Vor aller Augen - Alex Cross 9 - - James Patterson - E-Book

Vor aller Augen - Alex Cross 9 - E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Es geschieht vor aller Augen, in Supermärkten, auf Parkplätzen, in ihren Häusern: Scheinbar wahllos werden unbescholtene Männer und Frauen entführt. Die Opfer bleiben spurlos verschwunden. Der Kriminalpsychologe Alex Cross, der gerade erst seinen neuen Job beim FBI angetreten hat, befürchtet, dass er es mit einem außergewöhnlichen Fall von kaltblütigem Menschenhandel zu tun hat, bei dem die Opfer als »Sklaven« bestellt und gekauft werden. Alle Spuren führen zu einem Mann, dessen Kaltblütigkeit selbst hart gesottene Verbrecher fürchten. Man nennt ihn nur »den Wolf«...

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Inhaltsverzeichnis
 
Buch
Autor
Von James Patterson ist bereits erschienen
Widmung
Prolog
 
Teil Eins - Der Fall »Weißes Mädchen«
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
 
Copyright
Buch
Er ist hochintelligent und völlig gewissenlos - Alex Cross begegnet dem schlimmsten Killer in seiner Karriere: Man nennt ihn nur den Wolf. Einem Mann, dessen Skrupellosigkeit selbst dem abgebrühtesten Verbrecher Angst einjagt. Kaum hat Alex Cross seine Arbeit als Kriminalpsychologe bei der Polizei von Washington, D.C. beendet, um zum FBI zu gehen, wird er in einen Fall gezogen, der seine neuen Kollegen ratlos macht. Immer wieder werden am helllichten Tag und vor aller Augen Männer und Frauen entführt. Die Opfer verschwinden spurlos, und obwohl sie oft wohlhabend sind, wird kein Lösegeld gefordert. Alex Cross ahnt, dass diese völlig unbescholtenen Bürger Opfer eines grausamen Geschäfts sind. Nur ein Mann kann hinter diesem brutalen Menschenhandel stehen. Niemand kennt seine wahre Identität, man nennt ihn nur »den Wolf« …
Autor
James Patterson, geboren 1949, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Inzwischen feiert er auch mit seiner neuen packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Club der Ermittlerinnen« internationale Bestsellererfolge. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester, N. Y. Vor aller Augen ist der 9. Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross. Weitere Romane des Autors sind bei Limes und im Blanvalet
Taschenbuch in Vorbereitung.
Von James Patterson ist bereits erschienen
Die Alex-Cross-Romane: Stunde der Rache (7; 35892) Mauer des Schweigens (8; 35988)
Der Club der Ermittlerinnen:
Der 1. Mord (36075)
Die 2. Chance (Limes Verlag, geb., 2464)
Der 3. Grad (Limes Verlag, geb., 2497)
Für Joe Denyeau
Prolog
Die Paten
Man erzählte von einer völlig unglaublichen Mordgeschichte, durch welche der Wolf Eingang in die Polizeimythen gefunden und die sich schnell von Washington nach New York, London und Moskau ausgebreitet hatte. Niemand wusste mit Sicherheit, ob es tatsächlich der Wolf gewesen war. Doch erfolgte nie ein offizielles Dementi, und die Geschichte fügte sich nahtlos in andere ungeheuerliche Vorkommnisse im Leben dieses russischen Gangsters ein.
Laut dieser Geschichte hatte sich der Wolf an einem Sonntagabend im Frühsommer Zutritt in das Hochsicherheitsgefängnis in Florence, Colorado, verschafft. Er hatte sich den Zugang erkauft, um drinnen den italienischen Mafioso Don Augustino »Little Gus« Palumbo zu treffen. Vor diesem Besuch stand der Wolf in dem Ruf, impulsiv und zuweilen äußerst ungeduldig zu sein. Doch diese Zusammenkunft mit Little Gus Palumbo hatte er nahezu zwei Jahre lang sorgfältig geplant.
Er traf sich mit Palumbo im Sicherheitstrakt des Gefängnisses, wo der New Yorker Gangster seit sieben Jahren einsaß. Ziel des Treffens war, ein Arrangement zu erreichen, wonach sich die Palumbo-Familie der Ostküste mit der Russischen Mafia verbünden sollte, um eines der mächtigsten und skrupellosesten Verbrechersyndikate der Welt zu bilden. So etwas war noch nie zuvor versucht worden.
Palumbo wurde nachgesagt, extrem skeptisch zu sein. Aber er stimmte dem Treffen mit dem Wolf zu, nur um zu sehen, ob der Russe es schaffen würde, in das Gefängnis in Florence hineinzukommen - und auch wieder hinaus.
Von Anfang an benahm sich der Russe dem sechsundsechzigjährigen Don gegenüber äußerst respektvoll. Er neigte den Kopf, als sie sich die Hände schüttelten, und machte einen beinahe schüchternen Eindruck - ganz im Gegensatz zu seinem Ruf.
»Jeglicher Körperkontakt ist strikt verboten«, sagte der Captain der Wachen durch die Sprechanlage. Er hieß Larry Ladove und er hatte 75 000 Dollar kassiert, um das Treffen zu ermöglichen.
Der Wolf ignorierte Captain Ladove. »In Anbetracht der Umstände sehen Sie recht gut aus«, sagte er zu Little Gus. »Sogar sehr gut.«
Der Italiener lächelte verkniffen. Er war klein, aber sein Körper war hart und muskulös. »Ich mache dreimal täglich Gymnastik - jeden Tag. Außerdem trinke ich fast nie Alkohol - allerdings nicht ganz freiwillig. Ich ernähre mich gesund, ebenfalls nicht ganz freiwillig.«
Der Wolf lächelte und sagte: »Das klingt ja, als rechneten Sie damit, nicht die gesamte Strafe abzusitzen.«
Palumbo lachte kurz und trocken. »Darauf können Sie einen lassen. Dreimal lebenslänglich gleichzeitig? Aber ich bin von Natur aus diszipliniert. Die Zukunft? Wer weiß schon genau, wie sich die Dinge entwickeln?«
»Ja, wer weiß das schon. Ich bin mal aus einem Gulag unterhalb des Polarkreises geflohen. In Moskau habe ich einem Bullen erklärt: ›Ich war in einem Gulag, glaubst du, dass du mir Angst einjagen kannst?‹ Womit beschäftigen Sie sich ansonsten hier drinnen? Abgesehen von körperlicher Ertüchtigung und gesundem Essen?«
»Ich versuche mich um meine Geschäfte in New York zu kümmern. Manchmal spiele ich mit einem kranken Irren Schach. Er war früher beim FBI.«
»Kyle Craig«, sagte der Wolf. »Halten Sie ihn für so verrückt, wie man behauptet?«
»Ja, absolut. Aber jetzt erklären Sie mir mal, pakhan mein Freund, wie kann diese Allianz, die Sie vorschlagen, funktionieren? Ich bin ein disziplinierter Mensch und pflege alles sorgfältig zu planen - auch hier, trotz der gegenwärtig erniedrigenden Umstände. Soweit ich gehört habe, sind Sie ein Hitzkopf. Den Finger schnell am Abzug. Ein ›Macher‹. Sie kümmern sich selbst um die kleinsten Operationen. Schutzgeld, Prostitution. Gestohlene Autos? Wie kann das mit uns beiden funktionieren?«
Der Wolf lächelte und schüttelte dann den Kopf. »Ich habe den Finger schnell am Abzug, aber ich bin kein Hitzkopf. Und schon gar nicht, wenn’s um viel Geld geht. Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten, das niemand sonst kennt. Es wird Sie überraschen und vielleicht meinen Standpunkt untermauern.«
Der Wolf beugte sich vor. Er flüsterte dem Italiener sein Geheimnis ins Ohr. Dessen Augen weiteten sich vor Furcht. Mit verblüffender Schnelligkeit packte der Wolf den Kopf von Little Gus. Er drehte ihn kraftvoll und mit einem lauten Knacken brach das Genick des Gangsters.
»Vielleicht bin ich zuweilen doch ein Hitzkopf«, sagte der Wolf. Dann blickte er in die Überwachungskamera und sagte zu Captain Ladove: »Oh, hatte ich ja ganz vergessen - keinerlei Körperkontakt.«
Am nächsten Morgen wurde Augustino Palumbo in seiner Zelle tot aufgefunden. Nahezu jeder Knochen in seinem Leib war gebrochen. In der Moskauer Unterwelt war diese symbolträchtige Art von Mord als zamochit bekannt. Man hatte den Gegner »durch die Mangel gedreht«, ihm sämtliche Knochen gebrochen und damit die totale Dominanz des Angreifers bewiesen. Der Wolf hatte überdeutlich klar gemacht, dass er jetzt der Pate war.
Teil Eins
Der Fall »Weißes Mädchen«
1
Das Phipps-Plaza-Einkaufszentrum in Atlanta war eine aufwendige Komposition aus rosa Granitböden, ausladenden Treppen mit Bronzegeländern, vergoldeten Napoleonsymbolen und einer Beleuchtung, die wie Halogen-Spotlights strahlte. Ein Mann und eine Frau beobachteten ihre Zielperson - »Mom« -, als diese Niketown verließ. Laufschuhe und sonstigen Kram für ihre drei Töchter hatte sie sich unter einen Arm geklemmt.
»Sie ist sehr hübsch. Ich verstehe, warum der Wolf sie mag. Sie erinnert mich an Claudia Schiffer«, sagte der männliche Beobachter. »Siehst du die Ähnlichkeit?«
»Dich erinnert jede an Claudia Schiffer, Slava. Verlier sie nicht. Denn wenn du deine kleine hübsche Claudia aus den Augen verlierst, frisst der Wolf dich zum Frühstück.«
Das Entführungs-Team trug edle Kleidung, wodurch es für die beiden leicht war, in der Phipps Plaza im Buckhead-Distrikt von Atlanta nicht aufzufallen. Um elf Uhr vormittags war im Einkaufszentrum nicht viel los. Das könnte ein Problem werden.
Es half, dass die Zielperson in ihrer eigenen Welt, in einem engen Kokon aus sinnloser Aktivität, umherschwirrte. Rein und wieder raus bei Gucci, Caswell-Massey, Niketown, dann Gapkids und Parisian (wo sie ihre eigene Einkaufsberaterin namens Gina hatte). Dabei achtete sie in keinem Geschäft auch nur im Geringsten darauf, wer sich in ihrer Nähe befand. Sie arbeitete strikt nach den Eintragungen in ihrem in teures Leder gebundenen Kalender und bewältigte ihre Runde schnell, effizient und routiniert. Sie kaufte verwaschene Jeans für Gwynne, ein Lederetui für Brendan, Nike-Tauchbrillen für Meredith und Brigid. Sie vereinbarte sogar noch einen Friseurtermin bei Carter-Barnes.
Die Zielperson hatte Stil und immer ein freundliches Lächeln für das Verkaufspersonal, welches sie in den eleganten Geschäften bediente. Sie hielt sogar für Männer die Tür hinter sich offen, die sich dann überschlugen, der attraktiven Blondine zu danken. »Mom« war sexy, und sie ähnelte tatsächlich dem Supermodel Claudia Schiffer. Doch das sollte ihr zum Verhängnis werden.
Laut der Personenbeschreibung dieses Jobs war Mrs. Elizabeth Connolly Mutter von drei Mädchen, hatte in Vassar Kunstgeschichte studiert und 1987 erfolgreich mit einem Diplom abgeschlossen, das - laut ihrer eigenen Aussage - »in der realen Welt - was auch immer das sein mag - völlig wertlos, doch für mich unschätzbar wertvoll ist«. Sie hatte vor ihrer Ehe als Reporterin für die Washington Post und die Atlanta Journal-Constitution gearbeitet. Sie war siebenunddreißig, sah jedoch wie dreißig aus. Ihr Haar wurde an diesem Tag von einer Samtspange zurückgehalten. Sie trug einen ärmellosen Rollkragenpullover, darüber eine gehäkelte Jacke und enge lange Hosen. Sie war blitzgescheit und religiös - allerdings mit gesundem Menschenverstand - und - wenn nötig - knallhart und zäh. So stand es in ihrem Dossier.
Nun, schon bald würde sie zäh sein müssen.
Mrs. Elizabeth Connolly würde in Kürze entführt werden. Sie war gekauft worden, und sie war an diesem Vormittag wahrscheinlich das teuerste Verkaufsobjekt der Phipps Plaza.
Ihr Preis: 150 000 Dollar.
2
Lizzie Connolly war es ein bisschen schwindlig. Sie fragte sich, ob ihr Blutzucker wieder verrückt spielte.
Sie notierte im Geiste, dass sie Trudie Stylers Kochbuch kaufen sollte - sie bewunderte Trudie in gewisser Weise, die Gründungsmitglied der Regenwald-Stiftung und außerdem Stings Ehefrau war. Lizzie bezweifelte ernsthaft, am Ende dieses Tages den Kopf noch gerade auf dem Hals zu haben, und musste an dieses bedauernswerte Mädchen in Der Exorzist denken. Hieß die Schauspielerin nicht Linda Blair? Lizzie war sich ziemlich sicher. Aber - wen scherte das? Welchen Unterschied machten derartige Trivialitäten?
Der heutige Tag glich einem Karussel. Erst Gwynnets Geburtstag: Die Party für einundzwanzig ihrer engsten Schulfreunde, elf Mädchen, zehn Jungs, war für ein Uhr bei ihr im Haus angesetzt. Lizzie hatte eine Sprungburg gemietet und bereits den Lunch für die Kinder vorbereitet, ebenso natürlich für deren Mütter und Kinderfrauen. Sie hatte sogar für drei Stunden einen Mister-Softee-Eiswagen gemietet. Aber man wusste ja nie, wie diese Geburtstagsattraktionen einschlugen - sicher waren nur jede Menge Gelächter, Tränen, Aufregungen und Schmutzflecken.
Nach der Geburtstagsorgie musste sie Brigid zum Schwimmunterricht fahren und Merry hatte einen Termin beim Zahnarzt. Brendan, seit vierzehn Jahren ihr Ehemann, hatte ihr eine »kurze Liste« mit dringenden Erledigungen auf den Tisch gelegt. Selbstverständlich brauchte er alles S.S.W.M.L., im Klartext: So Schnell Wie Möglich, Liebling.
Nachdem sie bei Gapkids ein T-Shirt mit Strass für Gwynnie gekauft hatte, musste sie nur noch für Brendan ein Lederetui besorgen. Ach ja, und ihr Friseurtermin. Und zehn Minuten mit ihrer Retterin Gina Sabellico bei Parisian.
Während der Endphasen blieb sie äußerlich ganz ruhig - lass niemals jemanden sehen, dass du schwitzt. Dann eilte sie zu ihrem neuen Mercedes 320 Kombi, der sicher in einer Ecke der Phipps-Tiefgarage stand. Keine Zeit für ihren Lieblingstee im Teavana.
An einem Montagvormittag war kaum jemand in der Tiefgarage, aber dennoch stieß sie beinahe mit einem Mann mit langen dunklen Haaren zusammen. Automatisch lächelte Lizzie ihn an und zeigte dabei ihre perfekten, vor kurzem gebleichten und polierten Zähne. Sie strahlte Wärme und Weiblichkeit aus - auch wenn sie das gar nicht beabsichtigte.
Sie achtete nicht wirklich auf ihre Umgebung. In Gedanken war sie schon bei der immer näher rückenden Geburtstagsparty, als eine Frau, an der sie vorbeigegangen war, plötzlich die Arme um Lizzies Brust schlang, als sei sie ein Stürmer für das Footballteam der Atlanta Falcons und wolle gerade über die »Spinatlinie« rennen, wie ihre Tochter Gwynne es mal genannt hatte. Der Griff der Frau war wie ein Schraubstock - sie war verdammt stark.
»Was wollen Sie? Sind Sie wahnsinnig?«, schrie Lizzie und ließ die Einkaufstüten fallen. Sie hörte, wie etwas zerbrach. »Hallo! Hilfe! Lassen Sie mich los!«
Dann packte ein zweiter Angreifer, der Kerl mit dem BMW-Sweatshirt, ihre Beine. Er war grob und tat ihr weh, als er sie samt der Frau auf den harten, mit Öl verschmierten Betonboden der Garage stieß. »Tritt mich ja nicht, du Miststück!«, brüllte er sie an. »Wage ja nicht, mich zu treten!«
Aber Lizzie hörte nicht auf, um sich zu treten, und schrie aus Leibeskräften. »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Dann hoben die beiden Verbrecher sie hoch, als sei sie eine Feder. Der Mann raunte der Frau etwas zu. Nicht auf Englisch. Möglicherweise eine osteuropäische Sprache. Lizzie hatte eine Haushälterin aus der Slowakei. Bestand da eine Verbindung?
Die Angreiferin drückte sie mit einem Arm nach unten und schob mit der freien Hand Tennis- und Golfsachen auf der Ladefläche des Kofferraums ihres Kombis beiseite, um Platz zu schaffen.
Dann verstauten die beiden Lizzie in ihrem eigenen Wagen. Ein stinkender Lappen wurde ihr so kräftig auf Mund und Nase gepresst, dass ihr die Zähne wehtaten. Sie schmeckte Blut. Blut? Mein Blut!, dachte sie. Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihren Körper. Sie wehrte sich mit aller Kraft. Sie schlug und trat wie wild um sich. Dabei fühlte sie sich wie ein gefangenes Tier, das sich zu befreien versucht.
»Ruhig«, sagte der Mann. »Still, still, ruhig jetzt... Elizabeth Connolly.«
Elizabeth Connolly? Sie kennen mich. Wie? Warum? Was ist hier los?
»Du bist wirklich sehr sexy, Mom«, sagte der Mann. »Ich verstehe, warum der Wolf dich mag.«
Wolf? Wer ist der Wolf? Was geschah mit ihr? Wen kannte sie, der Wolf hieß?
Dann überwältigte Lizzie der beißende Geruch aus dem Lappen und sie verlor das Bewusstsein. Man fuhr sie in ihrem eigenen Wagen davon.
Doch nur über die Straße zur Lenox-Square-Einkaufspassage. Dort wurde Lizzie Connolly in einen blauen Dodge-Kombi umgeladen, der sofort davonbrauste.
Der Kauf war abgeschlossen.
3
Es war Montagmorgen und noch sehr früh. Den Rest der Welt und ihre Probleme hatte ich vergessen. So sollte das Leben sein, doch leider erwies sich diese Hoffnung häufig als trügerisch. Jedenfalls meiner Erfahrung nach, welche allerdings in Bezug auf das, was man ein »gutes Leben« nannte, ziemlich begrenzt war.
Ich marschierte an diesem Morgen mit Jannie und Damon zur Sojourner-Truth-Highschool. Klein Alex watschelte fröhlich neben mir. Ich nannte ihn »Puppy«.
Der Himmel über Washington, D. C., war teilweise bewölkt, aber ab und zu schickte die Sonne einen Strahl hindurch und wärmte unsere Köpfe und Nacken. Ich hatte bereits Klavier gespielt - Gershwin - fünfundvierzig Minuten lang. Und mit Nana Mama gefrühstückt. Ich musste erst um neun Uhr zu meinem Orientierungsunterricht in Quantico erscheinen. Das ließ mir Zeit, um halb acht mit zur Schule zu gehen. Und genau danach hatte ich mich in letzter Zeit gesehnt: Zeit mit meinen Kindern zu verbringen.
Zeit, mich mit einem Dichter zu beschäftigen, den ich erst kürzlich entdeckt hatte: Billy Collins. Als Erstes hatte ich seine Nine Horses gelesen und jetzt war es Sailing Alone Around the Room. Billy Collins ließ das Unmögliche so leicht erscheinen - und so möglich.
Zeit, mit Jamilla Hughes täglich zu telefonieren, oft stundenlang. Und wenn das nicht möglich war, dann E-Mails und zuweilen lange liebevolle Briefe. Sie arbeitete immer noch im Morddezernat von San Francisco, aber ich fühlte, dass die Entfernung zwischen uns schrumpfte. Ich wollte das und hoffte, dass es bei ihr ebenso war.
Inzwischen veränderten sich die Kinder in Schwindel erregendem Tempo; besonders Klein Alex schien direkt vor meinen Augen zu wachsen. Ich musste mehr bei ihm sein - und das konnte ich jetzt. Das war mein Entschluss. Deshalb war ich zum FBI gegangen, zumindest zum Teil.
Klein Alex war schon achtundachtzig Zentimeter groß und wog dreizehneinhalb Kilo. Heute Morgen trug er einen Overall mit Nadelstreifen und eine Kappe der Orioles. Er bewegte sich, als triebe ihn ein Wind von Lee vorwärts. Sein Plüschtier - eine Kuh namens Muh -, das er überallhin mitschleppte, wirkte wie Ballast, so dass er ständig eine leichte Linkskrängung hatte.
Damon lief voraus. Er folgte einem schnelleren und zwingenderen Rhythmus. Mann, ich liebte diesen Jungen. Abgesehen von seinen Modevorstellungen. An diesem Morgen trug er abgeschnittene Jeans, Uptowns, ein graues T-Shirt und darüber einen Alan-Iverson-Pullover. Auf seinen dünnen Beinen spross pfirsichfarbener Flaum. Es sah so aus, als würde sein Körper sich aus den Füßen heraus entwickeln. Große Füße, lange Beine, ein jugendlicher Körper.
An diesem Morgen bemerkte ich alles. Ich hatte Zeit dazu.
Jannie trug typischerweise ein graues T-Shirt mit dem Aufdruck »Aero Athletics 1987« in großen roten Buchstaben, dazu eine knöchellange Jogginghose mit einem roten Streifen an den Seiten und weiße Adidas-Turnschuhe mit roten Streifen.
Was mich betraf - ich fühlte mich rundum wohl. Ab und zu sagte mir jemand, dass ich wie der junge Muhammad Ali aussähe. Ich wies das Kompliment stets weit von mir, hörte es aber eigentlich nicht ungern.
»Heute Morgen bist du furchtbar still, Dad.« Jannie hängte sich bei mir ein und sagte: »Hast du Ärger in der Schule? Bei deiner Orientierung? Bist du gern ein FBI-Agent?«
»Bis jetzt gefällt’s mir«, erwiderte ich. »Die nächsten zwei Jahre sind Probezeit. Die Orientierung ist gut, aber für mich ist vieles Wiederholung, besonders das, was sie ›Praxis‹ nennen. Schießstand, Waffenreinigen, Übungen, wie man Verbrecher fängt. Deshalb kann ich an manchen Tagen später hingehen.«
»Aha, du bist also schon Lehrers Liebling«, meinte sie und zwinkerte mir zu.
Ich lachte. »Ich glaube kaum, dass die Lehrer von mir oder irgendeinem anderen Cop besonders beeindruckt sind. Wie läuft’s denn bei Damon und dir so dieses Jahr? Sind nicht bald Zeugnisse fällig?«
Damon zuckte mit den Schultern. »Wir haben nur Einser. Warum wechselst du immer das Thema, wenn’s für dich peinlich werden könnte?«
Ich nickte. »Du hast Recht. Also, meine Leistungen in der Schule sind in Ordnung. In Quantico ist man mit achtzig Punkten durchgefallen. Ich erwarte für die meisten Tests hundert.«
»Für die meisten?« Jannie zog eine Braue hoch und schaute mich mit einem von Nana Mamas »verstörten«
Blicken an. »Wieso die meisten? Wir erwarten, dass du in allen Tests hundert Punkte schaffst.«
»Es ist schon ein Weilchen her, seit ich die Schulbank gedrückt habe.«
»Keine Ausreden.«
Ich schlug mit einem ihrer eigenen Zitate zurück. »Ich gebe mein Bestes und mehr kannst du von niemandem verlangen.«
Sie lächelte. »Na ja, schon gut, Dad. Solange du, wenn du dein Bestes gibst, auf deinem Zeugnis lauter Einser stehen hast.«
Ich umarmte Jannie und Damon, wie üblich einen Block vor der Schule entfernt, um sie ja nicht vor ihren - ach so coolen - Freunden zu blamieren. Auch sie umarmten mich und gaben ihrem kleinen Bruder einen Kuss. Dann rannten sie los. »Niederseh’n«, sagte Klein Alex. Jannie und Damon drehten sich um und riefen ihrem Bruder ebenfalls ein »Niederseh’n« zu.
Ich nahm Klein Alex auf den Arm und wir gingen heim. Ich, der zukünftige Agent Cross des FBI, musste zur Arbeit fahren.
»Dada«, sagte Klein Alex auf meinem Arm. Ja, das klang gut: Dada! In der Familie Cross rückte langsam alles an seinen Platz. Nach all den Jahren war mein Leben endlich beinahe im Gleichgewicht. Ich fragte mich, wie lang dieser Zustand andauern würde. Hoffentlich für den Rest dieses Tages.
4
Das Training der neuen Agenten an der FBI-Akademie in Quantico, zuweilen »Club Fed« genannt, erwies sich als ein anstrengendes, straffes und anspruchsvolles Programm. Größtenteils gefiel es mir und ich bemühte mich, meine Skepsis zu unterdrücken. Aber ich war zum FBI mit dem Ruf gekommen, Serienmörder zu fangen, die nach einem bestimmten Muster vorgingen, und hatte bereits den Spitznamen »Drachentöter«. Ironie und Skepsis könnten daher durchaus zu einem Problem werden.
Die Ausbildung hatte vor sechs Wochen an einem Montagmorgen begonnen. Ein breitschultriger SSA, ein Supervisory Special Agent, Dr. Kenneth Horowitz, stand vor unserer Klasse und versuchte es mit einem Witz. »Die drei größten Lügen der Welt lauten: ›Ich will nur einen Kuss.‹ ›Der Scheck ist in der Post.‹ Und ›Ich bin vom FBI und nur hier, um Ihnen zu helfen.‹« Alle lachten, vielleicht weil der Witz so banal war. Aber Horowitz hatte sich zumindest bemüht, sein Bestes zu geben, und vielleicht ging es genau darum.
FBI-Direktor Ron Burns hatte dafür gesorgt, dass mein Training nur acht Wochen dauern würde. Er hatte in Bezug auf mich noch weitere Zugeständnisse gemacht. Das Höchstalter für den Eintritt ins FBI war siebenunddreißig. Ich war zweiundvierzig. Burns hatte für mich die Altersbegrenzung außer Kraft gesetzt und seine Meinung dargelegt, dass diese diskriminierend sei und geändert werden müsse. Je mehr ich von Ron Burns sah, desto mehr spürte ich, dass er eine Art Rebell war, vielleicht, weil er selbst ein Cop in Philadelphia gewesen war. Er hatte mich beim FBI als GS13 eingestellt, der höchsten Gehaltsstufe, die ich als Polizist erreichen konnte. Außerdem hatte man mir eine Beratertätigkeit versprochen, was noch mehr Geld bedeutete. Burns wollte mich unbedingt beim FBI haben, und er hatte mich bekommen. Er sagte mir zu, dass ich jede vernünftige Unterstützung bekommen würde, die ich brauchte, um eine Aufgabe zu erledigen. Ich hatte mit ihm noch nicht darüber gesprochen, aber ich hätte gern zwei Detectives von der Washingtoner Polizei gehabt: John Sampson und Jerome Thurman.
Nur über meinen Trainingsleiter in Quantico, einen hohen Agenten namens Gordon Nooney, hatte er kein Wort verloren. Noony war für das Training der Agenten verantwortlich. Davor war er als Profiler tätig gewesen, und ehe er FBI-Agent wurde, hatte er als Gefängnispsychologe in New Hampshire gearbeitet. Freundlich ausgedrückt hielt ich ihn für einen Erbsenzähler.
An diesem Morgen stand Nooney da und wartete, als ich zu meinem Kurs über abnormes Verhalten eintraf. Eine Stunde und fünfzig Minuten über die Möglichkeiten, psychopathisches Handeln zu verstehen. Während meiner nahezu fünfzehn Jahre im Polizeidienst in Washington hatte ich das nie tun können.
Gewehrfeuer war zu hören, wahrscheinlich vom Marineinfanteriestützpunkt in der Nähe. »Wie war der Verkehr von Washington?«, fragte Nooney. Mir entging der Stachel in dieser Frage nicht. Man gestattete mir, abends nach Hause zu fahren, während die anderen Agentenanwärter in Quantico schliefen.
»Kein Problem«, antwortete ich. »Fünfundvierzig Minuten fließender Verkehr auf der 95. Ich bin auch früher als nötig losgefahren.«
»Das FBI ist nicht dafür berühmt, für Einzelne die Regeln zu brechen«, sagte Nooney. Dann schenkte er mir ein sehr schmallippiges Lächeln, das einer Rüge gleichkam. »Aber Sie sind ja Alex Cross.«
»Ich weiß das zu schätzen«, erwiderte ich - und beließ es dabei.
»Ich hoffe nur, dass es die Mühe wert ist«, sagte Nooney und marschierte in Richtung Verwaltung. Ich schüttelte den Kopf und ging zum Kurs, der in einem Raum mit ansteigenden Sitzreihen, wie in einem Theater, stattfand.
Dr. Horowitz’ Vortrag an diesem Tag interessierte mich. Er konzentrierte sich auf die Arbeiten von Professor Robert Hare, der grundlegende Forschungen über Psychopathen mittels Hirn-Scans betrieben hatte. Laut Hares Studien reagierten gesunde Menschen, wenn man ihnen »neutrale« und »emotionale« Wörter vorgab, sehr stark auf emotionale, wie Krebs oder Tod. Psychopathen dagegen nahmen alle Wörter gleich auf. Ein Satz wie: »Ich liebe dich« bedeutete einem Psychopathen nicht mehr als: »Ich möchte eine Tasse Kaffee.« Vielleicht sogar weniger. Laut Hares Datenanalyse machten Versuche, Psychopathen zu bessern, diese nur noch manipulativer. Das war ein wirklich interessanter Standpunkt.
Obwohl ich mit dem Material teilweise vertraut war, schrieb ich mir Hares »Charakteristika« einer psychopathischen Persönlichkeit und des entsprechenden Verhaltens auf. Er nannte vierzig. Während ich diese aufschrieb, stellte ich fest, dass ich dem meisten zustimmte.
Schlagfertigkeit und oberflächlicher Charme Bedürfnis nach ständiger Stimulation / Neigung, sich zu langweilen Fehlen von Reue oder Schuldbewusstsein Kaum spürbare emotionale Reaktionen Völliges Fehlen von Einfühlungsvermögen...
Ich erinnerte mich besonders an zwei Psychopathen: Gary Soneji und Kyle Craig. Ich fragte mich, wie viele der vierzig »Charakteristika« auf diese beiden zutrafen und schrieb hinter die entsprechenden G.S. und K.C.
Dann tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um.
»Agent Nooney möchte Sie sofort in seinem Büro sprechen«, sagte ein Chef-Assistent und ging sofort los, mit der sicheren Gewissheit, dass ich ihm umgehend folgen würde.
Was ich auch tat.
Ich war jetzt beim FBI.
5
Senior Agent Gordon Nooney wartete in seinem kleinen, voll gestopften Büro im Verwaltungsbau. Offensichtlich war er sehr erregt. Dies hatte die gewünschte Wirkung: Ich fragte mich, was ich in der Zeit falsch gemacht haben könnte, seit wir vor dem Unterricht gesprochen hatten.
Lange brauchte er nicht, um mir den Grund seiner Verärgerung mitzuteilen. »Sie brauchen sich gar nicht erst zu setzen. In einer Minute sind Sie wieder draußen. Ich habe gerade einen höchst ungewöhnlichen Anruf von Tony Woods aus dem Büro des Direktors erhalten. In Baltimore gibt es eine ›Situation‹. Offensichtlich möchte der Direktor Sie dort. Selbstverständlich ist das wichtiger als Ihre Unterrichtsstunden.« Nooney zuckte mit den breiten Schultern. Durch das Fenster hinter ihm konnte ich den dichten Wald und die Hoover Road sehen, wo einige Agenten joggten. »Zum Teufel, wozu brauchen Sie hier eigentlich eine Ausbildung, Dr. Cross? Sie haben Casanova in North Carolina gefangen. Sie sind der Mann, der Kyle Craig zur Strecke gebracht hat. Sie sind wie Clarice Starling im Film. Sie sind bereits ein Star.«
Ich holte tief Luft, ehe ich antwortete. »Ich habe mit dieser Sache hier nichts zu tun. Und ich werde mich nicht entschuldigen, weil ich Casanova oder Kyle Craig unschädlich gemacht habe.«
Nooney winkte ab. »Warum sollten Sie sich entschuldigen? Sie sind vom Unterricht befreit. Ein Hubschrauber wartet auf Sie drüben beim HRT. Sie wissen doch, wo das Hostage Rescue Team ist?«
»Ja, das weiß ich.«
Vom Unterricht befreit!, dachte ich, während ich zum Hubschrauberlandeplatz rannte. Ich hörte Gewehrfeuer von der nahen Schießanlage. Dann war ich an Bord des Hubschraubers und schnallte mich an. Keine zwanzig Minuten später landete der Hubschrauber in Baltimore. Ich hatte das Gespräch mit Nooney noch nicht verdaut. Hatte er begriffen, dass ich nicht um diesen Auftrag gebeten hatte? Ich wusste ja nicht einmal, weshalb ich in Baltimore war.
Zwei Agenten in einem dunkelblauen Wagen warteten auf mich. Der eine, Jim Heekin, übernahm sofort das Kommando und zeigte mir, welchen Stellenwert ich einnahm. »Sie sind ja wohl der SN«, sagte er, als er mir die Hand gab.
Ich kannte diese Abkürzung nicht, daher fragte ich Heekin, was sie bedeutete, als wir ins Auto stiegen.
Er grinste, und sein Partner tat es ihm gleich. »Der Scheiß-Neue«, erklärte er.
»Unser Fall ist echt beschissen und verdammt heikel«, erklärte Heekin. »Ein Detective aus dem Morddezernat von Baltimore ist darin verwickelt. Wahrscheinlich wollte man Sie deshalb hinzuziehen. Er hat sich in seinem Haus verschanzt. Fast seine gesamte Familie ist bei ihm. Wir wissen nicht, ob er Selbstmord oder Morde begehen will oder beides, aber offensichtlich hat er die Familie als Geiseln genommen. Das scheint eine ähnliche Situation zu sein wie voriges Jahr im Süden von Jersey. Damals war es auch ein Polizist. Seine Familie war zur Geburtstagsfeier seines Vaters zusammengekommen. Was für eine Feier!«
»Wissen wir, wie viele Personen sich mit ihm im Haus befinden?«, fragte ich.
Heekin schüttelte den Kopf. »Schätzungsweise mindestens ein Dutzend, darunter auch Kinder. Der Detective lässt uns mit keinem Familienmitglied sprechen und beantwortet auch keine unserer Fragen. Die meisten Leute in der Nachbarschaft sehen uns dort auch nicht gern.«
»Wie heißt der Mann?«, fragte ich und machte mir ein paar Notizen. Ich konnte es nicht glauben, dass ich mich mit einem Geiselnehmer befassen sollte. Das ergab keinen Sinn - aber plötzlich schon.
»Er heißt Dennis Coulter.«
Verblüfft schaute ich ihn an. »Ich kenne Dennis Coulter. Ich habe mit ihm einen Mordfall bearbeitet. Wir haben uns mal bei Obrycki’s den Bauch mit Krabben voll geschlagen.«
»Das wissen wir«, erklärte Agent Heekin. »Deshalb hat er nach Ihnen verlangt.«
6
Detective Coulter hatte nach mir verlangt. Was zum Teufel war hier los? Ich hatte nicht geglaubt, dass wir uns so nahe standen. Nun, das taten wir auch nicht. Ich hatte ihn lediglich ein paarmal getroffen. Wir waren freundlich zueinander gewesen, aber keineswegs Freunde. Also - weshalb wollte Dennis Coulter mich hier?
Vor längerer Zeit hatte ich mit Dennis Coulter in einem Fall ermittelt, in dem Drogendealer versuchten, den Handel in Washington, D.C., und Baltimore und in dem gesamten dazwischen liegenden Gebiet zu fusionieren und zu kontrollieren. Ich hatte festgestellt, dass Coulter hart und sehr egoistisch, aber gut in seinem Job war. Ich erinnerte mich, dass er ein Fan vom großen Eubie Blake war und dass Blake aus Baltimore stammte.
Coulter und seine Geiseln steckten irgendwo in diesem Haus mit grauen Holzschindeln im Kolonial-Stil in der Ailsa Avenue in Lauraville, dem nordöstlichen Stadtteil von Baltimore. Die Jalousien waren heruntergelassen. Was sich hinter diesen Fenstern und der Tür abspielte, konnte man nur vermuten. Drei Steinstufen führten zur Veranda hinauf, wo ein Schaukelstuhl und eine Holzrutsche standen. Das Haus war vor kurzem gestrichen worden, was darauf schließen ließ, dass Coulter in der nächsten Zeit wohl keinen Ärger erwartet hatte. Was war geschehen?
Mehrere Dutzend Polizisten, darunter auch ein SWAT-Team, hatten das Haus umstellt. Einige hatten ihre Waffen im Anschlag und zielten auf die Fenster und die Eingangstür. Die Polizeihubschraubereinheit Foxtrot aus Baltimore war ebenfalls zugegen.
Nicht gut.
Ich hatte bereits eine Idee. »Was halten Sie davon, wenn erst mal alle die Waffen senken?«, fragte ich den Einsatzleiter der Polizei. »Er hat doch noch auf niemanden geschossen, oder?«
Der Einsatzleiter besprach sich kurz mit dem Führer des SWAT-Teams. Dann wurden die Waffen gesenkt, zumindest diejenigen, die ich sehen konnte. Einer der Foxtrot-Hubschrauber schwebte immer noch dicht über dem Haus.
Ich wandte mich erneut an den Einsatzleiter. Ich brauchte ihn auf meiner Seite. »Danke, Lieutenant. Haben Sie mit ihm gesprochen?«
Er deutete auf einen Mann, der hinter einem Landcruiser kauerte. »Detective Fescoe hat die Ehre. Seit ungefähr einer Stunde hat er Coulter an der Strippe.«
Ich ging sofort zu Detective Fescoe und stellte mich vor. »Mick Fescoe«, sagte er, schien jedoch nicht übermäßig erfreut, mich zu sehen. »Hab gehört, dass Sie kommen. Hier läuft alles bestens.«
»Diese Einmischung ist nicht meine Idee«, erklärte ich ihm. »Ich habe gerade erst die Polizei in Washington verlassen. Ich will niemandem im Weg sein.«
»Dann tun Sie’s auch nicht«, entgegnete Fescoe. Er war ein schlanker, drahtiger Mann, der so aussah, als hätte er mal sehr gut Ball gespielt. So bewegte er sich jedenfalls.
Ich rieb mir das Kinn. »Irgendeine Idee, weshalb er ausgerechnet mich hier haben will? So gut kenne ich ihn gar nicht.«
Fescoes Augen wanderten zum Haus. »Er behauptet, er sei von den Leuten vom Büro für Interne Angelegenheiten gelinkt worden. Er traut niemandem, der mit der Polizei in Baltimore zu tun hat. Er wusste, dass Sie zum FBI gewechselt sind.«
»Würden Sie ihm sagen, dass ich hier bin? Und auch, dass ich jetzt gebrieft werde. Ich möchte hören, wie er klingt, ehe ich selbst mit ihm spreche.«
Fescoe nickte. Dann rief er im Haus an. Es klingelte mehrmals, ehe abgenommen wurde.
»Agent Cross ist gerade angekommen, Dennis. Er wird jetzt gebrieft«, sagte Fescoe.
»Erzähl keinen Scheiß. Hol ihn an die Strippe. Zwingt mich nicht, hier zu schießen. Ich bin kurz davor, echte Probleme zu machen. Hol ihn her! Sofort!«
Fescoe reichte mir das Telefon. »Dennis«, sagte ich, »hier ist Alex Cross. Ich bin hier, aber ich wollte mich zuerst schlau machen, was eigentlich los ist.«
»Sind Sie wirklich Alex Cross?«, fragte Coulter.
»Ja, ich bin’s. Bis jetzt kenne ich kaum Einzelheiten. Ich weiß nur, dass Sie behaupten, von der Dienststelle für Interne Angelegenheiten gelinkt worden zu sein.«
»Das behaupte ich nicht nur. Man hat mich gelinkt. Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Ich werde Sie briefen. Dann hören Sie wenigstens die Wahrheit.«
»In Ordnung«, sagte ich. »Bis jetzt bin ich auf Ihrer Seite. Ich kenne Sie, Dennis. Die Leute für Interne Angelegenheiten kenne ich nicht.«
Coulter unterbrach mich. »Ich will, dass Sie mir zuhören. Seien Sie ruhig und hören Sie mich an.«
»In Ordnung«, erwiderte ich. »Ich höre.«
Ich setzte mich hinter dem Landcruiser auf den Boden und bereitete mich geistig darauf vor, einem bewaffneten Mann zuzuhören, der angeblich ein Dutzend Mitglieder seiner Familie als Geiseln hielt. O Gott, ich war wieder mitten drin in meinem alten Job.
»Sie wollen mich umbringen«, begann Dennis Coulter. »Die Polizei von Baltimore hat mich im Visier.«
7
Peng! Ich zuckte zusammen. Jemand hatte eine Dose Limonade aufgerissen und tippte mir damit auf die Schulter. Ich blickte hoch und sah keinen anderen als Ned Mahoney, den Leiter des Geiselbefreiungsteams in Quantico. Er reichte mir eine Diät-Cola ohne Koffein. Während der Orientierung hatte ich mehrmals an seinem Unterricht teilgenommen. Er verstand sein Handwerk - jedenfalls im Klassenzimmer.
»Willkommen in meiner Privathölle«, sagte ich. »Was soll ich hier überhaupt?«
Mahony zwinkerte mir zu und ließ sich neben mir auf dem Boden nieder.
»Sie sind beinahe so etwas wie ein Star. Sie kennen die Routine. Bringen Sie ihn dazu, mit Ihnen zu reden. So lange wie möglich«, sagte Mahoney. »Wir haben gehört, dass Sie darin Klasse sind.«
»Und was machen Sie hier?«, fragte ich.
»Na, was denken Sie? Zuschauen, Ihre Technik studieren. Sie sind doch ein Liebling des Direktors, richtig? Er hält Sie für äußerst begabt.«
Ich trank einen Schluck Cola und drückte die kalte Dose gegen die Stirn. Für einen SN eine selten beschissene Einführung beim FBI.
»Dennis, wer will Sie umbringen?« Ich sprach wieder ins Handy. »Erzählen Sie mir darüber alles, was Sie können. Außerdem muss ich mich nach Ihrer Familie erkundigen. Sind alle wohlauf?«
»Hey!«, rief Coulter empört. »Ich will keine Zeit mit dieser Verhandlungsscheiße verschwenden. Ich stehe kurz
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The Big Bad Wolf« bei Little, Brown and Company, New York.
 
 
 
 
 
 
 
 
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2005
Copyright © der Originalausgabe 2003 by James Patterson
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagfoto: Photonica/Bryan Titelnummer: 36167 Lektorat: Maria Dürig Redaktion: Alexander Groß Herstellung: Heidrun Nawrot
eISBN : 978-3-641-03503-7
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