Vom Stellenwert der Worte - Durs Grünbein - E-Book

Vom Stellenwert der Worte E-Book

Durs Grünbein

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Beschreibung

Von der Feststellung ausgehend, daß eine normenbildende, maßstabsetzende Poetik nicht mehr existiere, zeichnet Grünbein seinen dichterischen Werdegang als »Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik«. Es geht dabei um die Idee vom genauen Wort, das seine maximale Aufladung erst als Resultante der Lebenssituation, seiner Stellung im kompositorischen Ganzen des Gedichts sowie im Gesamtsystem aller Arbeiten eines Autors erfährt. Unter dem Leitwort »Poesie ist Subjektmagie als Sprachereignis« bietet der Dichter am Ende seiner Vorlesung zehn Thesen auf dem gegenwärtigen Stand einer voraussichtlich unabschließbaren Sinnfindung: nicht als Poetik und nicht als Manifest, nicht als Theorie oder Methode, sondern als eigensinnigen Modus operandi des Dichtens in nachmagischer Zeit.

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Seitenzahl: 49

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Durs Grünbein

Vom Stellenwert der Worte

Frankfurter Poetikvorlesung 2009

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-78600-0

www.suhrkamp.de

1Jenseits der Avantgarden

»Verse was a special illness of the ear«

W. H. Auden, Rimbaud

Es gibt keine literarischen Manifeste mehr. Nicht nur ist das Wort aus der Mode gekommen, auch die Herausforderung, die mit ihm einherging, hat sich verbraucht und erledigt – jener ästhetische Egoismus, der einzelne Abenteurer oder verschworene Gruppen zur programmatischen Verkündigung in Kunstdingen trieb. Beim Publikum unbeliebt wie der Kriegsdienst und die Bürokratie ist das Diktat der Künstler und Literaten in eigener Sache. Diese haben daraus ihre Schlüsse gezogen und sich in ihre sicheren Reviere zurückgezogen. Aus dem Getümmel lärmender Hegemonialkämpfe ist ein Betrieb der professionell verwalteten Koexistenzen geworden, intoniert vom Tagesgeschäft der Produktwerbung, des Rezensionswesens, der Preisjurys – eine ununterbrochene Frankfurter Buchmesse gewissermaßen.

Der Ortsname sei hier erwähnt, weil es wie immer nicht ganz unwichtig ist, von wo aus einer spricht, der zur öffentlichen Rechenschaft aufgefordert wurde. Geradezu übergehen kann ich ihn also nicht, den Schauplatz der nun folgenden Vorlesung, dazu ist er zu schaurig und geschichtsbeladen. Daß ich ausgerechnet hier, hinter dem ehemaligen IG-Farben-Haus, meine Ansichten zur Poesie kundtun soll, hat seine eigene bittere Ironie. Können Sie sich einen Zeugen wie Paul Celan in dieser Lage vorstellen? Es hat etwas Heimtückisches, einem Dichter die Realitätsferne seiner Kunst vor Augen zu führen, ihre essentielle Vergeblichkeit, indem man ihn an einen solchen Tatort einbestellt. Die Architektur als brutales Faktum entlarvt die moralische Folgenlosigkeit seiner luftigen Poeterei, bevor er noch ein Wort gesagt hat. Was anderes als Ästhetizismus kann ein Nachdenken über Gedichte sein, wenn es in der Zentrale geschieht, in der einst die Geschäftsunterlagen bearbeitet wurden zur Beihilfe an einem millionenfachen industriellen Mord? Es ist nicht neu, daß die Materie über den Menschen triumphiert, hier aber bekommt man es im Postkartenmotiv veranschaulicht. Wenn solches möglich war, dann scheint der Vorwurf, Dichtung sei unnütz, sie zähle nicht, wohl seine Berechtigung zu haben. Dann findet Literatur offensichtlich in einer schönen Parallelwelt statt, die im verborgenen Einfluß haben mag auf die Moral einiger Menschen, den gewaltsamen Routinen der Geschichte gegenüber jedoch ohnmächtig bleibt. Diese Ohnmacht war das Kennzeichen der schönen Künste insgesamt, in der Poesie findet sie ihren einsamsten, beredtesten Ausdruck.

Ich dachte mir, es ist besser, die Sache gleich beim Namen zu nennen, als dem Verstummen der Erinnerung ein weiteres beredtes Beispiel zu liefern. Doch gestatten Sie mir auch noch diese Anmerkung: Ist es nicht sonderbar, daß auf der einen Seite jener Frankfurter Hörsaal 6, der den Namen des Philosophen trug, der einmal ernsthaft die Frage stellte, ob es nach Auschwitz noch opportun sei, Gedichte zu schreiben, abgerissen werden soll, während zur gleichen Zeit ein Hauptquartier, den schlimmsten Orwellschen Phantasien entsprungen, in den Rang einer Alma mater aufsteigt? Man kann daraus keine Schlüsse ziehen, fürchte ich. Aber wer hier an Ironie der Geschichte denkt, der ist schon auf halbem Wege zu einer Poetik des Sarkasmus, wie sie mir seit meinen frühesten Schreibversuchen den Ton diktiert.

Ich komme zum Ausgangspunkt zurück: es gibt keine Manifeste im Namen der Dichtkunst mehr. Aber nicht nur dies, es gibt, sehr viel länger schon, auch keine normenbildenden, maßstabsetzenden Poetiken mehr. Das literarische Manifest war in den letzten einhundertfünfzig Jahren zum Ersatz geworden für eine Poetik unter den Bedingungen der Moderne. Es ist ihre verkürzte, beschleunigte und vor allem stark lobbyistische Version, Poetik als Flugblatt und Strategiepapier. Zumindest in dieser Form scheint es nun, wie seine ehrwürdige Vorläuferin, ausgedient zu haben. Was einmal aufwühlend war und alle Wahrnehmung auf den Kopf stellte, wird heute in Anthologien wie in Retrospektiven vor großem Publikum ausgebreitet und kunsthistorisch neutralisiert. Symbolismus und Expressionismus, Imagismus und Akmeismus, Surrealismus oder Lettrismus usf. (ich spreche von literarischen Strömungen) sind zu magischen Künstlerformeln von gestern geronnen, Markennamen für Produkte, die keiner mehr herstellt und die man bei Christie’s und Sotheby’s, wären es Gemälde und Zeichnungen, zu Höchstpreisen ersteigern müßte. Der harte Kern klassischer Moderne ist ausgeglüht. Der letzte Ismus blieb irgendwann in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Strecke. Aber hatte nicht ein großer Kenner der Szene wie der Romanist Hugo Friedrich in den 50er Jahren bereits warnend festgestellt, fundamental Neues habe die Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr hervorgebracht – »so qualitätvoll auch einige ihrer Dichter sind«, wie er als Liebhaber zugestand? Die Verblüffung über ein solches Urteil dürfte seither eher gewachsen sein. Allein eine Erscheinung wie die Paul Celans entlarvt derlei pauschale Bilanzen als grobe Ignoranz. Es gab und es gibt immer wieder Höhepunkte, singuläre lyrische Werke jenseits der Avantgarden. Doch war der kritische Zwiespalt, den der Lyrikanalytiker offenbarte, nie mehr ganz auszuräumen. Einerseits Bewunderung der klassischen Modernisten, ungebrochenes Staunen über Schockeffekte und Formrevolutionen, die ihre Frische bewahrt haben bis heute, andererseits Reduktion noch ihrer spektakulärsten Neuerfindungen auf die gemeinsame Stilherkunft von Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, den drei Aposteln moderner Ausdruckskunst in der europäischen Lyrik: Wie ging das zusammen?