Von Annenheide nach Adelaide - Klaus Hübner - E-Book

Von Annenheide nach Adelaide E-Book

Klaus Hübner

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Beschreibung

Unerfüllte Lebensträume, optimistische und gescheiterte Pläne, viel Arbeit, ständig neue Aufgaben, häufig andere Standorte. 9 Acres Land in Warburton, Bewirtschaftung des Deutschen Clubs in Melbourne, Tankstellenpächter in Crystal Brook und Palm Beach, Kiosk und Café am Maroondah Dam, Café und Blumengeschäft in Springvale, Melbournes größtem Friedhof. Ein eigenes Haus in Dandenong. Die Kinder und Enkelkinder wachsen heran, der Ehemann stirbt früh. Bescheidener Wohlstand, der auch Urlaubsreisen auf dem Kontinent, nach Europa und in die USA ermöglicht. Der Fundus: 80 Briefe mit über 260 Seiten, eng mit der Schreibmaschine beschrieben, viele Ansichtskarten, ungezählte Fotos. "Ich würde es ein zweites Mal nicht wieder wagen, oder wenn ich gewusst hätte, was mich hier alles erwartet, wäre ich in Deutschland geblieben." (1967). "Ich möchte am liebsten eine Sündflut kommen und ganz Australien verschwinden lassen." (1971).

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Inhalt

Einleitung

Die Seereise

Im Lager Bonegilla

„Gecatched“

Weihnachten – ohne Lametta

Warburton – 9 Acres eigenes Land

Deutscher Klub Tivoli

Crystal Brook – die erste Tankstelle

Homesick.

Geld – in den Sand gesetzt.

Palm Beach – die zweite Tankstelle

Abgetankt.

Ein Neuanfang – irgendwie

Springvale – Melbournes größter Friedhof

Ein Café und Kiosk am Maroondah Dam

Wo ist Heimat?

Semi-retired.

Einleitung

Lucie Schmidt war eine Jugendfreundin unserer Mutter Wilma. Sie hatten sich 1939 kennengelernt, wahrscheinlich bei der Dienstverpflichtung während der Kriegszeit. Für unsere Mutter war das eine Chance gewesen, aus dem Haus zu kommen, denn sie hatte keine Lehre machen dürfen und für ihren Vater den Haushalt zu führen nach dem frühen Tod ihrer Mutter Adele im Jahr 1935 und dem Tod ihrer Großmutter Gesine Spott 1939. Die Reichswehr suchte damals junge Frauen. Auf dem Fliegerhorst Adelheide in Delmenhorst wurden die Luftwaffenhelferinnen z.B. zu Telefonistinnen ausgebildet. Ob es Lucie war, die ihr eine bessere Alternative vorgeschlagen hatte? Beide meldeten sich jedenfalls für den Fernschreibdienst. Es sollte Folgen haben, denn während der Ausbildung lernte Wilma ihren Mann, unseren Vater kennen.

Wir Kinder lernten Lucie nach Kriegsende kennen, als sie häufig mit ihrer Tochter Doris bei uns in der Koppelstraße auftauchte. So viel und so wenig, wie wir wussten, war Lucie Kriegerwitwe, und so war es auch gewesen, denn ihren Briefen aus Australien war zu entnehmen, dass sie ihren Theo (vermutlich: Theodor) 1939 auf dem Fliegerhorst kennengelernt hatte und, wenn Theo nicht gefallen wäre, am 22.12.1968 Silberhochzeit hätten feiern können. Sie hatten also am 22.12.1943 geheiratet, am 4.7.1944 war die Tochter Doris geboren geworden.

Die Kriegerwitwe Lucie war mit ihrer Tochter Doris oft bei uns gewesen, und wie sie in einem späteren Brief an den Verfasser schrieb, war die Jugendfreundin Wilma in der Koppelstraße vielleicht sogar eine Art Zufluchtsort gewesen, denn Not, auch Wohnungsnot herrschte damals allenthalben. Wir Kinder hatten mit Doris eine Spielgefährtin, auch bekamen wir von den Gesprächen der Mütter so einiges mit. Man hatte ihr die Wohnung gekündigt, da sie dort wohl in wilder Ehe lebte. Herrenbesuch war ihr nicht gestattet. (Es gab in den Zeiten der Kriegerwitwen den Begriff der „Onkelehe“; bei einer Wiederverheiratung wurde die – ohnehin kärgliche – Witwenrente gestrichen, also lebte man zusammen ohne Trauschein, was nach dem damaligen Gesetzesvorschriften auch für den Vermieter strafbar war, Kuppeleiparagraph 180 StGB). Sie wurde also gekündigt, obdachlos, und landete mit ihrer Tochter in einer Notunterkunft, einem Barackenlager für Obdachlose, bis sie irgendwann eine neue Wohnung gefunden hatte. Gelegentlich erzählte sie von ihrer Arbeit. Als Kind ist mir in Erinnerung geblieben, dass sie als Verkäuferin in dem Haushaltswarengeschäft „W.O.P.“ tätig war. Wilhelm Oberpottkamp [Wikipedia: „Drachentöterhaus“] hatte auch in Delmenhorst eine Filiale. W.O.P., „Willi ohne Piedel“, wie die lebendige, lebhafte, trotz allem lebensfrohe Lucie sagte, frivole Worte, wie wir sie aus dem Mund unserer Mutter nie vernommen hatten.

Irgendwann tauchte Lucie mit einem neuen Bekannten auf, Eilert Gerhard Ripken. Wir wussten wenig von ihm, eigentlich gar nichts, unsere Eltern wahrscheinlich mehr, mein Vater mochte ihn nicht. Mitte der 50er übernahmen die beiden ein Lebensmittelgeschäft in Delmenhorst-Annenheide, einen „Tante-Emma-Laden“ in Stadtrandlage, und dort wohnten sie auch. Eilert, war er geschieden oder verwitwet, hatte einen Sohn Gerd, der 1942 geboren wurde. Mit Doris waren sie nun zu viert. Ich hatte sie dort gelegentlich besucht, denn so ein Geschäft hatte etwas Aufregendes für einen 11-12jährigen, der auch mal auf der anderen Seite des Tresens stehen durfte und im Laden ein wenig aushelfen konnte. Aber das war dann plötzlich im Jahr 1959 vorbei, und ich hatte gar nicht so richtig mitbekommen, warum. Oder ich hatte mir dann keine weiteren Gedanken darüber gemacht, als es hieß, dass sie nicht mehr da waren. Sie waren ausgewandert nach Australien.

In den Bremer Auswandererlisten fand ich sie wieder: „Australia Immigrants 59, Page 38, 20.6.59, „Australian Government Financially Assisted“, Nr. 648-651, Eilert als „unsk. fact. wk.“ [unskilled factory worker].

Nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1948 bis 1961, wanderten 770.000 Deutsche nach Übersee aus. Mit Australien hatte die Bundesrepublik Deutschland 1952 einen Vertrag zur Regulierung der Auswanderung, ein „Wanderungsabkommen“ abgeschlossen. Von den 91.000 Deutschen, die zwischen 1950 und 1961 nach Australien auswanderten, waren rund 80 Prozent „assisted immigrants“. Personen, die sich beworben hatten und angenommen wurden, bekamen eine kostenfreie Schiffspassage, Unterstützung und Startkapital. Weitere organisatorische Hilfen wurden in den ersten Monaten nach der Ankunft auf dem Kontinent gewährt. Mit diesem Programm, dem „Assisted Passage Scheme“ wurde vielen Interessierten die Auswanderung überhaupt erst ermöglicht. (Quelle: Deutsches Auswandererhaus in Bremerhaven).

Für dieses Programm müssen sich auch die Ripkens, inzwischen waren die beiden verheiratet, beworben haben, und nach einer erfolgreichen Bewerbung dauerte es meist nur einige Monate, bis die Reise losging. Die Auswanderer versammelten sich im „Bremer Überseeheim“ in Bremen-Lesum, einer Anlage mit vormals bis zu 101 Unterkunftshäusern, einer großen Gepäckhalle, einer Festhalle sowie Küchengebäuden.

Von dort ging es zum Bahnhof Bremen-Vegesack und weiter mit dem Zug nach Cuxhaven, wo die „Castel Felice“ auf sie wartete. Über dieses Schiff, das zwischen 1952 und 1970 über 100.000 Einwanderer nach Australien beförderte, kann in der englischen Wikipedia nachgelesen werden.

In einem Auswandererbericht von 1955 heißt es, dass eine Blaskapelle „Muss i denn zum Städtele hinaus“, „Auf Wiedersehen“, usw. spielte, dann begann das erste Abenteuer, die 7-wöchige Schiffsreise. Die Chronistin berichtete: „Nachdem wir unsere Schiffskarten vorgezeigt hatten, wurden wir durch eine große Halle geschleust und erblickten dann am Ausgang der Halle die „Castel Felice“. Ich war von der Größe des Schiffskörpers richtig benommen, aber ehe ich es ganz von außen bewundern konnte, wurde ich schon in das Innere des schwimmenden Riesen geschoben. (…) Das Schiff ist ein kleines Wunderwerk. Es gibt hier alles, was sich das verwöhnteste Herz nur denken kann: Schwimmbassin, Tanzsaal (erstklassige italienische Tanzkapelle), Tagesräume, 6 Bars usw., Ess-Säle gibt es im A- und im B-Deck. Ich habe in keinem Hotel, das ich bisher besucht habe, eine luxuriösere Einrichtung der Speisesäle gesehen.“ Unter Deck war es dann etwas spartanischer für die 18-jährige Einzelreisende: „20 Betten!!, kein Schrank, über den Betten Rohre und andere Unebenheiten. Ich erwischte ein Bett in der Nähe des Bullauges und kletterte mit Hilfe einer Leiter auf ein Oberbett. Obwohl der „Schlafsaal“ eng ist, kann man ihn doch nicht ganz verdammen, da er hübsch angestrichen ist, und die Betten sehr gute Matratzen aufweisen. Rohre und Haken dienen als Kleiderschrank.“ Aber sie wusste ihren nachfolgenden Eltern auch mitzuteilen: „Manche Ehepaare haben eine Kabine im A-Deck erwischt, die ganz süß eingerichtet sind. Schrank, 2 Betten, kleiner Tisch mit 2 Sesselstühlen, kleines Fenster mit dem gleichen Stoff für Gardinen, der auf den Betten als Bettdecke wiederzufinden ist. Fußboden dunkelgrün angestrichen, Decke und Wände hellgrün. Hoffentlich kriegt ihr eine solche nette Kabine.“

Ähnlich dürfte es 1959 für die vierköpfige Familie Ripken gewesen sein, und ungewohnt für alle der zumeist aus einfacheren Verhältnissen stammenden Auswanderer der Hotel-Komfort während der Reise. Ungewohnt und erschwerend allerdings auch die Erfahrungen mit der Seekrankheit, vom „Maulregen“ schrieb sie.

Die erste Ansichtskarte, die ihre Jugendfreundin Wilma von Lucie erhielt, war datiert vom 24.6.1959, und es sollten bis zum Tod unserer Mutter im Jahr 1996 an die 100 weitere Ansichtskarten und vor allem über 80 eng mit der Schreibmaschine geschriebene Briefe mit einem Umfang von über 260 Seiten folgen, in denen Lucie über das Lebensabenteuer Australien berichtete, dazu aber auch viel Privates aus ihrer Familie, von Verwandten und gemeinsamen Bekannten aus der alten bzw. neuen Heimat. Dazu kamen jede Menge Fotos, erst klein und schwarz-weiß, später dann größer und in Farbe. Davon soll hier berichtet und dokumentiert werden. Ihren Ehemann Eilert Ripken musste Lucie schon am 29. Februar 1980 zu Grabe tragen, kurz vor seinem 68. Geburtstag. Lucie selber starb im Alter von 94 Jahren am 9. Juli 2015.

Die Seereise

Castel Felice, auf See: 24.6.59. Sitze im Liegestuhl und schaue über die Reling übers blaue Meer auf die Portugiesische Küste. Es ist unbeschreiblich schön. Die Sonne strahlt und ich kuriere meinen Sonnenbrand und Eilert seine Seekrankheit aus. Alles schon dagewesen, einfach furchtbar. Werden in Melbourne ausgeschifft. Sind mit 1475 Passagieren an Bord. Ein tolles Gefühl. Die Verpflegung ist sehr gepflegt, die Kabinen zu klein. In Port Said ist die erste Station, ich wäre schon am liebsten in Dover (Engl.) an Land gegangen.

Auf weiteren Ansichtskarten berichtet sie: „Afrika. Bin sehr erschüttert von dem primitiven Leben der Schwarzen, dazu die Hitze. Hier möchte ich nicht begraben sein. Port Said und Kairo sind zwar sehr schön und interessant, aber nichts auf die Dauer. Befinden uns z.Z. im Roten Meer, gestern am Berg Sinai.“ (2.7.59) Es wurden den Reisenden bei den Zwischenstopps also auch Landgänge angeboten wie in Aden (4.7.59), denn für eine Non-Stopp-Reise mit so vielen Passagieren war die „Castel Felice“ sicher nicht ausgerüstet. Ob die Äquatortaufe Pflicht für alle Passagieren war? Vermutlich nicht. „Mit wie vielen Menschen wir auf dem Schiff waren! Es ist eine Nervenprobe, das 2 Monate auszuhalten. Man kam sich den ganzen Tag vor, wie auf dem Kramermarkt.“ Am 27.7. legte die “Castel Felice” schließlich in Melbourne an.

Im Lager Bonegilla

Der erste mit der Schreibmaschine auf dünnem Luftpostpapier geschriebene Brief ist vom 2.8.59 datiert, Sender’s Name Address Lucie Ripken, Ex Castel Felice, C.I.C. Bonegilla Lager Block 12, 3/8, Victoria / Australia [C.I.C.: Commonwealth Integration Center]. Hurra, wir sind da, und der erste Eindruck ist gut. Es ist zwar Winter und wir haben, aus den Tropen kommend, die ersten Tage tüchtig gefroren, aber das gibt sich. Nun sitzen wir in unserem ersten Heim alle vier gemütlich beisammen. Vatern liest Zeitung, Doris ein Buch, Gerd klebt Briefmarken ein und ein geliehenes Tonband spielt uns vertraute Weisen aus dem Zigeunerbaron, Schwarzwaldmädel, Im weißen Rössl, usw. Es ist wie zu Hause. Ich schreibe schon den xten Brief, denn alle in der alten Heimat sind gespannt und möchten etwas hören. Aber mit der Maschine macht es Spaß [das sollte die ehemalige Fernschreibkraft wohl gelernt haben]. Also am 27.7. sind wir hier in Melbourne gelandet. … Trotzdem sind wir alle wie erlöst vom Schiff gegangen, denn bei 1475 Menschen auf einem Kahn, der höchsten für 600 geschaffen ist, kommt man sich vor wie auf einem Jahrmarkt, und das fast 6 Wochen. Aus der erhofften Erholung ist eine Nervensäge geworden und alle waren froh, als Australien in Sicht war. Trotz strömenden Regens war der Empfang mit Blumen und Musik überaus herzlich. Wir legten abends gegen 20 Uhr an. Am Kai Menschen über Menschen, alles nur Deutsche, ich kam mir vor wie in Cuxhaven. Viele wurden schon von ihren Angehörigen empfangen. … Am anderen Tage wurden wir … in zwei Gruppen weitergeleitet, die eine nach Adelaide, und die andere nach Bonegilla. ... Wir waren angenehm überrascht. Die Gegend ist herrlich. Weite Täler, grüne Berge, ein großer See, alles da, um Urlaub zu machen. Die Unterkünfte sind denkbar einfach, aber sauber. Die Häuser bestehen von Innen aus Holz, von außen von Wellblech. Das Inventar besteht aus einem Bett mit 8 Wolldecken, einem Tisch, Stuhl und Spind. Jede Familie hat zwei Zimmer bekommen. Wir haben uns einen gemeinsamen Wohnraum geschaffen. Koffer auf, Tischdecke raus, Sofakissen, Couch improvisiert, die Stühle mit Wolldecken gepolstert und schon war die gemütliche Bude fertig. Das Essen ist sehr gut und reichlich, der Koch ist natürlich ein Deutscher. Überhaupt wird hier im Lager noch gesprochen, wie der Schnabel gewachsen ist, aber auch sonst ist die Verständigung kein Problem. Drei Brocken Englisch haben wir ja schon auf dem Schiff mitbekommen. Das Lager ist so groß und weitläufig wie eine Stadt und keiner kommt sich zu nahe. Ich kann mir vorstellen, dass es so manch einer gar nicht eilig hat, hier herauszukommen, wo man frei wohnt und verpflegt wird und noch dazu ein Taschengeld bekommt. Essräume, Toiletten, Duschräume, Sportplätze, Kindergärten, Kinos, Kirchen, alles da. Man braucht nur zu essen, schlafen, spazieren gehen und faulenzen. Wir können diese Erholung gut gebrauchen nach unserer anstrengenden Seereise, und allem Anschein nach hat man es auch gar nicht so eilig, uns wieder los zu werden, denn alles geht hier im Zeitlupentempo. Die europäische Hast und Hetze wird uns von vornherein abgewöhnt. Ich habe mir erst einmal eine deutsche Zeitung gekauft und studiert, wie es hier ist. Ich glaube, wir müssen 50 Jahre zurückschalten. Es ist alles wesentlich einfacher und schlichter als bei uns. Überall blickt die engl. konservative Einstellung durch. Alles Alte ist gut und wertvoll. Die Kinderwagen, Autos, Telefone, Züge, alles der letzte Schrei aus dem 18. Jahrhundert. Noch leben wir ja auf dem Lande und haben außer der schönen Natur noch nicht viel gesehen. Laut Zeitung kann man aber in den Städten alles bekommen, was uns zu Hause lieb und wert war. … Es gibt jedenfalls deutsche Clubs, Kinos und Geschäfte und auch die Menschen sind hier wesentlich unkomplizierter, sehr freundlich und hilfsbereit. Die Häuser bestehen allgemein aus Holz. Ganz Melbourne sieht aus wie eine Gartenkolonie und nicht wie eine Großstadt. Das Klima erlaubt anscheinend eine solch leichte Bauweise. Wir haben doch jetzt mitten im Winter 12 bis 20 Grad Wärme. In den Räumen kann man es ohne Heizung aushalten, und wenn die Sonne scheint, und das tut sie fast täglich, denkt kein Mensch daran, auch nur einen Mantel anzuziehen. Dann ist es wärmer, als bei uns im Mai. Vor mir auf dem Tisch steht ein herrlicher Strauß Mimosen. Die blühen hier im Augenblick wie bei uns die Fliedersträucher, ein wunderbarer Anblick so mitten im Winter. In den kleinen Gärten vor den Häusern blühen die Veilchen und Mohnblumen, und alle Bäume und Wiesen sind grün, wir können es gar nicht glauben, dass hier Winter sein soll. Heute haben wir einen Spaziergang zum Staudamm unternommen und einen herrlichen Campingplatz entdeckt. Unsere Fahrräder werden wir in dieser Gegend wohl kaum gebrauchen können, dazu ist es zu gebirgig. Hier fährt man nur Auto. Leider wissen wir noch nicht, wo wir abbleiben ...

„Bonegilla liegt etwa 13 Kilometer von der nächstgelegenen Stadt Albury an der Grenze der Bundesstaaten Neu-Südwales und Viktoria entfernt. Die Entfernung nach Melbourne beträgt etwa 300 Kilometer. Das Lager befindet sich im Landesinneren, fernab von größeren Städten. Für die Einwanderer bestand nicht einmal die Möglichkeit, die Kleinstadt Albury zu erreichen, da dies hin und zurück einen Fußweg von mehr als 25 Kilometern bedeutet hätte. Bei den im australischen Landesinnern häufig herrschenden hohen Temperaturen ist eine solche Entfernung zu Fuß nicht leicht zu bewältigen. Die nächste große Stadt, Melbourne, war nur mit einer sechsstündigen Zugfahrt zu erreichen. Ohnehin durften die Einwanderer das Lager Bonegilla ohne behördliche Erlaubnis nicht verlassen. Diese wurde nur erteilt, wenn Auswanderer einen Arbeitsplatz nachweisen konnte."1)

1 Bettina Biedermann: „Vergessene Auswanderer. Die Migration von Deutschen nach Australien in den 1950er Jahren.“ In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 140, 35. Jg., 2005, Nr. 3, 423-443. - Über den heutigen Gedächtnisort, das „Bonegilla Migrant Reception and Training Centre“ kann man sich umfassend informieren: https://www.bonegilla.org.au/Portals/2/Downloads/German---Bonegilla-Migrant-Experience-site-guide_WEB.pdf

„Gecatched“

Mentone2, 9.9.59. Heute, drei Wochen später, sitzen wir wieder in Melbourne. Man hat uns gecatched, wie man hier sagt. Das heißt, im Lager sind viele Unternehmer aufgetaucht, die sich dort Leute der verschiedensten Berufe zur Arbeit holten. Meistens waren das die Glücklichen, die gleich ihre ganze Familie mitnehmen konnten. Bei denen also der Unternehmer nicht nur Arbeit, sondern auch gleich eine Wohnung für die ganze Familie zur Verfügung stellte. Wir hatten also ein ähnliches Glück. - Es war Sonntag und wir waren gerade im Begriff, ein längeren Spaziergang zu unternehmen, als uns kaum 50 Meter von unserer Wohnbaracke entfernt ein Ehepaar anhielt und zuerst auf Englisch dann auf Deutsch plausibel machte, dass sie ein deutsches Ehepaar mittleren Alters suchten, die für 3/4 bis ein Jahr ihre Wohnung mit Anhang (der Anhang war der Ehemann, ein großer Garten und 14 Hühner) betreute, da die Dame des Hauses nach Deutschland zu fahren gedachte, um in Berlin ihre betagte Mutter zu besuchen. Sie tippte gleich auf uns, aber wir lehnten vorerst ab, da wir ja zwei Kinder haben. … Trotzdem, und nachdem sie sich unsere Kinder angesehen hatten, wurden wir uns einig und gondelten 8 Tage später dieselben 350 Meilen zurück nach Melbourne. Der Vorort heißt Mentone und ist 15 Minuten von der See entfernt. Sehr gutes Wohnviertel, fast ausschließlich Angestellte, Beamte und Unternehmer. Jeder hat sein Häuschen mit Garten und ist für sich allein. Ein Garten schöner als der andere. Unser Haus ist ein Eckgrundstück und daher besonders groß. Wir sind in zwei großen Zimmern untergebracht. Außerdem besteht das Haus noch aus einem Essraum, Schlafraum, Wohnraum, Bad, Küche, Speisekammer und einer Terrasse. … Für die Dauer der Abwesenheit der übrigen Familie haben wir den Hausherrn mit in unserer Kost und wohnen dafür mietfrei. Seit 8 Tagen ist Frau Buzato mit den Kindern unterwegs und auch er (… er ist Rumäne) hat das Schlimmste überstanden (sich an meine Kost zu gewöhnen). … Meine Hühner sind fleißig, jeden Tag bekomme ich zwölf Eier. Ehrlich gesagt, ich fühle mich sauwohl. Ist ja auch keine Kunst, denn schließlich habe ich ja drei Mann, die das Geld verdienen. Vatern in einer Leminex-Factory (Kunststoff, Plastik), er bekommt allerdings erst den Anfangslohn von 15 Pfund die Woche, aber wenn er Sonnabends- oder gar Sonntagsschicht macht, gibt es erheblich mehr. Letzte Woche kam er mit 25 Pfund nach Hause. Gerd arbeitet in einem Kleinbetrieb bei einem Deutschen Elektro-Plating-Betrieb [Galvanisierung] und bekommt 8 Pfund die Woche. Das ist nicht viel, aber er geht gerne dorthin, die Chefin hat ihn wohl ins Herz geschlossen, sie steckt ihm so manches außer der Reihe zu, sicher, weil er ein Landsmann ist. Doris hat mehr Glück gehabt in ihrem ersten Job. Sie ist in einer Jam-Factory [Marmeladenfabrik] und verdient 9 Pfund die Woche, das ist sehr gut für ihr Alter. Für den Lebensunterhalt brauche ich vorerst noch zwischen 12-15 Pfund in der Woche, den Rest können wir sparen.

Lucie schrieb „Pfund“, also die Landeswährung (AU£). Historische Kaufkraftberechnungen sind nicht ganz einfach. Nimmt man die wöchentlichen 12-15 Pfund, also 48-60 Pfund im Monat als „Haushaltsgeld“, schätzen wir für die damalige DM einen Umrechnungsfaktor von 10-12.

… Jedenfalls haben wir keinen Grund, über unseren Anfang hier in Australien zu klagen. Der einzige Mangel sind unsere Englischkenntnisse. Besonders meine, aber es wird langsam besser. Beim Einkaufen macht es mir wenigsten keine Schwierigkeiten. Ich kriege immer das, was ich haben will, da habe ich keine Hemmungen und wenn ich ihnen das mit Händen und Füßen begreiflich machen muss. Es ist sowieso anders als bei uns und zuerst war mir ganz komisch zu Mute, aber man gewöhnt sich schnell an seine neue Umgebung. So schön die Wohnverhältnisse sind, so schauderhaft fand ich die Geschäftszentren. In allem rückständig. Oft kam ich mir vor wie ins 17. Jahrhundert versetzt. Irgendwie erinnerte mich alles an Wild-West. Inzwischen habe ich schon andere Stadtteile gesehen, die sehr modern und gepflegt sind. Große Kaufhäuser, in denen es alles gibt (