Vom Vergnügen, eine ältere Frau zu sein - Patricia Clough - E-Book
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Vom Vergnügen, eine ältere Frau zu sein E-Book

Patricia Clough

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  • Herausgeber: btb
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Eine Frau wehrt sich gegen die spießigen Vorstellungen vom Alter

Noch nie haben sich ältere Menschen so jung gefühlt, noch nie waren sie so aktiv und haben dabei so gut ausgesehen. Einerseits. Andererseits stellt die Erfolgsautorin Patricia Clough zu Recht fest: »Vor Jahren standen wir Frauen auf und wehrten uns gegen eine Welt, die uns allein aufgrund unseres Geschlechts für minderwertig hielt. Heute haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, die uns den Wert abspricht, weil wir alt sind.«
»Vom Vergnügen, eine ältere Frau zu sein« erzählt von Frauen, die sich nicht damit zufrieden geben wollen, ihren Lebensabend auf dem Schaukelstuhl im Kaminzimmer zu verbringen, von Frauen, die es geschafft haben, sich von den gängigen Vorurteilen des Alters loszusagen, um noch einmal einen ganz neuen Lebensabschnitt zu beginnen, und so beeindruckende Lebensentwürfe für die späten Jahre liefern.

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Seitenzahl: 256

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Patricia Clough

VOM

VERGNÜGEN,

EINE ÄLTERE

FRAU

ZU SEIN

Aus dem Englischen von Rike May

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2012 by Patricia CloughCopyright © 2012 by btb Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-07980-2V002

www.btb-verlag.de

»Igitt!«

Reaktion einer Teenagerin, als sie hört, dass ihre Mutter, fünfundfünfzig, mit einem Mann schläft.

»Ein Hobby für Omas im Ruhestand.«

Anglikanischer Pfarrer über die Berufung älterer Frauen zu Priesterinnen oder Diakonissen.

»Es geht leider nicht mehr, Sie sind zu alt.«

Antwort auf die Bewerbung einer Vierundsechzigjährigen.

»Was wollen Sie denn? Sie sind doch verheiratet.«

Ein Beamter in einer akademischen Stellenvermittlung, der einer knapp Fünfzigjährigen erklärt, dass es für Frauen ihres Alters keine Stellen gibt.

»Ich werde das Leben genießen, bis mir das letzte Stündchen schlägt.«

Aus dem Film »Carmen Jones«

1KRISE!

Hilfe!

Hilfe, dachte ich, während ich in meinen Schubladen nach Taschentüchern kramte. Was soll ich denn jetzt sagen? Ich war sprachlos, panisch. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit. Sissi* war von der Arbeit gekommen und hatte mir ein paar Sachen zurückgebracht, die sie sich für ihren Fünfzigsten ausgeliehen hatte. Eigentlich wollte sie nur schnell einen Kaffee bei mir trinken, bevor sie sich auf den Weg zu irgendeinem Sportkurs machte. Drei Stunden später saß sie immer noch auf dem Sofa und heulte. Ein Häufchen Elend. Ihr Leben sei vorbei, meinte sie. Ernsthaft.

Ihre Geburtstagsparty war grandios gewesen. Alle ihre Freunde waren gekommen, die ganze Familie. Ihr Chef war da gewesen und auch die Kollegen aus dem Hotel, in dem sie als Rezeptionistin arbeitet. Selbst die ganz alten Freunde waren gekommen, ihre Weggefährten. Einige, wie ich, waren von weither angereist. Sissi strahlte Ruhe aus, Eleganz, sie war die perfekte Gastgeberin. Ihr Mann Dirk, der Bankdirektor, war gesellig und offen, er gab jedem Einzelnen das Gefühl, willkommen zu sein. Reden wurden gehalten, Komplimente gemacht, Sissi wurde als Freundin gewürdigt, als Kollegin, als Frau und als Mutter. Es gab Blumen, Geschenke. Ihre Kinder, die längst keine Kinder mehr sind, führten einen lustigen Sketch auf. Alles passte: das Büfett vom Catering, das wunderschöne Haus, die Musik. Es wurde bis spät in die Nacht hinein getanzt, die letzten Gäste gingen um drei.

»Ein toller Abend«, sagte ich. »Ist doch prima gelaufen, du hast umwerfend ausgesehen. Du bist bestimmt sehr zufrieden.« Sissi schwieg und trank einen Schluck Kaffee.

»Deine Gäste fanden es auf jeden Fall toll, sie reden immer noch darüber«, fügte ich hinzu. Ihr Schweigen irritierte mich. Sissi starrte in ihre Tasse. Nach einer Weile antwortete sie: »Ja, war wohl ganz nett. Freut mich, dass die Leute ihren Spaß hatten.«

»Und du? Hattest du keinen Spaß?«

»Nein, eigentlich nicht. Eigentlich gar nicht. Es war merkwürdig, ich fand es so, na ja, bedeutungslos. Ich habe mich so leer gefühlt, als hätte ich eine Rolle in einem Stück, das um mich herum aufgeführt wird.«

»Aber …«

»Ich weiß, was du jetzt sagen willst. So viele Freunde, die tolle Familie, ein Mann, auf den ich mich – einigermaßen – verlassen kann, das Haus, mein Job, der zu mir passt. Eine tolle Party. Ich habe alles. Es sieht tatsächlich so aus, als hätte ich alles, als ließe mein Leben nichts zu wünschen übrig.« Nach einer Pause sagte sie: »Doch in Wirklichkeit bin ich total verzweifelt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Aber das verstehe ich nicht …«

Sissi legte die Beine hoch und fuhr sich mit den Fingern durch das kastanienbraune Haar. Sie ließ sich sehr viel Zeit mit ihrer Antwort. »Weißt du, vor ein paar Tagen habe ich mich in einem Schaufenster entdeckt, ich sah mein Spiegelbild und dachte: Wer ist diese alte Frau, und warum trägt sie meine rote Jacke? Erst da verstand ich, dass ich mich selbst sah. Mich selbst! Ich hatte mich gesehen, wie andere Menschen mich sehen, und nicht das Gesicht, das ich so gut kenne, weil es mir täglich im Spiegel begegnet.«

»Aber warum sagst du alte Frau?«, rief ich. »Du bist doch überhaupt nicht alt. Die fünfzig sieht man dir auf keinen Fall an.«

»Na ja, manchmal schon«, antwortete sie, »aber darum geht es mir gar nicht. Oder nicht nur. Es war, als würde auf einmal alles gleichzeitig passieren.«

Das verstehe ich, das kenne ich nur zu gut. Der Schock, wenn man merkt, dass man sein eigenes Spiegelbild nicht erkennt. Sozusagen der »Augenblick der Wahrheit«.

Vor einiger Zeit hatte Sissi festgestellt, dass sich ihr Mann mit einem Interesse, das nicht nur beruflicher Natur war, um eine junge Praktikantin in der Bank bemühte, was ihr in unangenehmer Weise in Erinnerung rief, dass sie in der letzten Zeit kaum an Sex gedacht hatte. Auch das war ein solcher Augenblick der Wahrheit. Und dann gab es noch einen, vor ein paar Wochen, als sie zu einem ganz besonderen Abendessen eingeladen waren. Sissi zog ein weißes, schulterfreies Kleid an, in dem sie aufregend aussah. Eigentlich. Das wusste sie. Nur diesmal war alles anders. Es war, als wäre sie aus der Form geraten. Ihre Figur hatte sich verändert, das Kleid saß an einigen entscheidenden Stellen – den falschen – zu eng. Es sah aus wie jedes andere Kleid, durchschnittlich, langweilig. Doch sie hatte keine Zeit, sich noch einmal umzuziehen. Sie wickelte sich in eine große Stola und hoffte, dass es niemandem auffallen würde.

Was sie auch noch bemerkt hatte, war, dass die Gäste, die zum Einchecken an die Rezeption des Hotels traten, in dem sie arbeitete, sie nicht mehr wahrzunehmen schienen. Früher hatte sie immer dieses gewisse Interesse gespürt, ein Blitzen in den Augen der Männer. Doch das war offenbar vorbei. Wegen ein paar Fältchen? Sie legte immer noch größten Wert auf ihr Äußeres. Um die Hüften herum hatte sie etwas zugelegt, obwohl sie regelmäßig ins Fitnessstudio ging. War es deswegen? Wer weiß. Und jetzt auch noch die Wechseljahre.

Sissi war eine vernünftige, eine intelligente Frau. Sie wusste, wo sie stand. Wie alles in ihrem Leben nahm sie die Wechseljahre mit Humor, mit einer Art Lebensklugheit. Sie hatte eine Menge über das Thema gelesen, hatte mit ihrem Gynäkologen gesprochen und Hormonpillen geschluckt, bis sie spürte, dass sie auch ohne diese Hilfe mit den Gemütsschwankungen und Hitzewallungen fertigwurde. Sie war entschlossen, kein Drama daraus zu machen, und es schien ihr zu gelingen. Dachte ich zumindest.

Doch nun lag sie da auf meinem Sofa. Zusammengekrümmt wie ein Embryo lag sie da und weinte, weinte, weinte. Ich hatte ihr statt des Kaffees ein Glas Wein gebracht, in der Hoffnung, sie ein wenig zu trösten, aber der Alkohol verstärkte nur den Sog des Elends, der an ihr zerrte.

»Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn irgendein Idiot, der sich unheimlich witzig vorkommt, fragt: Na, wie fühlt man sich denn so nach einem halben Jahrhundert?« Noch mehr Tränen. »Ich spüre es ganz deutlich, es ist alles vorbei. Mein Leben ist vorbei«, schluchzte sie, »von nun an geht’s bergab. Ich werde immer schlimmer aussehen, bis ich irgendwann deswegen gefeuert werde. Die Kinder sind aus dem Haus. Dirk flirtet mit diesem Mädchen – wer weiß, ob er nur flirtet. Und dann? Was kommt dann? Rente und Rückenschmerzen. Bald bin ich eine alte Frau, eine Rentnerin, die von niemandem mehr wahrgenommen wird.«

Unfassbar. Sissi war fünfzig und redete, als wäre sie zehn, zwanzig Jahre älter. Ich kannte diese Verzweiflung, diese Hilflosigkeit nur von Frauen, die wesentlich älter waren, Frauen ab sechzig, Frauen um die siebzig. Sissi war zwanzig Jahre jünger. Zwanzig Jahre jünger als ich.

Nicht jede von uns durchlebt eine solche Krise, doch in einer Zeit, in der das Altern von Frauen immer weniger mit dem zu tun hat, was sich die Menschen im Allgemeinen darunter vorstellen, kann man auch nicht mehr von Ausnahmen sprechen. Ich weiß nicht genau, warum sich Sissi gerade mir anvertraute. Ja, sie war eine gute Freundin, wir kannten uns seit vielen Jahren, aber sie hatte andere, gleichaltrige Freundinnen, die ihr näherstanden. Vielleicht lag es gerade an meinem Alter, vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich selbst in den letzten zwanzig Jahren eine Menge durchgemacht hatte. Vielleicht wusste sie auch, dass ich zu dem Thema einiges zu sagen hatte, auch wenn ich noch nie darüber geschrieben hatte.

Ich nahm es als Kompliment. Und suchte weiter nach Taschentüchern. Was sollte ich denn nun sagen? Wie könnte ich ihr helfen? Also: die Wechseljahre. Klar, dass sie ein bisschen emotionaler war als sonst, dass sie nicht recht wusste, wohin mit sich. Doch was sie sagte, war nicht von der Hand zu weisen, ihr Problem war echt, ich konnte es nicht abtun. Die meisten Frauen stellen irgendwann überrascht fest, dass sie älter werden, und je älter sie sind, desto offensichtlicher ist ihr Problem. Wir haben vom Altern völlig überholte Vorstellungen, das macht es so absurd. Als Gesellschaft treten wir uns quasi selbst auf die Füße. Wir werden immer älter, sind aber nicht bereit, uns darauf einzustellen. Stattdessen stakst eine Parade von Models über die Bildschirme, die wir bewundern und nachahmen sollen. Die merkwürdige Einstellung der Gesellschaft zum Alter hat sich nicht geändert, sie hat sich sogar verfestigt. Alte Menschen, besonders alte Frauen, werden schlicht nicht wahrgenommen. Sie kommen nicht vor. Kaum einer kann sich den längst überholten Vorurteilen entziehen, die alte Menschen als hässlich, tattrig und unwert abtun, dabei sollten es einige von uns wirklich besser wissen. Nur beim Wein, bei Möbeln und historischen Bauwerken gewinnt man dem Alten etwas Positives ab.

Sissi ist fünfzig, und das bedeutet, sie ist nicht alt. Selbst mit sechzig oder siebzig wird sie nicht alt sein. Sie ist attraktiv, gesund und quicklebendig. Wenn sie nicht gerade auf dem Sofa liegt und heult, strahlt sie ein gewisses Selbstvertrauen aus. Sie sieht anders aus als die Frauen der vorangegangenen Generation. Ihr Auftreten ist ein ganz anderes, ihr Selbstbild, ihr Lebensstil. Als die Generation ihrer Mutter in diesem Alter war, hatten die Frauen andere Erwartungen. Erwartungen, die mit Sissi nichts mehr zu tun haben. Sie ist einfach in eine neue Phase eingetreten, eine Phase, in der die Person, die sie geworden ist, kaum noch zu dem Bild passt, das die Gesellschaft, und unbewusst wohl auch sie selbst, von einer Frau ihres Alters hat. Sissi hat die erste Welle des Feminismus in den Siebzigern nicht erlebt, sie war noch zu jung. Sie hat nicht gesehen, wie Millionen von Frauen aufgebrochen sind, um ein völlig neues Terrain zu erobern. Uralte Vorurteile schlugen ihnen entgegen, während sie unter den schwierigsten Umständen versuchten, ihr Leben neu zu gestalten. Und auch wenn Sissi von all dem damals noch nichts verstehen konnte, so steht sie doch heute vor ganz ähnlichen Problemen. Sissi muss aufbrechen. Es ist Zeit für eine neue Revolution.

»Hör mal, Sissi«, fing ich an, »du bist jetzt fünfzig. Wahrscheinlich hast du noch fast die Hälfte deines Lebens vor dir. Natürlich wirst du älter, das ist aber nichts Neues. Seit deiner Geburt wirst du älter. Dein ganzes Leben ist eine einzige Veränderung, und das wird auch weiter so sein. Aber du bist, wer du bist. Du bist einzigartig, du bist wertvoll, das war doch schon immer so. Du musst die Jahre, die noch vor dir liegen, nutzen und etwas ganz Besonders daraus machen. Sonst schlitterst du einfach langsam ins Vergessen. Das kostet natürlich Mut. Es kostet Kraft, gegen Konventionen anzugehen, und manchmal ist man dabei auch allein.«

Oder? Stimmte das überhaupt? Nicht unbedingt. Sissi war nicht allein. Ich kenne eine Menge Frauen, die, jede auf ihre Art, in den letzten Jahren und Jahrzehnten ihres Lebens einen neuen Weg gegangen sind. Einige haben sich ganz neu erfunden. Die meisten waren glücklicher, zufriedener als je zuvor.

Die ersten Feministinnen brauchten Vorbilder, und die fanden sie auch. Frauen, die ihnen vorausgegangen waren, deren Erfolge sie inspirierten.

»Sissi«, sagte ich, »denk mal an Marianne, an Angela und Sarah. Sie haben sich auch nicht der Verzweiflung hingegeben, nur weil sie älter geworden sind. Was für großartige Frauen!« Marianne hatte, nachdem ihre Kinder aus dem Haus waren, eine Ausbildung gemacht. Mit fünfundfünfzig konnte sie nochmal dastehen und von sich sagen: Jetzt darf ich mich Fotografin nennen. Als Angela sechzig war, hat ihr Mann sie verlassen. Erst war sie sehr zögerlich, doch bald blühte sie auf, reiste durch die ganze Welt und baute sich einen neuen Freundeskreis auf. Und Sarah hatte mit siebenundsechzig einen alten Studienfreund wieder getroffen. Sie hatten sich gleich verliebt und ein neues, ein gemeinsames Leben begonnen.

Sissi erhob sich aus der Seitenlage und putzte sich die Nase. »Und Michi«, sagte sie nachdenklich.

»Und Christiane«, fügte ich hinzu, alles gemeinsame Freundinnen. »Oder denk an Gesine Schwan. Beinahe unsere erste Bundespräsidentin. Hat mit einundsechzig geheiratet. Das war noch nicht alles, Sissi. Eigentlich geht es jetzt erst richtig los.«

Wir redeten noch eine lange Zeit so weiter. Einmal ging ich zum Telefon und rief Dirk an. Er solle sich keine Sorgen machen, erklärte ich, Sissi sei bei mir, sie würde bei mir schlafen und nach dem Frühstück nach Hause kommen. Wir sprachen über die Schwierigkeiten, über das, was uns beschäftigt, wenn wir älter werden. Vor allem aber sprachen wir über die Frauen, die wir kannten oder von denen wir gehört hatten, die diese Schwierigkeiten überwunden hatten. Gegen drei Uhr am Morgen schlossen wir eine Art Pakt: Sissi würde sich aufraffen, auf ihr bisheriges Leben zurückblicken und sich klarmachen, was sie erreicht hatte. Sie würde neue, positive Ideen für die Jahre, die vor ihr liegen, entwickeln. Und sie würde mir Frauen vorstellen oder mir von ihnen erzählen, Freundinnen, Bekannte, denen es ähnlich ergangen war. Ich versprach im Gegenzug, dass ich mich in das Thema einarbeiten und Frauen interviewen würde, die den traditionellen Erwartungen nicht entsprochen haben, die aus dem letzten Lebensabschnitt etwas Besonderes gemacht haben. Einige kenne ich gut, andere muss ich noch finden. Ich hatte sowieso vor, einige Monate in Berlin zu verbringen. Wir würden uns regelmäßig treffen und sehen, wie weit wir gekommen waren.

Aus unserem nächtlichen Pakt ist dieses Buch entstanden.

* Sissi und einige andere Frauen möchten nicht unter ihrem vollständigen Namen in diesem Buch erscheinen. Deshalb werden viele nur mit Vornamen genannt, die teilweise auch frei erfunden sind. Andere wiederum haben mir erlaubt, ihre vollen Namen zu verwenden.

2ANDERS ALTERN

»Habe ich dir eigentlich mal erzählt, dass meine Mutter meinen Vater verlassen hat? Das war 1979, genauer gesagt am 5. Dezember 1979. In ihren Siebzigern ist sie mit einem anderen Mann durchgebrannt, einem achtzigjährigen Witwer.«

Sissi, die es sich einige Tage später erneut auf dem Sofa bequem gemacht hatte, wäre beinahe auf den Boden gerutscht. »Durchgebrannt ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck«, fuhr ich fort. »Sein Häuschen lag an derselben Straße, ein paar hundert Meter weiter. Sie ist einfach rübergezogen.«

»Und was haben die Leute gesagt?«, fragte Sissi. »War das nicht ein Skandal?«

»Na ja, ein paar haben die Nasen gerümpft, und es gab einige unangenehme Situationen. Kein Wunder in so einem kleinen Dorf. Aber die beiden waren glücklich miteinander, bis zum Schluss.«

»Und dein Vater?«

»Der war auch glücklich. Er lernte kochen. Er hat sich sogar noch einmal verliebt, geheiratet haben sie aber nicht. Und er hatte zum Schluss ein viel besseres Verhältnis zu seinen Kindern und Freunden. Vielleicht haben die Leute im Dorf das letztendlich so akzeptiert, weil es nicht zum ersten Mal in der Gegend passiert war. Dabei war es nur ein Weiler, hundertfünfzig Leute in ein paar Häusern in Nordengland. Einer aus dem Dorf, ebenfalls in dem Alter, hatte seine Frau verlassen und eine neue, auch schon deutlich gereifte Liebe gefunden. Und gerade erst war ein Paar zugezogen, die beide gerade erst ihre Ehepartner verlassen hatten, um den Lebensabend gemeinsam verbringen zu können. Damals glaubten wir alle, dass die Häufung von Altersliebschaften in der winzigen Gemeinde ein bizarrer Zufall sein musste. Wir haben uns darüber lustig gemacht: Bestimmt irgendwas im Trinkwasser. Aber weißt du, Sissi, das stimmt nicht. Es lag nicht am Wasser. Das war schon der Beginn von etwas Neuem, damals.«

Das konnten meine Eltern und ihre Nachbarn natürlich nicht wissen. Sie sahen nicht, dass sie am Anfang einer gigantischen, beinahe tektonischen Verschiebung der Lebensverhältnisse standen. Doch nun, drei Jahrzehnte später, ist der letzte Zweifel ausgeräumt: Die sieben Lebensalter, die Shakespeare besungen hat, sind auf wundersame Weise durcheinandergeraten. Noch nie haben sich ältere Menschen so jung gefühlt, noch nie haben sie so gut ausgesehen. Sie leben länger als jede Generation zuvor. Noch vor hundert Jahren konnte der Durchschnittsmensch nicht erwarten, seinen vierzigsten Geburtstag zu erleben. Jetzt werden wir im Schnitt beinahe achtzig Jahre alt. Dabei ist das Leben nicht wie eine Schnur, die einfach Stück um Stück verlängert wird. Eher schon wie ein Gummiband, das sich gleichmäßig, über die ganze Länge auseinanderziehen lässt. Wenn es also heißt, dass sechzig das neue vierzig ist oder auch siebzig das neue fünfzig, dann kann man das durchaus ernst nehmen.

Wann ist man eigentlich alt?, fragten wir uns. Wann fängt das heutzutage an?

Die zweite Lebenshälfte hat mit dem, was sich unsere Großeltern darunter vorstellten, heute nur noch wenig zu tun. Als ich zu recherchieren begann, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich stieß auf Regierungsmitglieder in den Vierzigern, Fünfzigern, die Kinder bekommen hatten, während sie im Amt waren. In den Parks, auf den Wegen, über die einst unsere gebeugten Eltern und Großeltern mit ihren Spazierstöcken geschlichen sind, joggen jetzt glückliche Sechzigjährige. In Großbritannien ist die Verbrechensrate bei den über Sechzigjährigen steil angestiegen, auch das leider eine Folge der zu beobachtenden Verschiebung. Und dann sind da noch die über Siebzigjährigen … Vor dem Fernsehbildschirm wurde ich einmal Zeugin davon, wie ein junger Mann eine fünfundsiebzigjährige Frau bei einer akrobatischen Tanzaufführung über eine Bühne schleuderte. Die Frau trug einen Turnanzug. Der irische Schauspieler Colin Farrell, damals ein umwerfend gutaussehender Neunundzwanzigjähriger, gab in einem Fernsehinterview einmal zu, dass er verzweifelt versucht hätte, seine Kollegin Dame Eileen Atkins zu verführen – zu einem Zeitpunkt, als diese auf ihren siebzigsten Geburtstag zusteuerte. »Ich habe alles darangesetzt«, erklärte er trocken, »ich wollte nichts unversucht lassen. Sie ist so unglaublich attraktiv, sie ist so klug, so schlagfertig …« (Dame Eileen lehnte äußerst geschmeichelt ab). Vergessen wir nicht Jane Fonda, Jahrgang 1937, die jedem, der es hören will, erklärt, dass der Sex mit siebzig besser sei als je zuvor – was auch von wissenschaftlicher Seite bestätigt wird. Sie hat verkündet, dass sie einen erotischen Film drehen möchte mit einer Siebzigjährigen in der Hauptrolle. Die zentrale Verführungsszene hat sie schon geplant.

Es wird noch besser: In einer Umfrage der Vanity Fair zu den begehrenswertesten Singles der Welt belegte die Fernsehmoderatorin und Komikerin Betty White kürzlich den vierten Platz. Mit achtundachtzig. Auf Platz eins lag Jennifer Aniston, die mit über vierzig auch kein Küken mehr ist. Eine der Frauen, die wir später vorstellen wollen, ist mit über neunzig noch in die Politik gegangen. Und Carmen Herrera, eine in Kuba geborene Künstlerin, verkaufte mit neunundachtzig ihr erstes Bild und galt mit vierundneunzig als heiße Neuentdeckung der New Yorker Kunstszene. Auf einmal standen Sammler und Kuratoren Schlange, um ihre Arbeiten zu kaufen.

Die Vorstellungen, die Sichtweisen und Möglichkeiten haben sich also radikal verändert. Die letzten Tabus fallen, und ein ganz neues Bild der zweiten Lebenshälfte entsteht. Es liegt also nahe, dass wir unsere Lebensplanung dementsprechend anpassen. Und? Tun wir das auch?

Leider ist es wohl so, dass die überkommenen, uralten Vorurteile über den letzten Lebensabschnitt ganz tief in unserem Unterbewusstsein lagern. Sissis Krise hat das deutlich gezeigt. Spätestens mit fünfzig verschwinden die Menschen, besonders die Frauen, aus Spielfilmen, aus Fernsehsendungen, aus der Werbung, aus den Hochglanzmagazinen, als wären nur die Jüngeren (und Schöneren) es wert, dass man sie betrachtet. Als hätten ältere Menschen überhaupt kein Leben. Die Kosmetikindustrie und die plastischen Chirurgen verdienen Unmengen mit dem Versprechen der ewigen Jugend. Die bösen alten Hexen unserer Kindermärchen, die alten Weiber von damals, verfolgen uns bis in die Gegenwart hinein. Selbst im Gespräch mit den empfindsamsten und aufgeklärtesten Freunden werden wir immer wieder damit konfrontiert, dass das Alter weder geschätzt noch gewürdigt wird. Selbst in unseren eigenen Köpfen, dort, wo es am gefährlichsten ist, entdecken wir immer wieder Vorurteile.

Wer daran zweifelt, sollte sich einmal selbst fragen: Was verbinde ich eigentlich mit dem Wort alt? Wer ehrlich ist, muss zugeben, dass die negativen Eigenschaften, die unschönen Adjektive vorherrschen: hinfällig, hässlich, senil, hilflos … Wir sehen erst einmal einen Menschen vor uns, der irgendwie weniger ist, als er einmal war. Ist nicht gerade diese negative Konnotation der Grund, warum das Wort alt in vielen der Vereine, in denen sich ältere Menschen organisiert haben, gelegentlich sogar unter Androhung einer Geldstrafe, verboten ist? Warum sonst hätte die amerikanische Autorin Gail Sheeny ihr Buch »Sex and Seasoned Woman« genannt? Warum spricht man heute lieber von Senioren als von alten Menschen?

Es gibt viele Frauen wie Sissi. Ich erinnere mich an Freunde und Bekannte, die zu runden Geburtstagen in tiefe Depressionen fielen, weil sie glaubten, nun plötzlich alt zu sein. In der vorangegangenen Generation war das wohl eher der vierzigste Geburtstag, heute ist es meistens der sechzigste, der siebzigste. Sissi ist nur ein wenig vorgeprescht.

Das Verhältnis zum Alter war auch schon einmal ein anderes, wie man leicht nachlesen kann. Von Spaß war natürlich nie die Rede, ganz im Gegenteil. Aber es herrschte ein gesunder Respekt vor der Altersweisheit, vor den Erfahrungen, die den körperlichen Niedergang zumindest teilweise kompensierten. Doch das war zu Zeiten, als die meisten Menschen nicht einmal fünfzig Jahre alt wurden. Wer sechzig wurde, konnte sich schon glücklich schätzen. Heute sieht es ganz anders aus. Heute hat sich durch die Industrialisierung, den technischen Fortschritt und die erhöhte Lebenserwartung die Situation stark gewandelt. Das Alter ist tatsächlich eine der größten Errungenschaften der modernen Gesellschaft, und dennoch wird es uns bis heute als Horrorbild vorgeführt. Politiker erschaffen Szenarien, in denen alte, hilflose Wesen durch die Flure überfüllter Heime schlurfen. Sie beschwören eine Masse alter Menschen herauf, die dement und bettlägrig und inkontinent sind und von einer schrumpfenden Anzahl junger, nicht gerade begeisterter Menschen unterstützt werden. Kein Wunder, dass wir Angst haben. Doch das gängige Bild ist ein Zerrbild der Wirklichkeit.

Selbstverständlich stellt die Überalterung der Bevölkerung eine große Herausforderung dar, die wir nicht ignorieren dürfen. Doch was in den Diskussionen meist verschwiegen wird, ist, dass in Deutschland 92,7 Prozent der über Fünfundsechzigjährigen eben nicht an Alzheimer leiden, dass 96 Prozent von ihnen nicht in Altersheimen leben. Auch dass anderthalb Millionen zu Hause betreut werden, gehört hierher. Und während der Anteil der Alten an der Bevölkerung weiter steigen wird, und ihre Gebrechen, einschließlich der Demenz, eine immer größere Herausforderung darstellen werden, gibt es doch Anzeichen, dass sie in der Mehrheit lange gesund bleiben und in der Lage sind, bis ins hohe Alter hinein ein produktives Leben zu führen. Die Gesellschaft muss es nur zulassen.

Die alten Vorurteile sind tief verwurzelt. Sie verstellen uns den Blick auf die Herausforderung und verhindern, dass wir Lösungen finden. Zwei führende amerikanische Sozialpsychologen, die Professoren Kenneth J. und Mary Gergen, bezeichnen eine solche Situation als Defizitdiskurs. Sie meinen damit, dass Menschen eine bestimmte Situation vorschnell als »Problem« bezeichnen, obwohl sie das an sich gar nicht sein muss, und ihr schon aufgrund dieser Bezeichnung kaum mehr etwas Postives abgewinnen können. Die Gergens sind überzeugt davon, dass die negative Sicht auf das Alter ein kulturelles Konstrukt ist, das aufgehoben werden kann. Vielleicht sind sie ein wenig zu optimistisch, schließlich ist die Aversion psychologisch tief verwurzelt. Andererseits sind die Vorstellungen über die Minderwertigkeit der Frauen, die tausende von Jahren vorgeherrscht haben, mit der feministischen Revolution bei uns im Westen mindestens zum Teil fortgefegt worden, woran man erkennen kann, dass Einstellungen, die wir für unumstößlich gehalten haben, nicht immer in Stein gemeißelt sind. Statt über die alternde Bevölkerung zu jammern, können wir auf der anderen Seite auch sagen, dass die Menschen immer länger jung bleiben.

Ich habe es als gutes Omen verstanden, dass die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Schröder, just zu dem Zeitpunkt, als ich begann dieses Buch zu schreiben, eine Kampagne ins Leben rief, um das Bild der alten Menschen in unserer Gesellschaft zu verändern. »Noch immer wird das Alter überwiegend mit Krankheit und Tod assoziiert«, erklärte die Ministerin, »dabei erleben heute viele Menschen den Lebensabschnitt zwischen fünfundsechzig und fünfundachtzig Jahren aktiv und gesund. Ich möchte verhindern, dass ältere Menschen ihre Fähigkeiten und Chancen nicht ergreifen, weil ihnen keine entsprechenden Möglichkeiten geboten werden … Wir brauchen ein neues Bild vom Alter, das die Stärken älterer Menschen betont und dazu beiträgt, dass sie ihren Beitrag in Wirtschaft und Gesellschaft leisten können.« Zur Kampagne gehörten verschiedene Tagungen und ein Foto- und Videowettbewerb mit dem Thema: Was heißt schon alt?

Ein neues Bild vom Alter ist dringend nötig. Kaum ein Monat vergeht, in dem uns nicht eine neue Studie präsentiert wird, die mit den überkommenen Vorstellungen aufräumt. Allein die neuen Veröffentlichungen, die zu dem Thema erschienen sind, während ich für dieses Buch recherchierte, waren kaum zu bewältigen. Hinter den Kulissen arbeitet eine Armee von Wissenschaftlern, die überzeugt sind, dass der Alterungsprozess ganz anders aussieht, als wir allgemein annehmen, dass ihm eine Menge Positives abzugewinnen ist. Unser Leben verläuft nicht in einer bogenförmigen Kurve, die mit dem körperlichen Aufwachsen und dem Erlangen bestimmter Fähigkeiten beginnt, ihren höchsten Punkt in der Mitte des Lebens erreicht, wenn wir, so hat man uns gelehrt, unsere Fähigkeiten voll entfaltet und unsere gesellschaftliche Stellung ausgebaut haben, und mit einem unaufhaltsamen Abstieg langsam ausläuft. Zum Beispiel haben Neurologen mit der traditionellen Vorstellung aufgeräumt, dass das alternde Gehirn ständig graue Zellen verliert, und dass dieser Verlust unwiderruflich ist. Das Gehirn, so wissen wir heute, kann sich auch im Alter noch entwickeln, bis ganz zum Schluss wachsen neue Zellen. Die Wissenschaftler haben uns auch erklärt, dass wir nicht ab Mitte vierzig geistig abbauen, nur weil wir hin und wieder unsere Brille verlegen oder Namen vergessen. Auch wenn das menschliche Gehirn mit vierzig, fünfzig oder siebzig das ein oder andere vergisst oder für bestimmte Denkaufgaben etwas länger braucht, ist es tatsächlich eine beeindruckendere Maschine – nicht weniger bemerkenswert als das jugendliche Gehirn, das mit größter Leichtigkeit historische Daten herunterrattern kann. Denn die Erfahrung und das Wissen haben es in einer Weise verändert, die wir uns kaum vorstellen können.

Die Wissenschaft hat auch herausgefunden, dass wir Einfluss auf den Alterungsprozess nehmen können, indem wir uns körperlich und geistig fit halten, Freundschaften pflegen und neue Kontakte knüpfen. Wenn wir dagegen erwarten, dass wir hilflos und abhängig werden, dann müssen wir auch damit rechnen, dass es so kommt. Erwiesen ist auch, dass Menschen, die über ihre offizielle Pensionierung hinaus arbeiten, im Durchschnitt gesünder sind und länger leben als solche, die es nicht tun. Dies gilt für Vollzeit- genauso wie für Teilzeitbeschäftigungen.

Trotz Gelenkschmerzen, Weitsichtigkeit und Gedächtnislücken sind die Menschen glücklicher, je älter sie werden. Natürlich spielen hier die einzelnen Persönlichkeiten eine große Rolle, die Umstände, unter denen sie leben, und auch das Geschlecht (Frauen sind glücklicher als Männer). Der Bildungsgrad ist entscheidend und das Einkommen, auch wenn die Beziehung zwischen Wohlstand und Glück komplexer ist, als oft angenommen wird, und manchmal sogar umschlägt.

Doch auf der ganzen Welt, in den ärmsten wie in den reichsten Ländern, ist eines immer gleich: Typischerweise sind die Menschen glücklich, wenn sie jung sind, doch die gute Laune verfliegt, sobald die mittleren Jahre erreicht sind. (Vielleicht liegt es an den Teenagern, die durch das Haus poltern? Oder an der Midlife-Crisis?) Mit vierzig oder fünfzig – siehst du, Sissi? – ist der Tiefpunkt erreicht. Das globale Mittel für die Krise hat sich bei sechsundvierzig eingependelt. Dann fangen wir uns ein wenig und werden langsam aber sicher immer glücklicher, gerade den Alten gelingt es, Zufriedenheit herzustellen, indem sie auf ihre Lebenserfahrungen zurückgreifen. In der Wissenschaft wird das als U-Bogen bezeichnet. Er verspricht nicht nur Trost für Menschen, die voller Kummer auf ihre Zukunft blicken, er hat auch praktische Konsequenzen. Glückliche Menschen sind gesünder und produktiver als unglückliche. Das haben verschiedenste Forschungsprojekte an mehreren Universitäten und öffentlichen Instituten, in denen über vierzig Jahre Langzeitbeobachtungen durchgeführt wurden, gezeigt. In zweiundsiebzig Ländern der Erde wurde das Glück gemessen. Präsentiert wurde die Studie 2010, in der Weihnachtsausgabe der Zeitschrift Economist – ein Geschenk an die Leser mittleren und fortgeschrittenen Alters. Das Fazit lautete: Die Welt wird heller, je grauer sie wird. Eigentlich stand in dem Bericht nichts Neues. Vieles davon hatte man auch früher schon anderswo lesen können. Doch das Interesse an alten Menschen war offenbar so gering, dass sich außerhalb der akademischen Kreise und einiger Ausschüsse kaum jemand darum gekümmert hat.

Im Deutschen Alterssurvey von 2010, den das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben hat, steht zu lesen, dass im Erhebungsjahr 2008 61 Prozent der älteren Deutschen (zwischen fünfundfünfzig und fünfundachtzig Jahren) mit ihrem Leben zufrieden waren, bei den etwas jüngeren (vierzig bis vierundfünfzig Jahre) waren es nur 56 Prozent. Soviel ich weiß, ist niemand auf die Idee gekommen, aus dem Ergebnis eine Schlagzeile zu machen.

Selbst Wissenschaftler müssen offenbar einen großen inneren Widerstand überwinden, denn als die britische Warwick Business School, deren Forscher den U-Bogen bereits Anfang der Neunziger beobachtet hatten, eine Tagung zum Thema organisierte, meldete sich niemand an.

Interessanterweise waren es nicht Psychologen oder Soziologen, die den U-Bogen entdeckten, sondern Wirtschaftswissenschaftler und Politologen. Es begann mit dem Versuch, das Befinden der Menschen direkt zu messen, statt, wie sonst üblich, über Wohlstand, Bruttosozialprodukt oder Pro-Kopf-Einkommen. Inspiriert wurde der neue Weg vom König des Himalaya-Reichs Bhutan, der Anfang der Siebzigerjahre, nachdem er den Thron bestiegen hatte, den Begriff des Bruttonationalglücks prägte. König Jigme Singye Wangchuck suchte nach einem Leitfaden, nach dem er sein kleines, buddhistisch geprägtes Land modernisieren konnte. Im Westen nahm man diese Idee auf. Heute suchen Abgeordnete und Experten in einer Enquete-Kommission des Bundestags nach ähnlichen Wegen, um das Wohlbefinden der Öffentlichkeit zu messen. Auch in Großbritannien, Frankreich und den USA gibt es vergleichbare Bemühungen.

Nicht nur die Wissenschaft, auch die Personalabteilungen vieler Firmen haben inzwischen eingesehen, dass ältere Angestellte mindestens ebenso leistungsfähig, gewissenhaft, produktiv, zuverlässig und loyal sein können wie ihre jüngeren Kollegen. Nur eine Benachteiligung bringen sie mit: Sie können den physischen und psychischen Stress bestimmter Arbeiten nicht so lange ertragen. Doch das Problem ist längst nicht mehr so akut wie früher. Zumindest die Arbeitsstellen, die Kraft und körperlichen Einsatz verlangen, werden immer seltener.

In den USA