Von kommenden Dingen - Walther Rathenau - E-Book

Von kommenden Dingen E-Book

Walther Rathenau

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Beschreibung

Rathenau war einer der interessantesten Köpfe der politischen und kulturellen Szene im Deutschland der 1910er und 20er Jahre. Er war nicht nur Lenker eines Firmenimperiums, nicht nur bloßer Politiker, sondern glühender Vertreter liberalen Gedankentums und der Republik, der ersten auf deutschem Boden. Als sozial- und kulturphilosophischer Schriftsteller war er ebenfalls einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Sein großes Thema als Autor waren die Gefahren der Mechanisierung und des materialistischen Denkens der Menschen in den modernen Gesellschaften. Bemüht, liberal-individuelle und sozialistische Elemente miteinander zu verbinden, entwarf er immer wieder die Utopie einer Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, um die Arbeiter aus ihrer unzeitgemäßen "Erbknechtschaft" zu holen. Mit solchen Ansätzen setzte er sich weit ab von dem verbreiteten Lagerdenken seiner Zeit. Damals war man Sozialdemokrat, Kommunist oder vielleicht Monarchist - alles festgefahrene Kategorien, die Rathenau aufzusprengen versuchte. Mit diesem Versuch blieb er - wenn auch heiß diskutiert in der Öffentlichkeit - jedoch weitgehend unverstanden. Die Zeit des politischen Ausgleichs der Gruppeninteressen, die Zeit eines gesellschaftlichen Konsenses jenseits alter Grabenkämpfe war noch nicht gekommen. Rathenau galt den rechten, nationalistischen und monarchistischen Gruppierungen in der Weimarer Republik als Gefahr, seine visionären Gedanken überforderten die politische Debatte. Das vorliegende Buch, "Von kommenden Dingen", erschien 1917 - kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, der die gesamte Ordnung der westlichen Welt auf den Kopf stellen sollte. Rathenau, ein genauer Beobachter seiner Zeit, nahm die Gemengelage zum Anlass, sein gesellschaftliches Konzept pointierter und ausführlicher als in den Schriften zuvor als wegweisende Alternative für die Zukunft darzustellen. Es ist ein visionäres Buch, gleichzeitig ein erhellendes Zeitdokument über das Ende des Kaiserreichs und den Beginn der ersten demokratischen Ordnung in Deutschland.

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WALTHER RATHENAU

VON KOMMENDEN DINGEN

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Impressum

ISBN 978-3-940621-36-8

E-Book: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1929 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags; bibliografische Angaben:

Rathenau, Walther, Von kommenden Dingen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Berlin 1929

Digitalisierung: Vergangenheitsverlag. Bearbeitung: Dr. Alexander Schug / Steffi Kühnel

Die Marke „100% - vollständig, kommentiert, relevant, zitierbar“ steht für den hohen Anspruch, mehrfach kontrollierte Digitalisate klassischer Literatur anzubieten, die – anders als auf den Gegenleseportalen unterschiedlicher Digitalisierungsprojekte – exakt der Vorlage entsprechen. Antrieb für unser Digitalisierungsprojekt war die Erfahrung, dass die im Internet verfügbaren Klassiker meist unvollständig und sehr fehlerhaft sind. Die in eckigen Klammern gesetzten Zahlen markieren die Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe; durch die Paginierung ist auch die digitale Version über die Referenz zur gedruckten Ausgabe zitierbar.

© Vergangenheitsverlag, 2010 – www.vergangenheitsverlag.de

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DEM GEDÄCHTNIS MEINES VATERS

Einleitendes Essay

Einleitendes Essay

Walther Rathenau, Industrieller und Politiker (geb. in Berlin am 29.9.1867, ermordet am 24.6.1922), war der Sohn von Emil Rathenau, dem Gründer der AEG. Walther Rathenau bekleidete unterschiedliche Posten im Konzern seines Vaters: So war er 1892-99 Direktor der Elektrochemischen Werke Bitterfeld, nach 1899 Vorstandsmitglied der AEG, ab 1915 deren Aufsichtsratsvorsitzender sowie 1902-07 Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft. Schon früh agierte Rathenau auch als Politiker. 1914 regte er im Kriegsministerium die Einrichtung einer Kriegsrohstoffabteilung an, deren Aufbau er bis 1915 selbst leitete. Obwohl er die allgemeine Kriegsbegeisterung in Europa nicht teilte und noch 1917 ein Befürworter eines Verständigungsfriedens war, forderte er kurz vor der Novemberrevolution 1918 einen „Volkskrieg“ zur Abwendung der drohenden militärischen Niederlage.

Rathenau bemühte sich nach der Abdankung des Kaisers und der Gründung der Weimarer Republik vergeblich um die Schaffung einer bürgerlichen Sammlungspartei; seine politische Heimat fand er schließlich in der 1918 gegründeten DDP (Deutsche Demokratische Partei). Rathenau war einer der prominentesten Politiker der Weimarer Republik – und anders als viele seiner Zeitgenossen, ein überzeugter Republikaner. Als Industrieller war Rathenau aber auch Pragmatist, eine Haltung, die auch seine Politik prägte. Dass Rathenau sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg dafür stark machte, einen politischen Ausgleich mit den ehemals verfeindeten Staaten zu erreichen, wurde ihm jedoch mehr zum Vorwurf gemacht, als dass seine Zeitgenossen dahinter die einzig sinnvolle Handlungsalternative des besiegten Deutschland sehen konnten. Im Rahmen seines von nationalistischer und antisemitischer Propaganda (Rathenau war Jude) als „Erfüllungspolitik“ heftig bekämpften politischen Konzepts, Deutschland nach dem Gedanken den „einen Kontinent wiederherzustellen“ sowie dauerhaft und kooperativ im Kreis der europäischen Demokratien zu verankern, vertrat Rathenau Deutschland auf allen wichtigen politischen Konferenzen. Mit seinem Namen verbindet sich bis heute vor allem der Abschluss des Rapallovertrags, mit dem Rathenau den Osten Europas mit dem Westen zu verbinden suchte.

1922 fiel er dem Attentat von Mitgliedern der rechtsextremistischen „Organisation Consul“ zum Opfer. Er wurde von den Offizieren Ernst Werner Techow (Fahrer), Erwin Kern und Hermann Fischer aus einem fahrenden Auto heraus mit einer Maschinenpistole und einer Handgranate ermordet.

Rathenau war einer der interessantesten Köpfe der politischen und kulturellen Szene im Deutschland der 1910er und 20er Jahre. Er war nicht nur Lenker eines Firmenimperiums, nicht nur bloßer Politiker, sondern glühender Vertreter liberalen Gedankentums und der Republik, der ersten auf deutschem Boden. Als sozial- und kulturphilosophischer Schriftsteller war er ebenfalls einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Sein großes Thema als Autor waren die Gefahren der Mechanisierung und des materialistischen Denkens der Menschen in den modernen Gesellschaften. Bemüht, liberal-individuelle und sozialistische Elemente miteinander zu verbinden, entwarf er immer wieder die Utopie einer Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, um die Arbeiter aus ihrer unzeitgemäßen „Erbknechtschaft“ zu holen. Mit solchen Ansätzen setzte er sich weit ab von dem verbreiteten Lagerdenken seiner Zeit. Damals war man Sozialdemokrat, Kommunist oder vielleicht Monarchist – alles festgefahrene Kategorien, die Rathenau aufzusprengen versuchte. Mit diesem Versuch blieb er – wenn auch heiß diskutiert in der Öffentlichkeit – jedoch weitgehend unverstanden. Die Zeit des politischen Ausgleichs der Gruppeninteressen, die Zeit eines gesellschaftlichen Konsenses jenseits alter Grabenkämpfe war noch nicht gekommen. Rathenau galt den rechten, nationalistischen und monarchistischen Gruppierungen in der Weimarer Republik als Gefahr, seine visionären Gedanken überforderten die politische Debatte.

Das vorliegende Buch, „Von kommenden Dingen“, erschien 1917 – kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, der die gesamte Ordnung der westlichen Welt auf den Kopf stellen sollte. Rathenau, ein genauer Beobachter seiner Zeit, nahm die Gemengelage zum Anlass, sein gesellschaftliches Konzept pointierter und ausführlicher als in den Schriften zuvor als wegweisende Alternative für die Zukunft darzustellen. Es ist ein visionäres Buch, gleichzeitig ein erhellendes Zeitdokument über das Ende des Kaiserreichs und den Beginn der ersten demokratischen Ordnung in Deutschland.

Einleitung

Einleitung

[13] Dieses Buch handelt von materiellen Dingen, jedoch um des Geistes willen. Es handelt von Arbeit, Not und Erwerb, von Gütern, Rechten und Macht, von technischem, wirtschaftlichem und politischem Bau, doch es setzt und schätzt diese Begriffe nicht als Endwerte.

Es ist recht zu fragen, ob nicht vielmehr Bedrückung und Armut, Not, Sorge und Unbill die echtesten Kräfte im Menschen befreien, die Seelen erlösen und das Gottesreich herniedertragen. Es steht frei zu antworten, daß die Glaubenspflicht und Wandlungskraft des Menschen nicht erschwert, sondern erleichtert werden soll, daß die Kälte des Elends alle Keime starrt, daß Wachstum und Blüte zulänglicher Erwärmung und Bestrahlung bedürfen. Doch diese Frage und Antwort wird nicht gestellt. Weder um das Bestehende zu stützen und zu beschönigen, noch um Wünsche und Bedingungen emporzulocken, läßt sich der Geist mißbrauchen; seine Mächte sind stark genug, um zu jeder Zeit die Eintracht zwischen Gestaltung und Gestaltendem zu erzwingen. Dieses Verhältnis aber ist eindeutig wie das Verhältnis organischer Gebilde zur Summe der Lebensbedingungen; jeder neue Geist schafft sich seine Welt, und jede seiner [14] Evolutionen verwirklicht sich in neuem Umschwung des Lebens.

Nicht die Forderung geht dem Umschwung voran, sondern die Verkündung, die schon in sich den ersten Anbruch der Erfüllung birgt. Die Verkündung aber ist nicht wahrsagerische Träumerei, sondern die Durchdringung des erschauten irdischen Zustandes mit der Gewißheit des geistigen Gesetzes.

Deshalb ist es nicht müßiges Gedankenflechten, sondern Pflicht und Recht, den Blick von der Betrachtung des bewegten Geistes zum Schattenspiel der Einrichtungen und Lebensformen zu wenden, denn Strahl und Schatten begreifen und beschreiben sich wechselweise. Unsre Zeit, die das kleinste dessen, was sie Tatsache nennt, so wichtig nimmt, erschrickt davor, aus ihrem Herzen ihr Geschick zu lesen; lenkt sie spielend und verantwortungslos bisweilen ihr Denken ins Künftige, so schafft sie aus umgekehrten Tagessorgen und Mißvergnüglichkeiten mechanische Utopien, die, vom Hermesstabe der Technik bewegt, aus der alten Wochenreihe einen kärglichen Sonntag zaubern.

Woher nimmt diese Zeit noch den Mut, von Entwicklung, Zukunft und Zielen zu reden, die Hälfte ihres Tuns dem Kommenden zuzuwenden, für Nachkommenschaften zu wirken, Gesetze zu erfinden, Werte zu setzen, Güter zu speichern? Sie wird nicht müde zu forschen, woher sie kommt, doch sie weiß nicht, wo sie steht, und sie will nicht wissen, wohin sie fährt. Deshalb ermüden die Besten an diesem Werk des Tages für den Tag; viele stellen ihren Zweifel, ihre Müdigkeit und Verzweiflung in die Mitte ihres Denkens, geben vor, [15] sich am Augenblick zu laben, und verzichten auf das schönste Vorrecht: zu sorgen.

Andre weisen auf den erstorbenen Dogmenglauben und seine Verheißungen. Sie wollen ihn zur Auferstehung zwingen durch Einrichtungen, durch Beweise, durch Güte, Zorn, Versprechung und Drohung. Sie haben recht im Empfinden, denn die Religion des Menschen kann niemals vergehen; sie irren im Denken, denn es gibt keinen Glauben ohne Gegenstand, und dieser läßt sich nicht aufzwingen noch aufschwatzen. Das Wesen des Glaubens ist, daß er unbeirrbar, unbewußt und unfehlbar sich selbst seinen Gegenstand schafft, den Gegenstand, der dem jeweiligen Inbegriff der schöpferischen Kräfte erschwinglich ist. Der Dogmenglaube aber siechte durch die Schuld behördlicher Mächte, die zu schwach waren, ihn der Welt konkurrenzlos aufzuzwingen, und stark genug, um ihn Jahrhunderte zu lange durch dunkle Gläser gegen die Lebensstrahlen der Völker abzuschließen; er starb, als man gewaltsam die Scheiben aufriß.

Götter erfinden, Zeichen erzwingen, Sakramente verordnen — diese gutgemeinten Ränke sind eitel. Freilich bedarf es im Tiefsten richtungschaffender Kräfte; doch keine kunstvoll humane Umdeutung kann das alte Fundament handgreiflicher Wunder durch ethische Begriffe ersetzen; transzendente Überzeugungen bleiben in unsern Herzen lebendig, aber sie verlangen neue Sprache, neue Vorstellungen und neue Erleuchtung. Steigen wir hinab in die Schächte unsres unberührbaren innersten Bewußtseins, so finden wir die dunklen Tiefen nicht leer; wir kehren heim mit der Gewißheit des Unendlichen, der Gottseite der Schöpfung, mit der [16] Verkündung des Berufes unsrer Seele, unsrer überintellektualen Mächte, und mit dem Geheimnis des Seelenreiches.

Von diesen Dingen ist in dem Buche „Zur Mechanik des Geistes“ gehandelt; für unsre Erwägungen wird nur die eine Voraussetzung in Anspruch genommen: daß alles irdische Handeln und Zielen in dem einen Sinne seine Rechtfertigung findet, in der Entfaltung der Seele und ihres Reiches.

II

Dieses Buch trifft den dogmatischen Sozialismus ins Herz. Denn er erwächst aus materiellem Willen; in seinem Mittelpunkt steht die Teilung irdischer Güter, sein Ziel ist eine staatlich-wirtschaftliche Ordnung. Mag er heute bestrebt sein, aus andren Weltauffassungen fremde Ideale herbeizuholen, so ist er doch nicht aus ihrem Geiste geboren; er bedarf ihrer nicht, ja sie müssen ihn stören, denn sein Weg führt von der Erde zur Erde, sein tiefster Glaube ist Empörung, seine stärkste Kraft ist gemeinsamer Haß, und seine letzte Hoffnung ist irdisches Wohlbefinden.

Die ihn emporführten, glaubten an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft, mehr noch, sie glaubten an ihre zielsetzende Kraft. Sie glaubten an unausweichliche materielle Menschheitsgesetze und an ein mechanisches Erdenglück.

Nun aber beginnt selbst die Wissenschaft zu erkennen, daß ihr vollkommenstes Gewebe dem Willen nichts andres sein kann als dem Wanderer eine vortreffliche Landkarte: da liegt ein Gebirgszug, ein [17] Fluß, eine Stadt, ein Meer; wende ich mich rechts, so gelange ich hierhin, links dorthin; dieser ist der kürzere Weg, jener der ebnere; hier herrscht Fülle, dort weht Bergluft; hier liegt Freiland, dort Zivilisation. Welcher Pfad mir aber vorgeschrieben ist, wohin mein Herz, meine Pflicht mich zieht, kann ein Kartenblatt mir nicht sagen. Wissenschaft mißt und wägt, beschreibt und erklärt, aber sie wertet nicht, es sei denn nach dem Maßstabe konventioneller Satzung. Ohne Wertung und Wahl aber besteht kein Ziel, und da alles vernünftige Handeln Zielen und Polen zustrebt, so ergibt sich abermals, daß über alles menschliche Geschehen das Herz entscheidet.

In dem zwangsläufigen Abrollen, das die materielle Geschichtsauffassung dem Weltgeschehen aufzwingt, hat der Wille des Herzens keinen Platz; ändert sich die mutmaßliche Wertungsfolge der Menschheit, wie sie sich stets geändert hat, so muß der blinde Mechanismus, unaufhaltsam fortlaufend, den Willen der Menschheit seinem eigenen Widerspiel entgegenschleudern.

Ziele setzen heißt Glauben. Doch das ist kein echter Glaube, der, aus Wunschumkehrung einer zeitlichen Not stammend, das Bestehende verneint, um die Weltordnung in eine Maßregel zu verwandeln. Echter Glaube stammt aus der Schöpferkraft des Herzens, aus der Phantasie der Liebe; er schafft Gesinnung, und ihr folgt willenlos das Geschehen. Niemals wird Gesinnung durch Einrichtungen erlistet; und weil der Sozialismus um Einrichtungen kämpft, bleibt er Politik; er mag Kritik üben, Mißstände beseitigen, Rechte gewinnen: niemals wird er das Erdenleben umgestalten, denn diese [18] Kraft gebührt allein der Weltanschauung, dem Glauben, der transzendenten Idee.

Wird die Unzulänglichkeit des Sozialismus evident, so mögen dennoch sich die nicht freuen, die aus bequemer Neigung zum Bestehenden, aus Furcht vor Opfern und aus Trägheit des Herzens ihn bekämpfen.

Die Opfer, welche die kommende Zeit verlangt, sind härter, der Dienst ist mühevoller, der äußere Lohn geringer als im sozialen Reiche, denn es wird mehr als Verleugnung materieller Werte verlangt. Über ihr steht Verleugnung unsrer liebsten Eitelkeiten, Schwächen, Laster und Passionen, über ihr steht die Pflicht zu Empfindungen und Taten, die wir heute theoretisch preisen und praktisch verhöhnen; über ihr steht die schwere Erkenntnis, daß wir nicht zum Glücke streben, sondern zur Erfüllung, daß wir nicht um unsertwillen leben, sondern um des Gottes willen.

Dennoch wird die Menschheit diesen Weg gehen, nicht weil sie muß, sondern weil sie will; weil es von der Erkenntnis des Glaubens kein Zurück gibt, weil die Seligkeit des göttlichen Wollens sie ergreift. Sie wird ihn gehen durch Feindschaft, Hohn und Verfolgung, und es wird ihr die schwerste Prüfung nicht erspart sein, daß sie bezichtigt wird von denen, die sie zu erlösen schreitet, und die ihr bittere Strafe und heilige Entsühnung für getanes Unrecht verhängen. Undank wird ihren Weg segnen, Mühsal wird ihn begleiten, und dennoch wird sie in demütigem Stolz für jeden Schmerzensschritt danken, der sie dem Licht entgegenführt.

Nicht Furcht und nicht Hoffnung sind die treibenden Gewalten. Nicht das verständige Streben [19] nach mechanischem Gleichgewicht, nicht Güte und selbst nicht Gerechtigkeit. Sondern Glaube, der aus Liebe entspringt, tiefste Not und Gottes Wille.

III

Die Zeit, die in ihrem Innersten nach Selbsterkenntnis und Erlösung von eigener Härte lechzt, ist in ihrem Gehaben vorschauendem Denken nicht günstig. Kaum ist sie dem plumpen Ernst und der Handgreiflichkeit des Materialismus entronnen, da schämt sie sich schon aller Praxis und schämt sich nochmals dieser Scham und sucht sie zu verdecken, indem sie mit bemeistertem Abscheu armselige Gerätschaften und Zutaten des neuzeitlichen Lebens in ihre Empfindungen webt. Sie bringt Bogenlampen und Hotelgärten in Reime von bedachter Kühnheit und ist doch weltfremder als ihre grobe Vorläuferin, die in menschlichen Dingen zugegriffen hatte und Bescheid wußte. Um sich zu beweisen, wie sehr sie der unentwegten Selbstsicherheit des Marktes fernstehen, wählen viele von der Erscheinung der Welt nur die zarteste, bunteste Haut und begnügen sich, in koketter Betrachtung hier über eine Ähnlichkeit, dort über einen Widerspruch zu lächeln.

Kahler Betrug! Denn nur der Ernst der Welt, der Glaube an ihren Sinn und Zusammenhang rechtfertigt Betrachtung und Mitteilung; mutiger Glaube an die Sinnlosigkeit und hoffnungslose Verworrenheit des Bestehenden fordert in Folge ein ungeistiges Leben animalischen Genusses und die Beschränkung alles sittlichen Bewußtseins auf die Furcht vor der Polizei. Der Schaufensterdieb des [20] Lebens leugnet den Schweiß, den er verpraßt und verwertet; er bleibt ein Held nur für seinesgleichen, denn die Menschheit läßt sich mit dem kärglichen Raube nicht beschenken.

Gewiß, nicht erlernte Kenntnis und ersessene Bildung vermag die harten Schollen unsres anvertrauten Feldes zu lösen; hochmütiges Wissen und Besserwissen fruchtet nicht. Doch ernst zu nehmen ist jedes echte irdische Ereignis; Treue der Sinne und Hingabe des Geistes führen zum innern Ergreifen selbst des alltäglichen Geschehens und verschmähen das Nippen an den Zeichen der Dinge. Ist die Welt eine Ordnung, ein Kosmos, so steht es dem Manne an, seine Zusammenhänge, Gesetze und Phänomene zu schätzen und in sich zu erbauen. Platos, Lionardos und Goethes Eindringen in die handfeste Welt der Dinge war nicht profaner Abweg, sondern göttliche Notwendigkeit. Der Dichter, der aus mangelnder Kraft der Umspannung die Gegenwart und Zukunft seiner Welt verschmäht um des auserwählt Interessanten willen, ist nicht, wie er glaubt, ein Seher, sondern ein Veranstalter ästhetischer Unterhaltung. Die Römer nannten den Staat die Sache aller; in höherem Maße ist es die Natur: als Umwelt, Wildnis, Garten, Kampfplatz und Grab des Menschen.

Sehr bald wird auf den Romantismus der Zeit, die sich real gebärdet und artifiziell empfindet, die Stimmung folgen, die in Zeiten unverbildeter Menschen nie erloschen ist: an die Stelle literarischer und gymnasialer Erfahrung wird Welterfahrung treten; auf dem Quaderfundament bewältigter Wirklichkeiten wird der Bau der Ideen sicherer ruhen und höher steigen als auf dem Geschiebe [21] unerlebter Prinzipien. Ein pragmatischer Zug, ein Gemeinschaftsgefühl handfester Menschen, Phantastik aus dem Grunde wahrer Weltteilnahme und Weltverantwortung wird das unabhängige Denken und Fühlen aus der Wärmstube der Konventikel auf die Bahn des Geschehens, des Schicksals und der Tat geleiten. Das Denken und Fühlen der Welt wird fest sein, nicht handgreiflich, zart, nicht schwächlich, phantasievoll, nicht verstiegen, transzendent, nicht frömmelnd, pragmatisch, nicht rabulistisch; die geistige Führung wird von Frauen und grinsenden Ästheten auf Männer, von Artisten und Arrangeuren auf Dichter und Denker übergehen.

Der individuelle Nihilismus, an dem wir leiden, der uns die Verallgemeinerung zweifelhaft, das Gesetz verdächtig und die Tat verächtlich macht, der vorgibt, sich mit der Kontemplation des unvergleichlich Einzelnen zu beruhigen und doch heimlich vom Gesetz und von der Tat zehrt: diese hoffnungslose falsche Heiterkeit, unüberzeugte Ethik und Entsagung wider Willen schöpft noch aus tieferer Quelle, die jedesmal zu fließen beginnt, wenn der Glaube die Menschheit verläßt.

Die Lehre lautet: Wo ist ein Gültiges? Alles ist einmalig. Wo ist Stetigkeit? Jeder Augenblick ist neugeschaffen und ohne Vorgang. Wie könnte Entwicklung sein, da alles Zeitliche Täuschung ist?

Gewiß ist es wahr, daß im tiefsten Innern der Dinge alles ruht; je weiter vom Mittelpunkt, desto heftiger kreist die schattenhafte Bewegung. Die Seele ahnt in allen großen Augenblicken ihr heilig ruhendes Ziel und strebt magnetisch aus Täuschungswirren dem Zentrum entgegen. Doch dies Geheimnis befreit uns nicht vom Leben. Was im [22] Klang des All sich zur Harmonie fügt, tönt uns zwar in Einzelstimmungen zerrissen; was unveränderlich besteht, blendet uns im Wechsel; und dennoch sind wir in dieses Leben gestellt, um es auf unsrer Stufe zu vollenden, und unser Leidensweg geht durch die Zeit. Verachten wir diese Bühne des Werdens, so ist alles Denken vergeblich, jedes höhere Gefühl irrational und alles Handeln Torheit; ja selbst ein Streben nach innerer Vollkommenheit bleibt Handlung und somit Wahn. Doch dieser Ausgang widerlegt sich selbst: denn der heiße Drang der Seele besteht; und mehr noch, er ist von allem Erleben das Realste. Wage es, ihn und nicht das erdacht Absolute zur temporären Achse unsres Erlebens zu wählen, so gewinnt das Dasein seinen Sinn zurück. Das Denken zum Absoluten vernichtet den Willen; die Andacht zum Transzendenten aber gibt dem Denken adäquate Ziele, belebt den Willen zur Liebe des Menschen, der Natur und der Gottheit und erobert die Tat.

Obwohl jede historisch-rationale Erörterungsform dem Sinne dieser apriorischen Darlegung widerspricht, sei eine Bemerkung gestattet, die einen herkömmlichen Irrtum der Erfahrung beseitigen soll. Es liegt nahe, die kurze historische Spanne zu durchlaufen, die uns vertraut ist, das kunstüberlieferte Gefühlsleben der Inder, Hebräer, Griechen und Germanen zu beleuchten, und zu folgern, daß im wahrhaft Echten der menschlichen Kräfte keine Entwicklung, selbst keine Steigerung geschehen noch möglich sei. Vergessen wir doch nicht, daß die Brücke der Erinnerung nur von Gipfel zu Gipfel führt! Sie ermißt nicht, wie mächtig die Sohle der Täler sich gehoben hat.

[23] Die Geschichte schweigt von den Zahl- und Namenlosen; noch immer ist sie eine Chronik der Sieger und Heroen. Die Natur aber ist treu; sie zertritt nicht das überholte Geschöpf; und das überholte Volk lebt abseits von der Heerstraße im Schoße alter Kontinente. Die Natur arbeitet nicht, wie der Chemiker, restlos; sie verwandelt und entwickelt einen Teil ihres unerschöpflichen Materials, das übrige legt sie beiseite, um es noch lange dem Gedächtnis zu erhalten und unmerklich aufzuarbeiten. In Abgeschiedenheit der afrikanischen und asiatischen Welt leben noch heute die Hirten Kanaans und die Speerträger Ilions; wie wir Gleichnisse der Gottheit und doch an Seele jünger und schwächer. Aus jenen alten, tief animalischen Unterschichten aber sind Geschlechter von einer Beseeltheit erwachsen, die fast der Höhe der erloschenen Herrenstämme gleichkommt.

Wer eine Sprache wahrhaft besitzt, der besitzt, obwohl die Genialität des Sprachschöpfers ihm nicht zusteht, ihren ganzen Geist; wer das Erbe eines Großen im Geist begreift und besitzt, der ist wo nicht im Schöpferischen, doch im Seelischen sein Jünger und Bruder. Das Erbe Buddhas und Christi, Platons und Goethes war, als es die Erde berührte, der Menschheit erschreckend fremd und feindlich; gleichviel durch welche alltägliche Kraft es geschah: heute keimt das heilige Gut in tausend Herzen, und diese Herzen, ob in Einfalt, ob in wetteiferndem Feuer, sind der Seele näher als ehedem die wenigen auserwählten Schüler. Das Maß der Seele ist nicht Genialität; wohl aber ist das Maß aller Schöpfung gegeben in der Erweckung der Seele.

[24] Entwicklung ist die Denkform unsres überanimalischen Handelns, denn alles Tun ruht im Zeitbegriff, und der Wille zum Beharren ist so unmöglich wie der Wille zum Ursprung. Es ist das Zeichen einer zweifelsüchtig trägen Zeit, wenn der Blick sehnsüchtig am Vergangenen haftet; daß unsre ganze Billigung und Teilnahme den Vorfahren gilt, daß jedes ihrer Werke und Worte uns wichtiger und vertrauter gilt als alles junge Wesen, das entschuldigen wir mit der Plage unsrer Mechanismen und mit der Unerträglichkeit jener beschränkten Großsprecher, die uns jede mechanisierte Notdurft als Aufstieg zur Vollkommenheit preisen.

Jedoch auch die geplagte, selbst die irrende Zeit ist ehrwürdig, denn sie ist nicht Menschensache, sondern Menschheitssache, und somit Werk der schaffenden Natur, die hart sein kann, nicht sinnlos. Ist diese Zeit schwer, so ist es unsre schwerere Pflicht, sie zu lieben, sie mit unsrer Liebe zu durchbohren, bis die schweren Gebirge der Materie weichen und das jenseitige Licht erscheint. Auch diese Liebe ist hart; zu Staub zermahlt sie nicht nur das taube Gestein, das die Zeit uns entgegentürmt; sie zerbricht auch manches liebgewohnte Wahrzeichen unsres Herzens; denn nur durch dies Herz allein führt der Weg zur Freiheit der Welt.

Ist es Vermessenheit, diesen Weg ahnend zu bestimmen? Es ist vermessen, mit der peinlichen Frage der Wissenschaft den kommenden Geist zu extorquieren. Die Erfahrung vermag abzuleiten, nicht fortzuentwickeln: sie sagt nur, daß die Linde vor meinem Fenster aus einem Samenkorn erwachsen ist, sie sagt mir nicht, ob das Korn in meiner [25]Hand zum Baume werden wird oder zu Staub. Doch selbst die Ableitung, aufs Gegenwärtige angewendet, bleibt vieldeutig und birgt Gefahren, denn die Zahl der irdischen Formen ist beschränkt, die Inhalte wachsen, und unversehens füllt das alte Gefäß sich mit neuem Geist. Es ist erlaubt, die Tragödie aus Hirtenspielen, die Symphonie aus Tänzen abzuleiten: doch Hamlets Geist und der Gehalt der Neunten haben mit dieser antiquarischen Forschung nichts gemein. Hier liegt der Grenzwert aller Tradition: sie erklärt, beruhigt, verleiht den gleitenden Dingen mechanische Trägheit, doch sie heiligt nicht, entschuldigt nicht und öffnet keinen Blick ins Künftige. Die Geschichte lehrt es tausendfach: mag eine Staatsform, eine öffentliche Ordnung noch so fest in klar gewollter geschichtlicher Entstehung verankert sein: es ergreift sie ein neuer Geist, die harmlose Form bleibt bestehen, und dem Historiker zum Trotz, dessen sakraler Bau dahinsinkt, füllt unter der Maske des Irrtums, der Mißdeutung, der Gewalt das innere Gesetz in die gereinigte Schale ein neues Leben.

Versagt sich Erfahrung und Überlieferung dem Streben zum Künftigen, erstirbt die Berechnung zur kahlen Spekulation, so sollen wir uns gegenwärtig halten, daß alle Entwicklung Aufstieg des Geistes ist und daß unser inneres Erleben, rein empfunden und wunschlos gedeutet, am Geschehen der Welt mikrokosmischen Anteil hat. Dies ist die Erklärung aller Prophetie; vom geschäftlich nüchternen Erfassen einer Konjunktur bis zur adäquaten Ausdeutung der politischen Notwendigkeit, von der einfühlenden Erkenntnis eines menschlichen Schick- [26] sals bis zur visionären Durchdringung des Weltbildes bezeichnen alle Stufen des intellektualen und des intuitiven Mitklingens den Parallelismus des erlebten und des objektiven Geistes. Jedes organisierte Instrument erlebt in seiner Stimme das Abrollen der Symphonie.

Die innere Gewißheit dieses Erlebens ist gegeben in der ungewollt und übermächtig sich aufzwingenden Notwendigkeit des Denkens; die mitteilende Wahrhaftigkeit entzieht sich dem mechanischen Beweise. Was ist beweisbar? Kaum das Vergangene, kaum selbst die Wahrheit der euklidischen Geometrie; unsre Gefühle sind es nicht, unsre Erlebnisse nicht und nicht unsre Voraussichten. Jede geschäftliche Auffassung, jede organisatorische Maßnahme ist bestreitbar, und dennoch bleibt in der Welt ein glaubendes Vertrauen zum Rechten. Denn es liegt im mitgeteilten wahrhaften Erlebnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Kraft, die Einfühlung, Prüfung und Glauben erzwingt. Starkes Empfinden redet starke Sprache, klar Erschautes leuchtet ein, Aufrichtigkeit schafft Vertrauen.

Der echte Gedanke gibt ein körperliches Gefühl der Plastik und des Gewichts. Und noch ein andres Zeichen unterscheidet ihn von den Paradoxen und Anmerkungen des Tages, die, nur von einer Seite gesehen und beleuchtet, wahr sind: er neigt zum Wirklichen, er berührt das Alltägliche, ohne in ihm zu wurzeln, er scheint realisabel und dennoch phantastisch. Denn die Keime des Künftigen liegen allenthalben sprossend im Boden; das Kommende ist wunderbar, nicht weil es aus dem Nichts kommt, sondern weil es das Gemeine wandelt. [27] All unser Tun hat etwas Seherisches, denn jeder Schritt trägt in die Zukunft. Glauben wir aber an das Vorschauende im Menschen, so laßt uns recht daran glauben. Schließen wir uns im guten Willen zusammen, so wird dem gemeinsamen Schauen das Trügerische zerrinnen, das Rechte sich verklären; Bedingung ist, daß der Fuß nie den Boden, das Auge die Gestirne nie verliere.

[29]

Das Ziel

Das Ziel

[31] Die Weltbewegung, welche die Epoche unsrer Zeit emporgetragen hat, stammt, von der Erscheinungsseite betrachtet, aus zwei Grundereignissen, die eng zusammenhängen.

Eine Volksverdichtung ohne Beispiel hat den zivilisationsfähigen Teil des Erdbodens ergriffen; sie hat in ihrem schwellenden Drang die dünne Haut der Oberschichten zerrissen, die vormals den europäischen Völkern ihre Farbe liehen und ihr Aufkommen bändigten.

Die zehnfach übervölkerte Menschheit verlangte eine neue Ordnung der Wirtschaft und des Lebens zu ihrer Erhaltung und Versorgung; die Umschichtung der Völker lieferte in den entbundenen Kräften der alten Unterschichten die intellektuale Verfassung, die dem Werke gewachsen war.

Der Weg, den der umschaffende Wille der Menschheit durchlaufen mußte, war lang; abstraktes Denken, exakte Wissenschaft, Technik, Massenbewältigung und Organisation mußten geschaffen werden, ein Umsteuern der menschlichen Wünsche, Gedanken und Ziele wurde gefordert, neue Lebensführung, neue Kunst, neue Weltauffassung und neuer Glaube mußten entstehen, um die veränderte Ordnung erst zu gestalten, dann zu rechtfertigen.

[32] Diese Ordnung habe ich in dem Buch „Zur Kritik der Zeit“ abgeleitet und beschrieben; ich habe sie Mechanisierung genannt, um ihre Universalität auszusprechen und um die mechanische Zwangläufigkeit anzudeuten, die sie von allen früheren Ordnungen unterscheidet. Denn ihr Wesen, alles in allem betrachtet, besteht darin, daß die Menschheit, halb bewußt, halb unbewußt zu einer einzigen Zwangsorganisation verflochten, bitter kämpfend und dennoch solidarisch für ihr Leben und ihre Zukunft sorgt.

Früh hat man den Zusammenhang der neuzeitlichen Erscheinung empfunden, doch wagte man nicht, mit einem Blick das Gesamtphänomen zu umspannen. Deshalb hört man noch immer vom Kapitalismus als einer die ganze Zeiterscheinung umschreibenden Tatsache reden, obgleich er nichts weiter ist als die Projektion der Gesamtordnung auf einen Teil der Wirtschaft. Deshalb bildet es noch immer ein unermüdliches Spiel der Wissenschaft, die Zweige der Mechanisierung aufeinander zu beziehen und voneinander abzuleiten: Kapitalismus, Entdeckungen, Krieg, Calvinismus, Judentum, Luxus, Frauendienst werden in wechselnden Bindungen verflochten und zur Evolvente des Gangs der Erscheinung gemacht, wobei es niemand auffällt, daß beständig ein Wunder durch das andre erklärt wird, und niemand einfällt, nach der Urvariablen zu fragen, die unabhängig und auf sich selbst gestellt das bunte Wallen der Erscheinungen beschließt und gerne gestattet, daß man die Töchter betrachtet, ohne der Mutter zu gedenken. Diese Grundfunktion aber ist im tiefsten Erleben des menschlichen Stammes beschlossen; von außen er- [33] blickt stellt sie sich dar als Wachstum der Zahl und Wandlung der Art, innerlich betrachtet ist sie ein Glied in der Geistesevolution des Lebendigen.

Denn auf der Schöpfungsgrenze, auf der wir stehen, durchschreitet der Geist das Gebiet des zweckhaften Intellekts, der mit seinen Trieben, Furcht und Begierde, vom Urgeschöpf bis zum Urmenschen alles Leben beherrscht, und strebt zur Seele, dem zweckfreien, wunschlosen Reich der Transzendenz. Damit die Menschheit dieses Reich gewinne, muß sie alle Lebenskräfte zusammenraffen, sie muß die Kraft des Intellekts, die einzige, über die sie in Freiheit verfügt, nach Menge und Stärke aufs höchste spannen, sie muß sich zugleich die Unvollendung, die Sinnlosigkeit dieses gewaltigsten Sinnes der materiellen Welt vor Augen führen. Denn der eine der Wege, die zur Seele führen, geht durch den Intellekt; es ist der Weg der Bewußtheit und des Verzichts, der wahrhaft königliche Weg, der Weg Buddhas. Diese Aufgabe und Schickung aber spricht sich aus als eine Not, wie alle Menschheitsschulung. Als Not ist diese selbstgeschaffene die schwerste trotz Eiszeiten und Wildnissen, als Aufschwung ist sie der gewaltigste seit Ursprung des Planeten.

Wer ist der Mensch, der von einer Torheit der Natur zu berichten wüßte? Die Mechanisierung aber ist Schicksal der Menschheit, somit Werk der Natur; sie ist nicht Eigensinn und Irrtum eines einzelnen noch einer Gruppe; niemand kann sich ihr entziehen, denn sie ist aus Urgesetzen verhängt. Deshalb ist es kleinliche Zagheit, das Vergangene zu suchen, die Epoche zu schmähen und zu verleugnen. Als Evolution und Naturwerk gebührt [34] ihr Ehrfurcht, als Not Feindschaft. Dem Feinde ziemt uns ins Auge zu blicken, seine Stärke zu ermessen, seine Schwäche zu erspähen, um ihn nach Schicksals Willen zu schlagen.

Mechanisierung als Not aber ist entwaffnet, sobald ihr heimlicher Sinn offenbart ist. Mechanisierung als Form des materiellen Lebens hingegen wird der Menschheit dienen müssen, solange nicht die Volkszahl auf die Norm der vorchristlichen Jahrtausende zurückgesunken ist. Drei ihrer Funktionen allein genügen, um ihr die Herrschaft über das materielle Erdentreiben zu sichern: die Arbeitsteilung, die Bewältigung der Massen und der Kräfte. Kein ernster Vorschlag wird verlangen, kein ernstes Urteil wird vermuten, daß die Menschheit freiwillig auf die Beherrschung der Natur verzichte, um in falscher Naivität ein kärglich beschränktes Dasein, ein völliges Vergessen alles Wissens, einen künstlichen Urzustand sich zu bereiten. Ganz töricht aber ist die Meinung jener großstadtmüden Einsiedler, die mit einem guten Buch, einfachem Hausrat und einer Laute sich in die Einsamkeit schöner Gebirge begeben und wähnen, der Mechanisierung entronnen zu sein, wo nicht gar sie gebrochen zu haben. Denn Mechanisierung als Praxis ist unteilbar; wer einen Teil will, der will das Ganze. Damit eine Axt käuflich sei, müssen Tausende in den Tiefen der Erde schürfen, damit ein Blatt Papier entstehe, müssen Waldungen im Rachen der Maschinen zerkaut werden, damit eine Postkarte bestellt werde, müssen die Schienenwege der Erde unter dem Donner der Lokomotiven erzittern. Betrug wider Willen und unbewußte Ausbeutung ist es, eine Mechanisierung mit Aus- [35] wahl gelten zu lassen; mögen jene Arkadienschäfer den letzten gesponnenen Faden, das letzte gezüchtete Saatkorn und die letzte Münze von sich abtun: sie werden auf der Erde kaum einen Fußbreit zum Schauplatz für erklügelte Robinsonaden finden.

Denn das Wesen der Mechanisierung schließt Universalität ein; sie ist die Zusammenfassung der Welt zu einer unbewußten Zwangsassoziation, zu einer lückenlosen Gemeinschaft der Produktion und Wirtschaft. Da sie aus sich selbst erwachsen, nicht durch bewußten Willen auferlegt ist, da keine Satzung Arbeit und Verteilung regelt, sondern ein allgemeiner Notwille, so erscheint die ungeheure Arbeitsgemeinschaft dem einzelnen nicht als Solidarität, sondern als Kampf. Solidarität ist sie, insofern das Geschlecht sich durch planvolles Wirken erhält und jeder sich auf den Arm des andern stützt, Kampf ist sie, insofern der einzelne nur so viel Anteil an Arbeit und Genuß erhält, als er erringt und erzwingt. In dieser brutalen Regellosigkeit des Triebartigen und Unbewußten der mechanistischen Organisation liegt, dies sei hier zum erstenmal betont und im künftigen ausgeführt, der eigentlich nothafte Kern ihres Folgewesens; die Welterscheinung selbst, soweit sie auf der Gemeinschaft des Kampfes um und gegen die Naturmächte beruht, ist weder gut noch böse, sondern schlechthin notwendig, weil Alle vereint mehr leisten als Einer, und weil Sammlung und Organisation die Bestimmung aller zum Leben geordneten Kräfte ist. Gleichviel in welcher planetarischen Heimat, wird jeder hinlänglich verdichteten und geistig zulänglichen Menschheitsform eine der Mechanisierung entsprechende Kollektiverscheinung er- [36] wachsen; von der seelischen Stärke dieser Menschheit aber hängt es ab, ob sie sich dem dunklen Willen unterwirft, oder ob sie den Zwang meistert.

Auf unserm Gestirn hat die Mechanisierung einen großen Teil ihrer Aufgabe erfüllt. Unter der Form der Zivilisation hat sie eine äußere Verständigung angebahnt, die Möglichkeit eines leidlich reibungslosen Zusammenlebens und organischen Aufbaues geschaffen. Unter der Form der Produktions- und Verkehrsgestaltung hat sie Ernährung, Kleidung und Behausung der vervielfältigten, ständig wachsenden Erdbevölkerung gesichert, indem sie die Fundstellen des Erdkreises öffnete, Zentralisierung der Verarbeitung, Dezentralisierung des Vertriebes lehrte. Unter der Form des Kapitalismus hat sie ermöglicht, die Arbeitsleistung der Menschheit nach Bedarf zu sammeln und auf geordnete, einheitliche Ziele zu lenken. Als staatliche und bürgerliche Organisation hat sie versucht, jeden Gruppenwillen zum Ausdruck zu bringen und dem Gesamtbewußtsein vernehmlich zu machen. Unter der Form der Publizistik leitet sie jeden Eindruck, den das Gesamtwesen empfängt, zum Wahrnehmungszentrum der Gemeinschaft. Unter der Form der Politik versucht sie die Umgrenzung der Nationalität und die Arbeitsteilung zwischen den Nationen zu erwirken. Unter der Form der Wissenschaft erstrebt sie ein Gemeinschaftsforschen des Erdgeistes, unter der Form der Technik setzt sie das Wissen um in Kampfbereitschaft gegen die Naturkraft.

Kein Gebiet der Erde ist unerschließbar, keine materielle Aufgabe undurchführbar, jedes Erdengut ist erschwinglich, kein Gedanke bleibt verheim- [37] licht, jedes Unternehmen kann Prüfung und Verwirklichung fordern; die Menschheit ist, soweit materielles Schaffen reicht, zu einem fast vollendeten Organismus erwachsen, der mit Sinnen, Nervensträngen, Denkorganen, Blutumlauf und Tastwerkzeugen den Ball umspannt, seine Kruste lockert und seine Kräfte aufsaugt.

Vom Organischen zum Ungegliederten führt kein Entwicklungsweg. Andre Organisierungsformen als die der Mechanisierung sind denkbar; dennoch werden auch sie stets ihrem materiellen Sinne gemäß einen materiellen Aufbau bilden, der Menschenkräfte sammelt, um Naturkräfte zu bezwingen, dennoch werden auch sie stets dem Leben die gleiche Gefahr und Bedrängung bieten, sofern die Kräfte der Seele sich ihrer nicht bemächtigen.

Noch ist es entschuldbar, daß die Welt an ihrem ersten Einheitswerke sich berauscht, ja daß sie das materiell Erbaute als für den Geist bewohnbar erachtet, daß sie ihr Denken und Erkennen, Fühlen und Wollen in den Dienst der selbstgeschaffenen Ordnung stellt. Und dennoch, obwohl das Gebäude den Gipfelpunkt noch längst nicht erreicht hat, regt sich das Gewissen. Zunächst freilich im grob mechanischen Sinne: die Enterbten bäumen sich auf; sie wollen diese sinnlich-mechanische Ordnung vernichten, um eine andre sinnlich-mechanische Ordnung an ihre Stelle zu setzen, die ihnen gerechter dünkt und mehr verspricht. Doch auch die Bevorzugten fühlen sich bedrückt. Sie fühlen den Verfall ästhetischer und sittlicher Werte, sie möchten die alten Zeiten herbeiholen und sind bereit, von der unteilbaren Mechanisierung so viel zu opfern, als ihnen zusammenhanglos erscheint, so [38] viel, als ihre Interessen und Bequemlichkeiten nicht betrifft. Vor allem aber dämmert ein Bewußtsein, daß Unrecht im Spiel ist. Daß keiner, auch der Glücklichste nicht, von innerem Abbruch verschont bleibt, daß ein Höheres als das Verlorene in Gefahr ist. Noch webt das Geplänkel um Außenwerke, weil das Gesamtwesen und die Gesamtmacht der Mechanisierung nicht erkannt und nicht verstanden ist; Fragen der Weltanschauung, des Kapitalismus, des Elends, der Technik werden außer Zusammenhang mit dem Zentralproblem erörtert. Eine Orientierung besteht nicht; Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Kultur, Gleichgewicht, Politik, Interesse, Tradition, Nationalität, Ästhetik werden abwechselnd zur Achse gewählt. Hier pocht das schlechte Gewissen der Zeit und ihre innere Sorge; wir haben die Mechanisierung nach ihren ordnenden Kräften befragt, nun soll sie über ihre geheim waltenden Zersetzungen Rede stehen.

I. Mechanisierung ist eine materielle Ordnung; aus materiellem Willen mit materiellen Mitteln geschaffen, verleiht sie dem irdischen Handeln eine Richtungskomponente ins Ungeistige. Niemand kann dieser Richtkraft gänzlich sich entziehen, im mechanistischen Sinne bleibt auch der höchst vergeistigte Mensch ein wirtschaftendes Subjekt, das, um zu leben, besitzen oder erwerben muß. Die Welt ist zur Händlerin und Schaffnerin geworden, und jeder trägt den Einschlag und die Färbung der Zeit. Wie müssen Jahrhunderte des Denkzwanges auf den gepreßten Menschengeist wirken! Die Ära der Arbeitsteilung verlangt Spezialisierung; bewegt sich der Geist in den ähnlich bleibenden Normen und Praktiken seines Sondergebietes, erscheint ihm [39] zugleich, durch tausendfältiges Botschaftswesen das Nebelpanorama des unbarmherzig wechselnden Weltgeschehens, so dünkt ihm leicht das Kleine groß, das Große klein; der Eindruck verflacht, leichtfertiges, verantwortungsloses Urteil wird begünstigt. Bewunderung und Wunder erstirbt vor dem Schrei der Neuheit und Sensation; von allem bleibt der schäbigste Vergleich: Zahl und Maß; das Denken wird dimensional. Gilt von den Dingen die Abmessung, so gilt vom Handeln der Erfolg; er betäubt das sittliche Gefühl, so wie Messen und Wägen das Qualitätsgefühl verblödet. Vom raschen Urteil nährt sich der Erfolg; Irrtum und Täuschung kostet; der Sinn wird skeptisch. Er will nicht in die Dinge, sondern hinter die Dinge, Menschen und Mächte dringen, er verliert Scheu und Scham. Wissen ist Macht, heißt es, Zeit ist Geld; so geht Wissen erkenntnislos, Zeit freudlos verloren. Die Dinge selbst, vernachlässigt und verachtet, bieten keine Freude mehr, denn sie sind Mittel geworden. Mittel ist alles, Ding, Mensch, Natur, Gott; hinter ihnen steht gespenstisch und irreal das Ding-an-sich des Strebens: der Zweck. Der nie erreichte, nie erreichbare, nie erkannte: ein trüber Vorstellungskomplex von Sicherheit, Leben, Besitz, Ehre und Macht, von dem je so viel erlischt, als erreicht ist, ein Nebelbild, das beim Tode so fernsteht wie beim ersten Anstieg. Ihm drohend gegenüber erhebt sich, realer und tausendfach überschätzt, das Furchtbild der Not. Von diesen Phantomen gezogen und getrieben, irrt der Mensch vom Irrealen hinweg zum Irrealen hin; das nennt er leben, wirken und schaffen, das vererbt er als Fluch und Segen denen, die er liebt.

[40] Dieser Zustand des mechanisierten Geistes aber ist nichts andres als der zum Großstadttaumel aufgepeitschte Urzustand der niedern Rassen, das Furcht- und Zweckwesen derer, die in ihrem Aufschwung das Zeitalter geschaffen haben. Mehr als ein Atavismus: ein Niedersinken aller, die den Trank genießen, in die Tiefe der Dunklen, die ihn brauten. So sind sie auf dem Zenit der Zivilisation verdammt, das Leben, die Stimmung, die Angst und die Freuden zu erleben, die ihre Vorderen den Sklaven gönnten.

Diese Stimmung aber ist Streben und Verblendung. Streben, dem kein Ziel genügt und das doch so irrational ist, daß es zuletzt die Arbeit zum Selbstzweck macht, und so erdgebannt, daß es alles, was gleißt, vom Wege aufliest und, mit der toten Fracht der Mittel belastet, sich zum Grabe schleppt; Verblendung, der keine Tatsache real genug, kein Wissen zu nebensächlich ist, und die doch jede Vertiefung scheut, die Welt entfleischt und entgeistert, den sterblichen Sinn ertötet und den unsterblichen verschmäht.

Die Freuden sind die der Kinder, Sklaven und niedern Frauen: Besitz, der glänzt und Neid schafft, Unterhaltung und Sinnenrausch. Die Besitzfreude steigert sich zum irrsinnigen Warenhunger, der sich selbst vertausendfacht, indem Übersättigung und Mode alljährlich die Schatzkammern entwerten und leeren müssen, um sie mit neuem Unrat und Tand zu füllen. Tief erniedrigend und entwürdigend sind die Freuden der Großstadt und der Gesellschaft, die in unbewußter Ironie sich die bessere nennt. Verläßt ein denkender Mensch und Menschenfreund die Stätten, an denen dieses Volk sich [41] vergnügt oder, wie es mit dem gemeinsten Wort vulgärer Sprache es bezeichnet, sich amüsiert; verläßt er diese Orte, ohne auch nur einen Augenblick an der Zukunft der Menschheit zu zweifeln, so hat er die stärkste Prüfung seiner Weltzuversicht überstanden. Rausch, Lust und Verbrechen strömt aus Giften und Reizmitteln, die an Aufwand das Dreifache fordern von dem, was die Welt für alle Aufgaben ihrer Kultur zusammenträgt.

2. Mechanisierung ist Zwangsorganisation, deshalb verkümmert sie die menschliche Freiheit.

Der einzelne findet das Maß seiner Arbeit und Muße nicht mehr im Bedürfnis seines Lebens, sondern in einer Norm, die außer ihm steht, der Konkurrenz. Es genügt nicht, daß er nach dem Ausmaß seiner Kräfte und Wünsche schafft, er wird geschätzt nach dem, was der andre, die andren schaffen; halbe oder langsame Arbeit ist wertlos, sie gilt nicht besser als Müßiggang. Die Weltarbeit vom Feldherrn bis zum Postboten, vom Tagelöhner bis zum Finanzmann steht unter dem Druck des Akkord- und Rekordsystems; von jedem wird so viel verlangt, als der andre leistet. Der alte Handwerker ergänzte sein Schaffen durch Liebe und Verschönerung; die Mechanisierung produziert unter dem Sinnbild der Submission: ein Minimum an Güte und Menge wird vorgeschrieben, der geringste Preis ist recht, und Liebe wird nicht bezahlt. Die Grenze der Anspannung bietet der Kampf der Gruppen, aufwärts bis dem der Nationen, und auch der entscheidet sich nach objektiven Kräftesummen, ohne Einfluß des einzelnen.

Selbst in der Richtung und Fassung seiner Werktätigkeit ist der Mensch nicht frei. Mag er zur [42] Einseitigkeit oder zur Vielfältigkeit bestimmt sein die mechanistische Ordnung benutzt ihn zur Spezialisierung. Willig fügt sich das Geschlecht dem Zwang, es erzeugt den geborenen Handelsreisende und Schullehrer, wie es den geborenen Betriebsingenieur und Insektenforscher erzeugt; noch mehr es liefert die Typen in der Zahl und Auswahl, wie Bedürfnis und Überfüllung sie vorschreibt. Rückfall wird bestraft; entsteht noch dann und wann ein Mensch vom alten Schlage der Krieger, Abenteurer, Handwerker, Propheten, so wird er aus der gemeinsamen Anstalt ausgeschlossen und verfemt oder zum niedersten undifferenzierten Dienst entwürdigt.

Der Zwang geht weiter. Auch die Selbstverantwortung wird dem Menschen genommen. Denn das organisatorische Wesen der Mechanisierung beruhigt sich nicht, bevor jeder ihrer Teile, jede ihrer Summen wiederum zum Organismus geworden ist; in gleicher Lückenlosigkeit, wie jedes noch so kleine und noch so große Element der lebenden Natur sich als Organon darstellt. Genossenschaften, Vereinigungen, Firmen, Gesellschaften, Verbände, Bureaukratie, berufliche, staatliche, kirchliche Organisationen binden und trennen die Menschheit in unübersehbarer Verflechtung; niemand ist für sich, jeder ist unterworfen, andern verantwortlich. Dieser Zustand, erhebend in der Großartigkeit der Konzeption und in der naturgewaltigen Tröstlichkeit eines nicht mehr menschengeschaffenen Schicksals, wird zum öden Dienst in jenen gewaltigen, unbewußt dämmernden Regionen, in denen nicht selbstbewußte Verantwortung, sondern unterworfenes Interesse waltete. Auch der zünftige [43] Handwerker war abhängig, doch nicht im gleichen Sinne wie der Angestellte des Warenhauses; seine Gebundenheit war sichtbar, eindeutig und dennoch von innerer Freiheit erfüllt. Ein Blendwerk äußerer Freiheit bedeckt die mechanistische Bindung: der Unzufriedene kann Rücksicht auf Form verlangen, auftrumpfen, die Arbeit niederlegen, wegziehen, auswandern: und doch befindet er sich nach Wochen bei veränderten Namen, Personen und Ortschaften im gleichen Verhältnis. Die Anonymität der Unfreiheit vollbringt durch ihren Zauber, was den alten Despotien und Oligarchien mit ihren Häschern und Spähern nicht gelang: die Abhängigkeit zu verewigen.

Der Einzelzwang aber ist ein geringes Übel, verglichen mit der Massenerscheinung, die ihn überdeckt. Die Mechanisierung als Massenorganisation bedarf der Menschenkraft nicht einzeln, sondern in Strömen. Die Pyramidenmannschaft der Pharaonen genügt nicht, um den Tagesbedarf eines Landes auch nur an Werkzeugen zu decken; die Heeresmacht Napoleons reicht nicht zu für die Besatzung eines Bergwerksbezirks. Völkerschaften müssen bereitstehen, um sich zu wechselnden Heeresströmen beständig neu zu ordnen, millionenfache Maschinenpferde verlangen millionenfaches Zentaurenvolk. Nicht innere Notwendigkeit des Mechanisierungsprinzips, sondern bequem gebilligte Begleitumstände der Entwicklung haben die an sich unvermeidliche Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Leistung zur ewigen und erblichen gemacht und so in jedem zivilisierten Lande zwei Völker geschaffen, die blutsverwandt und dennoch ewig getrennt, im gleichen Verhältnis [44] wie ehedem die stammesfremden Ober- und Unterschichten, einander gegenüberstehen. Beide sondert und beherrscht der Zwang. Ohne Verlust bürgerlichen Ranges und Bewußtseins, ohne Verzicht auf gewohnten Umgang, Güter des Genusses und der Kultur steigt kein Oberer hinab, ohne den Zufall eines Anfangbesitzes an Kapital oder Ausbildung dringt kein Unterer hinauf. Dieser Zufall aber ist, abgesehen vom Falle der Auswanderung, so unverhältnismäßig selten, daß unter Tausenden von Angestellten, die durch den Gesichtskreis unsrer Unternehmer schreiten, sich kaum der Sohn eines echten Proletariers findet.

Von unerhörter Härte ist dieser Trennungszwang für das zweite Volk. Helotie, Leibeigenschaft, Hörigkeit waren auf Landwirtschaft gegründete Abhängigkeiten. Die Arbeit, härter und unlohnender als die der Freien, war doch von gleicher Art; es war der schön bewegte Kreis des Landlebens, wenn auch unter Aufsicht und elende Kürzung des Ertrages gezwängt. Die Arbeit des Proletariers genießt zwar jene lockende Anonymität der Abhängigkeit; er erhält nicht Befehle, sondern Anweisungen, er folgt nicht dem Herrn, sondern dem Vorgesetzten; er dient nicht, sondern übernimmt eine freie Verpflichtung; seine menschlichen Rechte sind die gleichen wie die des Gegenkontrahenten; er hat die Freiheit, Ort und Stellung zu wechseln; die Macht, die über ihm steht, ist nicht persönlich: erscheint sie in der Form eines einzelnen Arbeitgebers oder einer Firma, so ist es in Wahrheit die bürgerliche Gesellschaft. Dennoch verläuft sein Leben, wie er es auch innerhalb dieser Scheinfreiheit gestalte, in generationenlanger Öde und [45] Gleichförmigkeit, über und unter Tage. Wer ein paar Monate lang bei ungeistiger Verrichtung von 7 bis 12 und von I bis 6 das Zeichen einer Pfeife herangesehnt hat, ahnt, welche Selbstverleugnung ein Leben der entseelten Arbeit fordert; niemals wieder wird er versuchen, durch kirchliche oder profane Überredung dieses Leben an sich als ein zufriedenstellendes zu rechtfertigen, und jeden Versuch, es zu mildern, als Begehrlichkeit verschreien. Wer aber ermißt, daß dies Leben nicht endet, daß der Sterbende die Reihe seiner Kinder und Kindeskinder unrettbar dem gleichen Schicksal überliefert sieht, den ergreift die Schuld und Angst des Gewissens. Unsre Zeit ruft nach Staatshilfe, wenn ein Droschkenpferd mißhandelt wird, aber sie findet es selbstverständlich und angemessen, daß ein Volk durch Jahrhunderte seinem Brudervolk frönt, und entrüstet sich, wenn diese Menschen sich weigern, ihren Stimmzettel zur Erhaltung des bestehenden Zustandes abzugeben. Das flache Dogma des Sozialismus ist ein Produkt dieser bürgerlichen Gesinnung; tiefste Notwendigkeit und funkelndes Paradox ist es zugleich, daß dieses Dogma zur stärksten Stütze von Thron, Altar und Bürgertum werden mußte: indem es nämlich mit dem Gespenst der Expropriation den Liberalismus schreckte, so daß er alles freie und eigene Denken fahren ließ und hinter den erhaltenden Mächten Schutz suchte.

Der herrschenden Volksschicht ist der mechanistische Trennungszwang keine Not, doch eine Gefahr. Es scheint ein Naturgesetz, daß jeder Organismus, der vom natürlichen Lebenskampfe auch nur um ein weniges entlastet wird, zunächst zwar üppig gedeiht, dann erschlafft und eingeht. [46] Die Völkeropfer dieser Schicksalsfolge wurden ehedem von Eroberern abgelöst und in wiedererzeugende Berührung mit dem Boden gebracht. Eroberer birgt der Behälter der Erde nicht mehr eine bloße Umwälzung der Schichten würde das Spiel mit vertauschten Rollen, nicht mit erfrischten Kräften, erneuern und kläglich beenden. Zu der Entlastung von leiblicher Arbeit tritt die Geschlechterfolge intellektualer Anspannung, die unsre Großstädte geistig und physisch entfruchtet und der Dämpfung des westlichen Volks Wachstums vorarbeitet.

Überblickt man die Erscheinung der zwangsweisen Schichtung, die wir dem rastlosen Streben der Mechanisierung nach Organisation und Arbeitsteilung zuschreiben, so ergibt sich abermals, daß die Bewegung zum Empfindungs- und Bewegungskreise ihrer dunklen Urerzeuger zurückgekehrt ist. Sie hat den Urständ der Sklaverei nicht verschmerzt und trotz Abendland, Christentum und Zivilisation verstanden, ein Hörigkeitsverhältnis über die Völker zu breiten, das ohne gesetzlichen Zwang, ohne sichtbare Herrengewalt, durch den bloßen Ablauf scheinbar freier Wirtschaftsvorgänge gesichert, eine zwar anonyme und verschiebbare, doch unzerbrechliche und erbliche Abhängigkeit von Schicht zu Schicht verbürgt.

3. Mechanisierung ist nicht aus freier und bewußter Vereinbarung, aus dem ethisch geläuterten Willen der Menschen entstanden, sondern unabsichtlich, ja unbemerkt aus den Bevölkerungsgesetzen der Welt erwachsen; trotz ihres höchst rationalen und kasuistischen Aufbaues ist sie ein unwillkürlicher Prozeß, ein dumpfer Naturvorgang. Un- [47] ethisch auf dem Gleichgewicht der Kräfte, auf Kampf und Selbsthilfe beruhend, wie etwa der Urzustand im Lebensgleichgewicht eines Waldes, verbreitet sie eine Weltstimmung, die, rückwärts gewandt über die frühe Arbeit des Christentums, über die politische und theokratische Ethik der Mittelmeerkultur hinweggreifend, unter der Deckung und Maske der Zivilisation abermals auf primitive Menschheitszustände hinstrebt. Denn diese Stimmung ist Kampf und Feindschaft.

Das menschliche Herz schlägt zu warm, es ist zu bedürftig der Anlehnung und Liebe, als daß der Haß als offne, weltverzehrende Flamme ausschlagen dürfte; doch je härter und spröder das Geschlecht, das der Mechanisierung erliegt, desto tückischer nagt der innere Brand im knirschenden Getriebe.