Von Mr. Holmes zu Sherlock - Mattias Boström - E-Book

Von Mr. Holmes zu Sherlock E-Book

Mattias Boström

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Beschreibung

Auch mehr als 125 Jahre nach seinem ersten Fall erfindet sich Sherlock Holmes immer wieder neu: Benedict Cumberbatch interpretiert den genialen Meisterdetektiv moderner und persönlicher denn je, Regisseur Guy Ritchie inszeniert ihn als humorvoll-amüsanten Gentleman und Herr-der-Ringe-Star Ian McKellen wagt sich an eine Version des pensionierten Holmes. Aber woher rührt der weltweite Mega-Erfolg des unkonventionellen Privatermittlers? Was fesselt Generationen von Lesern, Hörern und Zuschauern an den Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle? Und wer ist das reale Vorbild für die vielleicht größte literarische Figur aller Zeiten? Der schwedische Sherlock-Holmes-Experte Mattias Boström begibt sich in diesem aufwändig recherchierten Buch auf Spurensuche, um das Erfolgsgeheimnis des Mannes aufzudecken.

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Seitenzahl: 729

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Zum Buch

Die unglaubliche Karriere des Sherlock Holmes: Sie begann im November 1887 als Titelgeschichte eines englischen Weihnachtsmagazins. Mehr als 125 Jahre später ist er eine der größten literarischen Figuren aller Zeiten, und ein Ende seiner Erfolgsgeschichte ist noch lange nicht absehbar. Aber woher rührt der weltweite Mega-Hype um den unkonventionellen Privatermittler? Was fesselt Millionen von Lesern, Hörern und Zuschauern stets von Neuem an den Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle? Und wer ist das reale Vorbild für den Meister der Verkleidung? Europas führender Sherlock-Holmes-Experte Mattias Boström begibt sich in diesem aufwendig recherchierten Buch auf Spurensuche, um das Erfolgsgeheimnis des Mannes, der nie lebte und niemals sterben wird, aufzudecken.

Der Autor

Mattias Boström, Jahrgang 1971, ist einer der führenden Sherlock-Holmes-Experten weltweit. Er ist Mitglied der prestigeträchtigen Gesellschaft »Baker Street Irregulars«, welche ihn für seine Schriften über die Arbeit von Sir Arthur Conan Doyle mit ihrem höchsten Preis ausgezeichnet hat. Bei Twitter, Facebook und in seinem Blog www.mattiasbostrom.se informiert er seine Follower regelmäßig über aktuelle Projekte. Er lebt mit seiner Frau und einer Tochter in der Nähe von Stockholm.

MATTIAS BOSTRÖM

VON MR. HOLMES ZU SHERLOCK

Meisterdetektiv · MythosMedienstar

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann und Hanna Granz

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Die schwedische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Från Holmes till Sherlock« bei Piratförlaget.

Die Übersetzung wurde vom Swedish Art Council gefördert, wofür sich der Verlag sehr herzlich bedankt.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2016

Copyright © 2013 by Mattias Boström

First published by Piratförlaget, Sweden.

Published by agreement with Brandt New Agency.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Nebojsa S/Shutterstock; Gordan/Shutterstock; RoyStudio.eu/Shutterstock

Autorenfoto: © Anna-Lena Ahlström

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

RK ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-16684-7

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Vorwort

Über das Phänomen Sherlock Holmes habe ich so viele Bücher gelesen. Ein bestimmtes konnte ich jedoch nicht finden, obwohl ich überall danach gesucht habe: Ein populär-historisches Buch, das sich nicht nur mit Sherlock Holmes als Charakter beschäftigt, sondern auch mit den Menschen, die ihn erschaffen haben, zu seinem Erfolg beigetragen und ihn bis heute aufrecht erhalten haben. Ein solches Buch wäre voller faszinierender, tragischer, aufregender und lustiger Momente – fast so, als ob das Leben selbst zu einem Roman geworden wäre. Eine unterhaltsame Lektüre, die von jedem geschätzt würde, ob man nun lebenslanger Sherlock-Holmes-Fan ist oder nur seinen Namen und seine Eigenschaften kennt.

Ich hätte so ein Buch gerne gelesen, weil ich davon überzeugt bin, dass der Grund für Sherlock Holmes‘ Popularität – nach 130 Jahren ist er so erfolgreich wie nie zuvor – nicht nur in den Originalgeschichten zu finden ist, sondern auch darin, was die Menschen, die ihn erschaffen, wieder erschaffen und verehrt haben, dafür getan haben.

Aber ein solches Buch konnte ich nicht finden. Also beschloss ich, es selbst zu schreiben.

Viel Spaß bei der Lektüre!

Mattias Boström

ILLUSTRATION VON SIDNEY PAGET ZU SILVER BLAZE

1

Alles begann in einem Zug.

Auf einer ihrer vielen Fahrten kamen Steven Moffat und Mark Gatiss auf die Idee, eine der berühmtesten Gestalten der Weltliteratur neu zu interpretieren: Sherlock Holmes. Aus der Figur des in den achtzehnhundertneunziger Jahren von Arthur Conan Doyle geschaffenen Gentleman-Detektivs wollten sie einen modernen, genialen Sonderling machen. Auf die Atmosphäre des nebligen, von Pferdekutschen geprägten London würden sie radikal verzichten und Sherlock Holmes inmitten unserer eigenen, hochtechnologisierten Gegenwart wiederauferstehen lassen.

Mr. Holmes würde einfach zu Sherlock.

Natürlich war dieses Vorhaben eine ketzerische Idee; eine so unorthodoxe Fernsehserie würde unter den Fans garantiert kontroverse Debatten auslösen, das war Moffatt und Gatiss bewusst. Doch nachdem die Idee einmal geboren war, entwickelte sie sich immer weiter, je öfter sie darüber sprachen. Sie wollten Sherlock Holmes von seinen klassischen Insignien wie Mütze, Pfeife und Vergrößerungsglas und damit von all der Nostalgie, die ihn umgab, befreien. Alles, was Holmes eher als scharf umrissene Silhouette erscheinen ließ denn als komplexen Menschen, sollte verschwinden. Dennoch musste die Umwandlung mit großer Liebe zu den Originaltexten geschehen. Vor allem wollten die beiden Autoren die Zuschauer so intensiv wie möglich an der Freundschaft zwischen Sherlock Holmes und Dr. Watson teilhaben lassen. Sie sollten den beiden näherkommen können als je zuvor, seit die Figuren vor über hundert Jahren in der Fantasie ihres Autors entstanden waren.

Moffats und Gatiss’ Gedankenspiel begann ein paar Jahre nach der Jahrtausendwende und war zu diesem Zeitpunkt lediglich eine Idee – ein unverfängliches Gesprächsthema zwischen zwei Kollegen, die von London zu ihrer Arbeit als Manuskriptschreiber für BBC Wales nach Cardiff pendelten.

Doch mit der Zeit wurden es sehr viele Fahrten, und die Idee nahm immer mehr Gestalt an.

Kurze Zeit später, am 7. Januar 2006, nahmen Mark Gatiss und Steven Moffat am Jahrestreffen der Sherlock Holmes Society of London teil. Gatiss war als Redner eingeladen und Moffat als sein Gast.

Gatiss war bereits im Jahr zuvor auf dem Treffen gewesen, damals selbst als Gast, während sein Freund Stephen Fry, ebenfalls ein Holmes-Fan, als umjubelter Redner aufgetreten war. Bei dieser Gelegenheit hatte Gatiss den Vorsitzenden der Gesellschaft gefragt, ob er nicht einmal wiederkommen dürfe.

Und so stand er nun in Smoking und schwarzer Fliege vor den Holmesianern, wie sie sich nannten, oder Sherlockianern – um sich des weiter verbreiteten, amerikanischen Terminus zu bedienen – um seinen Vortrag zu halten.

Eines der Mitglieder, ein Parlamentsmitglied von Orpington, hatte in guter alter Tradition dafür gesorgt, dass das große Essen im Speisesaal des Unterhauses stattfinden konnte. Ein großartiger, durch und durch angemessener Ort, um sich aus der Wirklichkeit in alte viktorianische Zeiten zu flüchten. Die Wände waren mit Eichenpaneel verkleidet und aus den Fenstern hatte man einen wunderbaren Blick auf die abendlichen Lichter von Lambeth am gegenüberliegenden Ufer der Themse. Etwas weiter links lag London Eye, das Symbol des heutigen London, und damit auch für einen Sherlock Holmes der Gegenwart.

Für Gatiss und Moffat waren es aufregende Stunden. Zum ersten Mal hatten sie die Gelegenheit, ihre Idee einem größeren Publikum zu präsentieren, und ausgerechnet diese ersten Hörer gehörten zu den Kritischsten und am schwersten Verführbaren, die sie sich für ihr Vorhaben hätten aussuchen können.

Inzwischen näherte sich Mark Gatiss’ Rede ihrem Ende. Er hatte zunächst von seinem langjährigen Holmes-Interesse berichtet und war nun bei seinen Zug-Gesprächen mit Moffat angelangt.

»Gemeinsam überlegten wir also: Kann Holmes für eine völlig neue Generation wiederauferstehen?« Er skizzierte das Szenario: »Ein junger, in Afghanistan verwundeter Feldarzt findet sich allein und ohne Freunde in London wieder.« Gerade dieses Detail, dass Watson aus Afghanistan heimkehrte, war für Gatiss und Moffatt sehr überzeugend gewesen. Damit ließ sich Sherlock Holmes’ Geschichte nämlich genauso beginnen, wie die um 1880. Die Krisenherde in der Welt waren weitestgehend dieselben geblieben.

»Dieser Arzt hat finanzielle Schwierigkeiten«, fuhr Gatiss fort, »und trifft auf einen ehemaligen Mediziner-Kollegen, der ihm erzählt, er kenne einen Typen, der einen Mitbewohner suche. Der Typ sei okay, aber ein bisschen sonderbar. Und so trifft Dr. John Watson, der während der Befreiung Kabuls von den Taliban verwundet wurde, auf Sherlock Holmes, einen verschrobenen, etwas nervösen jungen Mann, der einen etwas zu starken Hang zu Drogen hat, und der eine Menge ungewöhnlicher Erkenntnisse auf seinem Laptop zusammengetragen hat …« Gatiss blickte über die versammelten Sherlock-Holmes-Fans hinweg. »Es ist nur ein Gedanke, ein Anfang.«

Die Sherlockianer hatten schon einiges erlebt. Im Laufe der Jahre hatte es zahlreiche Versuche gegeben, Sherlock Holmes umzugestalten. Manchen war es gelungen, anderen wiederum nicht. Würde Gatiss’ und Moffats Idee, Holmes in die Gegenwart zu übersetzen, bei ihnen auf fruchtbaren Boden fallen? Im Grunde hatte bisher jede Zeit ihren eigenen Sherlock Holmes gehabt. Im Laufe von mehr als hundert Jahren war der berühmte Detektiv immer wieder herrschenden Trends und Idealen angepasst worden. Vielleicht war es ja gerade Gatiss und Moffat beschieden, Sherlock Holmes einer neuen Generation zugänglich zu machen.

»Um Holmes’ Zeitlosigkeit zu beweisen, ist es notwendig, dass er eben nicht in viktorianischem Aspik konserviert wird, sondern zu neuem Leben erwachen darf!«, argumentierte Gatiss.

Die Reaktionen waren natürlich gemischt. Doch zugleich machten die Anwesenden einen amüsierten und angeregten Eindruck. Sie schienen sich zumindest auf Gatiss’ Gedankenspiel einlassen zu können.

Im Speisesaal des Unterhauses herrschte demzufolge gute Stimmung. Mark Gatiss und Steven Moffat atmeten erleichtert auf. Die erste Hürde war genommen.

»Meine Damen und Herren«, Mark Gatiss hob sein Glas. »Lassen Sie uns auf Conan Doyle, Sherlock Holmes und Dr. Watson anstoßen. Sie leben hoch!«

Das Abenteuer konnte beginnen.

Teil 1

1878–1887

ARTHUR CONAN DOYLE AM SCHREIBTISCH

2

Es war ein Freitag im Spätherbst 1878. In Edinburgh hatte das Krankenhaus Royal Infirmary neue Gebäude am Lauriston Place bezogen, wo die Luft deutlich frischer war als in der Innenstadt, wo die Klinik vorher gelegen hatte. Obwohl seit fast zehn Jahren versucht wurde, in den Slums um die High Street und in den steilen Gassen von Old Town aufzuräumen, war die Sterblichkeitsrate dort viel höher als in dem wohlhabenderen New Town.

Mit der modernen Royal Infirmary verfügte Edinburgh über das größte und in seiner Struktur am besten geplante Krankenhaus Großbritanniens, das über ganze sechshundert Betten verfügte. Sogar Vorlesungsräume und Labore gab es, in denen eine junge Generation angehender Ärzte ein Medizinstudium durchlief, das den allerneuesten Standards entsprach.

Über einen der Krankenhausflure eilte gerade ein Mann, der lebhaft ein Handtuch schwenkte, ein vertrauter Anblick für Kollegen und Medizinstudenten. Er erschien immer pünktlich zu seinen Vorlesungen, das stahlgraue Haar stand nach allen Seiten ab und den Kopf trug er hoch erhoben. Dabei bewegte er sich ruckartig und energisch, mit pendelnden Armen.

Nachdem er ein kleines Chemielabor durchquert hatte, trat er direkt in Saal XI, ein Amphitheater, das ihm als Wirkungsstätte diente. Das Gedränge in den Holzbänken, die in ansteigenden Reihen sein Podium umgaben, war groß; die Freitags-Vorlesungen dieses Mannes gehörten zu den beliebtesten des ganzen Studiengangs. Flackernde Gaslampen verbreiteten ein bläuliches Licht, und ganz unten, wo es am hellsten war, setzte sich der dünne, gelenkige Mann auf einen Stuhl und breitete das Handtuch über seinen Knien aus. Anschließend legte er los.

»Dies, meine Herren, ist eine sehr starke Droge.« Er ließ seinen Assistenten ein Medizinfläschchen mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit herumgeben. »Sie ist äußerst bitter im Geschmack. Ich will jetzt einmal prüfen, wie viele von Ihnen die Beobachtungsgabe, mit denen der liebe Gott Sie zu Beginn Ihres Lebens ausgestattet hat, weiterentwickelt haben. ›Aber Sir‹, werden Sie sagen, ›diese Droge kann chemisch analysiert werden.‹ Das stimmt; aber ich möchte, dass Sie probieren, wie sie riecht und schmeckt. Sie zögern? Nun, da ich meine Studenten niemals um etwas bitten würde, was ich selbst nicht täte, werde ich selbst einen Tropfen aus der Flasche nehmen, bevor Sie an der Reihe sind.«

Seine Stimme war hoch, beinahe schrill, und das Schottische in jedem Wort erkennbar. Er tauchte einen Finger in die Flüssigkeit und blickte zu den Studenten auf, sein Blick war der eines Adlers, die Augen grau. Die jungen Männer in den Bankreihen sahen zu, wie er sich den Finger ableckte und eine Grimasse zog.

»Jetzt sind Sie dran.«

Einer nach dem anderen kostete von der Flüssigkeit, verzog das Gesicht und gab die Flasche weiter. Als sie in der obersten Bankreihe und beim letzten widerstrebenden Verkoster angekommen war, ertönte von unten herzliches Gelächter.

»Meine Herren, meine Herren«, rief der Professor aus. »Es schmerzt mich zutiefst, dass keiner von Ihnen die Fähigkeiten ausgebaut zu haben scheint, wie ich es Ihnen so dringend ans Herz gelegt habe. Denn wenn Sie mich genau beobachtet hätten, hätten Sie festgestellt, dass ich zwar den Zeigefinger in dieses widerliche Gebräu gesteckt, aber den Mittelfinger abgeleckt habe.«

Der Mann mit dem Handtuch war Dr. Joseph Bell, einundvierzig Jahre alt und Dozent in Klinischer Chirurgie. Seine unorthodoxen Methoden waren an der Universität wohlbekannt. Dies war nicht der erste Jahrgang, der auf seinen Trick mit dem Medizinfläschchen hereingefallen war, mit dem er den Studenten gern bewies, wie wichtig genaues Beobachten im Beruf des Mediziners war.

Bell wollte ihnen zeigen, dass eine effektive Behandlung von Krankheiten und Verletzungen vor allem davon abhing, wie schnell und gründlich man die winzigen Details zu erfassen vermochte, durch die sich der Zustand eines Patienten von demjenigen gesunder Menschen unterschied. Und um dies zu veranschaulichen, zeigte Joseph Bell, wie viel ein Mensch, der sein Beobachtungsvermögen geschult hatte, über einen anderen herausfinden konnte. Über die Patientengeschichte etwa oder über Nationalität und Beruf des Betreffenden.

»So, so, guter Mann, Sie haben also in der Armee gedient«, sagte Bell zum ersten Patienten des Tages, einem zivil gekleideten Mann, der gerade erst aus dem Vorraum in den Saal getreten war und noch kein Wort gesprochen hatte. Bells Assistenten waren sehr gut organisiert, und es gab keinerlei Verzögerungen, wenn die Patienten einer nach dem anderen aufgerufen wurden, innerhalb kürzester Zeit ihre Diagnose bekamen und anschließend wieder hinausgeführt wurden.

»Ja, Sir.«

»Frisch beurlaubt?«

»Ja, Sir.«

»Hochlandregiment?«

»Ja, Sir.«

»Unteroffizier?«

»Ja, Sir.«

»Auf Barbados stationiert?«

»Ja, Sir.«

»Sehen Sie, meine Herren«, erklärte Bell seinen Studenten, »dieser Mann ist ein ehrfurchtsvoller Mensch. Dennoch hat er den Hut nicht abgenommen. Das tut man bei der Armee nämlich nicht. Wäre er allerdings schon länger beurlaubt gewesen, hätte er sich diese zivile Regel inzwischen angeeignet. Er tritt autoritär auf und ist offensichtlich Schotte. Was Barbados angeht, so leidet er an Elefantiasis – eine westindische und keine britische Krankheit.«

Im Schein der Gaslampen schrieben die Studenten eifrig mit. Bells Behauptungen hatten auf sie zunächst wie Zauberei gewirkt, doch nach den Erläuterungen schien ihnen alles ganz einfach.

Es folgte eine weitere Lektion: Eine dunkel gekleidete, alte Dame mit einer abgenutzten, schwarzen Handtasche wurde in den Saal geschleust. Bell schaute sie nur kurz an und sagte dann:

»Wo haben Sie Ihre kurzstielige Pfeife?«

Verlegen drückte die Frau ihre Handtasche an sich.

»Kümmern Sie sich nicht um die Studenten«, sagte Bell. »Zeigen Sie mir einfach die Pfeife.«

Und wirklich, sie zog eine kurze Tonpfeife heraus.

»Nun«, fragte Bell die Studenten, »woher habe ich wohl gewusst, dass sie so eine Pfeife besitzt?« Keine Antwort. »Haben Sie den Ulkus an ihrer Unterlippe bemerkt, und die glänzende Wunde an ihrer linken Wange, die aussieht wie eine äußere Brandverletzung? Zusammengenommen ergeben sie genau die Spuren, die eine kurzstielige Pfeife hinterlässt, wenn man sie zu nahe an das Gesicht hält.«

Oft versuchte Bell seine Studenten in die Diagnosen einzubeziehen, doch ihr Beobachtungsvermögen war längst nicht so geschult wie seines. Ein schnauzbärtiger junger Mann in der dritten Reihe hingegen war ihm bereits mehrfach aufgefallen. Er hieß Arthur Conan Doyle und schien sich jedes Wort zu notieren, das Bell sagte.

»Was fehlt diesem Patienten?«, fragte Bell einen Studenten während einer anderen Lektion. »Sie dürfen ihn nicht berühren. Benutzen Sie Ihre Augen und Ohren, Ihr Gehirn, Ihre Beobachtungsgabe und Ihre Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen.«

»Er hat ein Hüftleiden, Sir«, stammelte der Student.

Bell lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Hände unterm Kinn zusammen, Fingerspitzen an Fingerspitzen.

»Hüfte? – Keineswegs! Der Grund, weshalb dieser Mann hinkt, ist nicht die Hüfte, sondern der Fuß. Wenn Sie ihn genau beobachtet hätten, hätten Sie die Schlitze in seinem Schuh bemerkt. Sie sind mit einem Messer genau dort hineingeschnitten worden, wo der Schuh am stärksten auf den Fuß drückt. Meine Herren, dieser Mann hat Hühneraugen, keine Hüftgelenksbeschwerden. Doch nicht wegen der Hühneraugen ist er hier, er hat ein viel gravierenderes Problem. Chronischer Alkoholmissbrauch. Die rote Nase, das geschwollene, aufgedunsene Gesicht, die blutunterlaufenen Augen, die zitternden Hände und zuckenden Gesichtsmuskeln sowie die schnell pulsierende Ader an der Schläfe – alles deutet darauf hin. Diese Schlussfolgerung, meine Herren, bedarf jedoch eines konkreten Beweises. In diesem Fall wird meine Diagnose dadurch gestützt, dass aus der rechten Tasche seines Mantels der Hals einer Whiskyflasche ragt … Vergessen Sie bitte nie, Ihre Schlussfolgerungen zu untermauern.«

Die Stunde war zu Ende. In der dritten Reihe packte Arthur Conan Doyle seine Aufzeichnungen zusammen und erhob sich. Er war knapp zwanzig Jahre alt, groß und athletisch gebaut. Von den Zuschauerplätzen aus begab er sich Richtung Ausgang.

3

Arthur Conan Doyle griff zur Feder und begann einen Brief an seine Mutter.

Southsea, Juni 1882

Nur ein paar Zeilen, um Dir mitzuteilen, dass ich morgen in mein Haus einziehen werde, Bush Villas Nr. 1, Elm Grove. Es liegt genau zwischen einer Kirche und einem Hotel, sodass ich gewissermaßen als Puffer fungiere. Ich muss sagen, im Moment läuft es richtig gut! Alles, was ich mir vorgenommen habe, habe ich erfüllt. Ich habe noch ein paar Schilling zum Leben übrig, und fünf Pfund für die Miete zur Seite gelegt. Die Möbel sind ausgezeichnet. Lass mich wissen, wann Connie kommt. Alte Teppiche oder Wachstücher sind willkommen.

Ein paar Wochen zuvor war Conan Doyle dreiundzwanzig geworden und nach Southsea, eine verwinkelte Vorstadt von Portsmouth an der englischen Kanalküste, gezogen. Seiner Mutter Mary schrieb er oft, beinahe täglich, über alles, was ihn bewegte. Er erzählte von den kleinen alltäglichen Dingen, seinen Sorgen und innersten Gefühlen. Die Beziehung zu seiner Freundin Elmo Weldon war wieder gekittet, obwohl sie sich wegen der weiten Entfernung selten sahen, Mary war über diese Situation vollkommen im Bilde. Wenn in Portsmouth alles gut liefe, würde ihr Sohn Elmo heiraten, die noch bei ihren Eltern in Irland lebte. Bis dahin würde das Paar sich mit Briefen zufrieden geben müssen.

Es dauerte nicht lange bis das Messingschild an der Tür angebracht war und Conan Doyle aufgeregt auf die Patienten seiner ersten eigenen Arztpraxis wartete. Sein Vorschlag, die vierzehnjährige Schwester Connie könne doch aus Edinburgh kommen, um ihm Gesellschaft zu leisten, war nicht gerade auf Begeisterung gestoßen. Doch er hörte nicht auf, der Mutter in seinen Briefen deswegen in den Ohren zu liegen. Schließlich zog sein neunjähriger Bruder Innes, oder Duff, wie er genannt wurde, zu ihm, um als Dienstbote zu arbeiten. Conan Doyle war der Ansicht, ein Arzt verlöre an Prestige, wenn er selbst seinen Patienten die Tür öffnen müsste. Und außerdem, argumentierte er in einem Brief an die Mutter, sei die Luft in Portsmouth sehr viel frischer. »Dies ist eine viel gesündere Stadt als Edinburgh. Unsere Sterblichkeitsrate liegt nur bei dreizehn pro tausend.« Was einen Vergleich zu Edinburgh darstellen sollte, wo der jährliche Durchschnitt bei gut zwanzig Toten pro tausend Einwohnern lag.

Conan Doyles Praxis befand sich in einem einfachen, aber funktional eingerichteten Haus. Ein Flur, ein Sprechzimmer mit Tisch und zwei Stühlen sowie ein Wartezimmer mit einer Bank und ein paar weiteren Sitzgelegenheiten. Ging man die Treppe hinauf, kam man zum Behandlungszimmer. Gleich daneben lag das Wohnzimmer, und im obersten Stock hatte Conan Doyle zwei Schlafzimmer eingerichtet. Vorhänge bekam er von seiner Tante Annette. Seine Mutter schickte eine große Kiste mit Büchern, Nippes für das Kaminsims im Sprechzimmer sowie Decken für die Schlafzimmer. Nicht zuletzt war Conan Doyle stolz, endlich die Gegenstände ausstellen zu können, die er während seiner Zeit als Schiffsarzt auf einem Walfänger vor Grönland gesammelt hatte – das war gleich nach seinem Studium gewesen.

Ach ja, das Studium, er dachte gerne daran zurück. Ab seinem dritten Studienjahr an der Edinburgher Universität hatte er die Vorlesungen bei Joseph Bell besucht. Und offenbar war er diesem irgendwie aufgefallen, denn eines Tages hatte er ihm eine Assistentenstelle angeboten. Von da an war es Conan Doyles Aufgabe gewesen, die Patienten im Vorraum zu begrüßen, ihre Beschwerden aufzunehmen und sie vorzubereiten, sodass die anschließende Konsultation in Saal XI reibungslos vonstattengehen konnte. Manchmal kümmerte er sich vor einer Vorlesung um bis zu achtzig Patienten. Einen nach dem anderen geleitete er in den Saal hinein, und stets gelang es Bell, mit nur einem Blick mehr über sie zu erfahren, als Conan Doyle durch seine Befragung herausgefunden hatte.

Als Bells Assistent interessierte Conan Doyle sich immer stärker für die Methoden des Dozenten. Oft fragte er ihn im Anschluss an die Vorlesung nach Details und überprüfte, ob seine eigenen Überlegungen stimmten.

»Aber woher wussten Sie, dass der Patient von Süden her in die Stadt und über den Golfplatz gekommen ist?«

»An einem regnerischen Tag wie heute«, erläuterte Bell, während Conan Doyle sich Notizen machte, »bleibt gerne ein wenig rötlicher Schlamm von den rasenfreien Stellen auf dem Golfplatz am Stiefel kleben. Es genügt schon eine ganz geringe Menge davon. Nirgendwo sonst in der Nähe der Stadt gibt es so farbigen Lehm.«

Jetzt saß Conan Doyle in Southsea und wartete. Noch hatte kein Patient bei ihm geklingelt. Immerhin blieben am Mittwochnachmittag innerhalb einer knappen halben Stunde achtundzwanzig Personen stehen und lasen das Messingschild wenigstens, und am darauffolgenden Tag war das Ergebnis sogar noch besser: vierundzwanzig Personen in einer Viertelstunde.

Montags, mittwochs und freitags zwischen zehn und ein Uhr nachmittags durften mittellose Patienten zu einer Gratissprechstunde kommen. Das hatte er auf sein Schild schreiben lassen. Aus London war eine Grundausstattung Medikamente eingetroffen, die hatte ihn mehr als elf Pfund gekostet! Aber jeder Handwerker brauchte nun einmal sein Werkzeug, und es war immer noch billiger gewesen, als wenn er sie über die Apotheken vor Ort bezogen hätte.

Dass Conan Doyle ausgerechnet in Portsmouth, Southsea gelandet war, war reiner Zufall gewesen. Während des vergangenen Frühjahrs hatte er zunächst einen missglückten Versuch unternommen, eine Gemeinschaftspraxis mit einem Kollegen in Plymouth zu betreiben. Anschließend war er nach Tavistock in Devonshire gegangen, um zu schauen, ob er dort als junger Arzt eine Chance hätte. Auch das hatte jedoch nicht funktioniert.

Und so war er schließlich mit dem Dampfer nach Portsmouth gekommen, wo er jetzt hochmotiviert darauf wartete, den Beruf ausüben zu können, den er erlernt hatte. Zudem musste er endlich Geld verdienen.

Über dem offenen Feuer kochte Innes die letzten sechs Kartoffeln. Gas hatten sie nicht, aber Kerzen gab es.

Das wenige Geld, das Conan Doyle während dieser Zeit zur Verfügung hatte, verdiente er nicht als Arzt, sondern weil er Erzählungen für verschiedene Zeitschriften schrieb. Und wie immer erfuhr seine Mutter alles darüber: »Ich schreibe gerade eine wunderbare Geschichte mit dem Titel The Winning Shot. Darin geht es um Mesmerismus und Mord & chemischen Magnetismus sowie einen Mann, der seine eigenen Ohren aufisst, weil er so großen Hunger hat.«

Seine erste Geschichte hatte Conan Doyle im zarten Alter von sechs Jahren geschrieben. Das Papier hatte Folioformat, jede Zeile bestand aus vier Wörtern, und der Autor zeichnete sich auch für die Illustrationen am Rand verantwortlich. In der Geschichte ging es um die Begegnung eines Mannes mit einem Tiger. Mit einer großen Portion Realismus beschrieb der Sechsjährige jedes Detail des allzu frühen Todes des Unbekannten. Doch nachdem jedes Körperteil des Mannes vom Tiger verschlungen worden war, hatte der junge Autor vor einem grundlegenden Problem gestanden: Wie sollte die Geschichte jetzt weitergehen?

Es sollte vier Jahre dauern, bis er ein neues Werk in Angriff nahm. In der Zwischenzeit hatte sich sein Schreiben durch fortwährende Lektüre stark verbessert. Immer ein Buch auf einmal durfte man aus der Stadtbibliothek entleihen, das war damals die Regel. Und es hieß, das Bibliothekskomitee hätte wegen des jungen Arthurs eigens ein Treffen anberaumt, bei dem festgelegt wurde, dass kein Benutzer seine geliehenen Bücher mehr als dreimal am Tag austauschen durfte.

Die Bücher hatten ihn zu den Büffelherden der Prärie, den hohen Wellen des Stillen Ozeans sowie zu vornehmen Rittern und betörenden Jungfrauen entführt.

In der Internatsschule Stonyhurst hatten die Klassenkameraden dann bald herausgefunden, welch ein begnadeter Erzähler Arthur war. An verregneten freien Tagen wurde er auf eine Schulbank vor eine Zuhörerschar kleiner Jungen zitiert, und dann erzählte er von den Schicksalen und Abenteuern seiner Helden. Woche für Woche schlugen sie ihre Schlachten, kämpften und ächzten zum Vergnügen seiner Kameraden. Mit Keksen wurde er bestochen, immer weiter zu erzählen, und ab und zu hielt er an der spannendsten Stelle inne. Wenn der stolze Krieger »mit der linken Hand in ihren glänzenden Locken das blutbefleckte Messer über ihrem Kopf schwang, als …« ja, dann wusste er, dass er seine Zuhörer in der Hand hatte. Und so entstand sein zweites »Buch«, nicht aufgeschrieben, aber immerhin erzählt.

In Southsea wartete der erwachsene Conan Doyle noch immer auf Patienten. Wenigstens konnte er sich zwischen den rar gesäten Konsultationen immer wieder dem Schreiben widmen. Und er schrieb eine ganze Menge.

Drei Jahre zuvor, er war damals zwanzig, hatte er seine erste Geschichte veröffentlicht. Eine Zeitschrift in Edinburgh hatte ihm drei Pfund für eine Erzählung im Stil der Abenteuergeschichten seiner Kindheit bezahlt. Anschließend hatte eine andere Zeitschrift mehrere Geschichten von ihm publiziert, und diese Honorare waren es gewesen, die es ihm ermöglicht hatten, das teure Medikamentenpaket aus London zu bezahlen.

Conan Doyle schrieb immer weiter, gerne widmete er sich dabei übernatürlichen Dingen. Anschließend verschickte er Pappröhren mit zusammengerollten Manuskriptseiten. Erst wandte er sich an die bekanntesten Zeitschriften – Cornhill Magazine, Temple Bar und viele andere. Die Rollen kamen zurück, doch er schickte sie gleich weiter an andere Redaktionen. Es war ein ständiger Kreislauf von Versuchen veröffentlicht zu werden, Ablehnungen und erneuten Versuchen. Nach langem Kampf wurden seine Geschichten endlich häufiger angenommen. Doch der Erfolg führte zu keinerlei Ruhm, da die Zeitschriften die Namen der Autoren nicht nannten. Eine seiner Erzählungen wurde in der einflussreichsten Londoner Literaturzeitschrift, dem Cornhill Magazine, veröffentlicht, und verleitete einen Rezensenten zu der Annahme, Robert Louis Stevenson hätte sie geschrieben. Sie war im selben Stil wie dessen Abenteuergeschichten geschrieben und mindestens genauso gut. Ja, der Rezensent verglich sie sogar mit den Werken des Großmeisters Edgar Allan Poe. Unerhört schmeichelhaft, doch zugleich auch frustrierend für den nach wie vor anonymen Verfasser.

4

Wenn es neben dem Schreiben etwas gab, das Conan Doyle liebte, so war es der Sport. Dieser hatte ihn seit seiner Kindheit fasziniert, und in Portsmouth hatte er viele Möglichkeiten, seiner Leidenschaft nachzugehen.

Es war Samstag, der 9. Januar 1886, und der Winter war einer der härtesten in England seit Menschengedenken. Es herrschten um die null Grad, und wer konnte, hielt sich im Haus auf. Ganz England stand still. Die elektrischen Straßenbahnen konnten den Schnee und Matsch nicht bewältigen, und die Fahrgäste wünschten sich die alten, von Pferden gezogenen Wagen zurück. Auf dem Land waren viele Wege gar nicht passierbar, und es wurde befürchtet, dass viele Schafe unter den Schneemassen begraben worden waren.

Dennoch wurde in North End Fußball gespielt.

Es war das erste aktive Jahr des Portsmouth Football Clubs, und schon jetzt war es ein erfolgreiches. Zwischen Weihnachten und Neujahr spielte der Verein vier Spiele, unter anderem gegen eine Mannschaft des Marinekorps, die er mit zehn zu null besiegte. Einer der lokalen Sportreporter schrieb, dass »die Verteidiger, vor allem A. C. Smith, ihre Aufgabe so zufriedenstellend erfüllten, dass es für den Torhüter von Portsmouth die reinste Sinekure war.«

Jetzt galt es, ein neues Spiel zu bestreiten. Zur Überraschung der Lokalmannschaft bestand das gegnerische Team diesmal zur Hälfte aus geliehenen Spielern der gefürchteten Mannschaft des dreiundneunzigsten Regiments, das in Parkhurst stationiert war. Portsmouth hatte diesmal nicht einmal seine stärkste Elf zusammenbekommen, sodass sie gegen die drei erstklassigen Stürmer des Hochlandregiments schlecht dastanden.

Dennoch begann Portsmouth vielversprechend, letztlich war es sogar ihr bestes Spiel. Der Mannschaft gelangen zwei gefährliche Torchancen, die sie jedoch vergaben, weil der Platz so glatt und vereist war. Der starke Wind dagegen war für Portsmouth in der ersten Halbzeit von Vorteil, die Spieler trafen, und so konnten sie mit einem Spielstand von zwei zu null in die Pause gehen.

Nach dem Wechsel hatten sie im Wortsinn mit Gegenwind zu kämpfen. Es wehte heftig, und obendrein spielten die Stürmer des dreiundneunzigsten Regiments ausgezeichnete Pässe. Zwei Glückstreffer, wie der Abgesandte der Portsmouth Evening News es nannte, führten zum Ausgleich. Das Spiel endete unentschieden.

Wieder einmal zeichnete sich dieser A. C. Smith besonders aus, und sein harter Schuss wurde von der Presse gelobt. Er hatte zunächst als Torwart begonnen und war dann nach rechts hinten gewechselt. Eigentlich war er ein ehemaliger Rugbyspieler, doch er hatte sich schnell daran gewöhnt, den Ball mit dem Fuß zu schießen statt ihn bloß in die Hand zu nehmen und zu laufen. Einen Meter fünfundachtzig groß und hundert Kilo schwer, war er für die Mannschaft ein Fels in der Brandung und ein immer beliebterer Sportler in Portsmouth.

Conan Doyle wusste, dass keine Patienten zu ihm kommen würden, wenn er lediglich ein Messingschild an seiner Tür anbrachte und wartete. Einer ungeschriebenen Regel zufolge durfte er als Arzt eigentlich keine Werbeanzeigen in der Zeitung schalten. Deshalb ließ er sich etwas einfallen, was trotzdem Aufmerksamkeit erzeugen würde. Unter der Rubrik Sonstiges veröffentlichte er eine kurze Notiz:

»Dr. Doyle bittet zur Kenntnis zu nehmen, dass er unter neuer Adresse zu finden ist, Bush Villas Nr. 1, Elm Grove, neben dem Bush Hotel.«

Seinen Namen passte er den Umständen an: Zuweilen verkürzte er ihn zu Doyle, ansonsten beließ er es bei dem vollständigen Nachnamen Conan Doyle. Doyle war der Familienname seines Vaters, und Conan hatte er von seinem Paten Michael Conan dazubekommen, einem Schwager seines Großvaters väterlicherseits.

Dieses »unter neuer Adresse« war ein dehnbarer Begriff, und so setzte er die Anzeige mehrmals in die Zeitung, damit sie wirklich niemandem entging.

Doch es ergaben sich weitere Gelegenheiten, die Praxis bekannt zu machen. So passierte an einem Novembertag ein Unfall auf der Straße direkt vor Conan Doyles Haus. Ein Mann fiel von seinem Pferd, nachdem ein Steigbügel gerissen war, und anschließend kam er unter dem Tier zu liegen. Der Arzt eilte sofort hinaus, um sich um den Verunglückten zu kümmern. Nachdem er ihn in seine Praxis gebracht und festgestellt hatte, dass der Mann sich nichts Schlimmeres als ein paar blaue Flecke zugezogen hatte, machte Conan Doyle das Beste aus dem Vorfall, was ein Arzt in seiner Stellung und mit seiner Einkommenssituation tun konnte: Er begab sich schnurstracks zur Portsmouth Evening News und berichtete, was geschehen war.

Die Notiz über das beherzte Eingreifen des Doktors wurde noch in der Abendausgabe desselben Tages veröffentlicht.

Doch es wäre zu viel verlangt gewesen, auf weitere Glücksfälle dieser Art zu setzen. Stattdessen musste der frischgebackene Arzt ausgehen und Leute treffen, er musste die Bewohner von Portsmouth kennenlernen.

So begann er, Dienstleistungen mit Geschäftsleuten in der Stadt auszutauschen. Ein Kolonialwarenhändler suchte Doktor Doyle wegen leichter epileptischer Anfälle, die er manchmal hatte, auf, und brachte ihm als Gegenleistung Butter und Tee. Der arme Mann erfuhr zum Glück nie, wie erfreut der Doktor einige Zeit später die Meldung weiterer Anfälle aufnahm. Immerhin bedeuteten sie mehr Butter und Tee.

Doch er musste nicht nur potenzielle Patienten kennenlernen. Unter den Ausübenden des Arztberufes gehörte es zum guten Ton, dass derjenige, der eine neue Praxis eröffnet hatte, seinen älteren Kollegen in der Nachbarschaft einen Besuch abstattete. Trotz seiner Jugend und seines Mangels an Erfahrung hinterließ Conan Doyle offenbar einen guten Eindruck bei ihnen. Einer der Ärzte schickte Patienten zu ihm weiter, ein anderer war Mitglied des Kricketclubs, dem auch Conan Doyle sich bald anschloss.

Fortan spielte er als Schlagmann im Portsmouth Cricket Club, und seine Einsätze auf dem Platz wurden in den Lokalzeitungen häufig erwähnt. Kricket war eine Sportart, mit der ein Arzt sich gut sehen lassen konnte, ganz anders als Fußball. Hier genügte es vollkommen, dass seine Mitspieler und auch die Presse wussten, wer er war. Um seinen Ruf als seriöser Arzt nicht zu gefährden, hatte er sich ein Alias zugelegt. Wenn er sich bei egal welchem Wetter auf den Rasen begab, um fest gegen den Lederball zu treten, nannte er sich ganz einfach A. C. Smith.

Allmählich wuchs Conan Doyles Bekanntenkreis. Er wurde in die Portsmouth Literary and Scientific Society gewählt, die während der Wintermonate jeden zweiten Dienstag Vorträge organisierte. Viele der einflussreichsten Personen Portsmouths waren Mitglied in diesem Club, und für Conan Doyle bedeutete es einen weiteren Schritt nach oben auf der gesellschaftlichen Leiter.

Die aktive Mitgliedschaft wurde nur Männern zugestanden. Frauen waren an den Vortragsabenden zwar als Gäste willkommen, hatten jedoch nicht das Recht, Fragen zu stellen oder sich an den Diskussionen zu beteiligen. Der Redakteur einer der Lokalzeitungen fragte sich überdies, ob man nicht etwas gegen das ewige Handarbeiten der Damen während der Vorträge unternehmen könne. Das würde ungemein stören!

Auf der Vortragsliste standen ganz verschiedene Themen: die Fälschung von Lebensmitteln, und wie diese mit Hilfe von Mikroskopen aufgedeckt werden konnte; archäologische Notizen zu Hampshire sowie der Erdball und seine Bewegungen. Der Vorsitzende General Drayson berichtete über seine persönlichen Erinnerungen an Südafrika, und an wieder einem anderen Abend war der Arzt und Major Evatts an der Reihe, der einen Vortrag über die Arbeit eines Militärarztes im Krieg hielt. Dass Portsmouth eine Militärstadt war, war nicht zu übersehen, sowohl was die Mitgliederliste der Gesellschaft anging als auch das Stadtleben insgesamt.

Bereits kurz nach seiner Aufnahme durfte Conan Doyle einen Vortrag über das nördliche Eismeer halten, in dem er von seinen Erlebnissen als Schiffsarzt auf dem Walfänger Hope berichtete. Zweihundertfünfzig Damen und Herren lauschten seinen Worten, es war die zweithöchste Publikumszahl der Saison, und der junge Vortragende wurde sehr respektvoll behandelt. Er musste wirklich ein geschickter Jäger sein, denn auf dem Tisch vor sich hatte er eine lange Reihe ausgestopfter Vögel aus der Gegend nördlich des Polarkreises aufgestellt.

Tags darauf brachte Conan Doyle dem Tierpräparator die geliehenen Objekte zurück.

Nach dem Fußballspiel zog A. C. Smith sich um und war wieder ganz er selbst, der sechsundzwanzigjährige Arzt A. Conan Doyle, MD. So stand es auf seinem neuen Messingschild, nachdem er per Fernstudium dieses höhere Examen absolviert hatte – seine Abschlussarbeit war eine Abhandlung über tabes dorsalis gewesen – eine Form der Neurosyphilis, verursacht durch Schäden am Rückenmark.

Gemeinsam begab sich die Fußballmannschaft zu einem erweiterten Nachmittagstee im Blue Anchor. Eine leichte Mahlzeit war genau das, was man nach einem neunzigminütigen Spiel bei Kälte und eisigem Wind brauchte.

Anschließend wurde es Zeit für Conan Doyle, sich auf den mehrere Kilometer weiten Heimweg nach Southsea zu begeben. Er hatte nichts gegen lange Spaziergänge einzuwenden, er mochte sie.

Zu Hause in der Praxis lief es immer besser. Sein Jahreseinkommen betrug mittlerweile dreihundert Pfund, das war gar nicht so schlecht. Andererseits war es auch nicht besonders viel, wenn man es mit dem verglich, was einige seiner geachteteren Kollegen in der Stadt verdienten. In seiner ersten Steuererklärung schrieb Conan Doyle, er habe im letzten Jahr so wenig verdient, dass er dem Staat keinerlei Steuern schulde. Er bekam das Formular mit dem Vermerk »äußerst unbefriedigend« zurück und retournierte es mit dem Zusatz: »ganz meine Meinung«.

Nach wie vor wohnte er in Elm Grove, doch sein Haushalt hatte sich erweitert. Seit ein paar Jahren beschäftigte er eine Haushälterin, die zudem Rezeptionistin in der Praxis war und vor den Patienten stets den Anschein erweckte, Dr. Doyle sei ein vielbeschäftigter Mann. Als gehöre er keineswegs zu den Menschen, die so viel Zeit übrig hatten, dass sie sich auch tagsüber dem Lesen und Schreiben widmen konnten.

Sein Bruder Innes war unterdessen in ein Internat in Yorkshire gezogen, um dort abzuwarten bis er alt genug war, bei der Marine anzuheuern.

Conan Doyle legte den Fußmarsch nach Hause in zügigem Tempo zurück. Noch immer blies ein eiskalter Wind vom Meer, und es war schön, als er die Haustür hinter sich schließen konnte.

Sofort holte er neue, glänzende Papierbögen aus der Schreibtischlade und tauchte die Feder in die Tinte. Endlich konnte er wieder schreiben.

5

Dennoch hatte Conan Doyle immer öfter den Eindruck, dass ihn das Schreiben nirgendwo hinführte.

Seit es ihm das erste Mal gelungen war, eine Geschichte zu veröffentlichen, waren fünfundzwanzig weitere seiner Texte von verschiedenen Zeitschriften angenommen worden. Das war gar nicht schlecht, auch wenn er meistens nur geringe Honorare dafür bekam. Die dreißig Pfund, die er von James Payn für die Geschichte im Cornhill Magazine bekommen hatte, waren eine absolute Ausnahme gewesen. Dreißig Pfund – das war fast eine ganze Jahresmiete für eine einzige Erzählung! Und es entsprach zugleich der Summe, die ihm zweihundert zahlende Patienten eingebracht hätten.

Er war damals so stolz gewesen. Und obendrein zu dem noblen Jahresabschlussessen des Cornhill Magazine eingeladen worden, noch bevor seine Geschichte veröffentlicht war. Als einer der ersten Gäste war er in dem Restaurant in Greenwich eingetroffen und hatte sich in einem Nebenzimmer umgezogen, die Reisekleidung gegen den Frack eingetauscht. Etwa fünfundzwanzig Schriftsteller und Illustratoren waren anwesend, unter ihnen auch Grant Allen, der ehemalige Wissenschaftsautor, der sich jetzt mit Romanen einen Namen machte. Und das Beste an dem Abend war gewesen, dass er James Payn persönlich hatte treffen können, der lange Zeit einer seiner Lieblingsautoren gewesen war. Payn hatte ihn zur Seite genommen, seine Kurzgeschichte gelobt und erzählt, der beste Zeichner der Zeitschrift sei beauftragt worden, diese zu illustrieren. Bereits in der Januar-Ausgabe würde sie veröffentlicht werden.

Conan Doyle hatte es genossen. Sein erstes Abendessen in der Welt der Literatur hatte Lust auf mehr gemacht.

Doch auch die Erinnerung an einen solchen Genuss verblasst, und seit jenem Abend waren bereits zwei Jahre verstrichen.

Es war frustrierend, dass alles, was er schrieb, anonym veröffentlicht wurde, und dass niemand je erfuhr, dass er der Autor dieser Erzählungen war. In Portsmouth war er als Sportler bekannt, und, so war zu hoffen, manchen auch als Arzt. Doch um die Leute in der Stadt wissen zu lassen, dass er auch Schriftsteller war, musste er es ihnen persönlich erzählen. Selbst seinem Alias A. C. Smith wurde mehr Aufmerksamkeit zuteil als seiner Person als Schriftsteller.

Nach dem fantastischen Abendessen damals in Greenwich hatte er glühend vor Begeisterung an seine Mutter geschrieben, dass er jetzt wirklich auf das Schreiben setzen wolle. Er wollte sich beeilen, etwas richtig Großes zustande zu bringen, etwas, das ihm dreistellige Schecks einbringen sollte.

Doch wenn er literarisch wirklich etwas erreichen wollte, musste es eine längere Geschichte werden. Die einzige Möglichkeit, als Autor anerkannt zu werden, war, seinen Namen auf den Umschlag eines richtigen Buches zu bekommen. Erst dann konnte er den Anspruch erheben, etwas Besonderes zu sein. Also musste er die Kurzgeschichten hinter sich lassen und Romanautor werden. Das Jahr 1886 hatte gerade erst begonnen, im späten Frühling würde er siebenundzwanzig werden, und es musste schnell etwas geschehen. Die Begeisterung am Schreiben, die er früher empfunden hatte, flammte nach einer Phase der Ernüchterung endlich wieder in ihm auf.

Bereits zwei Jahre zuvor hatte er ein ambitioniertes Romanprojekt begonnen. Zunächst hatte es ihm vor allem die Zeit gestohlen, die er für seine gewinnbringenden Kurzgeschichten brauchte. Um diese trotzdem schreiben zu können, hatte er seinen Alltag noch besser strukturieren und hier Zeit einsparen müssen. Seiner Mutter gegenüber hatte er gemeint, der Roman über die Menschen in der Firma Girdlestone würde entweder peinlich misslingen oder ein großer Erfolg.

Euphorisch hatte er sich dem Schreiben gewidmet, doch dann waren die Abstände zwischen den einzelnen Schritten der Manuskriptarbeit immer größer geworden. Erst Ende 1885 war der Roman fertig geworden.

Als er dann versuchte, einen Verlag dafür zu finden, musste er rasch einsehen, dass es schwierig werden würde, mit diesem Buch seine literarische Eigenständigkeit zu vermitteln. Viel zu sehr beruhte es auf den Werken anderer. So fand er sich schließlich mit den Absagen ab und ließ das Manuskript in einer Schublade verschwinden.

Es war schwieriger als gedacht, seinen ersten Roman zu schreiben.

Und in seinem Falle war es im Grunde genommen sogar schon der zweite gewesen. Denn um ehrlich zu sein, hatte Conan Doyle früher schon einmal einen Roman verfasst, The Narrative of John Smith. Der war allerdings auf dem Postweg zum Verlag verloren gegangen. Anschließend hatte er zwar versucht, ihn aus dem Gedächtnis wieder aufzuschreiben, zu einer Veröffentlichung war es aber nie gekommen.

Auch wenn diese ersten beiden Versuche misslungen waren, betrachtete Conan Doyle sie als gute Übung. Jetzt war er bereit, einen neuen Roman zu beginnen. Diesmal jedoch würde er definitiv veröffentlicht werden, er war wirklich bereit. Denn ein Ereignis im vergangenen Jahr hatte sein Leben verändert, eine Entwicklung, die er nach vielen Jahren des Schreibens so dringend gebraucht hatte.

Eines Tages im März 1885 hatte sein Kollege Dr. Pike, der nur hundert Meter von ihm entfernt wohnte, ihn gefragt, ob Conan Doyle sich nicht einen seiner Patienten einmal näher ansehen könne. Dieser sei jung, fast im selben Alter wie Conan Doyle, und leide an immer häufiger auftretenden Krampfanfällen.

Beide Ärzte stellten letztlich dieselbe Diagnose. Hirnhautentzündung. Dagegen gab es kein Heilmittel. Das Einzige, was man tun konnte, war, das Leiden des Patienten zu lindern.

In dem Maße, wie die Krampfanfälle zunahmen, wurde die Wohnsituation des jungen Mannes immer weniger tragbar. Seit er ein halbes Jahr zuvor nach Southsea gezogen war, teilte er die Wohnung mit seiner Mutter, einer Witwe, und seiner zwei Jahre älteren Schwester. In dieser Umgebung war es den beiden Ärzten unmöglich, ihn auf angemessene Weise zu behandeln.

Und so kam Conan Doyle auf die Idee, Jack Hawkins könne in eines der Zimmer im obersten Stock in Bush Villas ziehen. Dann hätten er und seine Haushälterin ihn unter ständiger Beobachtung, und Mr. Hawkins’ Schwester sowie die Mutter konnten ihn besuchen, wann immer sie wollten.

Die Krankheit verlief rascher als irgendjemand von ihnen erwartet hatte. Am 25. März starb der Patient.

Dieser Umstand versetzte Conan Doyle in eine schwierige Situation. Ein Todesfall im eigenen Haus nahm sich weiß Gott nicht gut aus. Zwar war das Ableben des Patienten zu erwarten gewesen, doch es war unglaublich schnell gegangen, innerhalb weniger Tage war er verstorben. Was würden die Leute dazu sagen?

Am 27. März rollte der kurze Beerdigungszug von Bush Villas Nr. 1 durch die Ulmen-Allee Richtung Friedhof. Das vorderste Pferd zog den Leichenwagen, und in der Kutsche dahinter saßen die Trauernden: die Mutter und die Schwester des Verstorbenen sowie der junge Arzt.

Noch Wochen später trafen sie sich in regelmäßigen Abständen, vereint durch ihr schlechtes Gewissen. Mutter und Schwester waren betrübt, dass sie den Doktor in eine so missliche Situation gebracht hatten. Und dem Doktor tat es leid, dass er nicht mehr für sie hatte tun können.

Und Conan Doyles Befürchtungen, was die Leute anging, sollten sich bewahrheiten. Ein privater Ermittler suchte ihn auf. Er hatte einen anonymen Brief erhalten, in dem er darauf hingewiesen worden war, dass man den jungen Mann ungewöhnlich schnell nach seinem Tod beerdigt hatte. Verdächtig schnell. Glücklicherweise konnte Conan Doyles Kollege, der am Tag vor dem Tod des Patienten zu Besuch gewesen war, dessen schon damals kritischen Gesundheitszustand bestätigen.

Und damit wäre die Angelegenheit ein für alle Mal erledigt gewesen, hätte Conan Doyle nicht immer wieder Gründe gefunden, Mutter und Schwester zu besuchen. Sehen wollte er vor allem die Schwester, eine blasse Schönheit mit einer ruhigen, femininen Ausstrahlung.

Sie hieß Louise, doch schon bald durfte er sie Touie nennen.

Sie hatte ein eigenes Einkommen von hundert Pfund im Jahr aus ihrem väterlichen Erbe. Sie war treu und anspruchslos, und zudem höflich und respektvoll gegenüber Mrs. Doyle, die sofort in den Süden eilte, um die Frau zu inspizieren, die ihr Sohn zu seiner künftigen Gemahlin erkoren hatte.

Touie brachte also die Veränderung, die Conan Doyle bislang gefehlt hatte. Nach der Hochzeit hatte er das Gefühl, besser denken zu können, seine Fantasie und sein Ausdrucksvermögen hatten sich außerdem wirklich verbessert. Er hatte die Begeisterung am Schreiben wiedergefunden.

Touie hatte ihn verändert. Ihre ganze Art brachte ihn wieder auf Kurs. Sein bohemienhaftes Junggesellenleben wurde durch einen wohltuend regelmäßigen Alltag ersetzt. Sie wusste, was gut für ihn war, und mit Hilfe ihrer Mutter richtete sie eines der kleinen Zimmer oben als Schreibzimmer für ihn ein.

Bis dahin war sein großes Ziel im Leben eine erfolgreiche Karriere als Mediziner gewesen. Doch mit dem geregelteren Alltag und der größeren Verantwortung sowie seiner neuen Konzentrationsfähigkeit begann seine literarische Ambition wieder zu wachsen, und bald verdrängte sie alles andere.

Im Grunde seines Herzens wollte Arthur Conan Doyle einfach nur Schriftsteller sein.

Und nun überlegte er, eine Detektivgeschichte zu schreiben.

6

Conan Doyle füllte Bücher mit Notizen zu Geschichten, die er schreiben wollte. Einen Titel hatte er bereits, A Tangled Skein, ein verwickeltes Knäuel, doch die Geschichte selbst bestand lediglich aus Ideen über einen Kutscher und einen Polizisten.

Ständig schrieb Conan Doyle seine Einfälle auf, und das schon seit Jahren. Sie konnten sich auf Dinge beziehen, die er gehört oder gelesen hatte, Ideen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Kleine Details und Fragmente, die irgendwann einmal zu Erzählungen werden konnten, zu Artikeln oder Vorträgen.

Er notierte sich auch, welche Bücher er gelesen hatte. Besonders gefielen ihm die Polizei-Geschichten des Franzosen Gaboriau. Noch besser allerdings fand er Wilkie Collins.

Doch Conan Doyle wollte dem bestehenden Kanon etwas Eigenes hinzufügen. Seit seiner Kindheit war Poes meisterhafter Amateurdetektiv C. Auguste Dupin einer seiner Lieblingshelden gewesen. Vielleicht würde er doch nicht über einen Polizisten schreiben, sondern über einen Privatermittler, außerhalb des gewöhnlichen Polizeikorps. In seinem Notizbuch strich er A Tangled Skein durch und ersetzte den Titel durch A Study in Scarlet. Jetzt benötigte er nur noch eine Art Inhalt, um genau die Art frischer, konzentrierter und gediegener Prosa zu schaffen, die ihm vorschwebte.

Wie ließ sich die Detektiv-Figur zu etwas Neuem entwickeln? Er wollte einen wissenschaftlicheren Typ, der den Fall aufgrund seiner Fähigkeiten löste, und nicht wegen der Ungeschicklichkeit des Verbrechers.

Conan Doyle fiel sein Dozent aus dem Medizinstudium ein, Joseph Bell.

Genau so musste ein Detektiv arbeiten! Er wollte einen Detektiv erfinden, der auf ebenso unheimliche Weise wie Bell die kleinsten Details an Leuten entdeckte, und der mit Hilfe seines Beobachtungsvermögens und seiner scharfsinnigen Schlussfolgerungen die Fälle löste. Ebenso adlergleich wie Bell, und mit ebenso bemerkenswerten Eigenheiten. Wäre Joseph Bell Detektiv geworden, er hätte diesem faszinierenden, aber unorganisierten Geschäft mit Sicherheit einen wissenschaftlicheren Anstrich gegeben.

Bell hatte damals in den Vorlesungen gezeigt, dass genaues Beobachten und Analysieren im Alltag zu plausiblen Lösungen führen konnten, dann musste es doch auch möglich sein, dieses Verfahren in der Fiktion glaubwürdig darzustellen. Man musste nur durch verschiedene Beispiele, wie Bell sie massenhaft in seinen Vorlesungen gezeigt hatte, die Beobachtungsgabe des Detektivs illustrieren. Conan Doyle begann seine Geschichte zu entwerfen. Ganz oben schrieb er noch einmal A study in Scarlet, der Titel gefiel ihm außerordentlich gut. Welche Hauptpersonen würde er brauchen? Einen Detektiv natürlich. Doch Conan Doyle zog es vor, seine Geschichten in der ersten Person zu erzählen, aber den Stift einfach seinem Detektiv in die Hand zu drücken, würde einen Großteil der Spannung in der Geschichte wegnehmen. Der Detektiv brauchte also einen Mitstreiter. Conan Doyle dachte sich einen Namen für ihn aus und schrieb »Ormond Sacker, aus dem Sudan«.Ein Militär also; die aufständischen Madhisten hatten viele Jahre versucht, Sudan vom britisch regierten Ägypten zu lösen. Oder halt, er würde die Geschichte ein paar Jahre vorverlegen, es musste ein anderer Konflikt her. Er strich den letzten Teil durch und schrieb stattdessen »aus Afghanistan«.

Dann fuhr er fort: »Wohnte in 221 B Upper Baker Street.«

Und in die nächste Zeile ein einziges Wort: »mit«.

Wieder eine neue Zeile. Tja, mit wem nur? Wie sollte er den Detektiv nennen? Bereits in jungen Jahren hatte er die Werke des amerikanischen Arztes und Schriftstellers Oliver Wendell Holmes sehr gemocht. Holmes war ein guter Name. Unter das Wort mit schrieb er also »Sherrinford Holmes«.Das musste fürs Erste genügen. Aber Ormond Sacker … hm, darüber musste er noch einmal nachdenken. Vielleicht sollte der Kamerad lieber einen gewöhnlicheren Namen bekommen. Doch das musste warten, jetzt musste er schnell ein paar Gedanken zu diesem Detektiv aufschreiben:

»Zurückhaltend – junger Mann mit schläfrigem Blick – Philosoph – Sammler seltener Geigen – eine Amati – Chemielaboratorium

Beweisführungsregeln (The Laws of Evidence)

Ich bekomme vierhundert im Jahr

Ich bin beratender Detektiv«

Die Ideen sprudelten nur so. Sein Hirn arbeitete jetzt wirklich deutlich schneller als sonst, und er übertraf sich andauernd selbst. Danke, geliebte Touie, für alles! Dies hier schien ihm viel außergewöhnlicher als sein voriger Romanversuch, The Firm of Girdlestone.

Aber zurück zu seinen Notizen. Er hatte eine Replik im Kopf, die er unbedingt niederschreiben wollte:

»›Was für ein törichtes Gewäsch‹, rief ich und warf das Journal auf den Tisch. ›Mich ärgern solch widersinnige Theorien, die daheim im Lehnstuhl aufgestellt werden und dann an der Wirklichkeit elend scheitern.‹«

Und noch eine weitere Notiz hielt er fest:

»Lecoq war ein Stümper – Dupin war besser. Der war wirklich geschickt. Sein Trick, einem Gedankengang zu folgen, beruhte eher auf einem Gefühl als auf Klugheit, dennoch war er ein analytisches Genie.«

Dann musste er das Blatt beiseitelegen. Ein Patient wartete auf ihn.

7

Geschrieben hatte Conan Doyle seinen Roman recht schnell, doch dann ging es wieder einmal nicht weiter. Mehrere Verlage lehnten sein Buch ab, aber dieses Mal dachte er nicht daran aufzugeben. Er wollte seinen Namen auf einem Buchrücken sehen. Und eigentlich musste er nur eine einzige Person von seinem Manuskript überzeugen, damit es eine Chance hatte, veröffentlicht zu werden.

Diese Person sollte bald auftauchen.

Im Alter von zehn Jahren hatte Jeannie Gwynne ihre Mutter eines Tages tot im Weißen Zimmer liegen sehen. Das Merkwürdige daran war gewesen, dass Jeannie sich zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Haus befunden hatte, sondern draußen einen schmalen Kiesweg entlanggegangen war, während sie gleichzeitig ein Buch über Geometrie las.

Für mehrere Minuten war die Landschaft um sie herum verblasst und sie hatte sich im Weißen Zimmer wiedergefunden, einem Schlafzimmer in ihrem Elternhaus, das von der Familie nicht benutzt wurde. Auf dem Boden lag ihre Mutter, allem Anschein nach tot, und direkt daneben ein Spitzentaschentuch.

Dann war das Bild verschwunden, und sie war wieder zurück auf dem Kiesweg gewesen.

Nicht eine Sekunde hatte sie überlegt, ob das, was sie gesehen hatte, wirklich wahr sein konnte. Statt nach Hause zu gehen, war sie direkt zum Hausarzt der Familie gelaufen, der zum Glück in der Nähe wohnte. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihn dazu zu bringen ihr zu folgen, obwohl sie keine seiner Fragen wirklich beantworten konnte. Schließlich hatte ihrer Mutter nichts gefehlt, als sie das Haus verlassen hatte.

Zu Hause angekommen führte Jeannie den Arzt und ihren Vater sofort ins Weiße Zimmer. Dort fanden sie die Mutter, wie das Mädchen sie in ihrer Vision gesehen hatte, auch das Spitzentaschentuch lag genauso da. Die Mutter hatte einen Herzinfarkt erlitten, und wäre der Arzt nicht so rasch bei ihr gewesen, hätte sie an diesem Tag ihren letzten Atemzug getan.

Jeannie Gwynne war mit ihrem Vater, einem Mathematiker, als einzigem Lehrer aufgewachsen. Später hatte sie studiert, geheiratet und mit dem Cambridge-Professor George Thomas Bettany drei Kinder bekommen. Bettany war Geologe, Biologe und Botaniker und widmete seine freie Zeit dem Verfassen eines großen Werkes über Charles Darwin. Nebenbei arbeitete er als Redakteur mehrerer Buchreihen für den Verlag Ward, Lock & Co. Jeannie war neunundzwanzig und er sechsunddreißig Jahre alt, als er eines Tages im September nach Hause kam und zu ihr sagte:

»Du hast einen Roman veröffentlicht und mehrere Novellen bei Temple Bar, Argosy und Belgravia untergebracht. Du kannst sicher eher etwas Belletristisches beurteilen als ich. Vielleicht kannst du dir das hier mal ansehen und mir sagen, ob es sich lohnt.«

Er zog ein ziemlich zerlesenes Manuskript aus einer zylinderförmigen Verpackung. Offensichtlich hatte es schon bei diversen anderen Verlagen auf dem Tisch gelegen, ehe es bei Ward, Lock & Co gelandet war.

Jeannie Gwynne Bettany las das Manuskript und sah, was bisher niemand anderes gesehen hatte.

»Dieser Autor ist ein geborener Schriftsteller«, sagte sie zu ihrem Mann. »Ich bin wirklich begeistert und glaube, dass dieses Buch ein echter Erfolg werden kann.«

Professor Bettany vertraute dem Urteil seiner Frau und beschloss, dem Verlag das Manuskript zu empfehlen.

»Ich bin sicher, dass es ein Arzt geschrieben hat«, ergänzte Jeannie aufgeregt. Sie hatte selbst einmal Ärztin werden wollen und etliche Vorlesungen in Medizin besucht. »Viele Stellen im Roman weisen darauf hin.«

Bettany glaubte ihr aufs Wort. Mittlerweile waren sie seit acht Jahren verheiratet, er kannte und schätzte ihr Urteilsvermögen.

Innerhalb kurzer Zeit fasste man im Verlag den Beschluss, das Buch herauszugeben, und in den Verlagsräumen auf dem Salisbury Square in London wurde ein Brief an den Autor aufgesetzt. Angesichts der unzähligen Ablehnungsschreiben, die man üblicherweise verschicken musste, war es angenehm, hin und wieder tatsächlich einen noch unbekannten Autor mit einer Zusage beglücken zu können.

Sehr geehrter Herr,

Ihre Geschichte hat uns gefallen. Dieses Jahr können wir sie leider nicht mehr veröffentlichen, da der Markt derzeit von Unterhaltungsliteratur überschwemmt wird. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, es auf das kommende Jahr zu verschieben, sind wir bereit, Ihnen 25 Pfund für die Urheberrechte zu bezahlen.

Mit freundlichen Grüßen,

Ward, Lock & Co

Zum Erstaunen der Verlagsmitarbeiter war der Autor mit diesem Angebot nicht zufrieden und antwortete, er wünsche stattdessen eine Beteiligung am Verkauf. Dies führte zu einem weiteren Brief vom Salisbury Square: Nein, es sei leider nicht möglich, eine Beteiligung auszuzahlen. Eine Einmalzahlung von fünfundzwanzig Pfund für die Rechte sei das Höchste, was man ihm bieten könne.

Dieser unbekannte Autor, der tatsächlich Arzt war, sollte doch froh sein, seinen Namen auf einem Buch lesen zu dürfen.

Obwohl, Buch … Es ein Buch zu nennen, war vielleicht ein wenig übertrieben. Die Geschichte sollte in dem jährlich erscheinenden Weihnachtsheft Beetons’ Christmas Annual veröffentlicht werden, das im November 1887 zum achtundzwanzigsten Mal herauskommen sollte. Es kostete einen Schilling, war immer nach zwei Wochen ausverkauft und eignete sich nach der Lektüre hervorragend zum Feueranzünden.

Komplettiert wurde das Weihnachtsheft von zwei kurzen Theaterstücken, außerdem beauftragte man einen renommierten Zeichner, vier Illustrationen zum Hauptbeitrag des Heftes zu erstellen, in diesem Falle zu dem Roman A Study in Scarlet von A. Conan Doyle.

Im Branchenorgan The Bookseller erschien eine Anzeige dazu:

»Diese Geschichte wird großes Aufsehen erregen! Es erwartet Sie die meisterhafte Darstellung eines ungewöhnlich scharfsinnigen Detektivs, dessen Ermittlungen, wenn auch auf absolut rationalen Prinzipien beruhend, alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Jeder Detektiv sollte A Study in Scarlet lesen, als vorzügliches Hilfsmittel für einen raschen Karrieresprung.«

Der Verlag stellte vor allem die lebendigen Szenen in den Vordergrund, die bei den Mormonen in Salt Lake City spielten. Detektivgeschichten waren damals noch etwas vollkommen Neues und Ungewohntes, daher war es sicherer, den Roman als spannende Abenteuergeschichte in einer exotischen und bedrohlichen Umgebung auf den Markt zu bringen. Der Verlag wusste zweifellos, was seine Leser haben wollten:

»Der Verlag kann dem Buchhandel versprechen, dass sich keines seiner bisherigen Weihnachtshefte mit dem vorliegenden an Plausibilität, Realismus, Bilderreichtum und Nervenkitzel messen lassen kann. Jeder wird es lesen, und zwar nicht nur einmal, sondern zweimal; und wem es gelingt, es beiseitezulegen, ehe er es zu Ende gelesen hat, der ist weder neugierig noch empfänglich für besondere Eindrücke. A Study in Scarlet wird garantiert das Gesprächsthema auf allen Weihnachtsfeiern im ganzen Lande sein.«

Mit dieser Anzeige im November 1887 wurde Sherlock Holmes der Welt präsentiert.

Teil 2

1888–1893

TITELBLATT VON THE STRAND MAGAZINE

8

Sunnyside war ein prachtvolles Gebäude in einer der ländlichen Gegenden Schottlands, es erinnerte an einen alten Gutshof. Auf einer Bank vor dem Haus saß ein älterer Mann namens Charles Altamont Doyle. Er war groß und schlaksig, und seine Erscheinung wurde von einem mächtigen weißen Bart dominiert.

Er hob den Blick vom Skizzenblock in seinem Schoß. Ganz in der Nähe tobte und schrie einer der Insassen, es musste einer der Verrückten sein.

Charles Doyle schüttelte den Kopf und kehrte zu seiner Beschäftigung zurück. Er zeichnete. Sein verstorbener Vater war für seine politischen Karikaturen bekannt gewesen, und sein Bruder, der ebenfalls schon mehrere Jahre tot war, hatte der Zeitschrift Punch ihr berühmtes Erscheinungsbild gegeben. Das Künstlerische lag seiner Familie im Blute.

Um ihn herum erstreckte sich ein großer Garten. Schaute man sich eine Landkarte an, befanden sie sich ein paar Zentimeter nördlich von Dundee, von Montrose aus etwas landeinwärts. Und mitten in diesem Garten lag Sunnyside. Siebenundachtzig Fenster zählte er allein auf dieser Seite des Hauses.

Sein Skizzenbuch war voller Elfen, beziehungsweise Elfen und Rosenblätter. Er zeichnete Elfen auf einem Kornfeld. Oder auch mal eine, die einen Regenwurm hinter ihrem Rücken versteckte, um ihn vor einer großen Krähe zu beschützen. Er liebte Elfen. Aber das musste jetzt warten. Er hatte einen Auftrag bekommen, den ersten seit langer Zeit.

Sechs Buchillustrationen sollte er anfertigen. Die erste sollte drei Männer darstellen, die in einem Zimmer standen und eine Leiche betrachteten. Der Mann in der Mitte war die Hauptperson, Detektiv Sherlock Holmes. Charles Doyle zeichnete ihn als großen, schlaksigen Mann mit einem mächtigen Bart. Ein wenig künstlerische Freiheit musste man sich schließlich nehmen dürfen. An der Wand des Zimmers sollte RACHE stehen. Warum, wusste er auch nicht.

Sein Sohn Arthur hatte ihm diesen Auftrag vermittelt. Nach dem Weihnachtsheft wollte der Verlag nun doch auch ein richtiges Buch aus seiner Erzählung machen.

Charles Doyle versuchte aus der Ferne, die Erfolge seines Sohnes so gut wie möglich nachzuvollziehen, doch in den schottischen Zeitungen, die ihm hier in Sunnyside zur Verfügung standen, war nicht viel darüber zu lesen. Und zu seiner Frau, die stets am besten über Arthur Bescheid gewusst hatte, hatte er leider nur noch wenig Kontakt – eigentlich nur dann, wenn sie ihm mal wieder ein paar abgelegte Kleider des Sohnes zuschickte. Nun ja, das war nicht zu ändern, gewisse Dinge konnte man einfach nicht beeinflussen.

Drei Jahre war er jetzt schon in Sunnyside, oder im Montrose Royal Mental Hospital, wie es eigentlich hieß. Sein Problem war der Alkohol. Zuletzt hatte der ihn fast um den Verstand gebracht. In jüngster Zeit hatte er sogar zu epileptischen Anfällen geführt, die möglicherweise aber auch den Entzugserscheinungen geschuldet waren.

In Sunnyside wohnten fünfhundert Personen. Manche von ihnen hatten Geld, die hatten es richtig schön. Aber Doyle fand, auch er und die anderen hätten es gar nicht so schlecht, wenn sie nur genügend Grips hatten, dies auch einzusehen. Sunnyside war nicht wie die Irrenhäuser von früher, die eher Gefängnissen oder Armenhäusern glichen, sondern modern und durchorganisiert, und das war Direktor Dr. Howdens Verdienst.

Jedes Jahr kam eine Delegation der Scottish Commissioners in Lunacy nach Sunnyside, um die Einrichtung zu überprüfen. Und immer waren alle voll des Lobes. Hier ging es viel friedlicher zu als in den anderen Einrichtungen dieser Art, da bedurfte es keiner Ermahnungen. Die Patienten waren oft in heilsame und aktive Arbeitsprozesse sowie allerlei Freizeitbeschäftigungen eingebunden, die sie positiv stimmten und weniger aggressiv werden ließen.

Charles Doyle durfte an Theaterbesuchen, Konzerten, Zaubertricks, Laterna Magica, Tanzvorstellungen, Picknicks und Wanderungen teilnehmen, und sogar an einem Besuch bei der D’Oyly Cartes Operngesellschaft. Und er trug oft zur hauseigenen Zeitschrift bei, The Sunnyside Chronicle, die sowohl Notizen über das Leben in Sunnyside als auch Gedichte, Artikel und Zeichnungen der Patienten enthielt.

Meistens ging es ihm richtig gut. Aber manche Tage waren schlechter, sehr viel schlechter. Als er aus einer anderen Einrichtung hierher verlegt worden war, weil er schon wieder auf der Suche nach Alkohol davongelaufen war, hatte er sich angeblich nicht einmal erinnern können, wie viele Kinder er hatte. Nun, hier waren sie, vom ältesten bis zum jüngsten: Annette, Arthur, Lottie, Connie, Duff, Ida und Dodo. Gar nicht schwer zu merken. Sieben Stück. Und dann noch zwei arme Seelchen, die über das Kindesalter nicht hinausgekommen waren, aber das war lange her.

Er wandte sich wieder seinem Illustrationsauftrag zu. Arthur hatte geschrieben, eine der Zeichnungen solle den Detektiv zurückgelehnt in einem Sessel darstellen, während sein Kompagnon am Schreibtisch daneben saß. Und vor ihnen sollten fünf Straßenjungen in einer Reihe stehen und salutieren. Charles Doyles Erfahrung mit Kindern war nicht besonders groß, viele Jahre mit den eigenen Kleinen hatte er nur ganz verschwommen in Erinnerung. Wenn der Alkohol ihn besonders stark im Griff gehabt hatte, hatte er sich manchmal nur auf dem Boden kriechend fortbewegen können.

Er begann die Gesichter der Jungen zu zeichnen. Vielleicht konnte er ihnen die Züge seiner eigenen Kinder geben? Er versuchte, sich an ihre Gesichter zu erinnern. Vielleicht wie Arthur? Runde Wangen, leicht hängende Augen.

Ein wenig künstlerische Freiheit musste man sich schließlich nehmen dürfen.

9

Conan Doyle war auf dem Weg nach London.

Er kannte die Stadt nicht besonders gut. Als er den Roman über Sherlock Holmes geschrieben hatte, hatte er sich auf einen Stadtplan und seine blühende Fantasie verlassen müssen. Da er jedoch womöglich noch geringere Kenntnisse über Utah und Salt Lake City hatte, fiel das nicht weiter ins Gewicht. Immerhin hatte er mal einen Vortrag über die Mormonen gehört, und in der Encyclopaedia Britannica gab es Artikel zu fast allem. Zudem hatte er, wenn er ehrlich war, einen Teil des Utah-Milieus und der Handlung dort aus einem Buch seines großen literarischen Vorbilds Robert Louis Stevenson entliehen. Wobei man dies durchaus als Ehrenbezeugung für den berühmten Autor interpretieren konnte.