wahr? Wir müssen da unterscheiden. Das Tatsächliche in Bezug auf Menschen, Dinge, Ereignisse konnte bis auf einiges Wenige, das zudem auch kaum wichtig ist, nachgeprüft werden und erwies sich als durchaus echt. Die weiteren Fragen: Sagt sie alles? schmückt sie nicht aus? biegt sie die Tatsachen nicht zu ihren Gunsten um? sind nicht leicht zu beantworten, und eine restlose Klarheit in dieser Hinsicht ist für die einzelnen Tatsachen wohl auch zu entbehren. Wer die Tagebücher der Jungmädchen kennt, und wer die Jungmädchen kennt, die Tagebücher schreiben, der weiß, dass den Blättern trotz der Versicherung, dem verschwiegenen Freund alles anzuvertrauen, doch nicht alles gesagt wird. Wer wollte der Schreiberin daraus einen Vorwurf machen? Sodann schreibt sie so, wie sie selber ihr Leben schaut und erlebt, und das schließt selbstredend hie und da objektive Richtigkeit aus, gibt uns aber ein umso deutlicheres Bild des schauenden und erlebenden Menschen. Wer das Buch vom psychologischen Standpunkt aus würdigt, wird diese Punkte sicher berücksichtigen müssen. Wenn uns nun Menschen, die sie genau kannten, sagen, dass das Mädchen wahrhaftig und ehrlich war, und wenn wir feststellen, dass alles Tatsächliche in dem Buche stimmt, dann dürfen wir wohl annehmen, dass sie bewusst niemals täuschen, dass sie auch vor sich ihr Leben nicht fälschen wollte. Die Schilderungen, die sie z. B. von ihren Eltern, ihren Geschwistern, ihrem Heim gibt, die aus einer Seele stammen, welche durch Menschen und Dinge hindurch das Wesen schauen kann, entsprechen dennoch ganz und gar der Wirklichkeit, wenn auch wohl jeder, der das Heft las und dann das arme Häuschen sieht, sich zunächst nicht zurechtfinden kann, bis er einmal die Schilderungen und Berichte nachprüft und feststellt, dass er wirklich in ihrer Heimat steht, dass er sie aber durch ihre Kinder- und Künstleraugen schauen muss.

Oft wurde gefragt, ob das Mädchen nicht doch gefallen sei, und wenn, dann müsse man ihr aus dem Verschweigen doch den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit machen. Ganz abgesehen davon, dass eine moralische Verpflichtung zum Bekenntnis für sie nicht bestand, war es in ihrer Lage das Selbstverständliche und Natürliche, dass sie ein solches dem Buche nicht anvertraute. Die Schuld, deren sie sich wohl bewusst ist, und von der sie auch einige Wochen später in Verbindung mit der Klage über die für sie so unverständlich schwere Buße schreibt, war für sie die Tat einer leidenschaftlichen Stunde, aber nicht die eines oberflächlichen Leichtsinns; sie glaubte keinen Grund zu haben, an der ehrlichen Treue des Mannes, mit dem sie verlobt war, zu zweifeln. Erst als die Tat, losgelöst vom ersten Eindruck, für sie ganz und nur Schuld war, spricht sie davon. Ob der Mann in Wirklichkeit so war, wie ihre Liebe ihn darstellt, ließ sich nicht ermitteln.

Eine weitere Frage, die nach dem, was wir hier schon ausführten, vielleicht noch dunkler wird, lautet: Wie konnten die Eltern, wie konnte die Mutter das Kind in doch offensichtliche Gefahren hineingehen lassen? Als der Jugendrichter diese Frage stellte, hat die Mutter geantwortet: „Unser Kind war immer fleißig und gehorsam, sie hat von morgens bis abends für uns gearbeitet, da glaubten wir, ihr erlauben zu dürfen, bis 9 oder 10 Uhr mit ihren Bekannten spazieren zu gehen.“ In vertraulichem Gespräch gefragt, bekannte sie, dass sie erst durch das Geschick ihres Kindes die Gefahren und die Schlechtigkeit der Welt kennen gelernt habe. Bis zu ihrem achtzehnten Jahre habe sie unter der Aufsicht ihrer sehr energischen und religiösen Mutter schwer arbeiten müssen, während ihrer zweijährigen Verlobungszeit habe die Mutter zum Beispiel niemals erlaubt, dass sie mit ihrem Bräutigam allein spreche. Dann kam die Ehe mit dem ersten schweren Jahr des gegenseitigen Eingewöhnens. Als dann die Kinder kamen, sei Ihr ganzes Sinnen und Trachten durch die neue Aufgabe gefesselt worden. Sie habe niemals außer dem Hause ihre Freuden gesucht, und dann habe der Krieg ihre Lasten verdoppelt und ihr Leben damit noch mehr auf den engen Kreis ihrer Kinder beschränkt. Wenn sie ihrer Tochter Freiheiten gegeben habe, so sei sie darin auch dem allgemeinen Brauch in ihren Kreisen gefolgt, sie selber habe ja keine Erfahrung gehabt. Es sei aber auch ihr Wunsch gewesen, dass die Tochter sich bald verheirate; sie habe das Gefühl gehabt, dass das nach dem Erlebnis in Berlin eine Notwendigkeit gewesen sei, und sie wolle auch ruhig gestehen, dass sie ein wenig stolz war auf die für ihre Verhältnisse doch vornehmen Freier. Man habe ihr oft den Vorwurf gemacht, sie halte ihre Kinder für etwas Besonderes; sie wisse darauf nur zu sagen, dass sie sich in ihren Kreisen nicht heimisch gefühlt habe, dass sie nur unter den Ihrigen glücklich gewesen sei.

Wenn man auch kaum verstehen kann, dass die Eltern den Verkehr mit Mädchen zuließen, von denen sie wenigstens ahnten, dass sie schlecht waren, so haben sie eben einerseits nicht glauben können, dass ihr Kind sich verführen lasse, und anderseits war es eine übel angebrachte Gutmütigkeit und Leichtgläubigkeit. Der Schaden, durch den diese armen Eltern die Erziehungsweisheit für ihre übrigen Kinder erkaufen mussten, ist so unsagbar groß, dass er wohl ausreichen möchte, um auch andern Eltern und Führern die Augen zu öffnen.

Es war das Unglück des Mädchens, dass es durch die Reise nach Berlin, durch diesen Kinderstreich – von ähnlichen weiß wohl manche Geheimchronik aus besten Familien zu berichten, denen andere Mittel zur Verfügung standen als die Hilfe der Polizei, um ein Kind zu suchen und zu finden! – nachträglich sowohl bei der Polizei, die trotz aller Zeugnisse immer noch die Harmlosigkeit der Reise bezweifelte, als auch bei der Halbwelt bekannt geworden war. Als sie starb, stand sie wohl gerade an einem Wendepunkt, und es ist schwer zu sagen, ob sie von da an schnell in die Tiefe gezogen worden wäre, oder ob die Menschen, die ihren Charakter und ihre reiche Veranlagung kannten, bereit und fähig gewesen wären, ihr junges Leben zu retten.

Etwa zwei Wochen vor ihrem Tode sprach das Jugendgericht sie ihrem Elternhause zu in der Erkenntnis, dass sie keinesfalls zu den Verlorenen gehöre, und dass die Eltern Schutz und Aufsicht sein konnten. Die Verhandlungen waren ihr eine letzte seelische Qual. Sie betrachtete die amtlichen Frager als ihre Feinde, gegen die sie sich durch stolzes Schweigen wehren zu sollen glaubte. Eine Überführung ins Elternhaus konnte aber nicht sogleich stattfinden, da sie typhusverdächtig war. Als man dann einige Tage später erkannte, dass es sich nicht um eine ansteckende Krankheit handelte, brachte man sie den Eltern. Nach acht Tagen starb sie, am 1. Juni 1924.

An dem Original des Tagebuches wurde nichts geändert, natürlich mit Ausnahme sämtlicher Namen. Eine Verbesserung der Interpunktion und hie und da auch eines Schreibfehlers dürfte wohl nicht unter den Begriff Änderung fallen. Die Eltern gaben nur schweren Herzens ihre Zustimmung zur Veröffentlichung; aber wir glaubten ihnen die Versicherung geben zu dürfen, dass allen Lesern die Ehrfurcht vor der Schwere ihres Leides jedes ungütige und unnütze Fragen verbiete.

* * *

Das Tagebuch – Jahr 1922

Das Tagebuch – Jahr 1922

20. Mai 1922

Noch ist ja die blühende, goldene Zeit, o du schöne Welt, wie bist du so weit! Und so weit ist mein Herz und so blau wie der Tag, wie die Lüfte durchjubelt vom Lerchenschlag! Ihr Fröhlichen singt, weil das Leben noch mait: Noch ist die blühende, goldene Zeit, noch sind die Tage der Rosen!

Ehe ich mich Dir anvertraue, liebes Buch, muss ich mich wohl erst vorstellen. –

Ich bin Margarete Machan, geboren am 27. Juli 1907 zu Magdeburg, Tochter des Schuhmachers Joseph Machan und seiner Ehefrau Elisabeth geb. Schmitt.

So steht es im Stammbuch – und es ist auch so.

Ich bin 14 Jahre. Habe noch 4 Geschwister: Fritz – 12 Jahr, Annchen – 11 Jahr, Berni – 9 Jahr und Lotti 5 Monat. Außerdem wohnen hier in Neuburg unsere nächsten Verwandten, Großvater, Großmutter, Tante Grete, Tante Frieda und Onkel Paul. Tante Grete ist Plätterin, Tante Frieda Schneiderin, Onkel Paul Seefahrer. Alle ledig. Doch nein – Tante Frieda heißt Frau Mann, sie verlor ihren Gatten auf tragische Weise. Es rührt niemand daran. Onkel Paul will im März, holla – Ende Mai Hochzeit halten; er bekommt ein Mädchen mit krausem, dunkelblondem Haar zur Frau, die verspricht, eine tüchtige Lebensgefährtin zu werden. So meint Mama. Ostern verließ ich die Schule, um den großen Schritt ins Leben zu tun. Das sind die Worte unseres Geistlichen, Pastor Hamanns.

Jetzt besuche ich die Haushaltungsschule. Lerne rechnen, schreiben, lesen, Kinderunterhaltung, waschen, plätten und kochen. Am meisten lernt man Blödsinn, denn es sind Mädchen unter uns, die Liebesbriefe schreiben und erhalten von irgendwelchen Schülern. Dieselben stehen nach Schluss des Unterrichts an allen möglichen Ecken in der Nähe der Schule.

Marta Wieland ist die einzige mir Bekannte. Sie war meine Mitschülerin in der Schule. Wir sind die einzigen Katholiken. Das Essen, das wir brauen, ist wohl zu genießen, aber kaum stärkend für arbeitende Menschen. Aber der Begriff ist wenigstens da, wenn auch die Fettaugen fehlen. Unsere Lehrerinnen sind fast alle ältere Damen. Marta sagt, sie hätten den Anschluss verpasst. Sie wirken recht erzieherisch; ihr Anzug ist oft lächerlich, wie Marta findet. Alte Damen (Jungfern) bleiben in der Zeit und Mode, in der sie jung waren. Unsere alte Dame hat uns schon einen Vortrag über Liebe und Ehe gehalten und auch über Babypflege. Auf das Letztgenannte verstehe ich mich glänzend, denn wie oft habe ich unser kleines Lottchen baden und ankleiden müssen. Ich habe auch Mutti im Wochenbett gepflegt und den Haushalt geführt. Einmal habe ich Hasenbraten gemacht; Papa sagt, er habe ihm noch nie so gut geschmeckt; er wollte mich foppen, das merkte ich wohl. Geschmeckt hat er aber, das sage ich selbst und Herr Braun auch, der schon 2 Jahre bei uns wohnt und sonntags zu Tische isst. Herr Braun ist ein sächsisches Original.

Wir lernen in der Schule auch Puppenstuben-Anfertigung aus Papier, auch allerlei Spielzeuge. Alles in allem will man uns zu brauchbaren Menschen machen. Wir haben nur so viel Jugendübermut, und es ist schwer, uns zu zähmen. Aber Fortschritte machen wir.

In den freien Stunden gehe ich zu Schreibers in der Nordstraße.

Ein Puppenhaushalt, ich sah kaum so ähnliches.

Frau Schreiber ist eine ruhige, kränkliche, alte Dame und behandelt mich wie eine Tochter. Sie ist die Schwester von unserem Hausarzt.

Herr Schreiber, ein gemütlicher alter Herr, liebt seinen Garten über alles und umsorgt seine leidende Frau rührend. Sie haben ihren einzigen Sohn verloren, seitdem ist Frau Schreiber nervenleidend. Es ist sehr traurig. Ich helfe im Garten und Haushalt.

So, liebes Buch, das bin ich bis heute; was nun kommen wird, Freud oder Leid, das vertraue ich dir an. Ich will hoffen, nur Freude. Ich bin noch so jung und so dumm und werde wohl nichts Großes erleben. Die Welt ist so groß und so schön, ich liebe alles, was schön ist, Menschen, Blumen – die sehr, sehr. Auf dem Lande war ich in der Kriegszeit oft längere Zeit zur Erholung; ich liebe auch das Landleben und fühlte mich dort in Seckhaus sehr zu Hause.

Es war bei Horsts, ein moderner Bauernhof. Dort lernte ich reiten. Ich hatte die Pferde sehr gern. Herr Horst unterstützte immer meinen tollen Übermut. Er war musikalisch und lehrte mich das Klavierspielen. Jeden Morgen spielte er einen Choral, am Tage benutzte er jeden freien Augenblick zu Spiel und Lesen. Abends war es sehr harmonisch, dann saßen wir im „guten Zimmer“, und ich durfte üben. Frau Horst vertrat gänzlich Mutterstelle, und fast jedes Mal, wenn ich bei ihnen war, erblickte ein junges Menschenkind das Licht der Welt. Ich habe in meiner Kinderzeit viel kennen gelernt, was zum Leben gehört; Frau Horst sagte, das schadete nichts.

Auf dem Felde arbeitete ich mit, und das tat ich zu gern; die Kühe waren meine Freunde, und die Schweine! Ich liebe alles, was lebt, und bewundere es, weil alles so seltsam und die Natur so rätselhaft ist. Am meisten liebe ich aber Eltern und Geschwister. Papa ist ein lieber, lieber, guter Brummbär. Arbeitet von früh bis spät, pafft seine Pfeife und spielt jeden Sonnabend seinen gemütlichen Skat. Er liebt die Fischerei und seine Kaninchen neben uns. Mutti ist eben unsere Mutti, und ich kann mir keine bessere vorstellen. Sie nennt uns „ihre Welt“. Erst verstand ich das nicht, aber Horsts erklärten es mir, und seitdem verehre ich meine Mutti und will immer von ihr lernen. Herr Horst sagte, sie hätte ein Herz wie Gold und einen feinen Idealismus. Das ist ein Wort, das ich noch nicht ganz verstehe, aber das ist ja egal, es muss jedenfalls etwas sehr Gutes sein. Meine Geschwister liebe ich, und wir verzärteln und bewundern alle unser Nesthäkchen Lotti. Wir haben in der Haushaltungsschule einen „Tagebuch-Klub“ gegründet. Es sollen gegenseitig die Bücher ausgetauscht werden zum Lesen. Darum möchten wir recht viel schreiben, nur ich verstehe nicht so glänzend zu erzählen, aber so gut, wie irgend möglich, bringe ich wohl eine Erzählung zusammen, ohne mich lächerlich zu machen mit meinem Talent. Zu dir habe ich nun Vertrauen, liebes Buch, denn du bist schweigsam. Ich muss dich stets in Gewahrsam bringen, denn meinen Eltern und Geschwistern musst Du verborgen bleiben. Ich blamierte mich ja so tüchtig.

5. Juni 1922

Frau Schreiber ist verreist. Sie war zu leidend und musste nach Bad Pyrmont. Ich reinige nun selbständig das Haus und pflege die Blumen. Herr Schreiber ist mit mir zufrieden. Er sagt das so. Ich habe nur so leicht Rückenschmerzen. Wir waren deswegen zum Arzt. Ich sei blutarm, die Kriegsjahre machten sich bei mir bemerkbar, mein Körper sei zu lang; eine Erholung auf dem Lande würde von großem Nutzen sein. Ich dachte an Horsts. Doch Fritz weilt fast zwei Jahre in Steinbach bei Bauern und hat in dieser Zeit so oft im Briefe angefragt, ob ich denn nicht einmal meine Ferien bei Ringmanns (so heißen die Leute) verbringen könnte. So schrieb Mutti nach Steinbach. Heute nun kam Nachricht von dort; Sabine, die ältere Tochter, bat direkt um meinen Besuch. Fritz hätte so viel von seiner großen Schwester erzählt, die so gut turnen könnte, und mit dem Kopf zwischen den Beinen die ganze Stube durchtrudelte.  Sie seien so neugierig auf das Trudeln und auf mich. Sie schrieb so ulkig, dass ich sagte: „Da muss ich hin, da passe ich hinein.“ Wenn die großen Ferien beginnen, reise ich nach Steinbach und erscheine wieder mit dicken Backen und runden Armen. – Hallo!!

16. Juli 1922

Morgen dampfen wir ab. Unsere Nachbarin (rechts von uns), Frau Klein und Rudel, ihr Sohn von 13 Jahren und Emmy Harthaus (Nachbarin links) fahren mit mir, auch unser kleiner Berni. Auf Fritz' Fürsprache können die Jungens in den Ferien bei Bauern untergebracht werden. Ich freue mich, denn ich sehne mich nach Kuhstallduft, Hühnergeschrei und Torfgeruch. O ich kenne alles genau und bin gern, sehr gern auf dem Lande. Morgen früh 6 Uhr beginnt unsere Reise. Ich lasse mein Buch zu Hause, auf dem Lande ist Zeit zum Schreiben selten übrig, und die Bauern würden lachen. Es leben auf dem Hofe der Besitzer, Herr Ringmann, zwei Söhne, Heinz und Hans, zwei Töchter, Sabine und Anna; die Frau ist tot. Fritz dient als Zeitvertreib im Hause. Söhne und Töchter haben ihn gern, treiben manchen Scherz mit ihm und belehren ihn in allem. Er treibt die Kühe zur Weide und hütet mit dem alten Bauer die Schafe. Es sind 300 Heidschnucken. Sabine schrieb einmal, Fritz liebe das Schafe hüten. Er wolle später einmal Schäfer werden. Er liege lang im Grase und blicke mit seinen großen Traumaugen in den schönen blauen Himmel, das sei seine Lieblingsarbeit. Die Rehe aus dem nahegelegenen Walde sind seine Freunde. Hans hat eine Futterstelle errichtet, damit Fritz seiner Liebhaberei nachgehen kann. Sabine aber hat Fritz das Stricken gelehrt, weil jeder Schäfer das tut. Träumen ist nicht immer gut und taugt nicht immer fürs Leben, schrieb sie. Fritz habe große Lust zum Stricken und kann nun schon einen fehlerfreien Strumpf stricken aus Heidschnuckenwolle.

So leb' nun wohl, liebes Buch, in 5 Wochen sehen wir uns wieder.

21. November 1922

Ich habe Dir viel mitzuteilen, denn ich war länger fort, als ich dachte. Ich weile zum Besuch, und ich habe Fritz, Rudel, Emy und Berni mitgebracht. Mein langer Körper gebrauchte gute Nahrung, und darum hatte Mutti versucht, mich von der Haushaltungsschule frei zu machen. Und es gelang. Nun hatte ich aber große Sehnsucht nach Hause. Wir kamen ganz unverhofft, und Papa und Mama waren voller Freude, und das Haus war voll. Wir brachten so viel Lebensmittel mit, Mutti war ganz gerührt. Als alles ausgepackt war, Wurst, Speck, Schinken, Butter, Mehl, Obst und sämtliche Kleidungsstücke, da war alles belegt und kein Plätzchen mehr zum Sitzen da. Klein Lotti hat sich glänzend herausgemacht, ist zu drollig. Mama und Papa behaupten, wir seien alle dicker geworden, und ich sei sehr gewachsen. Am 28. Juli starb Herr Ringmann am Herzschlag. Er war so gesund, so blühend und rüstig und starb so plötzlich. Am selben Tage traf auch mich ein Unglück. Wir waren beim Heuen. Ich stand zwischen zwei Wagen und war im Begriff, auf den Wagen zu steigen. Plötzlich schlug ein Pferd aus und traf mich an den Leib. Vor Schmerzen fiel ich bewusstlos zusammen. Man brachte mich auf einer Bahre ins Haus, zur selben Zeit, als Sabine ihren toten Vater mit Hilfe einiger Nachbarn in seine Kammer trug und ihn bettete. Ich war 14 Tage sehr krank, und der Arzt kam jeden Tag, dann erholte ich mich langsam. Meinen Eltern schrieb man nichts von dem Unglück, denn ich wollte es nicht, weil sie wohl in größter Sorge gewesen wären. Ich sage es ihnen auch jetzt noch nicht, und Fritz muss auch schweigen. Sie würden mich auf keinen Fall wieder nach Steinbach lassen. Nur Dir vertraue ich es an, liebes Buch.

10. Dezember 1922

So gerne ich noch bis Weihnachten im Elternhause geblieben wäre, ich muss nun wieder fort. Ich gehe gern und doch so schwer. Meinem Körper zum Nutzen und deshalb meinen Eltern zur Freude, gehe ich gern. Meine Tante Grete hat sich verheiratet und wohnt in Rahndorf. Sie hat ihrem Jugendfreund Heinz Müller die Hand zum Ehebund geboten, und beide haben sich sehr lieb. Onkel Heinz hat in Rahndorf ein Partiewarengeschäft und auch Verkauf von Herren- und Damengarderobe. Ich war mit Papa zum Besuch, und Papa kaufte mir einen neuen Mantel, grau mit roten Karo, sehr kleidsam und warm. Ich habe mich riesig gefreut, des Mantels wegen, und weil ich einen so lieben Papa habe. Mutti hat mir ein Kleid angefertigt, und so ausstaffiert kann ich wieder reisen.  Wenn sie wüssten, wie unendlich gern ich bei ihnen bliebe; denn ich habe alle so sehr lieb. Und noch eins. Der älteste Sohn und jetzige Besitzer des Hofes ist oft so eigenartig zu mir, ich fürchte mich vor ihm. Er sieht mich oft so komisch an, und ich bin deshalb oft verlegen und flüchte, sobald ich ihn in meiner Nähe weiß. Er hat schon versucht, mich zu umfassen, aber ich wehrte ihm, weil er mich stets verfolgt und zwischen knirschenden Zähnen flüsterte: „Einmal fasse ich Dich doch, Du Racker.“ Ich kann niemand mein Leid klagen, ich bitte nur immer um Hilfe bei meinem Schutzengel, das gibt mir Mut. Bina, Anna und Hans meinen es sehr gut mit mir, ihretwegen fahre ich mit Freude hin, und Fritz ist ja auch bei mir. Hans ist wie ein Bruder zu mir und ganz anders als Heinz. In der ersten Zeit meines Besuchs in Steinbach war ich wild wie ein Junge, und Hans war stets mein Kamerad. Sobald er mich einmal erwischte, war es beim Heuen, beim Moorstechen, wo wir auf irgend eine tolle Idee kamen, zum Beispiel im Scherz beim Rangeln, dann hob er mich auf seinen starken Arm, blickte mich so lieb an und setzte mich dann behutsam nieder. In der Zeit meines Krankseins war er besorgt wie eine Mutter oder ein großer Bruder. Es war einmal beim Moorstechen. Ich geriet ins Moorwasser und rief in höchster Not: „Hans, Hans!“ Da lief er schnell herbei, hob mich auf seinen Arm und watete mit mir zurück. Dann setzte er mich hin und sagte: „Um ein Haar, und wir hätten kein Gretchen mehr gehabt.“ „Hans, wie soll ich Dir das jemals danken, Du bist so gut“, sagte ich. Er strich behutsam über meine vor Schreck kalten Hände und sagte: „Ich freue mich so, dass dir nichts passiert ist, Gretchen, und habe einmal ein liebes, kleines Mädchen auf dem Arm gehabt; und nun lache mal, und guck mich mal an, jetzt ist der Schreck ja vorbei.“ Wir lachten beide. Hans ist kein gewöhnlicher Mensch. Er ist klug, und ich habe viel gelernt von ihm. Er hätte studieren müssen. Die 2 Brüder sind grundverschieden. Ebenso beide Schwestern. Bina ist eine geborene Bäuerin; Anna dagegen hat Hang zum Besseren. Sie war im Kloster in Pension und möchte gern in die Stadt. So wird das Weihnachtsfest kommen, und ich bin fern vom Elternhause. Nur ein Wort, ein einziges Wort von mir, und man ließe mich nicht fort. Aber nein, sie erwarten mich dort, und zu jeder Zeit kann ich ja ins Elternhaus zurück. Und Weihnachten will Papa kommen. Er will ein Schaf kaufen und dasselbe geschlachtet mitnehmen. Wenn Papa kommt, bringt er Weihnachtskuchen mit, von Mutti gebacken. Darauf freue ich mich jetzt schon und Fritz auch. Diesmal will ich mein Buch mitnehmen, denn die Winterabende sind lang, es gibt oftmals ein einsames Stündchen, das ich dann benutzen will zum Plaudern. Dann fühle ich mich der Heimat und den Eltern nahe.

Am 1. Weihnachtstage 1922

Sie sind alle zur Kirche. Ich bin allein und voller Sehnsucht, darum leiste mir Gesellschaft, liebes Buch. Als ich gestern Abend zu Fritz ging, mich zog ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu ihm, am Heiligen Abend, da lag Fritz im Bett und weinte. „Fritz“, sagte ich. Doch weiter kam ich nicht vor Schluchzen. „Gretchen, woran denkst Du jetzt?“ fragte er leise. „Ach Fritz“, sagte ich, „jetzt sitzen sie zusammen beim brennenden Weihnachtsbaum. Mutti hat schönen Bohnenkaffee gekocht, und sie essen Kuchen dazu. Papa sitzt rechts in der Sofaecke, wie immer. Fritz, ich sehe alles so deutlich. Berni und Annchen haben irgendeinen Wunsch erfüllt bekommen. Wir haben immer noch kleine Wünsche gehabt, weil große nie erfüllt werden konnten, denn das Geld ist knapp. Aber stets waren wir zufrieden und dankbar. Nun schmiegen sie sich an Papa, der wohl eine gute Zigarre zur Feier des Tages raucht. Und jetzt denke ich an Lotti, ich sehe sie, Fritz, sie zappelt nach den Lichtern und jauchzt, und Mutti herzt und drückt das liebe Kleine. Wir sind heute arm, Fritz, denn wir sind fern von denen, die wir so innig lieb haben. Aber Fritz, ich fühle das, Mutti denkt in Sehnsucht an uns und weint wohl, wenn sie ganz allein ist. Gestern früh fragte ich Anna heimlich: ‚Wer schmückt denn den Weihnachtsbaum?‘“

„Den Weihnachtsbaum?“ fragte Anna ganz verwundert.

„Macht ihr denn gar keinen geputzten Tannenbaum?“

„Nein, das gibt's hier gar nicht, höchstens da, wo ganz kleine Kinder sind, aber die verstehen ja auch nicht viel davon. Bei Binas Freundin ist, glaube ich, dieses Jahr wohl ein Baum und wohl der einzige im Dorf, denn sie hat 3 kleine Kinder und ist aus einer Gegend, wo ein geputzter Baum Sitte ist.“

Mir kollerten die Tränen, ich dachte an Zuhause und an Fritz, der auch schon voriges Jahr ohne Baum war und gewiss voriges Jahr schon große Sehnsucht hatte, und er war ganz allein damals hier, und zu Hause glaubten wir ihn so glücklich und geborgen. Es war dann gestern Mittag nach dem Essen. Wir hatten das Gebet gesprochen. Da sagte Anna: „Macht Horns Lene einen Baum dies Jahr, Bine?“ Alle horchten auf, und wir sahen uns an, Fritz und ich. Und sie verstanden wohl alle. Bine ist ja wie eine Mutter. Heinz lachte und sagte: „Richtig, wir haben ja Kinder, Fritz ist verständig, aber das kleine Gretchen. Huch, jetzt heult sie schon.“ Er meinte es nicht böse, es ist seine Art so. Aber die Weihnachtsstimmung macht so weich. Hans sagte auch nichts. Er ging hinaus. Dann war es Nachmittag zwischen fünf und sechs beim Vesperläuten. Wir gingen von der Kirche fort und wollten nach Hause. Da kam Hans zu mir und sagte: „Komm Gretchen, wir machen noch einen kleinen Umweg, Fritz willst Du mit?“ Fritz kam mit.

Wir gingen in die Heide zum Walde. Es hatte nur wenig geschneit, und jetzt war der Himmel sternenklar. Vor einem kleinen Tannenbäumchen machte Hans halt. Er faltete die Hände und sagte: „Lasst uns das Vaterunser beten.“ Wir beteten. Dann nahm er uns, links Fritz, rechts mich in den Arm und sagte: „Hier ist euer Bäumchen, liebe Kinder, und ringsherum leuchten euch die Sterne dazu, hier seid ihr dem lieben Gott und euren Eltern am nächsten, und eure Sehnsucht wird etwas gestillt. Ihr habt so liebe, warme Herzchen, und die Herzchen weinen heute. Seht mal, dieselben Sterne, die euch hier leuchten, und die der liebe Gott angezündet hat, die leuchten auch in Neuburg und leuchten jedem, der einsam und verlassen ist, und denkt daran, wie viele Kinder es gibt, die weder Vater noch Mutter haben, die ganz allein in der Welt stehen, und noch dazu ohne Liebe. Seht, wir haben euch lieb, denn nicht nur eure Eltern haben euch uns anvertraut, auch der liebe Gott, und das, was Gott anvertraut, muss man heilig halten und ehren. Wir wollen auch in stiller Andacht an den lieben Heiland denken und an die Gottesmutter, die jetzt bei uns ist, und die euch über eure Sehnsucht hinweghilft.“ Er betete noch einmal leise das Vaterunser. Und wir fielen mit ein.

„Hans, Du bist so gut“, sagte ich und küsste seine harte Hand. „Ich habe euch nur lieb, und nun blickt noch einmal um euch und über euch und sagt dem Bäumchen Lebewohl, und dann wollen wir nach Hause gehen.“

„Weißt Du Hans“, sagte Fritz, „wir binden an diesen Baum ein Zeichen, denn er ist unser Freund in Not geworden, und Sommer und Winter begrüßen wir ihn. Und wenn wir nicht mehr in Steinbach weilen, dann besuchst Du ihn wohl einmal und denkst an uns.“ Wir suchten in allen Taschen herum, da fand Fritz ein Überbleibsel von einem Schlips. Wir knoteten es an den Baum, sagten Lebewohl und gingen munter nach Hause. Man erwartete uns zum Abendessen, und Heinz sagte: „Na, was habt ihr wieder zusammen ausgeheckt, du machst doch alle Tollheiten mit Hans.“

„Du bist ja ebenso“, lachte Bine. „Kommt Kinder, wir wollen zu Tisch gehen, lasst uns beten, auch für die Armen und Verlassenen, die heute Not leiden.“ Wir sahen uns an, Hans und ich, und ich fühlte mich so geborgen.

Nach dem Essen beschenkten sich die Geschwister. Fritz bekam eine wollene Unterjacke und ich einen gestreiften wollenen Unterrock. Ich hatte ein Bild gemalt, eine Winterlandschaft, und Fritz überreichte Heinz ein Paar selbstgestrickte Strümpfe. Dann machten wir uns auf und gingen zu einem andern Bauernhof. Am ganz entgegengelegenen Ende des Dorfes, zum Bauern Reit. Aus diesem Hause stammt der im Kreis so sehr bekannte Menschenfreund Reits Jürgen. Jahrelang durchwandert er schon den Kreis, durchkostet Not und Entbehrungen, lebt ein Christusleben, ist den Menschen mit Rat und Tat zu Hilfe. Die Menschen aber verstehen ihn nicht, und er wird wohl geachtet, aber auch verlacht. Er war Student, und seine Sehnsucht war ein Pilgerleben. Aus diesem Hause stammt nun auch die Braut des Ringmannschen Erben, Heinz Ringmann. Er feierte gestern Verlobung. Sie passen zueinander wie ein Ei zum andern. Sie ist recht blöde und schielt. Aber ihre Aussteuer ist so groß, dass zwei Heuwagen kaum reichen. Von Mutti kam heute früh ein herzlicher Weihnachtsgruß und die Nachricht, dass Papa morgen, den 2. Festtag, in Osthausen eintrifft, wo wir ihn erwarten sollen. Hans beschäftigt sich viel mit uns, und ich danke ihm das.

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Jahr 1923

Jahr 1923

3. Januar 1923

Weihnachten ging vorüber und Silvester.

Papa kam und brachte einige Geschenke mit, die uns so sehr erfreuten. Von Mutti ein großes Stück Kuchen und einen wunderschönen Brief, der so viel Liebe für uns enthält und so Todtrauriges. Etwas aus dem Brief schreibe ich hier nieder.