Von den Bakterien zu Bach – und zurück - Daniel C. Dennett - E-Book

Von den Bakterien zu Bach – und zurück E-Book

Daniel C. Dennett

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Beschreibung

Was ist der menschliche Geist und wie ist er überhaupt möglich? Daniel Dennett ist der weltweit wohl bedeutendste Fürsprecher von Materialismus, Aufklärung und Wissenschaft. Seit über fünfzig Jahren wirbt und streitet er für seine Ansichten. Mit diesem Buch wagt er noch einmal einen Rundumschlag, eine Meistererzählung von den Ursprüngen des Lebens über die Geistesgrößen der Menschheit wie Johann Sebastian Bach, Marie Curie oder Pablo Picasso bis hin zur künstlichen Intelligenz. Dennett zeigt, wie eine vollkommen geistlose genetische und kulturelle Evolution es geschafft hat, zunächst die Einzeller, dann Pflanzen und Tiere sowie schließlich den Geist, die Kultur und das Bewusstsein hervorzubringen. Und er schießt dabei gewohnt scharf gegen Kreationisten, Antidarwinisten und alle anderen, denen ihr dogmatischer Schlummer wichtiger ist als die Wahrheit.

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Seitenzahl: 760

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3Daniel C. Dennett

Von den Bakterien zu Bach ‒ und zurück

Die Evolution des Geistes

Aus dem Amerikanischen von Jan-Erik Strasser

Suhrkamp

5Für Brandon, Samuel, Abigail und Aria

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

7Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Vorwort

Teil

I

: Unsere Welt ‒ auf den Kopf gestellt

1. Einleitung

Willkommen im Urwald

Der Weg von oben

Die kartesische Wunde

Kartesische Gravitation

2. Vor den Bakterien und Bach

Warum Bach?

Was die Erforschung der präbiotischen Welt mit dem Schachspiel zu tun hat

3. Über den Ursprung der Gründe

Tod oder Wiedergeburt der Teleologie?

Verschiedene Bedeutungen von »warum«

Die Evolution von »warum«: von

wie kommt's

bis

wozu

Gehet hin und mehret euch

4. Zwei seltsame Umkehrungen des Denkens

Wie Darwin und Turing einen Bann brachen

Ontologie und manifestes Weltbild

Die Automatisierung des Aufzugs

Die intelligenten Designer von Oak Ridge und

GOFAI

5. Die Evolution des Verstehens

Tiere, wie geschaffen für den Umgang mit Affordanzen

Höhere Tiere als intentionale Systeme: die Entstehung des Verstehens

Verständnis kommt in Graden

Teil

II

: Von der Evolution zum intelligenten Design

6. Was ist Information?

Willkommen im Informationszeitalter

Wie lässt sich semantische Information charakterisieren?

Geschäftsgeheimnisse, Patente, Urheberrecht und Birds Einfluss auf den Bebop

7. Darwinistische Räume: ein Einschub

Ein neues Werkzeug, um über die Evolution nachzudenken

Kulturelle Evolution: die Umkehrung eines Darwinistischen Raums

8. Gehirne aus Gehirnen

Top-down-Computer und Bottom-up-Gehirne

Konkurrenzen und Koalitionen im Gehirn

Neuronen, Maultiere und Termiten

Wie machen Gehirne Affordanzen ausfindig?

Wilde Neuronen?

9. Die Rolle von Wörtern in der kulturellen Evolution

Die Evolution von Wörtern

Wörter, genauer betrachtet

Wie pflanzen sich Wörter fort?

10. Aus der Mem-Perspektive

Wörter und andere Meme

Was ist das Gute an Memen?

11. Was stimmt nicht mit Memen? Einwände und Erwiderungen 

Meme gibt es nicht!

Meme sind angeblich »diskret« und »getreu übermittelt«, doch kulturelle Veränderungen sind oft weder das eine noch das andere

Bildteil

Anders als Gene haben Meme keine konkurrierenden Allele an einem Locus

Meme erzählen uns nichts Neues über die Kultur

Diese Möchtegern-Wissenschaft kann keine Vorhersagen treffen

Meme können kulturelle Merkmale nicht

erklären

, die traditionellen Sozialwissenschaften dagegen schon

Die kulturelle Evolution verläuft lamarckistisch

12. Die Ursprünge der Sprache

Das Henne-Ei-Problem

Gewundene Pfade zur menschlichen Sprache

13. Die Evolution der kulturellen Evolution

Darwinistische Anfänge

Die freischwebenden Grundprinzipien der menschlichen Kommunikation

Werkzeuge zum Denken

Das Zeitalter des intelligenten Designs

Pinker, Wilde, Edison und Frankenstein

Bach als Meilenstein des intelligenten Designs

Die Evolution der selektiven Umwelt für die menschliche Kultur

Teil

III

: Unser Geist ‒ umgekrempelt

14. Bewusstsein als evolvierte Benutzerillusion

Ein freigeistiger Blick auf den Geist

Wie erlangen menschliche Gehirne mittels »lokaler« Kompetenzen ein »globales« Verständnis?

Wie wurde uns unser manifestes Weltbild bewusst?

Warum erfahren wir die Dinge so, wie wir es tun?

Humes seltsame Umkehrung des Denkens

Ein roter Streifen als intentionales Objekt

Was ist die kartesische Gravitation und warum besteht sie fort?

15. Das Zeitalter des postintelligenten Designs

Wo liegen die Grenzen unseres Verständnisses?

»Sieh mal, freihändig!«

Die Struktur eines intelligenten Akteurs

Was passiert mit

uns

?

Endlich zuhause

Anhang: Der Hintergrund

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen

Register

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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11Vorwort

Über die Evolution des menschlichen Geistes habe ich mir 1963 zum ersten Mal ernsthaft Gedanken zu machen versucht. Ich war damals Doktorand der Philosophie in Oxford und hatte weder von Evolution noch vom menschlichen Geist irgendeine Ahnung. In jenen Tagen mussten Philosophen nichts von Naturwissenschaft verstehen, und selbst die berühmtesten Vertreter der Philosophie des Geistes waren in punkto Psychologie, Neuroanatomie und Neurophysiologie so gut wie ahnungslos (die Ausdrücke Kognitionswissenschaft und Neurowissenschaft wurden erst über ein Jahrzehnt später geprägt). Das ganz junge Gebiet, das John McCarthy 1956 »Künstliche Intelligenz« getauft hatte, zog zwar einige Aufmerksamkeit auf sich, doch nur wenige Philosophen hatten bis dato einen jener mysteriösen Computer zu Gesicht bekommen, die in ihren klimatisierten Gefängnissen von Technikern bewacht vor sich hin summten. Kurz: Für einen absoluten Anfänger wie mich war es der perfekte Zeitpunkt, auf all diesen Feldern ausgebildet zu werden. Ein Philosoph, der ihnen die richtigen Fragen zu ihrer Arbeit stellte (anstatt sie von der prinzipiellen Unmöglichkeit ihrer Projekte überzeugen zu wollen), war offenbar eine solch angenehme Abwechslung, dass mich eine Reihe erstklassiger Forscher unter ihre Fittiche nahmen. Sie gaben mir informelle Lehrstunden, wiesen mich auf die richtigen Leute und Bücher hin und waren dabei mit mir und meinen naiven Missverständnissen weit nachsichtiger, als sie es mit einem Kollegen oder Doktoranden gewesen wären.

Heute gibt es dutzende, ja hunderte junger Philosophen mit einer soliden interdisziplinären Ausbildung in Kognitionswissenschaft, Neurowissenschaft und Informatik, an die man zu Recht weit höhere Anforderungen stellt als an mich damals. Einige von ihnen sind Studenten von mir oder gar deren Studenten, aber auch andere (und oft besser aus12gebildete) Philosophen meiner Generation wagten sich ins tiefe Wasser und haben nun ihre eigenen Schüler an vorderster Forschungsfront, entweder als interdisziplinäre Philosophen oder als philosophisch ausgebildete Naturwissenschaftler mit eigenen Laboren. Das sind Profis, und ich bin immer noch ein Amateur ‒ ein mittlerweile gut informierter Amateur allerdings, der Vorträge hält, an Workshops teilnimmt und Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt besuchen darf, wo ich meine Studien vertiefe und mehr Spaß habe, als bei einer akademischen Laufbahn eigentlich erlaubt ist.

Dieses Buch ist ‒ unter anderem ‒ der dankbare nachträgliche Versuch, meine Studiengebühren zu bezahlen. Es enthält das, was ich (hoffentlich) gelernt habe ‒ wenn eine Menge davon auch noch ungedeckt ist: Mutmaßung und Philosophiererei. Ich behaupte, dass es die Skizze oder das Rückgrat der momentan besten wissenschaftlichen Theorie darüber darstellt, wie unser Geist entstand, wie unsere Gehirne all ihre Wunder tun und insbesondere, wie man über Geist und Gehirn nachdenken kann, ohne in verführerische philosophische Fallen zu tappen. Natürlich ist das eine kühne Behauptung, und ich freue mich schon auf die Reaktionen von Wissenschaftlern, Philosophen und nicht zuletzt den Amateuren, die oft genug die scharfsinnigsten Kommentare beisteuern.

Viele Menschen haben mir bei meinen Büchern geholfen, doch hier möchte ich in erster Linie jenen danken, die mir mit den Ideen für dieses Buch eine Hilfe waren und selbstverständlich keine Schuld an den Fehlern tragen, die sie mir nicht ausreden konnten. Dazu gehören die Teilnehmer der Arbeitsgruppe zur kulturellen Evolution, die ich im Mai 2014 am Santa Fe Institute organisierte: Sue Blackmore, Rob Boyd, Nicolas Claidière, Joe Henrich, Olivier Morin, Pete Richerson, Peter Godfrey-Smith, Dan Sperber und Kim Sterelny. Ebenso einige andere am SFI, insbesondere Chris Wood, Tanmoy Bhattacharya, David Wolpert, Cris Moore, Murray Gell-Mann und David Krakauer. Auch Louis Godbout von der Sybilla Hesse Foundation möchte ich für seine Unterstützung des Workshops herzlich danken.

Dann sind da meine Tufts-Studenten und -Zuhörer, die im Frühling 2015 an einem Seminar teilnahmen, das frühe Fassungen der meis13ten vorliegenden Kapitel durchging: Alicia Armijo, Edward Beuchert, David Blass, Michael Dale, Yufei Du, Brendan Fleig-Goldstein, Laura Friedman, Elyssa Harris, Justis Koon, Runeko Lovell, Robert Mathai, Jonathan Moore, Savannah Pearlman, Nikolai Renedo, Tomas Ryan, Hao Wan, Chip Williams, Oliver Yang sowie Daniel Cloud, der das Seminar besuchte, um über sein neues Buch zu diskutieren. Schließlich Joan Vergés-Gifra, Eric Schliesser, Pepa Toribio, Mario Santos Sousa und der Rest der tollen Gruppe, die sich an der Universität Girona traf, an der ich im Mai eine intensive Woche als Gastdozent (Ferrater Mora Chair of Contemporary Thought) verbringen durfte. Ein weiterer Prüfstand waren Anthony Grayling sowie die Fakultät und die Studenten am New College of the Humanities in London, wo ich in den letzten vier Jahren verschiedene Fassungen meiner Gedanken ausprobierte.

Zu denjenigen, die sich mit meinen Entwürfen herumschlugen, meine Meinung änderten, meine Fehler fanden und mich zu größerer Klarheit drängten, gehören außerdem Sue Stafford, Murray Smith, Paul Oppenheim, Dale Peterson, Felipe de Brigard, Bryce Huebner, Enoch Lambert, Amber Ross, Justin Junge, Rosa Cao, Charles Rathkopf, Ronald Planer, Gill Shen, Dillon Bowen und Shawn Simpson. Weitere gute Ratschläge gaben Steve Pinker, Ray Jackendoff, David Haig, Nick Humphrey, Paul Seabright, Matt Ridley, Michael Levin, Jody Azzouni, Maarten Boudry, Krys Dolega, Frances Arnold und John Sullivan.

Wie schon bei Intuition Pumps and Other Tools for Thinking wollten die Lektoren Drake McFeely und Brendan Curry von Norton, dass ich verdeutliche, vereinfache, komprimiere, erweitere, erkläre und manchmal auch streiche. Dank ihrer Ratschläge ist das fertige Buch nun viel effektiver und aus einem Guss. John Brockman und Katinka Matson waren wie immer die perfekten Literaturagenten ‒ sie haben den Autor im In- und Ausland beraten, unterstützt, unterhalten ‒ und natürlich sein Buch an den Mann gebracht. Teresa Salvato, Programmkoordinatorin am Center for Cognitive Studies, organisiert mein akademisches Leben schon seit Jahren und hat mir dadurch tausende von Arbeitsstunden für das Schreiben und Forschen freigeschaufelt. 14Bei diesem Buch ging ihre Hilfe noch darüber hinaus, da sie Bücher und Artikel in Bibliotheken aufgespürt und das Literaturverzeichnis erstellt hat. Schließlich danke ich meiner Frau Susan, die seit über 50 Jahren mein Anker, meine Beraterin, Kritikerin und beste Freundin ist. Sie schafft es, immer genau so viel Feuer zu geben, dass der Topf durch alle Höhen und Tiefen hindurch vor sich hin köchelt, und für ihren Beitrag zu unserem Gemeinschaftsunternehmen gebührt ihr alle Anerkennung.

Daniel Dennett, North Andover, MA, 28. März 2016

Teil I:

15Unsere Welt ‒ auf den Kopf gestellt

171. Einleitung

Willkommen im Urwald

Wie kam es zu Wesen, die einen Geist besitzen? Und wie ist es möglich, dass Wesen diese Frage stellen und beantworten können? Die bündige Antwort lautet, dass der Geist sich entwickelte und Denkwerkzeuge schuf, die ihn schließlich erkennen ließen, wie der Geist sich entwickelte und sogar, wie diese Werkzeuge ihn dazu befähigten zu erkennen, was der Geist ist. Von welchen Denkwerkzeugen reden wir? Die einfachsten, von denen alle anderen auf die eine oder andere Weise abhängen, sind die gesprochenen Wörter, gefolgt von Lesen, Schreiben und Rechnen. Darauf folgen Navigation, Kartografie, das Lehrlingswesen und all die konkreten Gerätschaften, die wir zur Informationsgewinnung und -manipulation erfunden haben: Kompass, Teleskop, Mikroskop, Kamera, Computer, Internet etc. Diese wiederum bringen Technologie und Wissenschaft in unser Leben und lassen uns so viele der Dinge herausfinden, die keiner anderen Spezies bekannt sind. Wir wissen, dass es Bakterien gibt; Hunde dagegen wissen das genauso wenig wie Delfine oder Schimpansen. Nicht einmal die Bakterien haben irgendeine Ahnung davon, dass es Bakterien gibt. Unser Geist ist anders. Ohne Denkwerkzeuge lässt sich nicht verstehen, was Bakterien sind, und (bis jetzt) sind wir die einzige Spezies, die über einen größeren Bestand solcher Werkzeuge verfügt.

Das war die kurze Antwort, und in dieser sehr allgemeinen Form dürfte sie unkontrovers sein. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich jedoch einige überraschende, ja schockierende Folgerungen, die bislang weder hinreichend verstanden noch gewürdigt worden sind. Von der anfänglich reichlich banalen Annahme, wir Menschen seien physikalische, den Naturgesetzen unterworfene Gegenstände, verläuft ein gewundener Pfad durch ein Dickicht von Naturwissenschaft und Philosophie, um schließlich zu einem Verständnis unseres bewussten Geistes 18zu führen. Dieser Pfad ist übersät sowohl mit empirischen als auch begrifflichen Problemen, und es gibt zahllose Experten, die alle ihre eigene Meinung dazu haben. Seit mehr als 50 Jahren kämpfe ich mich durch diesen Dschungel, und dabei habe ich einen Weg gefunden, der uns tatsächlich ein zufriedenstellendes ‒ und sogar befriedigendes ‒ Verständnis davon erlaubt, wie der »Zauber« unseres Geistes ohne echte Zauberei zustande kommt. Es ist allerdings kein gerader oder leichter und nicht einmal der einzige Weg. Ich hoffe allerdings zu zeigen, dass es der beste und vielversprechendste Weg ist, den wir kennen. Wer ihn geht, wird einige lieb gewonnene Intuitionen aufgeben müssen, aber ich bin nun wohl endlich in der Lage, die Preisgabe dieser »offensichtlichen Wahrheiten« nicht nur erträglich, sondern sogar erfreulich zu gestalten: Wer sich den Kopf umkrempeln lässt, wird die Welt aus einer anderen, verblüffenden Perspektive sehen, auch wenn es nicht ganz ohne Schmerzen abgehen wird.

Bedeutende Denker sind seit Jahren ganz anderer Meinung als ich, und einige von ihnen werden sich auch von meinen neuesten Vorstößen nicht überzeugen lassen. Andererseits habe ich mehr und mehr Wegbegleiter, neue Belege für meine vorgeschlagenen Wegweiser und neue Weisen, die zahlreichen seltsamen Gedankenumkehrungen zu motivieren, zu denen ich sie bald auffordern werde. Manche davon werden den Lesern meiner früheren Arbeiten vertraut vorkommen, aber jene Ideen wurden ausgebessert, gestärkt und abgeändert, um mehr leisten zu können als zuvor. Meine neuen Ideen sind auf den ersten Blick ebenso kontraintuitiv wie die alten, und wer nicht den ganzen komplizierten Weg mitgeht, dem werden sie wohl auch nichts nützen, wie mich die vielen Jahre gelehrt haben, in denen ich die Leute vergeblich stückchenweise überzeugen wollte. Hier kommt eine Auflistung einiger der Gefahren (für das behagliche Denken), denen Sie auf meinem Pfad begegnen werden, und ich erwarte nicht, dass Sie alles schon beim ersten Mal »kapieren«:

 1.

Darwins seltsame Umkehrung des Denkens

 2.

Gründe ohne Begründende

 3.

Kompetenz ohne Verständnis19

 4.

Turings seltsame Umkehrung des Denkens

 5.

Information als Design, das man klauen sollte

 6.

Darwinismus bezüglich des Darwinismus

 7.

Wilde Neuronen

 8.

Wörter, die sich vermehren wollen

 9.

Die Evolution der kulturellen Evolution

10.

Humes seltsame Umkehrung des Denkens

11.

Bewusstsein als Benutzerillusion

12.

Das Zeitalter des postintelligenten Designs

»Information als Design, das man klauen sollte? Wohl noch nie von Shannons mathematischer Theorie der Information gehört?« »Wilde Neuronen? Im Gegensatz zu was ‒ zahmen Neuronen?« »Ernsthaft? Bewusstsein ist eine Illusion? Machst du Witze?«

Gäbe es nicht mehr und mehr gleichgesinnte Theoretiker, gut informierte Wissenschaftler und Philosophen, die zumindest großteils mit meiner Sichtweise übereinstimmen und viel zu ihr beigetragen haben, würde ich sicher die Nerven verlieren und zugeben, dass ich hier der vollkommen Verwirrte bin. Natürlich ist es möglich, dass wir Enthusiasten uns alle gemeinschaftlich selbst betrügen, aber schauen wir uns die Sache doch erst einmal genauer an, bevor wir ein Urteil fällen.

Mir ist bewusst, wie einfach und verlockend es ist, diese seltsamen Gedanken zu ignorieren oder ihnen keine faire Chance zu geben ‒ ich habe mir das oft selbst zuschulden kommen lassen. Diese Ideen erinnern mich an die Art von Rätseln, die im Nachhinein einen offensichtlichen Lösungsweg haben, bei dem man aber zunächst sofort denkt, »Das kann's nicht sein«, oder den man sofort verwirft, weil er so aussichtslos scheint.1 Als jemand, der andere oft beschuldigt hat, mangeln20de Vorstellungskraft mit Einsicht in notwendige Zusammenhänge zu verwechseln, sind mir meine eigenen entsprechenden Fehltritte ziemlich peinlich. Doch wo ich nun einmal auf neue Wege gestoßen bin (oder geduldig darauf gestoßen wurde), kann ich es kaum erwarten, meine neuentdeckten Lösungen der großen Rätsel des Geistes weiterzugeben. Alle zwölf gerade aufgezählten Ideen sowie das Hintergrundwissen, um sie verdaulich zu machen, werden in ungefähr dieser Reihenfolge präsentiert. »Ungefähr«, weil ich festgestellt habe, dass einige sich nicht geradewegs rechtfertigen lassen: Man kann sie nicht richtig beurteilen, bevor man sie benutzt hat ‒ aber man kann sie erst benutzen, sobald man sie beurteilen kann. Um eine solche Idee zu erfassen, ist es daher unumgänglich, sie in Teilen zu skizzieren, anschließend anzuwenden und dann wieder zu ihr zurückzukehren.

Das Buch folgt drei Gedankengängen, die Ihre Vorstellungskraft strapazieren werden:

Zunächst werden wir, Darwin und Turing folgend, unsere Welt auf den Kopf stellen,

dann die Evolution bis zum intelligenten Design entwickeln

und schließlich unseren Geist umkrempeln.

In den ersten fünf Kapiteln muss ein stabiles Fundament gelegt werden, damit unsere Vorstellungskraft im zweiten Teil nicht mehr ins Wanken gerät. Die folgenden acht Kapitel vertiefen sich in die empirischen Details der Evolution von Geist und Sprache, so, wie sie uns aus unserem neuen, umgekehrten Blickwinkel erscheinen werden. Dies erlaubt es uns, neue Fragen zu stellen und neue Antworten zu skizzieren, und bereitet so den Boden für die schwierigste Umkehrung von allen: zu erkennen, wie das Bewusstsein aus dieser neuen Perspektive erscheint.

Der Weg ist kein leichter, doch hin und wieder werde ich schon beschrittene Abschnitte noch einmal abgehen, um sicherzustellen, dass niemand auf der Strecke geblieben ist. Diejenigen, die ein Thema besser beherrschen als ich, können es entweder überspringen oder an meiner Behandlung ermessen, wie sehr sie mir bei denjenigen Themen vertrauen sollten, von denen sie nicht so viel verstehen. Fangen wir an.

21Der Weg von oben

Das Leben hatte auf diesem Planeten fast vier Milliarden Jahre lang Zeit, sich zu entwickeln. Die ersten (ungefähr) zwei Milliarden Jahre gingen für die Optimierung der grundlegenden Maschinerie drauf: Wartung, Energieaufnahme und Reproduktion. Die einzigen Lebewesen waren relativ einfache, einzellige Wesen, Prokaryoten genannt ‒ Bakterien oder deren nahe Verwandte, die Archaeen. Dann geschah etwas Erstaunliches: Zwei verschiedene Prokaryoten, jeder durch eine schon Milliarden von Jahren dauernde unabhängige Evolution mit eigenen Kompetenzen und Gewohnheiten ausgestattet, stießen zusammen. Vermutlich kam es zwar zu unzähligen Zusammenstößen dieser Art, doch (zumindest) dieses eine Mal umschloss die eine Zelle die andere, ohne sie zu zerstören und die Einzelteile als Energiequelle oder Bausubstanz zu verwenden (mit anderen Worten: sie aufzufressen). Stattdessen ließ sie sie am Leben und wurde so ‒ durch puren Zufall ‒ tüchtiger, das heißt, in relevanter Hinsicht überlebensfähiger, als sie es alleine gewesen war.

Das war vielleicht der erste geglückte Technologietransfer: zwei unterschiedliche Mengen von Kompetenzen, durch unzählige Jahre unabhängiger F&E (Forschung und Entwicklung) perfektioniert, vereint zu etwas Größerem und Besserem. Wir lesen fast täglich von Fällen, in denen Google, Amazon oder General Motors sich ein kleines Start-up einverleiben, um an dessen technologische Innovationen und Kompetenzen zu gelangen, die besser in der Garage gedeihen als in gigantischen Unternehmen. Zum ersten Mal wurde diese Taktik allerdings vor langer Zeit angewandt und sorgte damit für den ersten großen Entwicklungsschub. Zufällige Fusionen gehen nicht immer derart gut aus. Genau genommen kommt das sogar so gut wie nie vor, allerdings ist die Evolution ein Prozess, der darauf beruht, Dinge zu verstärken, die kaum jemals passieren. Mutationen der DNA beispielsweise treten fast nie auf ‒ weniger als einmal in einer Milliarde Kopiervorgängen ‒, und doch hängt die ganze Evolution davon ab. Mehr noch: Die ganz überwiegende Mehrheit der Mutationen ist entweder schädlich oder 22neutral; eine »gute« Mutation kommt so gut wie nie vor. Die Evolution aber beruht gerade auf diesem seltensten aller Ereignisse.

»Speziation« nennt man den Prozess, durch den eine neue Spezies entsteht, wenn einige Mitglieder einer Art von ihrer »Elternpopulation« räumlich und dann genetisch isoliert werden und so einen neuen Genpool bilden. Auch so etwas kommt fast nie vor, und doch ging jede einzelne der Millionen oder Milliarden von Arten auf der Erde aus einer solchen Speziation hervor. Jede Geburt in jeder Abstammungslinie kann im Prinzip zur Speziation führen, und doch geschieht das so gut wie nie, seltener als einmal bei einer Million Geburten.

Im obigen Fall hatte die seltene Verbesserung, die aus dem zufälligen Zusammenstoß von Bakterium und Archaeon resultierte, ein lebensveränderndes Nachspiel. Da es besser an die Umstände angepasst war, vermehrte sich das neue Duo erfolgreicher als seine Konkurrenz, und bei jeder Zweiteilung (die Art der Bakterien, sich zu vermehren) bekamen beide Tochterzellen auch einen Nachkommen des ursprünglichen Gastes ab. Von nun an verband sie ein gemeinsames, symbiotisches Schicksal ‒ es war eine der produktivsten Phasen der Evolutionsgeschichte. Es handelte sich um eine Endosymbiose, weil sich einer der beiden Partner buchstäblich im Innern des anderen befand, im Gegensatz zur Seite-an-Seite-Ektosymbiose von Clownfisch und Seeanemone oder von Pilz und Alge in Flechten. So entstand die eukaryotische Zelle, die aufgrund ihrer zusätzlichen Bestandteile vielseitiger als ihre simpleren prokaryotischen Vorgänger war.2 Mit der Zeit wurden diese Eukaryoten viel größer, komplexer, kompetenter, besser (das »eu« in »eukaryotisch« entspricht dem »eu« in Euphonie, Eulogie oder Eugenik ‒ es bedeutet »gut«). Eukaryoten bildeten die Grundlage für die Entstehung aller möglichen Arten von Vielzellern. Jedes mit bloßem Auge sichtbare Lebewesen ist (von ganz wenigen Aus23nahmen abgesehen) ein vielzelliger Eukaryot. Wir selbst sind Eukaryoten, genauso wie Haie, Vögel, Bäume, Pilze, Insekten, Würmer und alle anderen Pflanzen und Tiere ‒ alles direkte Nachkommen der ersten eukaryotischen Zelle.

Diese eukaryotische Revolution ebnete der »kambrischen Explosion« den Weg, einer weiteren großen Transformation, während der vor etwa 530 Millionen Jahren »urplötzlich« eine Fülle neuer Lebensformen entstand. Darauf folgte die von mir so bezeichnete MacCready-Explosion, benannt nach dem großen Paul MacCready, einem visionären Ingenieur (und Schöpfer der Gossamer Albatross und weiterer umweltfreundlicher Wunderwerke). Im Gegensatz zur kambrischen Diversifizierung, die sich über mehrere Millionen Jahre erstreckte (Gould 1989), dauerte die MacCready-Explosion nur etwa 10 ‌000 Jahre, also 500 menschliche Generationen. MacCreadys Berechnungen zufolge (1999) machte die menschliche Bevölkerung zu Beginn der landwirtschaftlichen Revolution vor 10 ‌000 Jahren zusammen mit Vieh und Haustieren gerade einmal rund 0,1 % der Biomasse der Landwirbeltiere aus (Insekten und andere Wirbellose sowie alle Meerestiere sind hier also ausgenommen), doch heute sind es seiner Schätzung nach 98 %! (Wovon die Nutztiere den Löwenanteil ausmachen.) MacCreadys Überlegungen zu dieser erstaunlichen Entwicklung sind ein Zitat wert:

Milliarden Jahre brauchte der Maler Zufall, um einen einzigen Globus mit einer dünnen Schicht von Leben zu überziehen ‒ komplex, unwahrscheinlich, wunderbar und verletzlich. Plötzlich haben wir Menschen […] unsere Zahl, Technologie und Intelligenz ins Schreckliche gesteigert: Jetzt schwingen wir den Pinsel. (1999, S. 19)

Die Erde hat noch andere, relativ plötzliche Veränderungen durchgemacht, zum Beispiel ein Massensterben wie die Kreide-Paläogen-Grenze, die vor etwa 66 Millionen Jahren den Dinosauriern den Garaus machte. Die MacCready-Explosion ist aber sicherlich eine der schnellsten großen biologischen Umwälzungen aller Zeiten. Außerdem ist sie immer noch im Gange und läuft schneller und schneller ab. Wir kön24nen den Planeten retten oder alles Leben auf ihm vernichten, während keine andere Spezies sich das auch nur vorzustellen vermag. Es mag offensichtlich erscheinen, dass die Reihenfolge von MacCreadys drei Faktoren ‒ Bevölkerung, Technologie und Intelligenz ‒ umgedreht werden sollte: Erst ersann unsere menschliche Intelligenz die Technologie (einschließlich der Landwirtschaft), die dann zum raschen Bevölkerungswachstum führte. Wir werden jedoch sehen, dass die Evolution meist aus ineinander verschlungenen, koevolutionären Schleifen und Windungen besteht: Unsere sogenannte natürliche Intelligenz beruht überraschenderweise sowohl auf unserer Technologie als auch auf unserer Anzahl.

Der menschliche Geist ist auffallend anders als derjenige aller anderen Tierarten, denen er an Leistungskraft und Vielseitigkeit um ein Mehrfaches überlegen ist. Mittlerweile beginnt sich die ausführliche Antwort darauf abzuzeichnen, wie es dazu kam. Von dem britischen Biologen D'Arcy Thompson (1917) gibt es einen berühmten Ausspruch: »Alles ist, wie es ist, weil es so geworden ist.« Viele der Rätsel (oder »Mysterien« oder »Paradoxien«) des menschlichen Bewusstseins lösen sich in Luft auf, sobald man fragt, wie es überhaupt entstehen konnte ‒ und dann versucht, diese Frage wirklich zu beantworten! Ich erwähne das, weil manche Leute staunend vor dieser Frage stehen und sie dann »beantworten«, indem sie sagen: »Es wird auf ewig ein Rätsel bleiben!« oder: »Gott hat das getan!« Letzten Endes könnten sie natürlich Recht behalten, doch angesichts der vielen fabelhaften Denkwerkzeuge, die wir erst so kurz in Gebrauch haben, sollten wir noch nicht die Waffen strecken. Vielleicht sind diese Leute jedoch nicht pessimistisch, sondern bauen nur vor. So mancher möchte seinen neugierigeren Nachbarn davon abhalten, seine geliebten Mysterien zu entzaubern; er hat vielleicht noch nicht verstanden, dass ein gelüftetes Geheimnis noch hinreißender ist als eine ignorante Fantasievorstellung. Es gibt allerdings auch jene, die sich wissenschaftliche Erklärungen genau angesehen haben und anderer Meinung bleiben: Für ihren Geschmack sind antike Mythen von himmlischen Streitwagen, kriegerischen Göttern, Welten, die aus Schlangeneiern schlüpfen, Zaubersprüchen und verzauberten Gärten wunderbarer und interessanter als jede 25rigorose, prognostische wissenschaftliche Herangehensweise. Man kann es nicht jedem recht machen.

Diese Vorliebe für das Geheimnisvolle ist nur eines der großen Hindernisse, die unserer Vorstellung bei der Beantwortung der Frage, wie der Geist entstand, im Weg stehen. Ich habe Sie ja schon vorgewarnt, dass wir dazu einige Runden drehen müssen: Wir werden zu anfangs aufgeschobenen Fragen zurückkehren, die sich erst klären lassen, sobald wir das nötige Hintergrundwissen haben, für welches wir bestimmte Werkzeuge benötigen, denen wir erst vertrauen können, wenn wir wissen, woher sie stammen ‒ ein Kreislauf, der schrittweise ein Bild zeichnet, das erst überzeugt, wenn wir einen Punkt erreicht haben, von dem aus wir zurückblicken und erkennen können, wie alles zusammenpasst.

Douglas Hofstadters Buch I Am a Strange Loop (2007; dt. Ich bin eine seltsame Schleife, 2007) beschreibt einen Geist, der sich selbst aus zyklischen Prozessen zusammensetzt, die schlingern, mäandern, zu sich selbst zurückkehren und dabei übersprudelnde Reaktionen auf Reflexionen auf Reminiszenzen auf Reevaluationen schaffen, die zu neuartigen Strukturen führen: Ideen, Fantasien, Theorien und ja, Denkwerkzeugen, um noch mehr von alldem zu machen. Lesen Sie es; es wird mit Ihrer Vorstellungskraft Schlitten fahren und Ihnen eine Menge überraschender Wahrheiten eröffnen. Meine eigene Erzählung handelt von dem größeren seltsamen Schleifenprozess (bestehend aus Prozessen von Prozessen), der einen Geist wie den von Hofstadter (oder Bach oder Darwin) aus bloßen Molekülen (bestehend aus Atomen, bestehend aus …) erschaffen hat. Da es um einen Kreisprozess geht, müssen wir irgendwo in der Mitte anfangen und dann einige Runden drehen. Unsere Aufgabe ist allerdings schwieriger als die wissenschaftliche Erklärung anderer Prozesse (etwa in der Kosmologie, Geologie, Biologie oder Geschichtswissenschaft), denn in diesem Fall sind den Menschen die Fragen so wichtig, dass es ihnen kaum gelingt, manche möglichen Antworten überhaupt ernsthaft in Betracht zu ziehen.

Einige Leser mögen beispielsweise gerade schon den Kopf geschüttelt haben, als ich behauptete, der menschliche Geist sei auffallend anders als derjenige aller übrigen Tiere, nämlich deutlich leistungsstärker 26und vielseitiger. Bin ich wirklich dermaßen voreingenommen? Bin ich ein »Spezies-Chauvinist«? Glaube ich tatsächlich, der menschliche Geist wäre so viel wunderbarer als derjenige von Delfinen, Elefanten, Krähen, Bonobos und den übrigen schlauen Tieren, deren kognitive Fähigkeiten erst kürzlich entdeckt und gefeiert wurden? Ist das kein offensichtlicher Trugschluss einer »menschlichen Sonderstellung«? Manche Leser dürften bereits versucht sein, das Buch in die Ecke zu feuern, andere hat meine politisch unkorrekte Aussage vermutlich nur etwas verunsichert. Ich zumindest finde es amüsant, dass der Streit um die menschliche Einzigartigkeit bei Gegnern wie Befürwortern gleichermaßen für Empörung sorgt. Einige Wissenschaftler und viele Tierfreunde beklagen eine solche Annahme als intellektuelle Sünde der schlimmsten Art, ein wissenschaftlich überholtes, scheußliches Überbleibsel der schlechten alten Zeiten, zu denen man glaubte, alle »dummen« Tiere seien nur zu unserem Nutzen und Vergnügen da. Das menschliche Gehirn besteht aus den gleichen Neuronen wie das der Vögel, so sagen sie, und einige Tiergehirne sind genauso groß (und auf ihre Art genauso klug) wie die unseren. Je mehr man über die tatsächlichen Lebensumstände und Verhaltensweisen wilder Tiere herausfindet, desto mehr lernt man ihren Scharfsinn zu schätzen. Andere Denker, insbesondere Geistes- und Sozialwissenschaftler, halten die Leugnung der menschlichen Einzigartigkeit für kurzsichtig und dogmatisch, ein Szientismus schlimmster Sorte: Natürlich ist unser Geist um mehrere Größenordnungen mächtiger als der des schlausten Tieres! Kein Tier schafft Kunstwerke, schreibt Gedichte, stellt wissenschaftliche Theorien auf, baut Raumschiffe, befährt die Weltmeere oder ist auch nur zum Feuermachen fähig. Was die Gegenfrage provoziert: Wie steht es mit den elegant dekorierten Lauben der Laubenvögel, den politischen Ränken der Schimpansen, dem Orientierungssinn der Wale, Elefanten und Zugvögel, dem virtuosen Gesang der Nachtigall oder der Sprache der Grünen Meerkatzen oder gar der Bienen? Worauf man wiederum zu hören bekommt, dass diese Leistungen im Vergleich zum Genie menschlicher Künstler, Ingenieure und Wissenschaftler äußerst dürftig ausfallen. Vor einigen Jahren prägte ich die Begriffe Romantiker und Spielverderber für die beiden Seiten des Disputs um die Intelligenz 27von Tieren.3 Eine meiner liebsten Erinnerungen in diesem bipolaren Streit stammt von einem internationalen wissenschaftlichen Workshop zum Thema, denn ein angesehener Forscher schaffte es dort tatsächlich, beide Positionen mit gleicher Leidenschaft zu vertreten: »Ha! Ihr denkt, Insekten sind dumm! Ich zeig euch jetzt mal, wie schlau sie sind. Seht euch dieses Ergebnis an …!« Und später, am gleichen Tag: »Ihr denkt also, Bienen sind schlau? Ich zeig euch, wie dumm sie wirklich sind! Das sind hirnlose kleine Roboter!«

Nur die Ruhe! Wir werden sehen, dass beide Seiten mit einigen Dingen Recht und mit anderem Unrecht haben. Wir sind nicht die gottgleichen Genies, für die wir uns manchmal halten, aber Tiere sind auch nicht so furchtbar schlau. Alle Tiere (uns eingeschlossen) sind allerdings geistig hervorragend auf viele der Herausforderungen vorbereitet, vor die eine harte und oft grausame Welt sie stellt. Unsere menschlichen Gehirne sind aber auf eine Weise einzigartig, die wir verstehen können, sobald uns klar wird, wie sie so geworden sind.

Warum ist uns das so wichtig? Das ist eine der vielen Fragen, die wir beantworten müssen, doch hier erst einmal nur die gröbsten Züge: Obwohl die Prozesse, auf denen unser Interesse beruht, tausende ‒ und in einigen Hinsichten sogar Millionen oder Milliarden ‒ von Jahren zurückreichen, wurden sie erst zu einem Thema, einem Objekt des Interesses und Nachdenkens, als das 17. Jahrhundert die moderne Wissenschaft gebar. Daher steige ich an jener Stelle in den Ring und beginne mit dieser Version meiner Geschichte.

28Die kartesische Wunde

Si, abbiamo un anima. Ma é fatta di tanti piccoli robot!(Ja, wir haben eine Seele, aber sie besteht aus vielen kleinen Robotern!)

– Titel eines Interviews, das Giulio Giorello mit mir führte, erschienen im Corriere della Serra, Mailand, 1997

Der im 17. Jahrhundert lebende französische Philosoph und Wissenschaftler René Descartes war von seinem eigenen Geist äußerst beeindruckt (und das nicht ganz zu Unrecht). Er nannte ihn res cogitans ‒ denkendes Ding ‒, und bei genauerer Überlegung schien er ihm eine ganz erstaunliche Sache zu sein. Wenn irgendwer das Recht hatte, vor seinem eigenen Geist in Ehrfurcht zu erstarren, dann wohl Descartes. Zweifellos einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten, leistete er bedeutende Beiträge zur Mathematik, Optik, Physik und Physiologie. Zudem erfand er eines der wertvollsten Denkwerkzeuge aller Zeiten, das »kartesische Koordinatensystem«, das eine Übersetzung zwischen Geometrie und Algebra ermöglicht, der Analysis den Weg bahnte und uns so gut wie alles darstellen lässt, was wir untersuchen wollen, vom Bevölkerungswachstum der Erdferkel bis zu Termingeschäften mit Edelmetallen. Descartes legte als Erster eine Theorie von allem (theory of everything oder TOE ‌) vor, ein Vorläufer der Großen Vereinheitlichten Theorie der Physik, und veröffentlichte sie unter dem unbescheidenen Namen Le Monde (DieWelt). Sie sollte alles erklären können, von den Umlaufbahnen der Planeten und der Natur des Lichts bis zu den Gezeiten, von den Vulkanen bis zu den Magneten, warum Wassertropfen rund sind, wieso ein Feuerstein Funken schlägt und noch viel, viel mehr. So gut wie nichts davon ist wahr, und dennoch ist die Theorie überraschend kohärent und wirkt selbst heute noch merkwürdig plausibel. Erst Sir Isaac Newton entwickelte eine bessere Physik; seine berühmten Prinzipien sind eine explizite Widerlegung von Descartes.

Dieser hielt allerdings nicht nur seinen eigenen Geist für etwas Wunderbares; er glaubte, dass jeder normale menschliche Geist zu Din29gen fähig ist, die kein bloßes Tier tun kann, Dinge, die außerhalb der Reichweite jedes noch so komplizierten Mechanismus liegen. So kam er zu dem Schluss, dass ein Geist wie der seine (und der Ihre) keine materielle Entität wie eine Lunge oder ein Gehirn sein kann, sondern aus einer zweiten Art von Stoff bestehen muss, der nicht den Naturgesetzen unterliegt ‒ eine Sichtweise, die Dualismus bzw. oft auch kartesischer Dualismus genannt wird. Auf den Gedanken, dass Geist keine Materie ist und Materie kein Geist sein kann, kam Descartes nicht als Erster; jahrtausendelang schien es auch nach einiger Überlegung noch offensichtlich zu sein, dass unser Geist nicht zum Mobiliar der »Außenwelt« gehört. Die Doktrin, dass jeder von uns eine immaterielle (und unsterbliche) Seele hat, die im Körper wohnt unddiesen steuert, war dank der kirchlichen Lehren lange Zeit selbstverständlich. Gleichwohl war es Descartes, der diese von allen geteilte Hintergrundüberzeugung zu einer positiven »Theorie« verfeinerte: Der immaterielle Geist, das bewusste denkende Ding, das wir aus eigener Anschauung so gut kennen, steht irgendwie mit dem materiellen Gehirn in Verbindung, das zwar den ganzen Input, aber wederVerständnis noch Erfahrung beisteuert.

Schon seit Descartes wird der Dualismus von dem gleichen Problem geplagt: Niemand hat jemals überzeugend darlegen können, wie die postulierte zweigleisige Verbindung zwischen Geist und Körper bestehen kann, ohne die Naturgesetze zu brechen. Die heutigen Proponenten lassen uns die Wahl zwischen einer wissenschaftlichen Revolution, die so radikal ist, dass man sie nicht in Worte fassen kann (sehr praktisch, da ihre potentiellen Kritiker schon bereitstehen), oder der Feststellung, dass mache Dinge eben unerklärlich und jenseits unseres Vorstellungsvermögens bleiben müssen (wiederum sehr praktisch, wenn man keine genauen Vorstellungen hat und auch nicht weiter ausgefragt werden möchte). Doch selbst wenn man den Dualismus als Klippe ansieht, von der man seine Gegner stößt (wie ich vor Jahren einmal bemerkte), so haben die oben Gebliebenen doch noch die Herkulesarbeit vor sich, die Theorie von allen versteckten Dualismen zu säubern. Um die Frage der geheimnisvollen Verbindung zwischen »Geist und Materie« streiten Wissenschaftler und Philosophen seit dem 17. Jahrhundert.

30Francis Crick, der kürzlich verstorbene Mitentdecker der DNA-Struktur, war ebenfalls einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten. In seinem letzten großen Buch, The Astonishing Hypothesis. The Scientific Search for the Soul (1994; dt. Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins, 1994), behauptete er, der Dualismus sei falsch; der Geist ist schlicht und einfach das Gehirn, ein materielles Organ ohne mysteriöse zusätzliche Eigenschaften, die anderen Lebewesen fehlen. Er war keinesfalls der Erste, der den Dualismus leugnete; den größten Teil der letzten hundert Jahre waren die meisten ‒ wenn auch nicht alle ‒ Naturwissenschaftler und Philosophen dieser Ansicht. Genau genommen hatten viele von uns Materialisten sogar Probleme mit dem Titel seines Buches. Die »Hypothese« war keineswegs erstaunlich, sondern lag unseren Arbeiten ja schon seit Jahrzehnten zu Grunde! Erstaunlich wäre es, sie zu bestreiten ‒ das wäre so, als würde man zu hören bekommen, dass Gold nicht aus Atomen besteht oder dass das Fallgesetz auf dem Mars nicht gilt. Warum sollte irgendjemand erwarten, dass gerade das Bewusstsein von ganz anderer Art ist als alles andere im Universum, wo wir doch sogar das Leben und die Fortpflanzung in physikalisch-chemischen Begriffen fassen können? Aber Crick schrieb sein Buch nicht für Wissenschaftler und Philosophen, sondern für Laien, da er wusste, dass der Dualismus auf diese nach wir vor einen fast unwiderstehlichen Eindruck macht. Für den Laien ist es offensichtlich, dass seine privaten Gedanken und Erfahrungen sich nicht nur in den neuronalen Mustern vollziehen, die die Wissenschaft im Gehirn entdeckt hat, sondern zusätzlich noch in einem anderen Medium. Außerdem scheint es schreckliche Folgen zu haben, den Dualismus zu leugnen: Wenn »wir nur Maschinen sind«, wo bleiben dann Willensfreiheit und Verantwortung? Wie soll unser Leben irgendeinen Sinn haben, falls wir bloß riesige Haufen von Proteinen und anderen Molekülen sind, die nach den Gesetzen der Chemie und Physik herumschwirren? Wenn die Gebote der Moral uns einfach von den unzähligen mikrobiologischen Nano-Maschinen zwischen unseren Ohren eingegeben werden, wieso sollte man sie dann befolgen?

Crick tat sein Bestes, um dem Laien »die erstaunliche Hypothese« 31nicht nur verständlich, sondern auch schmackhaft zu machen, doch selbst sein klarer, mitreißender Stil und seine beispiellose Gravitas nützten wenig. Ich denke, dass er trotz seines lauten Buchtitels den emotionalen Widerstand unterschätzt hat, den dieser Gedanke hervorruft. Crick hatte viel Talent dafür, Nichtwissenschaftlern die Wissenschaft nahezubringen, doch in diesem Fall geht es nicht darum, das Interesse von eingeschüchterten und leicht verwirrten Menschen zu wecken, sie bei der Stange zu halten und ihnen nebenbei noch ein bisschen Mathe einzutrichtern. Sobald es ums Bewusstsein geht, steht man vor der schwierigen Aufgabe, die Ängste und Verdächtigungen der Leute ‒ darunter viele Naturwissenschaftler ‒ einzudämmen, bevor sie die Fakten verdrehen und jede auch nur entfernt bedrohlich aussehende Idee vorsorglich direkt ablehnen können. Außerdem fühlt sich bei diesem Thema jeder zum Experten berufen. Niemand hat ein Problem damit, sich über die chemischen Eigenschaften von Kalzium oder die mikrobiologischen Details einer Krebserkrankung belehren zu lassen. Geht es allerdings um die Natur ihrer eigenen bewussten Erfahrungen, dann glauben alle, über eine bestimmte persönliche Autorität zu verfügen, die jede unliebsame Hypothese widerlegen kann.

Crick steht nicht allein da. Viele andere haben versucht, die »kartesische Wunde« zu schließen, die »seit Anbeginn der modernen Wissenschaft zwischen Geist und Körper klafft«, wie es einer der Besten von ihnen, Terrence Deacon (2011, S. 544), formuliert hat. Ihre Bemühungen sind oft faszinierend, informativ und schlüssig, und doch war bislang niemand gänzlich überzeugend. Ich selbst habe dem Versuch ein halbes Jahrhundert gewidmet, meine gesamte Karriere. In einem Dutzend Büchern und hunderten von Aufsätzen habe ich verschiedene Teile des Puzzles hin und her geschoben, ohne allzu viele Leser von einem misstrauischen Agnostizismus zu einer felsenfesten Überzeugung bekehren zu können. Unbeirrt versuche ich es einmal mehr, und dieses Mal nehme ich mir das ganze Puzzle vor.

Warum ich denke, dass es sich lohnt? Erstens haben wir in den letzten 20 Jahren enorme wissenschaftliche Fortschritte gemacht, und was früher nur vage Vermutung war, kann jetzt häufig als gut belegt gelten. Ich habe vor, mich stark auf die Fülle experimenteller und theoreti32scher Arbeiten zu stützen, die andere in der letzten Zeit beisteuerten. Zum Zweiten glaube ich, heute ein besseres Gefühl für die verschiedenen unterschwelligen Widerstände zu haben, die unsere Vorstellungskraft hemmen. Ich plane, sie im Folgenden ans Licht zu holen und zu entkräften, sodass die Zweifler die Möglichkeit einer wissenschaftlichen, materialistischen Theorie ihres eigenen Geistes erstmals ernstnehmen können.

Kartesische Gravitation

Im Lauf der Jahre ‒ nach vielen Schlachten an vielen Fronten ‒ ist mir allmählich klar geworden, dass hier starke Kräfte am Werk sind, die unser aller Vorstellung verzerren und uns mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung lenken. Sobald Sie sich diese Kräfte ebenfalls bewusst machen, werden die Dinge plötzlich anfangen, in einem neuen Licht zu erscheinen. Sobald Sie die an Ihnen zerrenden Kräfte identifiziert haben, können Sie Alarmglocken und Stoßdämpfer einsetzen, um sich effektiv zu schützen und die Kräfte dann sogar zu nutzen, denn diese verzerren Ihr Denken nicht nur, sondern können es auch in ganz neue Sphären katapultieren.

Vor über 30 Jahren sah ich in einer kalten, sternklaren Nacht mit einigen meiner Studenten zum Himmel auf. Ein Freund von mir, der Wissenschaftstheoretiker Paul Churchland, zeigte uns, wie man die Ebene der Ekliptik sehen kann, das heißt, wie man die anderen sichtbaren Planeten am Himmel betrachtet und sich dann vorstellt, wie sie ‒ und wir selbst ‒ alle auf der gleichen unsichtbaren Ebene um die Sonne kreisen. Es hilft, wenn man den Kopf ein wenig neigt und sich daran erinnert, wo die Sonne stehen muss: sehr weit hinter einem. Ganz plötzlich orientiert man sich um und voilà, man sieht es!4 Natürlich war uns allen seit vielen Jahren klar, dass dies unser Platz im Son33nensystem ist, doch bis Paul es uns sehen ließ, konnten wir mit diesem Wissen wenig anfangen. Von seinem Beispiel inspiriert, werde ich Ihnen bald einige Erfahrungen bescheren, die Ihnen hoffentlich die Augen (oder besser gesagt: den Geist) für einige neue und wunderbare Dinge öffnen werden.

Der ursprünglichsten Störkraft habe ich den Namen kartesische Gravitation gegeben. Sie ist auch die Grundlage mehrerer weiterer Kräfte, denen ich Sie in unterschiedlichen Formen wieder und wieder aussetzen werde, bis Sie auch diese deutlich vor Augen haben. Ihre »sichtbarsten« Manifestationen sind fast jedem vertraut ‒ in der Tat schon zu vertraut, was zu dem Glauben verführen kann, sie bereits durchschaut zu haben. Wir unterschätzen sie und müssen hinter und über sie hinaus schauen lernen, um zu erkennen, wie sie unser Denken formen.

Sehen wir uns dazu noch einmal Cricks »erstaunliche Hypothese« an. Wer darauf beharrt, dass an ihr eigentlich gar nichts erstaunlich ist, erinnert gern an die ehrfurchtgebietende Fülle an gelösten Rätseln, gemachten Entdeckungen und bestätigten Theorien der modernen, materialistischen Naturwissenschaft, die uns heute alle schon selbstverständlich vorkommen. Eigentlich ist es wirklich unglaublich, wie viel wir in den paar Jahrhunderten seit Descartes schon herausbekommen haben. Wir wissen, wie Atome aufgebaut sind, wie chemische Elemente interagieren, wie Pflanzen und Tiere sich vermehren, wie mikroskopisch kleine Krankheitserreger gedeihen und sich verbreiten, wie die Kontinente sich verschieben, wie Wirbelstürme entstehen und noch viel, viel mehr. Wir wissen, dass unser Gehirn aus den gleichen Zutaten besteht wie all die anderen Dinge, die wir erklären können, und wir wissen, dass die Reihe unserer Vorfahren bis zum Anbeginn des Lebens zurückreicht. Wenn wir die Reparaturmechanismen in Bakterien, die Atmung bei Kaulquappen und die Verdauung von Elefanten erklären können, warum sollte dann nicht auch das bewusste Denken des Homosapiens seine Geheimnisse diesem sich immer weiter optimierenden Moloch Wissenschaft offenbaren?

Das war eine rhetorische Frage, und es ist eine nützliche Angewohnheit, sich rhetorischen Fragen wirklich zu stellen, statt sich von ihnen 34einschüchtern zu lassen. Ist es möglich, dass das Bewusstsein schwieriger zu durchdringen ist als Reparaturmechanismen, Atmung oder Verdauung? Und wenn ja, warum? Vielleicht, weil es so anders zu sein scheint ‒ es scheint jedem von uns auf eine Weise persönlich zugänglich zu sein wie kein anderes Phänomen unseres Körpers. Heutzutage ist es relativ leicht vorstellbar, wie die Atmung in groben Zügen funktioniert: Man atmet die aus verschiedenen Gasen bestehende Luft ein, und dann atmet man das aus, was man nicht nutzen kann ‒ Kohlendioxid, wie die meisten von uns wissen. Auf irgendeine Art müssen die Lungen das Benötigte (den Sauerstoff) herausfiltern und das Abfallprodukt (das Kohlendioxid) ausstoßen. Im Großen und Ganzen nicht schwer zu verstehen. An einem Keks zu riechen und sich daraufhin urplötzlich an ein Ereignis aus der Kindheit zu erinnern ‒ daran scheint hingegen überhaupt nichts Mechanisches zu sein. »Bau mir eine Nostalgie-Maschine!« »Was? Was sollten die Einzelteile überhaupt tun?« Selbst die eingefleischtesten Materialisten werden zugeben müssen, nur eine nebulöse und programmatische Idee davon zu haben, wie die Hirnaktivität zu Dingen wie Nostalgie, Schwermut oder unersättlicher Neugier führt.

Weniger eine erstaunliche als eine sprachlos machende Hypothese, zu der man nur mit den Schultern zucken und auf das Beste hoffen kann. Dennoch ist es eine Position, in der man es sich gemütlich machen kann; es ist verlockend, der Gegenseite ‒ den selbsternannten Rettern des Bewusstseins vor der Wissenschaft ‒ das eine oder andere schmähliche Versagen zu attestieren: Narzissmus (»Meinen herrlichen Geist kriegt die Wissenschaft nicht!«); Angst (»Wenn mein Geist nichts ist als mein Gehirn, dann habe ich nichts mehr zu melden und das Leben hat gar keinen Sinn!«); oder Verachtung (»Diese einfältigen szientistischen Reduktionisten! Haben keinen Schimmer, worauf es in der Welt wirklich ankommt!«).

Häufig sind diese Diagnosen gerechtfertigt. Viele der Verteidiger des wahren Glaubens reden genau solches Zeug; was sie dazu bringt, ist jedoch nicht so leicht abzutun. Diejenigen, die Cricks Hypothese nicht nur erstaunlich, sondern auch zutiefst anstößig finden, sind etwas Wichtigem auf der Spur, und es gibt nicht wenige antidualistische Phi35losophen und Wissenschaftler, denen der Materialismus noch nicht behagt und die deshalb einen Mittelweg zu einer Wissenschaft vom Bewusstsein suchen. Leider tendieren sie dazu, dieses falsch zu charakterisieren und etwas äußerst Tiefgründiges und Metaphysisches aus ihm zu machen.5

Sie gehen dabei einer bestimmten Denkweise auf den Leim, einer überlernten Gewohnheit, die so tiefe Wurzeln in unserer Psyche geschlagen hat, dass es buchstäblich undenkbar wird, sich dagegen aufzulehnen oder sie aufzugeben. Ein Zeichen dafür ist, dass ihre selbstsichere wissenschaftliche Haltung zu bröckeln beginnt, je näher sie bestimmten Bewusstseinsfragen kommen. Schon bald ertappen sich die Wissenschaftler dabei, unwillkürlich die Perspektive der Verteidiger des Bewusstseins zu übernehmen. Für den Anfang werde ich diesen dynamischen Prozess metaphorisch beschreiben, um dann mithilfe dieses simplen Grundgerüsts ein weniger metaphorisches, expliziteres und angemesseneres Verständnis davon zu entwickeln.

Angenommen, die Geisteserklärerin in spe beginnt bei ihrem eigenen Geist. Sie ist bei sich zuhause, auf dem Planeten Descartes, denkt über die vor ihr liegende Aufgabe nach und sieht das externe Universum aus der »Sicht der Ersten Person«. An diesem Punkt stützt sie sich auf all das ihr vertraute Mobiliar ihres Geistes, um nicht die Orientierung zu verlieren. Es ist die kartesische Gravitation, die sie an diese egozentrische »Innenperspektive« bindet. Im Stillen könnte sie ungefähr das Gleiche wie Descartes denken: »Hier bin ich, ein bewusstes, denkendes Ding, bestens vertraut mit meinen eigenen Gedanken, die ich genauer kenne als jeder andere, weil es eben meine sind.« Sie kann gar nicht anders, als ihr Zuhause zu verteidigen. Von weit her nähert sich währenddessen die wissenschaftliche Erforscherin des Be36wusstseins dem Planeten ‒ selbstgewiss, bewaffnet mit Instrumenten, Karten, Modellen und Theorien, bereit zur Eroberung. Je näher sie kommt, desto unwohler wird ihr allerdings; unwiderstehlich zwingt sie eine Kraft auf eine ungewollte Bahn. Als sie auf dem Planeten landet, findet sie sich plötzlich in der Erste-Person-Perspektive wieder. Jetzt hat sie zwar festen Boden unter den Füßen, doch schafft sie es irgendwie nicht mehr, an ihre Werkzeuge zu kommen, um ihr ursprüngliches Ziel zu erreichen. Kaum jemand kann der kartesischen Gravitation widerstehen, wenn er der Oberfläche des Planeten so nahe kommt. Aber wie ist sie da hingekommen, und was geschah während dieses verwirrenden letzten Moments der Umkehrung? (Seltsame Umkehrungen werden in diesem Buch noch eine wichtige Rolle spielen.) Es scheint zwei konkurrierende Standpunkte zu geben, die Erste-Person-Perspektive der Verteidiger und die Dritte-Person-Perspektive der Wissenschaftler, ganz so, wie es zwei Sichtweisen auf die beiden Lieblingsillusionen der Philosophen gibt, den Hase-Enten-Kopf und den Neckerwürfel. Es ist unmöglich, beide Standpunkte zugleich einzunehmen.

Das von der kartesischen Gravitation verursachte Problem wird auch als »Erklärungslücke« (Levine 1983) bezeichnet, doch die so verhandelten Fragen halte ich für weitgehend fruchtlos, da die Beteiligten glauben, es hier mit einem Abgrund statt mit einem Defekt ihres Denkens zu tun zu haben. Entdeckt haben sie diese »Lücke« vielleicht, jedoch sehen sie nicht, worum es sich dabei wirklich handelt, weil sie nicht fragen, »wie sie dazu geworden ist«. Indem wir die Lücke anders verstehen ‒ als einen dynamischen Vorstellungsverzerrer, der aus guten Gründen entstand ‒, können wir lernen, sie gefahrlos zu überbrücken bzw. zum Verschwinden zu bringen (was auf dasselbe hinauslaufen dürfte).

Anders als die richtige Schwerkraft wirkt die kartesische Gravitation auf Dinge nicht proportional zu deren Masse und Entfernung zu anderen Dingen; sie wirkt auf Vorstellungen oder Repräsentationen von Dingen, und zwar proportional zu deren inhaltlicher Nähe zu gewissen anderen Vorstellungen, die eine privilegierte Rolle bei der Instandhaltung eines Lebewesens spielen. (Was das bedeutet, wird hoffentlich 37nach und nach klar werden, bis wir schließlich diese metaphorische Sprechweise ganz hinter uns lassen können ‒ wie eine einmal erklommene Leiter, die dann nicht mehr von Nutzen ist.) Die Vorstellung der kartesischen Gravitation ist bislang nur eine Metapher, doch das dahinterstehende Phänomen ist vollkommen real. Es handelt sich dabei um eine störende Kraft, die unser Denken verhext (und manchmal auch befördert) und die im Gegensatz zur Schwerkraft selbst etwas ist, das sich erst entwickeln musste. Um sie zu begreifen, müssen wir uns fragen, wie und warum sie auf der Erde entstand.

Abb. 1.1: Hase-Enten-Kopf.

Zur Beantwortung dieser Frage werde ich die gleiche Entwicklungsgeschichte mehrmals erzählen, dabei aber jeweils andere Schwerpunkte setzen. Oft genug unterschätzen wir die unsere Vorstellungen verfälschenden Einflüsse, insbesondere, wenn es um unvereinbare und »unbestreitbare« Einsichten geht. Es ist nicht so, dass wir sie nicht bestreiten können; wir tun es bloß faktisch nicht, ja, wir versuchen es nicht einmal. 38Wir werden uns zunächst an offensichtlicheren Einflüssen versuchen ‒ Speziesismus, die menschliche Einzigartigkeit, Sexismus ‒, um so unseren Blick für die subtileren Kräfte zu schärfen, die in uns am Werk sind. Im nächsten Kapitel wende ich mich kurz den allerersten Anfängen des irdischen Lebens zu, werfe einen ersten groben Blick auf das Kommende und wehre einen ersten Einwand ab, der dem Leser (vermutlich) sogleich in den Sinn kommen wird. Ich verstehe Evolutionsprozesse dabei als Design- oder Gestaltungsprozesse (bzw. Forschungs- und Entwicklungsprozesse, F&E). Eine solche adaptionistische oder rekonstruktive Perspektive steht zwar seit langem unter falschem Verdacht, doch wie sich zeigen wird, erfreut sie sich in der Evolutionsbiologie bester Gesundheit.

Abb. 1.2: Neckerwürfel.

392. Vor den Bakterien und Bach

Warum Bach?

Um unsere Geschichte richtig in den Blick nehmen zu können, werden wir in eine Zeit zurückgehen müssen, zu der es weder Bakterien noch irgendeine andere Art von Leben gab. Einige der Grundvoraussetzungen für die Entstehung von Leben sind nämlich noch heute, Milliarden Jahre später, für die Erklärung unseres eigenen Geistes von Bedeutung. Doch davor möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch auf ein bestimmtes Wort lenken: »Bach«. Ich hätte mich auch auch für Von den Archaeen zu Shakespeare oder Von E. coli zu Einstein oder vielleicht für Von den Prokaryoten zu Picasso entscheiden können, doch letztlich war die Alliteration Bakterien zu Bach einfach unwiderstehlich.

Kaum zu übersehen ist allerdings, dass alle gerade genannten Kandidaten in meinem Pantheon der großen Geister Männer waren. Was für ein Fehlstart! Will ich viele meiner Leserinnen und Leser jetzt schon vergraulen? Was habe ich mir dabei nur gedacht? Das war Absicht. Es ging mir darum, ein relativ harmloses und einfaches Beispiel einer Art der kartesischen Gravitation zu geben, mit der wir es zu tun bekommen werden. Falls Ihnen angesichts meines rein männlichen Genievereins die Haare zu Berge stehen: Gut so, denn dann werden Sie nicht vergessen, dass ich Ihre Geduld jetzt strapaziere und Sie im Lauf des Buches dafür entschädigen muss. Gänsehaut ist (wie jede starke emotionale Reaktion von der Furcht bis zum Vergnügen) sozusagen eine Gedächtnisstütze, die einem hilft, den problematischen Punkt besser in Erinnerung zu behalten. Zum jetzigen Zeitpunkt bitte ich Sie allerdings, von Vergeltungsschlägen abzusehen. Auf unserer ganzen Reise werden wir unbequemen Tatsachen begegnen, ohne uns direkt an Erklärungen oder Widerlegungsversuche machen zu können. Obwohl ich Leser liebe, die nicht nur aufmerksam, sondern mir auch einige Schritte voraus sind, bitte ich Sie in diesem Fall doch, aus- ‒ oder wenn Sie so wollen, 40mich um Kopf und Kragen ‒ reden zu dürfen, bevor sie meine ruhigen, möglichst objektiven Darlegungen aufgrund böser Vorahnungen durchkreuzen.

Schalten wir also einen Gang runter, atmen tief durch, und sehen uns dann einige offensichtliche Fakten an; Erklärungen und Einwände folgen später. Es ist eine offensichtliche Tatsache, dass es zwar viele brillante und höchst erfolgreiche Frauen gab, allerdings keine von ihnen so legendär wurde wie Aristoteles, Bach, Kopernikus, Dickens oder Einstein. Ich könnte leicht noch ein Dutzend weiterer Männer aufzählen, doch versuchen Sie einmal selbst, eine Denkerin dieses Formats zu finden, die sich für den Buchtitel ebenso geeignet hätte. (Meine Favoriten sind Jane Austen, Marie Curie, Ada Lovelace und Hypatia von Alexandria. Ich glaube, ich habe keine offensichtliche Kandidatin übersehen, aber die Zeit wird es zeigen.)

Bis jetzt gab es noch kein weibliches Genie, das in den Rang eines Superstars aufgestiegen ist. Welche Ursachen kommen dafür in Frage? Politische Unterdrückung? Die selbsterfüllenden sexistischen Prophezeiungen, die junge Mädchen ihrer inspirierenden Vorbilder berauben? Eine jahrhundertelange verzerrte Berichterstattung? Die Gene? Ziehen Sie bitte keine voreiligen Schlüsse, selbst wenn Sie die Antwort für offensichtlich halten. (Ich glaube nicht, dass sie offensichtlich ist.) Wir werden bald sehen, dass die Gene zwar eine wesentliche Rolle in der Entwicklungsgeschichte des Geistes gespielt haben, aber nicht annähernd so wichtig sind, wie viele glauben. Gene mögen für basale tierische Kompetenzen verantwortlich sein, aber nicht für Genialität! Darüber hinaus werde ich zu zeigen versuchen, dass die traditionelle Sichtweise das Pferd geradezu von hinten aufzäumt: Die großen Zivilisationen verdanken ihre Größe gerade nicht der kreativen Brillanz von (einigen) Individuen. Die menschliche Kultur selbst ist eine fruchtbarere Schöpferin brillanter Innovationen als jede Gruppe von Genies egal welchen Geschlechts. Dies erreicht sie durch einen Prozess der kulturellen Evolution, der mit ebenso viel Recht als »Autor« unserer hervorragendsten Leistungen gelten kann wie irgendein einzelner Denker.

Schon der Gedanke, die Evolution durch natürliche Selektion könne für das Verständnis der Kultur eine grundsätzliche Rolle spielen, er41füllt manche Menschen ‒ darunter auch kluge und nachdenkliche Leute ‒ mit Abscheu. Für sie ist die menschliche Kultur etwas Einzigartiges, ein wunderbares Geschenk, das uns vom Tier unterscheidet, das letzte Bollwerk gegen den schleichenden Reduktionismus, den genetischen Determinismus und die Philisterei der heutigen Wissenschaft. Und in Reaktion auf diese »Schöngeister« treten jene hartgesottenen Naturwissenschaftler auf den Plan, die bei jeder Erwähnung von »Kultur« schon Obskurantismus oder Schlimmeres wittern:

Wenn ich Kultur höre … entsichere ich meinen Browning!6

Ich bitte »beide Seiten«, ihre Waffen steckenzulassen und etwas Geduld zu haben. Es gibt einen Mittelweg, der sowohl den Geistes- als auch den Naturwissenschaften Genüge tun kann. Er erklärt, wie die menschliche Kultur sich durch einen Evolutionsprozess kultureller Entitäten ‒ Meme ‒ entwickelte, die unsere Gehirne in etwa so infizierten, wie Viren es mit unseren Körpern tun. Ganz genau: Meme sind keine erwiesenermaßen schlechte Idee, und in diesem Buch werden sie zu ihrem Recht kommen. Vertreter beider Seiten, die sich über Meme lustig machen, werden sehen, dass es zwar gute Einwände gegen Meme gibt ‒ zusätzlich zu den fehlerhaften »Widerlegungen«, die von vielen Verächtern der Idee unkritisch akzeptiert wurden ‒, dass diese guten Einwände jedoch zu Verbesserungen Anlass geben, die das Konzept von Memen letztlich retten.

Auf wessen Seite stehe ich nun? Wer die Frage so stellt, hat das Problem nicht verstanden. Die Polarisierung des Themas, dieser Konfrontationskurs, bei der jubelnde und geifernde Zuschauer die Kombattanten anstacheln, ist nur eine reichlich offensichtliche erste Verkörperung derjenigen Kräfte, die ich für alle sichtbar und damit neutralisierbar machen möchte. Das war nur ein erster Vorgeschmack ‒ im Folgenden begegnen uns noch subtilere und heimtückischere Einflüsse auf das Denken von Wissenschaftlern, Philosophen und Laien gleichermaßen. Nun aber zurück zu meinem ersten Erklärungsversuch.

42Was die Erforschung der präbiotischen Welt mit dem Schachspiel zu tun hat

Das einfachste und erste zur Vermehrung fähige Lebewesen ‒ so etwas wie ein Bakterium ‒ war bereits ein atemberaubend komplexes und brillant gestaltetes, sich selbst erhaltendes System. (Moment mal. Habe ich gerade den Vertretern des Intelligent Design in die Hände gespielt? Nein. Aber wie kann ein materialistischer, atheistischer Darwinist wie ich guten Gewissens behaupten, die ersten sich reproduzierenden Lebensformen seien brillant gestaltet gewesen? Halt, noch nicht schießen!)

Ein altbekanntes und von den Intelligent-Design-Leuten heißgeliebtes Henne-Ei-Rätsel stellt uns angesichts der Ursprünge des Lebens vor folgendes Problem: Die Evolution durch natürliche Selektion kann erst beginnen, sobald es sich fortpflanzende Dinge gibt, da es sonst keine Nachkommen gibt, die ein besseres Design erben können. Andererseits sind schon die einfachsten reproduktionsfähigen Dinge viel zu komplex, um durch puren Zufall zu entstehen.7