Von Rechtsquellen und Studentenverbindungen, Lateinamerikanistikpionieren und politisch Unangepassten - Gisela Boeck - E-Book

Von Rechtsquellen und Studentenverbindungen, Lateinamerikanistikpionieren und politisch Unangepassten E-Book

Gisela Boeck

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Beschreibung

Die vier in diesem Band vereinten Texte stellen die Ergebnisse neuester Forschung zur Rostocker Universitätsgeschichte vor. Was sie vereint, ist das Bestreben nach einer intensiven Durchsicht und Auswertung vorhandenen Quellenmaterials. So trägt Christian Halbrock auf der Basis der Unterlagen der DDR-Staatssicherheit Erkenntnisse zu "politisch abweichendem Verhalten" an der Universität Rostock zusammen, bei denen Haltungen vorherrschen, die sich mit den Begriffen "Verweigerung", Protest und Widerstand fassen lassen. Harald Lönnecker nimmt mit seiner archivalischen Studie das Rostocker Studentenvereinswesen seit dem späten 18. Jahrhundert bis 1935 in den Blick, während Susi-Hilde Michael die wesentlichen normativen Rechtsquellen der Universität Rostock für das 15. und 16. Jahrhundert einer genaueren Prüfung unterzieht. Ralf Modlich stellt den Pionier der deutschen Lateinamerikanistik Adalbert Dessau (1928-1984) vor, der das Fach in Rostock aufgebaut hat und durch seine internationalen Kontakte von besonderer Bedeutung für die Hochschule wurde.

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Inhalt

Vorbemerkung

Christian Halbrock

Verweigerung, Protest und Widerstand an der Universität Rostock. Politisch abweichendes Verhalten in den Akten der DDR-Staatssicherheit.

Harald Lönnecker

„... auch das wackere und freie Burschenleben kam nicht zu kurz, wie es von alters her den deutschen Universitäten eigen“ – Zum Rostocker Studentenvereinswesen seit dem späten 18. Jahrhundert bis 1935. Ein Überblick

Susi-Hilde Michael

Wesentliche normative Rechtsquellen der Universität Rostock

Ralf Modlich

Adalbert Dessau (1928–1984), ein Pionier der deutschen Lateinamerikanistik

Über die Autoren

Vorbemerkung

Im November 2003 wurde der Arbeitskreis „Rostocker Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte“ gegründet. Er versteht sich als fakultätsübergreifendes Podium für alle diejenigen Angehörigen unserer Universität, die sich mit Fragen der Rostocker Universitätsgeschichte bzw. mit Problemen der Wissenschaftsgeschichte haupt- oder ehrenamtlich beschäftigen. Er wird seit Beginn durch uns, die Herausgeber dieses Heftes, geleitet.

Neben den Ringvorlesungen, die wir von 2005 bis 2012 durchgeführt haben und die zum Großteil publiziert worden sind, führt der Arbeitskreis zweimal im Jahr wissenschaftliche Sitzungen durch, auf denen neuere Forschungen zur Rostocker Universitätshistoriographie – seien sie nun noch nicht abgeschlossen, seien sie erst vor kurzem publiziert worden – vorgestellt werden.

Da auch auf diesen Zusammenkünften wichtige neue Einsichten in die Rostocker Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte zutage traten, entschieden wir uns, ausgewählte Beiträge dieser Zusammenkünfte ebenfalls zu veröffentlichen. Diese haben nicht zwingend einen thematischen Zusammenhang, sie ordnen sich aber alle dem übergreifenden Thema des Arbeitskreises unter.

Zugegebenermaßen spricht dieser Band mit seinen vier Texten Thematiken an, die sich schwer unter einer Klammer zusammenbringen lassen. So haben wir einen Titel gewählt, der sich aus der Zusammenführung des jeweils wichtigsten Stichwortes der vier Beiträge ergab. Alle Beiträge basieren auf einer intensiven Durchsicht und Auswertung des jeweils vorhandenen Quellenmaterials und kommen jeweils zu neuen, spezifischen Zugängen und Einblicken in bisher wenig erforschte Bereiche. Die Referate sind auf der 17., 18. und 19. Sitzung des Arbeitskreises vorgetragen worden.

Wiederum danken wir Herrn Prof. Dr. Kersten Krüger für die Möglichkeit, unsere Texte in seiner Reihe drucken zu lassen ebenso wie Magister Christoph Wegner für das Layout und Alex Hintze für die Unterstützung beim Korrekturlesen.

Rostock, im November 2014

Gisela Boeck und Hans-Uwe Lammel

Christian Halbrock

Verweigerung, Protest und Widerstand an der Universität Rostock. Politisch abweichendes Verhalten in den Akten der DDR-Staatssicherheit

Ringen um die Vorherrschaft an der Universität

Die ostdeutschen Einheitssozialisten betrachteten die Universitäten als Kaderschmieden. Aus ihnen sollte ein linientreuer Nachwuchs – eine Dienstklasse und die zukünftige Funktionselite – hervorgehen. Dies gelang der SED anfangs nur bedingt. Mit den Hochschulreformen seit 1946 – vor allem aber der 3. Hochschulreform von 1967 bis 1969 – und dem Umbau des Bildungssystems kam die SED ihrem Ziel einen entscheidenden Schritt näher. Dessen ungeachtet gab es vereinzelt nach wie vor „bürgerliche Restbestände“. Als virulent unangepasst galten lange Zeit die Veterinärmediziner in Berlin1 oder auch die Studenten in einigen technischen Fächern. Hier entschieden nicht nur ideologische Leistungen über das Vorankommen. Naturwissenschaftliches Können war ebenso von Bedeutung. Als Fremdkörper und mitunter auch Unruhefaktor erwiesen sich die theologischen Fakultäten/Sektionen, die den Pfarrernachwuchs der DDR unterrichteten.2 Trotz des wachsenden Konformitätsdrucks und der gezielten Vorauswahl der Studenten nach ideologischen Kriterien kam es an den Universitäten zu politisch abweichendem Verhalten. Anderes als zum Beispiel im Raum der Kirche vollzog sich der Protest hier meist viel unterschwelliger und subtiler. Für die, die hier aufbegehrten und protestierten, ging es konkret darum, die Gefahren zu minimieren, da sie meist weder ihre Entlassung noch die Exmatrikulation riskieren wollten. Vereinzelt gab es aber auch offenen Widerstand. Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition blieben an den Universitäten aber stets die Ausnahme. Dies erst recht nach der 3. Hochschulreform. Bis dahin gab es immer wieder Professoren, wie den Physiker Gerhard Becherer,3 denen es gelang, ihren Fachbereich als Insel des wissenschaftlichen Disputes und der gelebten Bürgerlichkeit von ideologischen Dingen weitgehend frei zu halten. Mit Dankbarkeit und Wertschätzung erinnern sich Absolventen, die Ende der fünfziger Jahre in Rostock Physik studierten, noch heute an das von ideologischen Beeinflussungen vergleichsweise relativ freie Klima unter Professor Becherer, das ihnen trotz der ideologischen Enge der DDR ein noch einigermaßen unbeschwertes Studium ermöglichte. Mit dem Erscheinungsbild der Universitäten und den Reglementierungen, denen sich die Studentenschaft nach 1967 ausgesetzt sah, hatte dies, so die Erinnerungen der Zeitzeugen, kaum etwas zu tun. Zwar gab es auch vordem schon den Marxismus-Leninismus und den gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht mit seinen obligatorischen Prüfungen, und auch die FDJ drängte in die Studentenwohnheime und Seminare, doch bestand noch jener Geist fort, der ein Stück des universitären Bildungsideals konservierte.

Das Konzept der gelebten Bürgerlichkeit, das im Folgenden zur Umschreibung des Milieuumfeldes herangezogen werden soll, ist in der Forschung immer wieder als schwer zu fassendes Phänomen charakterisiert worden. An dieser Stelle geht es nicht um das Besitzbürgertum, sondern um die kulturellen Formen des Bildungsbürgertum und die vom ihm gelebte Bürgerlichkeit. Jene stellte sich neben der Schichtzugehörigkeit über einen kulturellen „Überbau“ und ein kollektives Selbstbewusstsein her, das sich wiederum über die kulturelle Integration vollzog: Gezählt werden dazu ausgewiesene Umgangsformen, ein bestimmter Bildungshorizont, gemeinsam geteilte Werte und Lebensvorstellungen und das Bemühen, sich mit Gleichgesinnten über Netzwerke, Gesprächskreise und ähnlichem eine eigene Lebenswelt zu schaffen.4 Seine besondere Rolle als Form der Andersartigkeit und Nonkonformität erhielt die so gelebte Bürgerlichkeit in der DDR angesichts des politisch normsetzenden „Proletarierkults“. Gleichzeitig wurde der Begriff „bürgerlich“ in Leitartikel und Parteitagsreden in denunziatorischer Absicht verwendet, was den Effekt der Bürgerlichkeit als Distinktionsformel unfreiwillig weiter verstärkte.

Der Begriff der Bürgerlichkeit befindet sich als solcher im steten Wandel abhängig vom historischen Verlauf, aber auch in Abhängigkeit zum analytischen Zugriff, dem er jeweils ausgesetzt ist. Geprägt wurde über die Bürgerlichkeit so ein Wert- und Leitbild, das sich nicht nur auf die klassischen Träger derselben – u. a. Ärzte, Professoren, selbstständige Unternehmer – beschränkte, sondern von anderen übernommen werden konnte. Gleichzeitig nahmen die Angriffe zu. Befördert durch die SED und die FDJ vollzog sich an den Fakultäten ab den fünfziger Jahren ein Ringen um die Durchsetzung der einen zuungunsten der anderen Identifikationskultur. Die SED und die FDJ strebten danach, die als anstößig und unzeitgemäß stigmatisierten Formen jeder demonstrativ gelebten Bürgerlichkeit zu überwinden. Als Leitbilder für die Studenten- und Professorenschaft hatten fortan andere, sozialistische Normen und Werte zu dienen. Zu ihnen zählte der Arbeitermythos, die Nähe zum arbeitenden Volk und eine stilisierte Aufbaueuphorie, verbunden mit einer klassenkämpferisch revolutionären Wachsamkeit, auch wenn häufig unklar blieb, wie dies in der Praxis Gestalt annehmen sollte.

Die meisten Studenten verhielten sich sowohl vor als auch nach 1967 in der Regel angepasst. Nicht wenige verstanden sich, so wie es die SED von ihnen verlangte, als „Kampfreserve der Partei“ und griffen in den FDJ-Versammlungen weniger eifrige Studenten als ideologische Müßiggänger an. Auch fanden sich immer wieder Studenten, die die SED in ihren Kampagnen offen unterstützten. Deutlich wurde dies bereits in den Tagen rund um den 17. Juni 1953. Während in Rostock am 18. Juni auf der Neptunwerft und in anderen Betrieben der Stadt gestreikt wurde, meldeten sich an der Universität „immer wieder Stimmen“, die forderten, „mit den Arbeitern [zu] sprechen“, um ihnen klar zu machen, dass sie mit ihrem Streik „den Klassengegner unterstützen“. Jede Arbeitsniederlegung im Sozialismus sei, so die Studenten, da die Arbeiter hier bereits die Macht hätten, nicht hinnehmbar.5 Die Wirklichkeit ließ sich offensichtlich noch nicht mit den an der Universität vermittelten ideologischen Lehrsätzen in Übereinstimmung bringen.

Die Aktenüberlieferung der Staatssicherheit

Im folgenden Beitrag geht es nicht um Vollständigkeit. Die Zahl der aktenkundigen politischen Verstöße und Vorfälle ist als ungleich höher einzuschätzen, als sich dies in einem Aufsatz darstellen ließe. Ausgewählt wurden hier einige Beispiele, die aufzeigen sollen, welche unterschiedlichen Formen des politisch abweichenden Verhaltens es gab. Zum ersten soll das Spektrum politisch abweichenden Verhaltens exemplarisch an einem Ort, an dem sich vieles sehr subtil vollzog, in seiner Breite aufgezeigt werden. Zweitens ist zu fragen, was die Akten des Staatssicherheitsdienstes darüber auszusagen vermögen: Einiges deutet darauf hin, dass die Staatssicherheit von manch einem abweichenden Verhalten keinerlei Kenntnis erhielt oder darüber nur eher vage informiert wurde. Die Informationen erreichten nicht in jedem Fall oder auch nur in reduzierter Form die Staatssicherheit. Zum einen schritten beizeiten die Universitäts(partei)leitung, der Prorektor für Studienangelegenheiten, die FDJ und der FDGB ein und gingen gegen die vermeintlichen Delinquenten vor. Das MfS brauchte so oft nicht tätig zu werden; die Universität „bereinigte“ beizeiten nicht wenige Vorfälle.6 Zum anderen gewährleistete das großflächige Netz aus Geheimen/Inoffiziellen Informanten trotzdem keine allumfassende Kontrolle. Nicht immer war ein Spitzel zugegen und nicht jeder Spitzel meldete tatsächlich alles, was er wusste, pflichtergeben oder der Realität entsprechend weiter. Ausufernde, aber wenig konkrete Schilderungen, in den Vordergrund gerückte persönliche Animositäten und Wertungen der Spitzel bewirkten, dass vieles verfälscht wurde. Hinzu trat die Wertung durch die Staatssicherheit, die das Geschehen in der ihr eigenen Sprache protokollierte. Auch kam es vor, dass die „operative“ Relevanz vom zuständigen MfS-Mitarbeiter nicht erkannt wurde; sprich das Frühwarnsystem der Staatssicherheit versagte. Andererseits – und im Widerspruch hierzu – konstruierte die Staatssicherheit, sofern ihr irgendetwas auch nur verdächtig erschien, fortwährend negative, staatsfeindliche und Verschwörerkreise.7

Die Hochschulgeschichtsschreibung hat sich bisher nur bedingt der systematischen Darstellung von politisch abweichendem Verhalten im akademischen Umfeld zugewandt. Vorrangig wurden entweder die akademische Lehrerschaft untersucht8 oder hochschulpolitische Vorgaben dargestellt.9 Lediglich Ilko-Sascha Kowalczuk geht auch auf Protest, Widerstand und Verweigerung in seinem Grundlagenwerk ein.10 Die neueren universitätsgeschichtlichen Arbeiten versuchen eine integrative Darstellung von Studenten- und Professorengeschichte; der Schwerpunkt liegt hier aber auf den frühen 50er Jahren.11 Ausgespart bleiben in diesem Aufsatz die Vorgänge um Arno Esch, die in der Vergangenheit andernorts hinlänglich erörtert worden sind.12

Vieles von dem, was die Staatssicherheit aufschrieb, untersuchte und später abheftete, diente der Prophylaxe und einem übersteigerten Sicherheitsinteresse. Zu verweisen ist auf die Unmengen an Akten, die im Zusammenhang mit der Reisekaderüberprüfung und mit Auslandreisen entstanden. Ebenso legte die Stasi eine nicht unerheblich Zahl von Akten über Universitätsmitarbeiter und Studenten an, ermittelte und ging gegen diese vor, obwohl die Betreffenden sich weitgehend unauffällig verhielten. Bei der verdeckten Postkontrolle, dem heimlichen Öffnen von Briefen, fanden die Schnüffler der Staatssicherheit vermeintlich Staatsfeindliches. Mit Widerspruch, Widerstand und Opposition im Sinne der Widerstandsforschung hat all dies wenig zu tun: Das Kriterium der Öffentlichkeit oder die Absicht, ein – wenn auch nur begrenztes – Publikum zu erreichen, scheint hier zumeist nicht gegeben. Zu Menschen, die das System kritisierten, wurden die Betreffenden erst, als die Staatssicherheit – anscheinend wider Erwarten – mitlas. Obwohl ein heimlich mitgelesener Brief strafrechtlich keine Relevanz hätte haben dürfen, wurde der, von dem die vermeintlich staatskritischen Zeilen stammten, als Staatsfeind eingestuft. Doch können die Zuordnungskriterien der Staatssicherheit nicht im Nachhinein zum Maßstab der Bewertung, was als Widerstand anzusehen ist, erhoben werden. Andererseits offenbaren die heimlich mitgelesenen Briefe einiges darüber, was Universitätsmitarbeiter, Professoren und Studenten tatsächlich dachten. Ersichtlich wird dabei die Diskrepanz zwischen Denken und Handeln, die viele Lebensbereiche der DDR durchzog. So wenn sich die Betreffenden in der Öffentlichkeit, in den obligatorischen Politversammlungen oder auch sonst, sobald es von ihnen verlangt wurde, positiv zur DDR und der Politik der SED äußerten, im privaten Kreis die Zustände in der DDR jedoch kritisierten.

Überwachung, Anpassungsdruck und der Versuch, sich dem zu entziehen

Mitgelesen wurde unter anderem die Korrespondenz des Historikers Heinz Herz.13 Die Staatssicherheit erfuhr 1958 auf diesem Weg, dass er die sozialistische Umgestaltung der Universität ablehnte und dass es einen „Dibeliuskreis“ an der Theologischen Fakultät gab.14 Der in West-Berlin wohnende Bischof Otto Dibelius galt den DDR-Behörden nach der von ihm vorgelegten „Obrigkeitsschrift“ als Regimekritiker schlechthin.15 In ihr hatte Dibelius die Legitimität des SED-Regimes als Obrigkeit, der Gefolgschaft zu leisten sei, angezweifelt. Die SED und die Staatsicherheit suchten nach dem ominösen Kreis, aufgrund eines Übermittlungsfehlers allerdings bei den Historikern, und wurden dementsprechend auch nicht fündig. Am Historischen Institut existierte Mitte der fünfziger Jahre hingegen nach den Erkenntnissen der Universitätsparteileitung eine „revisionistische Gruppe“, von der 1958 nur noch der Historiker Karl-Friedrich Olechnowitz übriggeblieben war. Ob Heinz Herz Kontakt zu dieser Gruppe hatte, wusste das MfS nicht zu sagen. Der Historiker, schrieb die Staatssicherheit, ging im Privaten und im vertrauten Kreis der Kollegen zur Universitätsleitung auf Distanz. Dies auch angesichts des Selbstmordes des Historikers Johannes Nichtweiß, der sich am 14. Juni 1958 vom Dach des Universitätshauptgebäudes in den Tod stürzte.16 Zuvor hatte die Parteileitung des Historischen Instituts Johannes Nichtweiß massiv unter Druck gesetzt, gegen Heinz Herz in einer Versammlung, die am Abend zuvor stattfand, auszusagen. Nichtweiß lehnte dies ab und verhielt sich gegenüber Herz, der an jenem Abend massiv angegriffen wurde, loyal. Vielmehr besuchte er im Anschluss mit Heinz Herz eine Kneipe und begleitet ihn nach Hause.

An Heinz Herz zeigt sich das Dilemma, in dem viele Universitätsangehörige steckten: Gegenüber einem Kollegen an der Universität, der dies beflissentlich weitermeldete, äußerte Professor Herz, „daß der antireligiöse Terror in Rostock unvorstellbare Formen annimmt, [...] er als Parteimitglied [aber] hierzu schweigen muß, da er sich sonst in die Gefahr des Parteiausschlusses [bringt] u[nd] somit seine Stellung verliert.“ Die innerliche Distanz und das innerliche Aufbegehren gegen das Regime schienen mit Händen greifbar. Als Lehrkraft war er 1955, wie der Geheime Informator „Otto“ der Staatssicherheit im November 1956 empört berichtete, trotz seines offenkundigen Talents „völlig kaltgestellt“ worden. Noch vor dem XX. Parteitag der sowjetischen Kommunistischen Partei und der Rede Chruschtschows, auf der die Entstalinisierung verkündet wurde, hatte er „die Ausschließlichkeit der wissenschaftlichen Autorität J. W. Stalins kritisiert“ und erklärt, dass „Wissenschaftler nicht bei Lenin- und Stalinkommentaren stehen bleiben dürften.“17 Dies reichte, um ihn vorerst auf den Posten des Bibliotheksdirektors abzuschieben.

Trotzdem bemühte sich Heinz Herz immer wieder, den politischen Vorgaben in der Öffentlichkeit zu entsprechen, dies auch, um wieder die Lehrbefugnis zu erhalten. In der Ostsee-Zeitung erschien im Januar 1957 ein Artikel von Herz zur „Rolle der Intelligenz im Sozialismus“, in dem er die Werbetrommel für die SED rührte: „[I]n den ersten Phasen des sozialistischen Aufbaus“, so Herz, sei es „zu verräterischen Handlungen einzelner Intellektueller gegen die Arbeitermacht“ gekommen. Kognitive Dissonanz, das entgegen einer besseren Einsicht vollzogene Handeln, bestimmte das öffentliche Tun vieler Universitätsangehöriger nicht nur in den fünfziger Jahren. In den vier Jahrzehnten bis 1989 gehörte dies für die meisten, die trotz ihrer kritischen Einstellung zur SED Karriere in der DDR machen wollten, zum Standardprogramm der alltäglichen Verstellung. Doch kann der Artikel, den Heinz Herz in der Ostsee-Zeitung 1957 schrieb, auch anders gelesen werden. Neben den Avancen gegenüber der SED, die der Artikel enthält, sprach sich Herz zwischen den Zeilen für mehr Verständnis seitens der „Arbeitermacht“ für die Intelligenz und gegen die zunehmende Abschottung der DDR aus: „‚Kontakte‘ mit der kapitalistischen Welt“, so Herz in seinem Artikel,

„auf dem Gebiet der Technik, Wissenschaft und Kunst usw. [sind] unvermeidlich; die sozialistische Gesellschaft kann [...] nicht völlig isoliert leben, sie muß an das anknüpfen, was fortschrittliche Geister auch außerhalb des sozialistischen Bereiches der Welt geschaffen haben.“18

Heinz Herz spürte innerlich den Druck, der auf ihm lastete und wollte sich dessen ungeachtet nicht mit der Lage zufrieden geben. In einem vom MfS mitgelesenen Brief vertraute Herz dem Empfänger an:

„Die Bilanz der weltanschaulichen ideologischen Überprüfung der Fakultät: Ein Dozent tot, ein Dozent nach missglücktem Selbstmord an sich nach dem Westen, ein Professor ebenfalls nach dem Westen, ein Prof. herzkrank im Sanatorium, eine Dozentin nervenkrank in psychiatrischer Klinik. Soll ich noch warten, bis auch ich soweit bin?“19

Die Akten der Staatssicherheit enthalten eine Reihe von Hintergrundinformationen, die viel aussagen über das Ringen, trotz des politischen Drucks und der Maßregelungen, an den eigenen Überzeugungen festhalten zu wollen und sich ein Stück Bürgerlichkeit zu erhalten. Zustande kamen die Sequenzen, die sich heute als Quellenmaterial nutzen lassen, eher beiläufig, also nicht im Rahmen der eigentlichen geheimpolizeilichen Ermittlungsarbeit. Dafür, dass der Widerspruch in seiner subtilen Form hier plastisch wird, zeichnete nicht zuletzt das von der Staatssicherheit praktizierte Verfahren, die Briefe von „undurchsichtigen Personen“ zu öffnen und mitzulesen, verantwortlich. So erfuhren die Gesinnungsschnüffler, was die Betreffenden dachten.

Beharren und Widerspruch

Handelt es sich bei den vom MfS kopierten Briefen noch um authentische Selbstzeugnisse, deren Aussagewert höchstens dadurch beeinträchtigt wird, dass der Autor gegebenenfalls ahnte, dass das MfS mitlas, so werfen die vom MfS erstellten Texte grundsätzliche Fragen auf. Im Kern spiegelt sich hier lediglich die Sicht des Staatssicherheitsdienstes wider, der die Vorgänge nach seiner Agenda auswertete und ein entsprechendes Narrativ erstellte. Doch stehen häufig keine weiteren Quellen zur Verfügung; die hier übermittelten Fakten und Zitate, die keinesfalls den tatsächlichen Wortlaut wiedergeben müssen, liefern aber eine Hilfestellung, um das Geschehen zu rekonstruieren.

Auch bei der Stellenbesetzung, dem Kampf um knappe Ressourcen wie dem Reiseprivileg oder einfach aus Neid und Missgunst, die in Wissenschaftskreisen allezeit ständige Begleiter sind, wandten sich Universitätsmitarbeiter vertrauensvoll an staatliche Stellen und machten Kollegen madig. Nicht selten beschäftigte sich in der Folge die Staatssicherheit mit der Angelegenheit und erstellte entsprechende Traktate. So auch 1958 im Vorfeld der Inhaftierung von Professor Franz Günther von Stockert, Direktor der Universitäts-Nervenklinik.20 Die Staatssicherheit warf ihm vor, sich der „Hetze [...] gegen die DDR, gegen Staatsfunktionäre und Mitglieder der SED“ schuldig gemacht zu haben. Laut dem Ermittlungsbericht betitelte er „einen Staatssekretär als […] ‚Kommunisten‘ und einen Kollegen als ‚rotes Schwein‘ und bezeichnete die DDR als ‚Konkursmasse‘“. Der Denunziant, ein ihn beargwöhnender Kollege, berichtete über ihn mit eindeutig gehässigem Unterton:

„St. ist ein unansehnlicher […] komisch anmutender kleiner Herr […] seine Vorlesungen [werden] weniger ihres wissenschaftlichen Inhalts wegen besucht […] Umso mehr wundert […] [es], daß das Staatssekretariat jetzt wieder Zugeständnisse macht und [ihm] bis Jahresende noch Westmark zahlen will. […] Mein persönlicher Eindruck: […] Hinter einer gewählten Sprache verbirgt [sich] nicht sehr viel Geist. Auf keinen Fall wird St. Partei für den Sozialismus nehmen, sondern versuchen zu lavieren.“21

Warum die Zuhörer, wenn nicht aus wissenschaftlichem Interesse, in die Vorlesungen von Professor Stockert gekommen sein sollen, geht aus dem Bericht des übereifrigen Denunzianten nicht hervor. Gab es in den Vorlesungen unmissverständliche politische Anspielungen, versteckte Kritik am System, gingen die Studenten zu Stockert, weil er ein Stück gelebte Bürgerlichkeit repräsentierte und sich so von anderen abhob, oder handelte es sich schlicht um Pflichtvorlesungen? Die Akten vermögen darüber keine Auskunft zu geben. Dem MfS reichten die von einem Geheimen Informanten geschrieben Berichte jedenfalls, um Stockert zu inhaftieren. Er verbrachte mehrere Wochen in der MfS-Untersuchungshaft und wurde im Mai 1958 wegen „staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten verurteilt.22

Hinzu kam die an der Universität wie anderswo geschürte Stimmung, die jegliches Anderssein dem Verdacht der Abweichung aussetzte. Auch in diesem Zusammenhang entstanden nicht wenige Protokolle und Schreiben, die die Universitätsparteileitung und die Staatssicherheit beschäftigten und später zu Akten zusammengefügt wurden. Häufig lässt sich aus heutiger Perspektive nur schwer sagen, ob der schriftlich fixierte Verdacht zutreffend war. Die Akten legen im Grunde häufig nur Zeugnis ab, von der allerorts propagierten und eingeforderten revolutionären Wachsamkeit, überall nach Abweichlern suchen zu müssen. Sie beweisen, dass die Universität ein Ort war, an dem dies auf fruchtbaren Boden fiel. Als Beispiel kann hierfür die Berufung von Hildegard Emmel zur Professorin für das Fach Deutsche Literatur im Jahr 1956 angeführt werden. Der Chef der Kaderabteilung, Krebs, wandte sich umgehend an das Staatssekretariat für Hochschulwesen, wobei seine Absicht unverkennbar war. Krebs betonte, dass Hildegard Emmel „nicht die Voraussetzungen“ habe, „um zum Prof. [mit] Lehrauftrag berufen zu werden“. Ihre Studenten würden nicht mit „den fortschrittlichen Studenten“ zusammenarbeiten. Sie stünde überdies „meistens bei irgendwelchen Problemen innerhalb der Fakultät in Opposition“. „Ihre ganze Haltung“ sei „zumindest undurchsichtig“. Sie sei „Rainer-Maria-Rilke-Anhängerin“. „Um fortschrittliche Schriftsteller zu behandeln“, hätte „sie keine Zeit“.23

Ohnmacht, Mut, Aufbegehren

In einer Reihe von Fällen bleibt trotz einer in materieller Hinsicht günstigen Aktenlage offen, worum es in den Auseinandersetzungen konkret ging. Universitätsangehörige wurde als „undurchsichtige Personen“ oder als „indifferent“ charakterisiert und aufgrund der von ihnen gelebten Bürgerlichkeit unter Generalverdacht gestellt. Suspekte Äußerungen und unparteiisches Verhalten wurden protokolliert und dem MfS weitergemeldet oder von diesem durch gezieltes Nachfragen auch herbeigeredet. „Etwas wird schon an der Sache dran sein“, lautete die vorherrschende Devise.

Zumeist waren es einzelnen Studenten oder Universitätsangehörige, die nicht weil, sondern obwohl sie zur Universität gehörten, Widerspruch einlegten, Widerstand leisteten oder sich an oppositionellen Bestrebungen beteiligten. Sie taten dies nicht selten außerhalb der Universität. So jener Student, der am 6. September 1961 „auf einer Hausversammlung“ seinen Nachbarn „durch hetzerische Äußerungen“ auffiel. Die von einem Nachbarn alarmierte Staatssicherheit sah hingegen den Tatbestand der „Hetze“ in strafrechtlicher Hinsicht nicht gegeben, archivierte die „Vorlaufakte“ und bat die Universität, um die Sache abschließen zu können, ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Der Student erhielt einen „strengen Verweis“.24 Ein Student, der 1985 auf einer Hausversammlung im Patriotischen Weg die SED kritisierte, wurde ebenso denunziert und anschließend exmatrikuliert.25

Die Universität leistete gewissenhaft ihren Beitrag zur Disziplinierung und unterstützte ebenso die Strafverfolgung. So im Jahre 1957, als die Staatssicherheit nach entsprechenden Hinweisen aus der Universität drei Studenten der Schiffbautechnischen Fakultät, unter ihnen Christian Töpfer, festnahm.26 An der Schiffbautechnischen Fakultät27 gärte es seit einiger Zeit. In einer Seminarversammlung des 5. Semesters forderten fast alle Studenten, die Vorlesungen in Politischer Ökonomie auf ein Mindestmaß zu reduzieren und die Prüfungen ganz abzuschaffen.28 Aus einem heimlich geöffneten Brief erfuhr die Staatssicherheit, dass die „Seminargruppe als reaktionäre Gruppe bekannt sei und geschlossen in Opposition“ stehe. Der Student schrieb weiter, SED-Chef Walter Ulbricht wolle „die Studenten mundtot machen, da sie ihm gefährlich werden.“29 Von den drei festgenommenen Studenten wurden zwei am darauffolgenden Tag wieder freigelassen. Im Auftrag der Staatssicherheit nahm sich der Disziplinarausschuss der Universität der Sache an. Die gegen einen von beiden erhobenen Vorwürfe, mehrere ihm zugeschriebene staatsfeindliche Äußerungen, konnten zweifelsfrei ausgeräumt werden; die Äußerungen waren offenbar so nicht gefallen, ein übereifriger Denunziant hatte ihn fälschlicherweise belastet. Übrig blieb der Vorwurf, er habe „im Frühjahrssemester nicht die richtige Art zu diskutieren gehabt“. Auch dass er sich über seine Festnahme in der Seminargruppe beschwerte, wurde ihm nun vorgehalten. Der Disziplinarausschuss belegt ihn mit einem strengen Verweis. Wesentlich härter traf es den zweiten Studenten, der für die gesamte DDR vom Studium ausgeschlossen wurde. Er hatte im Politunterricht „häufig provokatorische Zwischenrufe gemacht“ und auf die von ihm als „dumme Propaganda“ bezeichnete Politunterweisung „mit herausforderndem Lächeln“ reagiert und mit „hämischen Bemerkungen ins Lächerliche“ gezogen: Laut Urteil des Universitätsausschusses ein unverzeihliches Vergehen.30 Der dritte Student, Christian Töpfer, blieb in Haft. Das Bezirksgericht Rostock verurteilte ihn unter dem Vorwurf der „Boykotthetze“ nach Artikel 6 der DDR-Verfassung zu sechs Monaten Gefängnis.31 Gegenüber seiner Seminarleiterin hatte er unter anderem erklärt: „Wir wollen freie Menschen sein und frei entscheiden können.“32

Nicht immer war der Auslöser für studentisches oder universitäres Aufbegehren ein politischer. Auch der studentische Aufruhr vom Juni 1960, der als „Widerstand gegen staatliche Maßnahmen“ aktenkundig werden sollte und für Gesprächsstoff nicht nur an der Universität sorgte, entstand aus einem unpolitischen Anlass. Dass hier Studenten, die Vertreter der zukünftigen DDR-Funktionselite, aufbegehrten, ließ die Sache zum Politikum werden. Auszuschließen ist auch nicht, dass das Datum eine Rolle spielte: Zu dem Vorfall kam es in den Abendstunden des 14. Juni – nur wenige Tage vor dem 17. Juni, der als Jahrestag des niedergeschlagenen Volksaufstandes von 1953 als neuralgischer Termin galt. Rund um den 17. Juni kam es regelmäßig zu Widerstandsaktionen in der DDR; die Polizei und die Staatssicherheit befanden sich im Zustand erhöhter Anspannung. Dass sich der 1957 verurteilte Christian Töpfer an dem Aufruhr 1960 beteiligte, mochte die Phantasie derer, die darin einen politische Aktion sehen wollten, ebenso beflügelt haben. Die Staatssicherheit und die Staatsanwaltschaft erblickten in Christian Töpfer dementsprechend den „Rädelsführer“. Abermals waren es die angehenden Schiffbautechniker, die schon in der Vergangenheit ausgeschert waren. Während einer wilden und ausschweifenden Studentenparty in der Thierfelderstraße forderte der angenervte Hausmeister schließlich die Volkspolizei an. Diese schickte einen Funkstreifenwagen zum Studentenwohnheim. An die zweihundert Studenten „rotteten“ sich, wie es später hieß, zusammen und versuchten die Festnahme eines ihrer Kommilitonen, der den Vopos besonders lautstark entgegentrat, zu verhindern. Die Festnahme heizte die Stimmung weiter an: „Pfui“-Rufe und Sprüche wie „Freiheit für“ unseren Mitstudenten, „Schweinerei“ und „Nieder mit dem Kishi-Regime“ erklangen.33 Der Funkstreifenwagen wurde umstellt und an der Abfahrt gehindert.34 Das MfS nahm nachfolgend vier Studenten fest und überstellte sie in die Untersuchungshaft. Anschließend verurteilte sie das Kreisgericht Rostock zu Haftstrafen zwischen sechs und achtzehn Monaten.35

Den Studierenden wurde stets ein erhöhtes Maß an Loyalität abverlangt. Im Ergebnis bewirkte dies, dass dem subtilen unterschwelligen Protest eine weitaus größere Bedeutung zukam als andernorts und er als solcher wahrgenommen wurde. Oft lässt sich erst anhand verschiedener Überlieferungen ausloten, wie die Stimmung im Einzelfall war und ob es insgeheim oder verdeckt Widerspruch gab. Ohne weitere Dissonanzen vollzog sich der offiziellen Darstellung zufolge so auch der Besuch des FDJ-Vorsitzenden Eberhard Aurich 1988 an der Universität in Rostock.36 Der von der Staatssicherheit vorgelegte Bericht widersprach dem offiziell vermittelten Eindruck grundlegend: Aurich wurde bei dem Treffen mit kritischen Fragen und Kommentaren konfrontiert. Warum Rostock bei der Versorgung schlechter als Berlin gestellt sei, wollte ein Student wissen, und jemand anderes fragte, warum das „Neue Deutschland“ die Losungen für den 1. Mai vorgebe und sich die Menschen die Losungen nicht selbst aussuchen dürften. Ein weiterer Student erkundigte sich, warum der FDJ-Chef im Arbeiter- und Bauernstaat einen Citroën und nicht die „Arbeiterpappe“, den Trabant, fährt.37 Die Diskussion spiegelt eine der Hauptformen des oft allzu verhaltenen Widerspruchs an den Universitäten wider. In von der Universitätsleitung und der FDJ angesetzten Diskussionen und Versammlungen, in den Seminargruppen, im Parteilehrjahr und anderswo versuchten Studenten, mit vorwitzigen wie einfältigen Fragen, die, die das Regime verteidigten, in Verlegenheit zu bringen und herauszufordern.

Heute lässt sich die Brisanz solcher Diskussionen kaum mehr nachvollziehen. Die jesuitisch anmutenden versteckt kritischen Bemerkungen und häufig von studentischem Witz durchzogenen Wortbeiträge müssen dechiffriert werden, wenn sie heute verstanden werden sollen und man wissen will, um was es ging und warum sich die SED, die FDJ und die Staatssicherheit darüber so aufregten.

Die Universität war immer auch ein besonderer Ort der Systemloyalität. Diejenigen unter den Studenten, die das System verteidigten, waren sofort eilfertig zur Stelle und nutzten ihr Privileg, um die, die sich kritisch äußerten, in der Diskussion abzudrängen. Auch FDJ-Chef Aurich erhielt von den bekennenden Blauhemden „für seine klaren und parteilichen Antworten zustimmend Beifall.“38 Studenten, die mit den Zuständen in der DDR unzufrieden waren, wussten, von wem der Beifall kam. Was im Subtext ablief, verdeutlicht auch eine Aktion 1976. In Rostock hatte sich eine Gruppe, zu denen auch zwei Studenten gehörten, gefunden, die sich mit oppositionellen Texten von Robert Havemann, Leszek Kołakowski und Jacek Kuroń beschäftigte. Sie sammelten Geld für das oppositionelle polnische Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR).39 Ebenso gingen sie in den Studentenkeller, um hier, wie es im Stasi-Deutsch hieß, „mit gezielten negativen Diskussionen Einfluß auf Inhalt und Ablauf der Veranstaltung zu nehmen.“40 So auch zu einer Veranstaltung 1977 mit Professor Olaf Klohr. Klohr galt als führender Atheismusforscher der DDR, der, wie Ehrhart Neubert schreibt, „die Operationen der SED gegen die Kirchen ideologisch begleitete.“41 Klohr beabsichtigte im Studentenkeller zum Thema „Atheismus und Kirche“ zu sprechen. Wie es hieß, „organisierte“ einer der später Festgenommenen andere „negative Personen“, die Klohr Paroli bieten wollten.42 Insgesamt fanden sich fünf Wagemutige, die Klohr und den mehrheitlich systemtreuen Zuhörern widersprachen. Obwohl sie gegen die Studenten aus den geisteswissenschaftlichen Fächern kaum ankamen, werteten die fünf „Störer“ ihre Aktion als Erfolg. Mit ihrem Erscheinen hätten sie sich deutlich in der Öffentlichkeit positioniert und seien der zur Norm erhobenen marxistisch-atheistischen Ideologie entgegengetreten. Die Diskussion wäre nur deshalb nicht zu unterlaufen gewesen, da, so wird einer der „Störer“ zitiert, „zu viele Leute gekauft waren.“43

Zwar passten sich die „Störer“ in ihrer Kritik an die im Universitätsklub herrschenden Bedingungen an und sprachen sich für eine Reform des Sozialismus aus. Zugleich wusste einer der Studentenspitzel zu berichten, dass einer der „Störer“ anschließend davon sprach, dass es „für sie trotzdem nur ein Ziel gäbe, die Kommunisten zu vernichten und die DDR nicht anzuerkennen.“44 Was der Betreffende tatsächlich dachte, erfuhr die Stasi ausgerechnet aus dem bundesdeutschen Fernsehen: Während einer Umfrage, die „die Sendung Kennzeichen D des ZDF“ unter Passanten auf dem Alexanderplatz in Berlin durchführte und die anschließend über den Äther ging, „bezeichnete K. [...] Genossen Honecker als Verbrecher“.45

Aus dem Stasi-Bericht über den Besuch von FDJ-Chef Eberhard Aurich geht ebenfalls hervor, dass es 1988 selbst an der Universität an einigen Orten unüberhörbar gärte: es gäbe ernsthaften Widerspruch gegen die Politik der Partei- und Staatsführung.46 Studenten der Lateinamerikanistik initiierten eine Eingabe an den Zentralrat der FDJ, und die „in der Sektion Biologie produzierten Karnevalsverse“ würden die „gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und führende Persönlichkeiten“ offensichtlich diffamierten. „Zunehmend schärfer“ würden nun auch in den Versammlungen an der Universität „wesentliche Bestandteile“ der „Partei- und Staatspolitik“ in Frage gestellt. Insbesondere unter den angehenden Biologen, den Betriebswirtschaftlern und an der Sektion Tierproduktion regte sich Widerspruch.47 In den Jahren zuvor hoffte die Mehrheit der kritisch denkenden Studenten häufig noch, dass jemand anderes ihnen den Schritt, sich öffentlich zu positionieren, abnehmen würde. So schien es auch während des Wolf Biermann-Konzertes in der Aula der Universität Ende Mai 1965 gewesen zu sein. Der Redakteur der Ostsee-Zeitung, Heinz Grundlach, berichtete dem MfS über die Veranstaltung, die bis auf den letzten Platz gefüllt war, dass der „größte Teil der Studenten“ gekommen sei, „um passiv“ sein Bekunden „zu einer Art ‚Konterrevolution‘ auf dem Gebiet der Lyrik abzugeben.“ Kritische Äußerungen des Sängers wurden stets mit frenetischem Beifall bedacht. Dabei blieb es aber zumeist auch.48

Dienstpflichtverletzung mit Folgen

Die Dienstpflichtverletzung als solche zählt der landläufigen Auffassung nach nicht zum politisch abweichenden Verhalten.49 Doch lässt sich dies unter den Verhältnissen der Diktatur aufrechterhalten? Das System schuf neue Normen, die den Alltag in seiner bisherigen Form durchdrangen. Rechtsgebundene Zustände wurden in Deutschland bereits ab 1933 instrumentalisiert, Kritik und Widerspruch im Amt demgegenüber kriminalisiert. Eine Dienstpflichtverletzung erwies sich im Alltag der Diktatur nicht immer nur als eine reine Dienstpflichtverletzung. Mitunter beinhaltete sie auch mehr. Wichtig war die Intention, doch lässt sich diese quellenmäßig nur selten belegen. Erfolgte eine Unterlassung oder Übertretung aus Nachlässigkeit oder um einem in Bedrängnis Geratenen zu helfen oder Kritik am System zu äußern? Letzteres war 1984 der Fall. Ausgelöst wurde der „Störfall“ durch einen Artikel des Rostocker Professors Peter Voigt50 in der Ostsee-Zeitung Ende März 1984. Unter der Überschrift „Sozialistische Sozialpolitik geht auf Dauer nur, wenn gut gearbeitet wird“, setzte sich Peter Voigt mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik in der DDR auseinander.51 Der „Störfall“ basierte auf einem Missverständnis. Ohne die geläufige „Schere im Kopf“ entschied sich der Soziologe Voigt, zunächst