Die 6. Geisel - Women's Murder Club - - James Patterson - E-Book

Die 6. Geisel - Women's Murder Club - E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Im Visier des Amokschützen – der »Women’s Murder Club«

Nackte Angst herrscht in den Straßen San Franciscos: Kinder und Nannys wohlhabender Eltern verschwinden. Lieutenant Lindsay Boxer quält dieselbe Frage wie alle: Was ist mit ihnen geschehen? Und: Wer wird das nächste Opfer sein? Bis die Leiche eines Kindermädchens auftaucht. Fieberhaft sucht Lindsay mit ihren Freundinnen vom »Women’s Murder Club« nach dem psychopatischen Mörder. Da wird ihre Freundin und Pathologin Claire von einem Amokschützen niedergeschossen. Welchen Hinweis geben seine Worte: »Sie sind schuld! Sie hätten mich daran hindern müssen …«?

Der 6. Fall für Lieutenant Lindsay Boxer und den »Women’s Murder Club« ist scharf wie ein Skalpell.

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Seitenzahl: 383

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Inhaltsverzeichnis
Buch
Autor
LISTE LIEFERBARER TITEL:
Titel
Prolog - Ein Tagesausflug
Kapitel 1
Kapitel 2
Erster Teil - Kennen Sie diesen Mann?
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Copyright
Buch
Am helllichten Tag werden die neunjährige Madison Tyler und ihr italienisches Kindermädchen Paola entführt. Wenige Tage später findet die Polizei Paolas Leiche, von dem kleinen Mädchen fehlt jedoch jede Spur. Nur durch Zufall erfährt Lieutenant Lindsay Boxer von der Mordkommision San Francisco überhaupt von diesem Fall. Doch es sind schon mehrere kleine Kinder wohlhabender Familien zusammen mit ihren Nannys verschwunden. Danach herrscht Schweigen! Nichts als erdrückendes Schweigen: Keine Nachricht von den Entführern, keine Forderung nach Lösegeld, keine Mitteilung erreicht Eltern, die Polizei oder Presse. Die Angst geht um und jeden quält dieselbe bohrende Frage: Welches Kind ist das nächste Opfer? Und was wird mit ihm geschehen?
Lindsay Boxer ermittelt wie besessen, aber erst ihre Freundinnen vom »Women’s Murder Club« bringen sie auf die entscheidende Spur. Freuen kann sich Lindsay darüber nicht, denn gleichzeitig erschreckt sie ein weiterer Fall: Ihre beste Freundin, die Pathologin Claire Washburn, wird von einem Amokschützen an Bord einer Fähre angeschossen. Seine Erklärung: »Sie sind schuld! Sie hätten mich daran hindern müssen …«
Autor
James Patterson, geboren 1949, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Inzwischen feiert er auch mit seiner neuen packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women’s Murder Club« internationale Bestsellererfolge. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester, N.Y.
Weitere Informationen finden Sie auf: www.blanvalet.de und www.jamespatterson.com
LISTE LIEFERBARER TITEL:
Der »Women’s Murder Club«:
Der 1. Mord (36075) · Die 2. Chance (36392) · Der 3. Grad (36921) · Die 4. Frau (36756) · Die 5. Plage (37037) · Die 6. Geisel (37228) · Die 7 Sünden (Limes, geb. Ausgabe 2550)
Die Alex-Cross-Romane:Stunde der Rache (7; 35892) · Mauer des Schweigens (8; 35988) · Vor aller Augen (9; 36167) · Und erlöse uns von dem Bösen (10; 36232) · Ave Maria (11; 36406) · Blood (12; 36855) · Dead (13; 37204)
James Patterson/Liza Marklund »Letzter Gruß« (geb. Ausgabe Limes Verlag, 2585)
Prolog
Ein Tagesausflug
1
Fred Brinkley, Killer auf Stand-by, fläzt auf der blau gepolsterten Sitzbank auf dem Sonnendeck der Fähre. Die Novembersonne starrt wie ein riesiges weißes Auge vom Himmel herab, während der Katamaran sich durch die San Francisco Bay pflügt, und Fred Brinkley starrt unverwandt zurück.
Ein Schatten fällt auf ihn, und eine Kinderstimme fragt: »Mister, könnten Sie ein Foto von uns machen?«
Fred schüttelt den Kopf - nein, nein, nein -, und der Zorn ist wie eine Uhrfeder, die sich in ihm spannt, wie ein Draht, der sich um seinen Kopf zusammenzieht.
Er will den Jungen zerquetschen wie ein Insekt.
Fred wendet den Blick ab. In seinem Kopf ertönt das Lied: Ay, ay, ay, ay, Sausalito lindo. Er versucht, die Stimmen zum Schweigen zu bringen, legt die Hand auf Bucky, um sich zu beruhigen, ertastet ihn durch seine blaue Nylon-Windjacke, aber noch immer wummern die Stimmen in seinem Kopf wie ein Presslufthammer.
Du bist ein Loser. Ein Stück Scheiße.
Die Möwen schreien, kreischen wie kleine Kinder. Die Sonne brennt durch den dunstigen Himmel hindurch und macht ihn durchsichtig wie Glas. Sie wissen, was er getan hat.
Passagiere mit Shorts und Schirmmützen drängen sich an der Reling, schießen Fotos von Angel Island, von Alcatraz, von der Golden Gate Bridge.
Ein Segelboot fliegt vorüber, das Großsegel doppelt gerefft. Gischtspritzer sprenkeln die Reling, und Fred krümmt sich, als die Erinnerung an die böse Sache ihm durch den Kopf schießt. Er sieht den Baum schwingen. Hört das laute Krachen. O Gott! Das Segelboot!
Irgendjemand muss dafür bezahlen!
Er fährt zusammen, als die Maschinen der Fähre dröhnend in den Rückwärtsgang schalten und das Deck beim Einfahren ins Hafenbecken erzittert.
Fred steht auf, bahnt sich seinen Weg durch die Menge, vorbei an acht weißen Tischen, an Reihen verschrammter blauer Stühle, verfolgt von den Blicken der anderen Passagiere.
Er tritt in den offenen Bereich am Bug, sieht eine Mutter, die ihren Sohn zurechtweist, einen Jungen von neun oder zehn Jahren mit hellbraunem Haar. »Du treibst mich noch in den Wahnsinn!«, ruft die Frau.
Fred spürt, wie der Draht reißt. Irgendjemand muss bezahlen.
Seine rechte Hand gleitet in seine Jackentasche - findet Bucky.
Er legt den Finger an den Abzug.
Die Fähre stößt gegen den Anleger und kommt mit einem Ruck zum Stillstand. Die Menschen halten sich aneinander fest, lachen. An Bug und Heck werden Leinen ausgeworfen.
Freds Augen schießen zu der Frau, die immer noch ihren Sohn ausschimpft. Sie ist klein, bekleidet mit einer beigefarbenen Caprihose. Unter der zarten Haut ihrer weißen Bluse zeichnen sich die Umrisse ihrer Brüste ab, die Nippel spitz aufgerichtet.
»Was ist eigentlich in dich gefahren?«, schreit sie, um das Dröhnen der Maschinen zu übertönen. »Du geht mir tierisch auf die Nerven, Freundchen.«
Bucky, die Smith & Wesson Model 10, liegt in Freds Hand und pulsiert wie ein lebendiges Wesen.
Die Stimme dröhnt: Töte sie. Töte sie. Sie ist außer Kontrolle!
Bucky zielt zwischen die Brüste der Frau.
WAMM!
Fred spürt den Rückstoß der Waffe, sieht die Frau mit einem spitzen Schmerzensschrei zurückprallen, sieht den roten Fleck, der sich auf ihrer weißen Bluse ausbreitet.
Gut!
Der kleine Junge beobachtet mit großen runden Augen, wie seine Mutter auf dem Deck zusammenbricht. Das Erdbeereis fällt ihm von der Waffel und klatscht auf den Boden, und seine Hose färbt sich vorn dunkel von Urin.
Der Junge hat auch etwas Böses getan.
WAMM!
2
Blut fließt über die Planken, doch in seinem Kopf sieht Fred nur die blendend weißen Segel. Sein Blick schwenkt über das Deck.
Die Stimme in seinem Kopf brüllt: Lauf. Verschwinde. Du hast das nicht gewollt.
Aus dem Augenwinkel sieht Fred einen kräftigen Mann auf sich zustürmen, das Gesicht wutentbrannt, ein höllisches Blitzen in den Augen. Fred streckt den Arm aus.
WAMM!
Ein zweiter Mann, asiatische Züge, harte schwarze Augen, der Mund ein weißer Strich, will nach Bucky greifen.
WAMM!
Eine schwarze Frau steht in der Nähe, eingekeilt in der Menge. Sie dreht sich zu ihm um - runde Wangen, die Augen weit aufgerissen. Starrt ihm ins Gesicht und… liest seine Gedanken.
»Okay, Junge«, sagt sie und streckt eine zitternde Hand aus, »das reicht jetzt. Gib mir die Kanone.«
Sie weiß, was er getan hat. Woher weiß sie das?
WAMM!
Ein Gefühl der Erleichterung durchströmt Fred, als die Frau, die Gedanken lesen kann, zu Boden geht. Die Menschen in dem kleinen vorderen Deckabschnitt wogen hin und her, ducken sich, weichen nach links und rechts aus.
Sie haben Angst vor ihm. Angst vor ihm.
Zu seinen Füßen hält die schwarze Frau ein Handy in den blutigen Händen. Ihr Atem geht rasselnd, als sie mit dem Daumen die Nummerntasten drückt. Nein, das lässt du schön bleiben! Fred steigt auf das Handgelenk der Frau. Dann beugt er sich tief hinunter, um ihr in die Augen zu sehen.
»Sie hätten mich aufhalten sollen«, stößt er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Das war Ihr Job.« Buckys Mündung bohrt sich in ihre Schläfe.
»Nicht!«, bettelt sie. »Bitte nicht!«
Jemand schreit: »Mom!«
Ein schlanker schwarzer Junge, vielleicht siebzehn oder achtzehn, kommt mit einem Stück Rohr über der Schulter auf ihn zu. Er hält es wie einen Schläger.
Fred drückt den Abzug, und im gleichen Moment geht ein Ruck durch das Schiff - WAMM!
Der Schuss geht daneben. Das Metallrohr fällt zu Boden und kullert übers Deck. Der Junge rennt auf die Frau zu, wirft sich auf sie. Um sie zu schützen?
Die Passagiere verkriechen sich unter den Bänken, und ihre Schreie sind wie lodernde Flammen, die ihn umzingeln.
Zum Lärm der Maschinen gesellt sich nun das metallische Rasseln der Gangway, die herangefahren wird. Bucky hält die Menge weiter in Schach, während Fred einen Blick über die Reling wirft.
Er schätzt die Entfernung ab.
Der Unterbau der Gangway ist etwas mehr als einen Meter unterhalb des Decks, und von dort ist es ein ziemlich weiter Satz bis auf den Kai.
Fred steckt Bucky ein und legt beide Hände auf die Reling. Er hechtet drüber und landet flach auf den Sohlen seiner Nikes. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, hüllt ihn ein und macht ihn unsichtbar.
Beeil dich, Seemann. Los.
Und er tut es - wagt den Sprung auf den Kai und rennt los in Richtung Farmer’s Market, wo er in der Menschenmenge auf dem Parkplatz untertaucht.
Dann schlendert er langsam, geradezu gemütlich weiter, den halben Block bis zum Embarcadero.
Er summt vor sich hin, als er die Stufen zur BART-Station hinuntertrabt, und er summt immer noch, als er in den Zug steigt, der ihn nach Hause bringt.
Du hast es geschafft, Seemann.
Erster Teil
Kennen Sie diesen Mann?
3
Ich hatte keinen Dienst an diesem Samstagmorgen Anfang November, und ich war nur deshalb zum Tatort eines Mordes gerufen worden, weil man meine Visitenkarte in der Tasche des Opfers gefunden hatte.
Da stand ich nun im abgedunkelten Wohnzimmer eines Zweifamilienhauses und blickte auf einen erbärmlichen kleinen Mistkerl mit Bierbauch namens Jose Alonzo hinunter. Mit nacktem Oberkörper hockte er zusammengesunken auf einer durchgesessenen Couch von unbestimmter Farbe, die Hände in Handschellen hinter dem Rücken. Er ließ den Kopf hängen, und Tränen rannen ihm übers Kinn.
Ich hatte kein Mitleid mit ihm.
»Ist er schon über seine Rechte belehrt worden?«, fragte ich Inspector Warren Jacobi, meinen früheren Partner, der mir jetzt unterstellt war. Jacobi war vor Kurzem einundfünfzig geworden und hatte in seinen fünfundzwanzig Dienstjahren mehr Mordopfer gesehen, als zehn Cops in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekommen dürften.
»Ja, das hab ich übernommen, Lieutenant. Bevor er gestanden hat.« Jacobis Fäuste zuckten an seiner Seite. Ein Ausdruck des Abscheus glitt über sein zerklüftetes Gesicht.
»Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«, fragte ich Alonzo.
Er nickte und begann wieder zu schluchzen. »Ich hätt’s nicht tun sollen, aber sie hat mich so rasend gemacht!«
Ein kleines Mädchen mit einer schmutzigen weißen Schleife im Haar und einer Windel, die ihr bis zu den speckigen Knien herabhing, klammerte sich an das Bein ihres Vaters. Sie heulte, dass es mir fast das Herz zerriss.
»Was hat Rosa denn getan, dass sie Sie so rasend gemacht hat?«, fragte ich Alonzo. »Das würde mich wirklich interessieren.«
Rosa Alonzo lag am Boden, das hübsche Gesicht zur Wand mit der abblätternden karamellbraunen Farbe gedreht, eine klaffende Wunde im Schädel von dem Bügeleisen, mit dem ihr Mann sie zuerst niedergeschlagen und anschließend getötet hatte.
Das Bügelbrett war über ihr zusammengebrochen wie ein totes Pferd, und in der Luft hing ein Geruch nach verbrannter Sprühstärke.
Als ich Rosa das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie mir erzählt, sie könne ihren Mann nicht verlassen, weil er gedroht habe, er würde sie aufspüren und umbringen.
Ich wünschte mir so sehr, sie hätte das Kind geschnappt und sich davongemacht.
Inspector Richard Conklin, Jacobis Partner, das neueste und jüngste Mitglied meines Teams, ging in die Küche. Ich sah, wie Rich für einen alten orange gestreiften Kater, der auf dem roten Resopaltisch hockte, Katzenfutter in eine Schüssel schüttete. Interessant.
»Er wird vielleicht sehr lange allein hier sein«, warf mir Conklin über die Schulter zu.
»Rufen Sie das Tierheim an.«
»Die haben angeblich keine Zeit, Lieutenant.« Conklin drehte den Hahn auf und füllte eine Schüssel mit Wasser.
Alonzo meldete sich zu Wort: »Wissen Sie, was sie gesagt hat, Officer? Sie hat gesagt: ›Besorg dir’nen Job.‹ Da bin ich einfach ausgerastet, verstehen Sie?«
Ich starrte ihn an, bis er sich von mir abwandte und seiner toten Frau zurief: »Das hab ich nicht gewollt, Rosa. Bitte. Gib mir noch eine Chance!«
Jacobi packte den Mann am Arm, zog ihn hoch und sagte: »Na klar, sie verzeiht dir, Mann. Komm, wir fahren ein Stück.«
Die Kleine fing gerade wieder an zu heulen, als Patty Whelk von der Fürsorge durch die offene Wohnungstür hereinkam.
»Hey, Lindsay«, begrüßte sie mich und umkurvte das Opfer. »Wer ist denn die kleine Prinzessin?«
»Anita Alonzo«, antwortete ich traurig. »Anita, darf ich vorstellen: das System.«
Patty und ich wechselten hilflose Blicke, während sie das Mädchen nahm und auf ihrer Hüfte absetzte. Dann ging Patty ins Schlafzimmer, um nach einer sauberen Windel zu suchen. Während Conklin in der Wohnung blieb, um auf die Rechtsmedizin zu warten, folgte ich Jacobi und Alonzo hinaus auf die Straße.
»Bis dann«, sagte ich zu Jacobi und stieg in meinen drei Jahre alten Explorer, der neben einer Batterie von Müllsäcken am Straßenrand parkte. Ich hatte gerade den Schlüssel umgedreht, als das Handy an meinem Gürtel klingelte. Es ist Samstag. Lasst mich gefälligst in Frieden.
Beim zweiten Läuten nahm ich den Anruf an.
Es war mein Boss, Anthony Tracchio. Ich registrierte eine ungewohnte Anspannung in seiner Stimme. Er musste fast schreien, um das Sirenengeheul im Hintergrund zu übertönen.
»Boxer«, sagte er, »es hat eine Schießerei auf einer der Fähren gegeben. Die Del Norte. Drei Tote und ein paar Verletzte. Ich brauche Sie hier. Pronto.«
4
Ich hatte ein verdammt ungutes Gefühl, als ich mir vorzustellen versuchte, was in aller Welt den Chief an einem Samstag aus seinem gemütlichen Heim in Oakland hervorgezerrt haben könnte. Das ungute Gefühl verstärkte sich schlagartig, als ich ein halbes Dutzend schwarz-weiße Einsatzwagen am Eingang zum Pier parken sah. Zwei weitere Streifenwagen standen auf dem Gehsteig zu beiden Seiten des Fährgebäudes.
Ein Streifenpolizist rief mir zu: »Hier entlang, Lieu!«, und wies mir den Weg über die südliche Zufahrt zu den Kais.
Ich fuhr vorbei an Streifenwagen, Ambulanzen und Löschfahrzeugen, parkte vor dem Terminal und stieg aus. Es war dunstig und um die sechzehn Grad kühl. Eine steife Brise von schätzungsweise zwanzig Knoten sorgte für heftigen Wellengang draußen in der Bucht und schaukelte die Del Norte an ihrer Anlegestelle tüchtig durch.
Der Polizeieinsatz sorgte für einige Aufregung, und rund tausend Menschen wuselten zwischen dem Fährgebäude und dem Farmer’s Market umher, schossen Fotos und fragten die Cops, was passiert sei. Es war, als witterten sie das Pulver und das Blut in der Luft.
Ich schlüpfte unter dem Absperrband hindurch, mit dem der Kai gesichert war, nickte den Polizisten zu, die ich kannte, und blickte auf, als ich Tracchio meinen Namen rufen hörte.
Der Chief stand an der Bugpforte der Del Norte. Er trug einen Lederblazer und eine bequeme Freizeithose und hatte die spärlichen Haare wie üblich mit Gel quer über seine Glatze gekämmt. Er winkte mich an Bord. Danke für die Einladung.
Ich ging auf ihn zu, doch ich hatte kaum fünf Schritte über die Gangway getan, da musste ich zwei Sanitätern Platz machen, die mir mit einer rumpelnden Rolltrage entgegenkamen.
Mein Blick fiel auf das Opfer, eine kräftige afroamerikanische Frau, deren Gesicht fast ganz von einer Sauerstoffmaske verdeckt war. An ihrem Arm war ein Infusionsschlauch befestigt, und das Tuch, das ihren Rumpf fest umhüllte, war blutgetränkt.
Ich fühlte einen Stich in der Brust. Mein Herz wusste sofort Bescheid - eine volle Sekunde, bevor mein Verstand es registrierte.
Das Opfer war Claire Washburn!
Meine beste Freundin war auf der Fähre angeschossen worden!
Ich packte die Rolltrage und bremste sie, worauf der messingblonde Sanitäter am hinteren Ende mich anblaffte: »Aus dem Weg, Lady!«
»Ich bin Polizistin!«, erklärte ich ihm und schlug meine Jacke zurück, um ihm meine Dienstmarke zu zeigen.
»Und wenn Sie der liebe Gott sind, das ist mir egal!«, konterte der Blonde. »Wir müssen sie in die Notaufnahme bringen.«
Ich stand da mit offenem Mund, und der Herzschlag hämmerte in meinen Ohren.
»Claire!«, rief ich, und ging mit schnellen Schritten neben der Trage her, als sie die Gangway hinunter und auf den Asphalt holperte. »Claire, ich bin’s, Lindsay! Kannst du mich hören?«
Keine Antwort.
»Wie ist ihr Zustand?«, fragte ich den Sanitäter.
»Begreifen Sie denn nicht? Wir müssen sie ins Krankenhaus schaffen!«
»Antworten Sie mir, verdammt noch mal!«
»Herrgott, ich weiß es doch auch nicht!«
Hilflos stand ich da, während die Sanitäter die Hecktüren des Rettungswagens aufrissen.
Mehr als zehn Minuten waren vergangen, seit ich Tracchios Anruf erhalten hatte. Die ganze Zeit hatte Claire auf dem Deck der Fähre gelegen und Blut verloren, hatte mit einem Einschussloch in der Brust zu atmen versucht.
Ich fasste ihre Hand, und sofort füllten sich meine Augen mit Tränen.
Meine Freundin wandte mir das Gesicht zu, und ihre Lider flatterten, als sie die Augen zu öffnen versuchte.
»Linds«, hauchte sie. Ich schob ihre Maske zur Seite. »Wo ist Willie?«, fragte sie mich.
Da fiel es mir wieder ein - Willie, Claires jüngster Sohn, hatte einen Wochenendjob bei der Fährgesellschaft. Wahrscheinlich war Claire deswegen an Bord der Del Norte gewesen.
»Wir sind getrennt worden«, keuchte Claire. »Ich glaube, er hat den Amokläufer verfolgt.«
5
Claires Augen rollten nach oben weg; sie konnte mich nicht mehr hören. Die Beine der Trage knickten ein, und ich konnte nur hilflos zusehen, wie die Sanitäter sie in den Rettungswagen schoben.
Die Türen knallten zu, dann setzte das ohrenbetäubende Geheul der Sirene ein, und der Rettungswagen mit meiner liebsten Freundin auf dem Weg zum San Francisco General verschwand im Verkehrsgewühl.
Die Zeit arbeitete gegen uns.
Der Schütze war geflohen, und Willie hatte ihn verfolgt. Tracchio legte mir die Hand auf die Schulter. »Wir haben schon die ersten Beschreibungen des Täters, Boxer …«
»Ich muss Claires Sohn finden«, sagte ich.
Ich riss mich von Tracchio los und lief in Richtung Farmer’s Market. Während ich mich durch die zähfließende Menschenmenge schob, suchte ich die Gesichter ab. Es war, als ob man sich einen Weg durch eine Rinderherde bahnte.
Ich schaute in jeden verdammten Obst- und Gemüsestand, suchte zwischen den Ständen und durchstreifte die Budenstraßen auf der verzweifelten Suche nach Willie - doch es war Willie, der mich fand.
Er schob sich durch das Gedränge auf mich zu und rief meinen Namen. »Lindsay! Lindsay!«
Sein T-Shirt war vorn ganz nass von Blut. Er rang nach Luft, und seine Züge waren starr vor Panik.
»Willie - wo bist du verletzt?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht mein Blut. Meine Mom wurde angeschossen!«
Ich zog ihn an mich, drückte ihn an die Brust und spürte, wie ein Teil meiner schrecklichen Angst von mir abfiel. Wenigstens war Willie unverletzt.
»Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus«, sagte ich, und ich hätte liebend gerne hinzugefügt: Sie wird wieder gesund. »Du hast den Schützen gesehen? Wie sieht er aus?«
»Es ist ein dünner weißer Mann«, erklärte Willie, während wir uns durch die Menschenmenge schoben. »Hat’nen Bart und lange braune Haare. Aber er hat die ganze Zeit nach unten geschaut, Lindsay. Ich hab seine Augen gar nicht gesehen.«
»Wie alt ist er?«
»Na ja, vielleicht ein paar Jahre jünger als du.«
»Anfang dreißig?«
»In etwa. Und er ist größer als ich, vielleicht eins fünfundachtzig. Er trägt eine Cargohose und eine blaue Windjacke. Lindsay, ich hab gehört, wie er zu meiner Mom gesagt hat, sie hätte den Amoklauf verhindern müssen. Das wäre ihr Job gewesen. Was soll das denn heißen?«
Claire ist die Leiterin der Rechtsmedizin von San Francisco. Sie ist Ärztin, keine Polizistin.
»Denkst du, dass es eine persönliche Geschichte war? Dass er es speziell auf deine Mom abgesehen hatte? Dass er sie kannte?«
Willie schüttelte den Kopf. »Ich hab gerade geholfen, das Schiff festzumachen, als ich die Schreie hörte«, erzählte er. »Er hat zuerst auf ein paar andere Leute geschossen. Meine Mom war die Letzte. Er hat ihr eine Pistole direkt an den Kopf gehalten. Ich hab mir ein Eisenrohr geschnappt. Das wollte ich ihm über den Schädel ziehen, aber da hat er auf mich geschossen. Dann ist er über Bord gesprungen. Ich bin ihm nach - aber ich hab ihn verloren.«
Da begriff ich es erst richtig, was Willie getan hatte. Ich packte ihn an den Schultern, und ich wurde richtig laut. »Und was wäre gewesen, wenn du ihn eingeholt hättest? Hast du mal darüber nachgedacht, Willie? Dieser ›dünne weiße Mann‹ war bewaffnet. Er hätte dich umgebracht.«
Tränen schossen aus Willies Augen und liefen über sein liebes, junges Gesicht. Ich ließ seine Schultern los und schloss ihn in die Arme.
»Aber du warst sehr tapfer, Willie«, sagte ich. »Das war sehr tapfer von dir, dich einem Killer entgegenzustellen, um deine Mom zu schützen. Ich glaube, du hast ihr das Leben gerettet.«
6
Durch das offene Fenster des Streifenwagens drückte ich Willie einen Kuss auf die Wange. Dann fuhr Officer Pat Noonan Willie ins Krankenhaus, und ich ging an Bord der Del Norte, wo Tracchio noch immer im offenen Bugbereich des Sonnendecks stand.
Es war ein Bild des Grauens, das sich unauslöschlich in mein Gehirn einbrannte. Die Opfer lagen, wie sie gefallen waren, auf den vielleicht dreißig Quadratmetern des blutverschmierten Fiberglas-Decks, das von Fußabdrücken übersät war, dazwischen verstreute Kleidungsstücke. Eine rote Baseballkappe lag zertrampelt am Boden, inmitten von Pappbechern, Hotdog-Verpackungen und blutgetränkten Zeitungen.
Eine Woge der Verzweiflung drehte mir den Magen um. Der Killer konnte inzwischen weiß Gott wo sein, und jedes Mal, wenn ein Cop, ein Passagier oder ein Sanitäter übers Deck gegangen war, waren wichtige Spuren vernichtet worden.
Außerdem musste ich immerzu an Claire denken.
»Alles okay mit Ihnen?«, fragte Tracchio.
Ich nickte. Ich fürchtete, wenn ich jetzt anfinge zu weinen, könnte ich nicht mehr aufhören.
»Das ist Andrea Canello«, sagte Tracchio und deutete auf die Leiche einer Frau, die an der Reling lehnte, bekleidet mit einer hellbraunen Hose und einer weißen Bluse. »Laut Aussage des Burschen da drüben« - er zeigte auf einen Teenager mit Igelfrisur und einem Sonnenbrand auf der Nase -, »hat der Täter zuerst auf sie geschossen. Und dann auf ihren Sohn. Ein kleines Kind von vielleicht neun Jahren.«
»Wird der Junge durchkommen?«, fragte ich.
Tracchio zuckte mit den Achseln. »Er hat eine Menge Blut verloren.« Er deutete auf ein anderes Opfer, einen Weißen mit silbernem Haar, schätzungsweise in den Fünfzigern. Er lag halb unter einer Bank.
»Per Conrad. Maschinist. Hat auf der Fähre gearbeitet. Vermutlich hat er die Schüsse gehört und wollte helfen. Und der da«, fuhr er fort und wies auf einen Mann mit asiatischen Zügen, der in der Mitte des Decks flach auf dem Rücken lag, »ist Lester Ng, Versicherungsvertreter. Noch so einer, der ein Held hätte werden können. Die Zeugen sagen, es hat sich alles innerhalb von zwei oder drei Minuten abgespielt.«
Ich versuchte, mir die Szene zu vergegenwärtigen, ausgehend von dem, was ich von Willie erfahren hatte, und dem, was Tracchio mir jetzt erzählte - versuchte, die Spuren zu lesen, die Informationen zu einem sinnvollen Bild zusammenzusetzen.
Ich fragte mich, ob das Massaker geplant gewesen war, oder ob irgendetwas den Schützen provoziert hat - und falls Letzteres, was der Auslöser gewesen war.
»Einer der Passagiere will den Schützen vor dem Zwischenfall dort drüben sitzen gesehen haben«, sagte Tracchio. »Er sagt, der Mann sei allein gewesen und habe eine Zigarette geraucht. Eine Packung Turkish Specials wurde unter einem der Tische gefunden.«
Ich folgte Tracchio zum Heck, wo mehrere geschockte Passagiere auf einer gepolsterten Bank saßen, die in den inneren Bogen der Reling eingepasst war. Manche waren mit Blut bespritzt, manche hielten sich an den Händen. Ihre Mienen waren starr vor Schock.
Uniformierte Beamte waren noch immer damit beschäftigt, die Namen und Telefonnummern der Zeugen zu notieren und ihre Aussagen aufzunehmen. Sergeant Lexi Rose drehte sich zu uns um und sagte: »Chief, Lieutenant - Mr. Rooney hier hat gute Neuigkeiten für uns.«
Ein älterer Mann in einer knallroten Nylonjacke trat vor. Er trug eine Brille mit dickem Rahmen, und eine kleine Digital-kamera, ungefähr so groß wie ein Stück Seife, hing an einer schwarzen Schnur um seinen Hals. Seine Miene drückte grimmige Befriedigung aus.
»Ich hab ihn im Kasten«, sagte Rooney und hielt seine Kamera hoch. »Ich hab diesen Irren auf frischer Tat erwischt.«
7
Nur wenige Augenblicke, nachdem wir die Zeugen entlassen hatten, kam Charlie Clapper, der Leiter der Spurensicherung, mit seinem Team die Gangway herauf und ging an Bord. Charlie begrüßte den Chief, sagte »Hey, Lindsay«, und begann sich umzusehen.
Dann kramte er in den Taschen seiner Tweedjacke mit Fisch-grätmuster, zog ein Paar Latexhandschuhe heraus und streifte sie über.
»Das ist ja eine schöne Bescherung«, meinte er.
»Wir wollen doch positiv denken«, erwiderte ich, konnte aber die Anspannung in meiner Stimme nicht verbergen.
»Sie kennen mich ja«, sagte er. »Ich bin ein hoffnungsloser Optimist.«
Ich blieb bei Tracchio stehen, als das Team ausschwärmte, um Nummerntäfelchen aufzustellen und alles zu fotografieren, die Leichen und das ganze blutbespritzte Deck.
Sie pulten ein Geschoss aus der Bordwand heraus und stellten einen Gegenstand sicher, der uns vielleicht zu dem Killer führen würde: eine halb leere Packung türkische Zigaretten, die unter einem Tisch im Heck gefunden worden war.
»Ich muss jetzt mal los, Lieutenant«, sagte Tracchio zu mir und warf einen Blick auf seine Rolex. »Ich habe einen Termin mit dem Bürgermeister.«
»Ich will diesen Fall übernehmen - persönlich«, sagte ich.
Er musterte mich streng. Ich hatte einen Alarmknopf bei ihm gedrückt, aber ich konnte einfach nicht anders.
Tracchio war ein anständiger Kerl, und im Grunde konnte ich ihn ganz gut leiden. Aber der Chief hatte sich auf der Verwaltungsschiene ganz nach oben gearbeitet. Er hatte nie im Leben auch nur einen einzigen Fall bearbeitet, und das beeinflusste seine Sicht der Dinge.
Er wollte, dass ich meine Arbeit vom Schreibtisch aus erledigte.
Und ich brachte meine besten Leistungen auf der Straße.
Das letzte Mal, als ich Tracchio gesagt hatte, dass ich am liebsten ganz praktische Ermittlungsarbeit machen würde, hatte er mir Undankbarkeit vorgeworfen und gesagt, ich müsse noch eine ganze Menge über Personalführung lernen. Ich sollte einfach meinen verdammten Job machen und froh sein, dass sie mich überhaupt zum Lieutenant befördert hatten.
Jetzt erinnerte er mich in aller Schärfe daran, dass einer meiner Partner auf der Straße getötet worden war, und dass erst vor wenigen Monaten Jacobi und ich in einer menschenleeren Gasse niedergeschossen worden waren. Er hatte recht. Wir wären beide fast gestorben.
Heute wusste ich, dass er mir meine Bitte nicht abschlagen konnte. Meine beste Freundin hatte eine Kugel in die Brust bekommen, und der Schütze lief noch frei herum.
»Ich werde mit Jacobi und Conklin arbeiten. Ein Dreier-Team, mit McNeil und Chi als Verstärkung. Den Rest der Truppe werde ich nach Bedarf hinzuziehen.«
Tracchio nickte widerwillig, aber ich hatte grünes Licht. Ich dankte ihm und rief Jacobi an. Dann wählte ich die Nummer des Krankenhauses und bekam eine freundliche Schwester an den Apparat, die mir sagte, dass Claire noch im OP sei.
Ich verließ den Tatort mit Jack Rooneys Kamera in der Hand. Im Präsidium wollte ich mir das Video anschauen, wollte die Schießerei mit eigenen Augen sehen.
Ich ging die Gangway hinunter und brummte halblaut »Mist!«, noch bevor ich den Kai erreichte. Reporter von drei verschiedenen hiesigen Fernsehsendern und von der Chronicle erwarteten mich. Ich kannte sie alle.
Kameras klickten und zoomten, Mikrofone wurden mir unter die Nase gehalten.
»War es ein Terroranschlag, Lieutenant?«
»Wer war der Schütze?«
»Wie viele Todesopfer hat es gegeben?«
»Verschont mich bitte, Leute. Das Verbrechen ist doch erst heute Morgen passiert«, sagte ich. Ich wünschte, die Reporter hätten sich Tracchio gegriffen oder irgendeinen der vier Dutzend anderen Cops, die innerhalb der Absperrung herumschwirrten und sich sicher alle über einen Auftritt in den Sechs-Uhr-Nachrichten gefreut hätten.
»Wir werden die Namen der Opfer bekannt geben, sobald die Angehörigen informiert sind. Und wir werden denjenigen finden, der für diese furchtbare Tat verantwortlich ist«, sagte ich mit Hoffnung und Überzeugung in der Stimme. »Er wird nicht davonkommen.«
8
Es war zwei Uhr nachmittags, als ich mich Al Sassoon vorstellte, Claires behandelndem Arzt, der mit ihrem Krankenblatt in der Hand an der Zentrale der Intensivstation stand. Sassoon war Mitte vierzig, dunkelhaarig, mit Lachfältchen, die von seinen Mundwinkeln ausstrahlten. Er wirkte glaubwürdig und selbstsicher, und ich vertraute ihm auf Anhieb.
»Untersuchen Sie den Amoklauf auf der Fähre?«, fragte er mich.
Ich nickte. »Ja, und außerdem ist Claire eine Freundin von mir.«
»Sie ist auch meine Freundin.« Er lächelte. »Also, Folgendes kann ich Ihnen sagen: Die Kugel hat eine Rippe durchschlagen und den linken Lungenflügel kollabieren lassen, aber sie hat das Herz und die großen Arterien verfehlt.
Die kaputte Rippe wird Claire einige Schmerzen bereiten, und sie wird eine Thoraxdrainage brauchen, bis der Lungenflügel sich wieder vollständig ausgedehnt hat. Aber sie ist gesund, und sie hat Glück gehabt. Und sie hat hier gute Leute, die auf sie Acht geben.«
Die Tränen, die ich den ganzen Tag über zurückgehalten hatte, drohten über die Ufer zu treten. Ich senkte den Blick und krächzte: »Ich würde gerne mit ihr sprechen. Der Mann, der auf Claire geschossen hat, hat drei Menschenleben auf dem Gewissen.«
»Sie wird bald aufwachen«, sagte Sassoon. Er tätschelte meine Schulter und hielt die Tür zu Claires Zimmer auf. Ich ging hinein.
Das Kopfteil von Claires Bett war hochgestellt, um ihr das Atmen zu erleichtern. Sie hatte eine Kanüle in der Nase, und aus einem Infusionsbeutel, der an einem Ständer hing, sickerte Kochsalzlösung in eine Vene. Unter dem dünnen OP-Hemd war ihre Brust mit dicken Verbänden bedeckt. Ihre Augen waren geschlossen, die Lider aufgequollen. In all den Jahren, die ich Claire nun schon kannte, hatte ich sie noch nie krank gesehen. Ich hatte sie nie so hilflos gesehen.
Edmund, Claires Mann, sprang sofort von dem Sessel auf, in dem er gesessen hatte, als ich ins Zimmer trat.
Er sah fürchterlich aus. Angst und ungläubiges Entsetzen verzerrten seine Züge.
Ich stellte meine Einkaufstüte ab, ging auf ihn zu und drückte ihn lange.
»O Gott, Lindsay, das ist einfach zu viel«, murmelte er in meine Haare.
Ich sagte all die Dinge, die man so sagt, wenn Worte ganz einfach nicht ausreichen. »Sie wird bald wieder auf den Beinen sein, Eddie. Du weißt, dass ich recht habe.«
»Ich habe so meine Zweifel«, meinte Edmund, als wir uns schließlich voneinander lösten. »Selbst angenommen, dass alles gut verheilt - hast du etwa die Schüsse auf dich schon ganz verarbeitet?«
Ich konnte ihm keine Antwort geben. Tatsächlich kam es immer noch vor, dass ich mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachte. Dann wusste ich, dass ich wieder einmal von dieser schlimmen Nacht in der Larkin Street geträumt hatte. Ich konnte den Einschlag der Kugeln noch spüren, und die Erinnerung an diese Hilflosigkeit, an das Gefühl, vielleicht sterben zu müssen, war noch immer lebendig.
»Und was ist mit Willie?«, fragte Edmund. »Seine ganze Welt ist heute Morgen auf den Kopf gestellt worden. Warte, ich helf dir.«
Edmund hielt die Einkaufstüte auf, sodass ich den großen silbernen Ballon mit der Aufschrift »Gute Besserung« herausziehen konnte. Ich band den Ballon an den Rahmen von Claires Bett, dann beugte ich mich über sie und berührte ihre Hand. »Hat sie irgendetwas gesagt?«, fragte ich.
»Sie hat für ein paar Sekunden die Augen aufgemacht. ›Wo ist Willie?‹, hat sie gefragt. ›Er ist zu Hause. In Sicherheit‹, hab ich ihr gesagt. ›Ich muss wieder in die Arbeit‹, hat sie noch gesagt, und dann war sie weg. Das war vor einer halben Stunde.«
Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich Claire vor der Schießerei das letzte Mal gesehen hatte. Gestern. Wir hatten uns nach Dienstschluss auf dem Parkplatz gegenüber vom Präsidium zum Abschied zugewinkt. Nur eine beiläufige Handbewegung.
»Bis dann, mein Mädel.«
»Schönen Feierabend, Butterfly.«
So alltägliche Worte. Als ob das Leben eine Selbstverständlichkeit wäre. Was, wenn Claire heute gestorben wäre? Was, wenn wir sie verloren hätten?
9
Ich drückte Claires Hand, während Edmund zu seinem Sessel zurückging und mit der Fernbedienung den Fernsehapparat oben an der Wand einschaltete. Er stellte den Ton leise und fragte: »Du hast das schon gesehen, Lindsay?«
Ich blickte auf und sah den Warnhinweis: »Die folgenden Aufnahmen sind sehr drastisch und sollten von Kindern und Jugendlichen nur unter elterlicher Aufsicht gesehen werden.«
»Ich habe es gleich nach dem Amoklauf gesehen«, erklärte ich Edmund, »aber ich würde es gerne noch einmal sehen.«
Edmund nickte und sagte: »Ich auch.«
Und dann flimmerte Jack Rooneys Amateurfilm von dem Massaker auf der Fähre über den Bildschirm.
Zusammen sahen wir uns an, was Claire vor wenigen Stunden selbst durchlebt hatte. Rooneys Film war unscharf und verwackelt. Wir sahen zunächst drei Touristen, die grinsend in die Kamera winkten, mit einem Segelboot im Hintergrund. Es folgte eine Großaufnahme der Golden Gate Bridge.
Die Kamera machte einen Schwenk über das Sonnendeck der Fähre, vorbei an einer Schar von Kindern, die Hotdog-Brötchen an die Möwen verfütterten. Ein kleiner Junge, auf dem Kopf eine umgedrehte rote Baseballkappe, malte mit einem Filzmarker auf einem Tisch herum. Das war Tony Canello. An der Reling saß ein schlaksiger, bärtiger Mann, der gedankenverloren an seinem Arm herumzupfte.
Das Bild hielt an, und der bärtige Mann wurde mit einem Spot hervorgehoben.
»Das ist er«, sagte Edmund. »Ist er verrückt, Lindsay? Oder ist er ein kaltblütig planender Mörder, der nur den richtigen Moment abwartet?«
»Vielleicht beides«, antwortete ich, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Der ersten Sequenz folgte eine zweite: Eine ausgelassene Menschenmenge drängte sich an der Reling, während die Fähre in den Hafen einlief. Plötzlich schwenkte die Kamera nach links und erfasste das von Entsetzen verzerrte Gesicht einer Frau, die sich die Brust hielt und im nächsten Moment zusammenbrach.
Der kleine Junge, Tony Canello, drehte sich zur Kamera um. Sein Gesicht war von der Regie digital verpixelt worden, um es unkenntlich zu machen.
Ich zuckte zusammen, als der Junge getroffen zurückprallte und sich um die eigene Achse drehte.
Danach sprang das Auge der Kamera eine Weile wild hin und her. Es sah aus, als hätte jemand Rooney angerempelt. Dann stabilisierte das Bild sich wieder.
Ich schlug die Hand vor den Mund, und Edmund umklammerte die Armlehnen seines Sessels, als wir zusahen, wie Claire dem Schützen die Hand entgegenstreckte. Obwohl wir ihre Stimme nicht hören konnten, schien es klar, dass sie ihn aufforderte, ihr die Waffe zu geben.
»Wie unglaublich mutig«, sagte ich. »Mein Gott.«
»Eine Nummer zu mutig, wenn du mich fragst«, brummte Edmund und fuhr sich mit der Hand durch das Haar, das sich schon weiß färbte. »Claire und Willie, alle beide waren sie eine Nummer zu mutig.«
Der Schütze stand mit dem Rücken zur Kamera, als er abdrückte. Ich sah, wie die Hand mit dem Revolver zurückzuckte. Claire hielt sich die Brust und sank zu Boden.
Die Kamera schwenkte wieder auf die entsetzten Gesichter in der wogenden Menge. Dann sahen wir den Schützen. Er stand gebückt da, das Gesicht von der Kamera abgewandt. Er trat auf Claires Handgelenk und schrie ihr ins Gesicht.
»Du krankes Dreckstück!«, heulte Edmund auf.
Hinter mir stöhnte Claire in ihrem Bett.
Ich drehte mich zu ihr um, sah aber, dass sie immer noch schlief. Meine Augen schnellten zum Fernseher zurück, wo der Schütze sich nun umdrehte, sodass sein Gesicht zu sehen war.
Er hielt den Blick gesenkt, und der Bart verdeckte die untere Hälfte seines Gesichts. Er kam auf den Mann mit der Kamera zu, der jetzt doch die Nerven verlor und das Filmen einstellte.
»Danach hat er auf Willie geschossen«, sagte Edmund.
Und dann tauchte ich selbst auf dem Bildschirm auf, die Frisur zerzaust von meinem Sprint zum Farmer’s Market, die Jacke mit Claires Blut verschmiert, das an Willies T-Shirt geklebt hatte, die Augen geweitet, Schock und Anspannung in den Zügen.
»Bitte rufen Sie uns an, wenn Sie irgendwelche Informationen haben, die uns zu diesem Mann führen könnten«, hörte ich mich sagen.
Dann wurde mein Gesicht durch ein Standbild mit dem des Killers ersetzt, während am unteren Bildrand langsam und in großen Lettern die Telefonnummer und die Webadresse des San Francisco Police Department durchliefen.
KENNEN SIE DIESEN MANN?
Edmund wandte sich zu mir um, sein Gesicht schmerzerfüllt. »Habt ihr schon irgendetwas in der Hand, Lindsay?«
»Wir haben Jack Rooneys Video«, sagte ich und zeigte auf den Fernseher. »Wir haben die Nonstop-Berichterstattung in den Medien, und wir haben um die zweihundert Zeugen. Wir werden ihn finden, Eddie, das schwör ich dir.«
Ich sagte nicht, was ich dachte: Wenn dieser Kerl uns durch die Lappen geht, habe ich meinen Beruf verfehlt.
Ich stand auf und griff nach meiner Einkaufstüte.
»Kannst du nicht noch ein paar Minuten bleiben?«, fragte Eddie. »Claire würde dich sicher gerne sehen.«
»Ich schaue später noch mal vorbei«, antwortete ich. »Jetzt muss ich erst mal noch einen anderen Besuch machen.«
10
Ich verließ Claires Zimmer im fünften Stock und nahm die Treppe hinunter zur Kinder-Intensivstation im zweiten. Dabei machte ich mich auf eine Zeugenvernehmung gefasst, die mir zweifellos fürchterlich an die Nieren gehen würde.
Ich dachte an den kleinen Tony Canello, der mit angesehen hatte, wie seine Mutter erschossen wurde, und einen Augenblick später selbst eine Kugel abbekommen hatte. Ich musste diesen Jungen fragen, ob er den Schützen irgendwann schon einmal gesehen hatte, ob der Mann irgendetwas gesagt hatte, bevor oder nachdem er die Pistole abgefeuert hatte, und ob ihm irgendein Grund einfiel, warum er auf ihn und seine Mutter geschossen haben könnte.
Ich nahm meine Einkaufstüte von der rechten in die linke Hand, als ich die letzte Treppe hinunterstieg. Mir war bewusst, dass die Art, wie ich diese Befragung anging, sich dem kleinen Jungen für den Rest seines Lebens einprägen würde.
Im Präsidium haben wir immer einen Vorrat an Teddybären als Geschenke für traumatisierte Kinder, aber diese kleinen Spielsachen schienen zu billig für ein Kind, das gerade Zeuge des brutalen Mordes an seiner eigenen Mutter geworden war. Bevor ich ins Krankenhaus gefahren war, hatte ich im Build-A-Bear-Workshop vorbeigeschaut, mir einen Bären eigens für Tony anfertigen und ihm ein Stoffherz in die Brust einnähen lassen, mit meinen besten Genesungswünschen für Tony. Anschließend war der Bär in ein Fußballtrikot gesteckt worden.
Ich öffnete die Tür zum zweiten Stock und betrat den in Pastellfarben gestrichenen Flur der Kinderstation. Fröhliche Wandmalereien von Regenbogen und Picknicks zierten die Wände.
Als ich die Intensivstation gefunden hatte, zeigte ich der Schwester am Empfang, einer Frau in den Vierzigern mit angegrauten Haaren und großen braunen Augen, meine Dienstmarke. Ich erklärte ihr, dass ich mit einem Zeugen sprechen müsse und dass es nicht länger als ein paar Minuten dauern würde.
»Sprechen Sie von Tony Canello? Dem kleinen Jungen, der auf der Fähre angeschossen wurde?«
Ich sagte: »Ich habe ungefähr drei Fragen. Ich werde es ihm so leicht wie möglich machen.«
»Ah, es tut mir leid, Lieutenant«, sagte die Schwester und sah mir unverwandt in die Augen. »Es war eine sehr riskante Operation. Die Schussverletzung hat mehrere lebenswichtige Organe in Mitleidenschaft gezogen. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber wir haben ihn vor etwa zwanzig Minuten verloren.«
Ich sank kraftlos gegen den Tresen der Schwesternstation.
Die Schwester redete auf mich ein, fragte mich, ob sie mir etwas bringen oder jemanden holen sollte. Ich gab ihr die Tüte mit dem Teddy und bat sie, ihn dem nächsten Kind zu schenken, das in die Intensivstation eingeliefert wurde.
Irgendwie fand ich meinen Wagen auf dem Parkplatz und fuhr zurück zum Justizgebäude.
11
Das Justizgebäude ist ein grauer Granitwürfel, der einen kompletten Block in der Bryant Street einnimmt. Auf den zehn tristen und schäbigen Stockwerken sind der Superior Court, die Büros der Staatsanwaltschaft, die Southern Division des San Francisco Police Department sowie - im obersten Stock - ein Gefängnis untergebracht.
Das Rechtsmedizinische Institut befindet sich in einem Nachbargebäude, aber durch eine Hintertür im Erdgeschoss kann man auch direkt vom Justizgebäude dorthin gelangen. Ich stieß die Glastür am anderen Ende der Eingangshalle auf und bog in die überdachte Passage ein, die zur Leichenhalle führt.
Als ich die Tür des Sektionssaals öffnete, schlug mir eisige Luft entgegen. Ich marschierte einfach hinein, als ob der Laden mir gehörte - eine Angewohnheit, zu der mich meine beste Freundin Claire verleitet hat, die Leiterin der Rechtsmedizin.
Aber natürlich war es nicht Claire, die auf einer Leiter stand, um die verstorbene Frau auf dem Tisch von oben zu fotografieren. Der stellvertretende Institutsleiter, ein ungefähr eins siebzig großer Weißer in den Vierzigern mit graumelierten Haaren und schwarzer Hornbrille, nahm ihren Platz ein.
»Hallo, Dr. Germaniuk«, sagte ich, als ich in den Sektionssaal platzte.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten, Lieutenant.«
Humphrey Germaniuk hatte seit ungefähr sechs Stunden die Verantwortung für die Rechtsmedizin, und schon säumten seine Papiere in sauber aufgereihten Stapeln sämtliche Wände. Mit der Schuhspitze schob ich den Stoß, den ich gerade im Vorbeigehen gestreift hatte, ordentlich in die Reihe zurück.
Ich wusste, dass Germaniuk ein Perfektionist war, aber auch ein witziger und schlagfertiger Zeitgenosse und ein Ass im Zeugenstand. Im Grunde war er genauso qualifiziert, die
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »The 6. Target« bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group USA, New York.
Der Titel ist erstmalig 2004 im Knaur Verlag erschienen.
1. AuflageDeutsche Erstausgabe April 2010 bei Blanvalet, einem Unternehmender Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe James Patterson, 2007 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008
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