Storm - Alex Cross 16 - - James Patterson - E-Book

Storm - Alex Cross 16 - E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Als in Washington, D.C., zwei hoch angesehene – und ebenso korrupte – öffent liche Personen ermordet werden, muss Detective Alex Cross seine Hochzeitsplanung auf Eis legen, um die Ermittlungen aufzunehmen. Doch seine Nachforschungen verlaufen im Sand. Als weitere hochkarätige Opfer sterben, feiert die Bevölkerung den Schützen fast wie einen Helden. In diesem Tumult taucht Cross’ ärgster Feind auf, der sich geschworen hat, die Stadt erst wieder zu verlassen, wenn sein Gegenspieler für immer schweigt …

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James Patterson

Storm

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Leo Strohm

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Cross Fire« bei Little Brown US, New York.
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Little Brown, US.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (©Netfalls Remy Musse, © Baiterek Media)Redaktion: Gerhard Seidl, text in formDF · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-07581-1V003
www.blanvalet.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Als in Washington, D.C., zwei hoch angesehene – und ebenso korrupte – öffentliche Personen ermordet werden, ist Detective Alex Cross gezwungen, seine Hochzeitspläne auf Eis zu legen, um sich ganz auf den Fall konzentrieren zu können. Doch seine Nachforschungen verlaufen im Sand. Dann sterben weitere hochkarätige Opfer, und ein wahres Feuerwerk an Vermutungen explodiert: Handelt es sich bei dem Scharfschützen um einen Insider aus höchsten Kreisen? Ist er weniger ein Mörder als doch eher ein Held, der gefeiert werden sollte? Inmitten dieses Aufruhrs taucht Cross’ ärgster Todfeind auf, der sich geschworen hat, die Stadt nur unter einer Bedingung wieder zu verlassen: Wenn sein Gegenspieler für immer schweigt …

Autor

James Patterson, geboren 1949, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Inzwischen erreicht auch jeder Roman seiner packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women’s Murder Club« regelmäßig die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester, N.Y.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.jamespatterson.com

Liste lieferbarer Titel

Die Alex-Cross-Romane: Stunde der Rache (7; 35892) · Mauer des Schweigens (8; 35988) · Vor aller Augen (9; 36167) · Und erlöse uns von dem Bösen (10; 36232) · Ave Maria (11; 26406) · Blood (12; 36855) · Dead (13; 37204) · Fire (14; 37266) · Heat (15; 37263)

Der Women’s Murder Club: Der 1. Mord (36919) · Die 2. Chance (36920) · Der 3. Grad (36921) · Die 4. Frau (36756) · Die 5. Plage (37037) · Die 6. Geisel (37228) · Die 7 Sünden (37585) · Das 8. Geständnis (37232)

James Patterson und Liza Marklund: Letzter Gruß (37739)

Für Scott Cowen, Präsident der Tulane University und Held von New Orleans. Nicht zuletzt seiner überlegten Führung und seinen beinahe übermenschlichen Anstrengungen ist es zu verdanken, dass die Universität und die ganze Stadt New Orleans nach dem verheerenden Wirbelsturm Katrina wieder optimistisch in die Zukunft blicken können.

Prolog

WER ZUERST KOMMT, MAHLT ZUERST

1

Monate waren vergangen, seitdem Kyle Craig einen Menschen getötet hatte. Früher war er der Typ gewesen, der immer alles sofort haben musste. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Wenn die Jahre in der Hölle der Einsamkeit im Hochsicherheitsgefängnis von Florence, Colorado, für etwas gut gewesen waren, dann dafür, dass sie ihn das Warten gelehrt hatten.

Geduldig saß er im Flur der Wohnung seines Opfers, die Waffe im Schoß, den Blick hinaus auf die Lichter des Hafens von Miami gerichtet, und wartete. Er hatte es nicht besonders eilig, genoss die Aussicht, fing womöglich sogar endlich an, das Leben zu genießen. Auf jeden Fall machte er eine ausgesprochen lässige Figur – ausgewaschene Jeans, Sandalen, ein T-Shirt mit der Aufschrift BETRACHTEN SIE DAS ALS LETZTE WARNUNG.

Um 2.12 Uhr wurde ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt. Kyle stand sofort auf und drückte sich mit dem Rücken an die Wand, stand stumm und regungslos da wie eine Statue.

Der Mann, um den es ging, Max Siegel, betrat pfeifend die Wohnung. Kyle erkannte sogar die Melodie, ein altes Liedchen aus seiner Kindheit … aus Peter und der Wolf. Die Stelle mit den Streichern – Peters Jagdmotiv. Pikant, pikant.

Er wartete, bis Mr. Siegel die Tür zugezogen und die ersten Schritte in die immer noch dunkle Wohnung gemacht hatte. Dann richtete Kyle den roten Laserpunkt auf den Rücken des Mannes und drückte ab. »Guten Abend, Mr. Siegel«, sagte er. »Schön, Sie kennenzulernen.«

Die Salzlösung, die in gleichmäßigem Strom in Siegels Körper eindrang, transportierte eine Spannung von fünfzigtausend Volt. Siegel stöhnte auf und biss dann die Zähne zusammen. Erst verkrampften sich seine Schultern, dann wurde sein gesamter Körper steif, und er stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

Kyle zögerte keine Sekunde. Rasch wickelte er Siegel eine Nylonschnur um den Hals und schleifte ihn immer im Kreis über den Boden, bis die Salzlösung aufgewischt war. Anschließend schleppte er ihn hinter sich her bis ins Badezimmer am anderen Ende der Wohnung. Siegel war zu schwach, um Widerstand zu leisten. Alle Kraft, die ihm geblieben war, brauchte er für die Schnur. Schließlich wollte er nicht erdrosselt werden.

»Wehren Sie sich nicht«, sagte Kyle irgendwann. »Es hat überhaupt keinen Zweck.«

Im Badezimmer hob Kyle ihn in die übergroße Wanne und knotete beide Enden der Schnur an den verchromten Armaturen fest. Das war zwar nicht unbedingt nötig, aber so behielt Siegel den Kopf oben, und Kyle konnte ihm ins Gesicht sehen.

»So ein Ding haben Sie wahrscheinlich noch nie gesehen, stimmt’s?«, sagte er und deutete auf die merkwürdige Waffe, die er mitgebracht hatte. »Ich weiß, dass Sie schon eine ganze Weile untergetaucht sind, aber eines können Sie mir glauben: Die Dinger, die werden noch von sich reden machen.«

Das Gerät sah aus wie eine riesige Wasserpistole, und im Grunde genommen war es das ja auch. Normale Elektroschocker hielten dreißig Sekunden lang durch, maximal. Aber dieses Schätzchen ließ einfach nicht nach, dank des Zehn-Liter-Tankrucksacks, den er sich auf den Rücken geschnallt hatte.

»Was … was wollen Sie?«, presste Siegel schließlich als Reaktion auf diesen ganzen Wahnsinn hervor.

Kyle holte eine kleine Digitalkamera aus der Tasche und fing an, Fotos zu machen. Frontalansicht, linkes Profil, rechtes Profil.

»Ich weiß, wer Sie sind, Agent Siegel. Nehmen wir das einfach als Ausgangspunkt, okay?«

Verwirrung zeigte sich auf dem Gesicht des Mannes. Dann Angst. »O Gott, das muss alles ein furchtbarer Irrtum sein. Ich heiße Ivan Schimmel!«

»Nein«, sagte Kyle und fotografierte munter drauf los – Augenbrauen, Nase, Kinn. »Sie sind Max Siegel, und Sie arbeiten für das FBI. Seit sechsundzwanzig Monaten sind Sie im verdeckten Einsatz. Sie haben sich in das Buenez-Kartell eingeschlichen und sich langsam emporgearbeitet, bis man Ihnen die Abwicklung von Lieferungen anvertraut hat.

Und jetzt, während alle Welt nach Kolumbien schaut, schmuggeln Sie Heroin von Phuket und Bangkok nach Miami.«

Er ließ die Kamera sinken und blickte Siegel in die Augen. »Die Relativierung jeglicher Moral will ich in diesem Zusammenhang einmal außer Acht lassen. Das große Ziel ist ja letztendlich die spektakuläre Verhaftung am Schluss. Hab ich nicht recht, Agent Siegel?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«, schrie der Angesprochene. »Hier, bitte! Sehen Sie in meiner Brieftasche nach!« Er hatte angefangen, sich zu wehren, aber ein weiterer Hochspannungsstoß machte dem ein schnelles Ende. Der Strom legte vor allem die motorischen und die Sinnesnerven lahm. Da spielte es auch keine Rolle, wie viel Schmerz Siegel ertragen konnte. Und die Munition, wenn man es so nennen wollte, lief durch den Abfluss direkt in die Biscayne Bay.

»Ich denke, ich kann darüber hinwegsehen, dass Sie mich nicht erkannt haben«, fuhr Kyle fort. »Haben Sie den Namen ›Kyle Craig‹ vielleicht schon einmal gehört? Oder auch das Superhirn? So hat man mich früher genannt, im großen Puzzle-Palast in Washington. Um genau zu sein, da habe ich sogar einmal gearbeitet. Vor langer Zeit.«

Eine Erkenntnis blitzte in Siegels Blick auf und verschwand sofort wieder – nicht, dass Kyle irgendeine Bestätigung gebraucht hätte. Seine Fähigkeiten als Kundschafter waren nach wie vor ohne Fehl und Tadel.

Aber dieser Max Siegel war auch ein Profi, genau wie er. Er würde sein Spiel jetzt nicht aufgeben, gerade jetzt nicht. »Bitte«, blubberte er, nachdem er die Stimme wiedergefunden hatte. »Was soll das denn? Wer sind Sie? Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.«

»Einfach alles, Max. Jede noch so kleine Einzelheit.«

Kyle machte noch ein halbes Dutzend Fotos und steckte die Kamera dann wieder ein. »Sie sind, ehrlich gesagt, ein Opfer Ihrer eigenen, ausgezeichneten Arbeit geworden, falls Ihnen das ein Trost sein kann. Niemand weiß, dass Sie hier unten sind, nicht einmal die FBI-Niederlassung vor Ort. Darum habe ich Sie ausgesucht, unter all den Agenten in den gesamten Vereinigten Staaten. Sie, Max. Können Sie sich vorstellen, warum?«

Während dieser Sätze hatte seine Stimme eine andere Färbung bekommen. Die Aussprache klang jetzt nasaler und enthielt die gleiche Andeutung eines Brooklyn-Akzents wie die des echten Max Siegel.

»Das schaffen Sie niemals! Sie sind doch wahnsinnig!«, brüllte Siegel ihn an. »Sie sind total durchgeknallt!«

»In gewisser Hinsicht mag das sogar zutreffen«, erwiderte Kyle. »Aber darüber hinaus bin ich auch der brillanteste Hurensohn, dessen Bekanntschaft Sie jemals gemacht haben dürften.« Dann drückte er noch ein letztes Mal auf den Abzug und nahm den Finger einfach nicht mehr weg.

Siegel wälzte sich in stummer Qual in der Badewanne hin und her. Irgendwann erstickte er schließlich an seiner eigenen Zunge. Kyle sah zu, beobachtete aufmerksam jedes Detail bis ganz zum Schluss, betrachtete sein Studienobjekt, bis es nichts mehr zu lernen gab.

»Hoffen wir mal, dass es funktioniert«, sagte er dann. »Wäre doch schade, wenn Sie ganz umsonst gestorben wären, Mr. Siegel.«

2

Zweiundzwanzig Tage später bezahlte ein Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Max Siegel besaß, seine Rechnung im Hotel Meliá Habana, gelegen im vornehmen Stadtteil Miramar von Havanna auf Kuba. Hier gab es genauso viele Medizintouristen wie Taschendiebe, daher zog der breitschultrige Mann im Leinenanzug auf dem Weg durch das Foyer keinerlei neugierige Blicke auf sich, trotz seiner blau unterlaufenen Augen und den Verbänden über Nase und Ohren.

Er unterzeichnete die Rechnung mit einer perfekt gefälschten Unterschrift und veranlasste so, dass Max Siegels nagelneue American-Express-Karte mit dem Betrag belastet wurde. Die Operationen waren bereits bezahlt worden, in bar.

Vom Hotel nahm er sich ein Taxi quer durch die Stadt in Dr. Cruz’ Praxis, die hübsch versteckt in einer der endlosen, neoklassizistischen Arkaden der Stadt lag. Dort befand sich eine komplett ausgestattete, moderne Klinik, die jeden teuren Schönheitschirurgen in Miami oder Palm Beach stolz gemacht hätte.

»Ich muss schon sagen, Señor Siegel, ich bin sehr zufrieden.« Die Stimme des Doktors klang sanft, während er die letzten Verbände abnahm. »Das ist eine der besten Arbeiten, die ich jemals abgeliefert habe, wenn ich das sagen darf.« Er wirkte sehr gewissenhaft, aber gleichzeitig auch knapp und effizient – professionell eben. Kein Mensch konnte ahnen, dass er ethische und moralische Grenzen genauso wenig als Hindernis betrachtete wie die Haut und die Knochen seiner Patienten.

Dr. Cruz hatte in kurzen Abständen mehrere Operationen durchgeführt. Die ganze Prozedur hätte anderswo vermutlich Monate oder gar Jahre in Anspruch genommen. Blepharoplastiken zur Straffung der Augenlider, eine Nasenkorrektur genau nach Vorlage, Haut- und Gewebestraffungen rund um das Nasenbein, Implantate in Wangenknochen und am Kinn, eine zusätzliche Vergrößerung des Kinns durch eine hufeisenförmige Knochentransplantation, kleine Silikonkissen zur Betonung der Augenbrauen und, zum Abschluss, ein hübsches kleines Grübchen im Kinn, genau wie bei Max Siegel.

Auf Bitten des Patienten waren keinerlei digitale Aufnahmen gemacht worden, weder vor noch nach dem Eingriff. Gegen ein angemessenes Entgelt hatte Dr. Cruz mehr als bereitwillig seiner Bitte entsprochen, sich ausschließlich an einigen stark vergrößerten Fotografien zu orientieren, keine weiteren Fragen zu stellen, kein Interesse an biophysischen Einzelheiten zu zeigen.

Jetzt nahm er den großen Handspiegel und hob ihn hoch, damit Kyle sich darin betrachten konnte. Der Effekt war umwerfend. Vor allem die Implantate hatten ein wahres Wunder der Verwandlung vollbracht.

Das war Max – nicht Kyle –, der ihn da aus dem Spiegel heraus anlächelte. Er spürte ein leichtes Stechen in den Mundwinkeln, die sich irgendwie anders bewegten als zuvor. Um ehrlich zu sein, er erkannte sich überhaupt nicht wieder. Es war frappierend. Er hatte sich schon in der Vergangenheit immer wieder verkleidet, war einmal mithilfe außerordentlich kostspieliger Gesichtsprothesen aus dem Gefängnis entkommen. Aber im Vergleich zu dem hier war alles andere Kleinkram gewesen.

»Wie lange wird man die blauen Flecken noch sehen können?«, wollte er wissen. »Und die Schwellungen rund um die Augen?«

Cruz reichte ihm eine Mappe, in der alle Maßnahmen für die Zeit der Rekonvaleszenz aufgeführt waren. »Wenn Sie sich die nötige Ruhe gönnen, dann müssten Sie in sieben bis zehn Tagen wieder völlig normal aussehen.«

Die übrigen notwendigen Veränderungen konnte er alleine bewerkstelligen – Haare färben und militärisch kurz schneiden, dazu ein paar einfache dunkle Kontaktlinsen. Wenn die ganze Sache überhaupt einen Haken hatte, dann den, dass Kyle Craig so viel besser ausgesehen hatte als Max Siegel.

Aber scheiß drauf. Er musste das große Ganze im Auge behalten. Wenn er wollte, dann wurde er beim nächsten Mal eben Brad Pitt.

In Hochstimmung verließ er die Klinik und nahm sich ein Taxi zum Internationalen Flughafen José Martí. Dort bestieg er ein Flugzeug nach Miami und flog noch am selben Nachmittag weiter nach Washington, D. C. Zum krönenden Höhepunkt.

Seine Gedanken kreisten mittlerweile fast nur noch um ein einziges Bild: das Zusammentreffen mit seinem alten Freund und gelegentlichen Partner Alex Cross. Hatte Alex womöglich vergessen, welches Versprechen Kyle ihm im Lauf der Jahre immer wieder gegeben hatte? Das erschien ihm fast unmöglich. Aber war Cross in der Zwischenzeit vielleicht ein bisschen selbstzufrieden geworden? Schon eher. So oder so, der »große« Alex Cross würde sterben, und zwar qualvoll. Er würde Schmerzen spüren, aber darüber hinaus noch etwas anderes: tiefes Bedauern. Ohne Zweifel ein Finale, auf das sich zu warten lohnte.

Und in der Zwischenzeit würde Kyle sich ein bisschen Vergnügen gönnen. Schließlich wusste er als der neue, verbesserte Max Siegel besser als jeder andere, dass es mehr als nur einen Weg gab, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen.

Erstes Buch

SCHÜTZE BEREIT

1

Schon wieder war ein Gullydeckel in Georgetown aufgrund einer unterirdischen Explosion fast fünfzehn Meter hoch in die Luft geschleudert worden. Da war eine seltsame, kleine Epidemie im Gang, während die überalterte Infrastruktur der Stadt langsam, aber sicher die kritische Masse erreichte … oder etwas in der Art.

Mit der Zeit waren die unterirdischen Stromleitungen mürbe geworden und hatten angefangen zu schmoren, während gleichzeitig entflammbares Gas in die Hohlräume unter den Straßen eingedrungen war. Irgendwann – und das geschah immer häufiger in diesen Tagen – entstand dann zwischen den entblößten Stromkabeln ein Lichtbogen, der einen Feuerball durch die Kanalisation trieb und die nächstgelegene gusseiserne Hundertfünfzigkiloscheibe in den Himmel jagte.

Genau solche Ereignisse, durchgeknallt und irgendwie auch beängstigend, waren der Stoff, für den Denny und Mitch lebten. Jeden Nachmittag schnappten sie sich ihre Zeitungen und schlurften rüber in die Bibliothek, um auf der Webseite des District Department of Transportation – DDOT – nachzusehen, wo der Berufsverkehr gerade am dichtesten war. Verstopfte Straßen, das war ihr Lebenselixier.

Selbst an einem normalen Tag machte die Key Bridge ihrem Spitznamen »The Car Strangled Spanner« alle Ehre, aber heute glich die auf die Brücke führende M-Street einer Mischung aus Parkplatz und Zirkus. Denny arbeitete sich auf dem Mittelstreifen entlang, und Mitch nahm die Außenbahn.

»True Press, nur ein Dollar. Unterstützt die Obdachlosen.«

»Jesus liebt dich. Hilfst du einem Obdachlosen?«

Die beiden waren ein seltsames Paar – Denny, ein weit über eins achtzig großer Weißer mit schlechten Zähnen und einem Stoppelbart, der nicht über sein fliehendes Kinn hinwegtäuschen konnte, und dazu Mitch mit seinem jungenhaften, schwarzen Gesicht, dem kräftigen, aber nicht einmal einen Meter siebzig großen Körper und den ebenfalls ziemlich kleinen Rastalöckchen auf dem Kopf.

»Diese Geschichte hier, das ist doch wirklich die perfekte Metapher, findest du nicht?«, sagte Denny gerade. Sie sprachen über die Wagendächer hinweg miteinander, beziehungsweise … Denny sprach, während Mitch der Kundschaft rechtschaffenes Bemühen vorgaukelte.

»Unter der Erde, da wo niemand hinsieht, weil’s da sowieso bloß Ratten und Scheiße gibt, und wen interessiert das schon, da baut sich Druck auf, stimmt’s? Und dann, eines Tages …« Denny blies die Backen auf und machte ein Geräusch wie bei einer Atombombenexplosion. »Und jetzt muss man hinschauen, weil jetzt sind die Ratten und die Scheiße und das alles einfach überall, und alle wollen wissen, wieso eigentlich niemand was dagegen unternommen hat. Ich meine, wenn das nicht eins zu eins eine Beschreibung von Washington ist, dann weiß ich auch nicht.«

»Eins zu eins, Bruder. Eins zu eins, nich zwei zu eins«, erwiderte Mitch und lachte über seinen eigenen blöden Witz. Auf seinem verblichenen T-Shirt stand IRAK: WENN DU NICHT DA WARST, DANN HALT DIE KLAPPE! Er trug die gleiche sackartige Tarnmusterhose wie Denny, bloß dass seine auf Höhe der Waden abgeschnitten war.

Denny hatte sein T-Shirt bis über die Schultern hochgezogen und stellte seinen halbwegs anständigen Waschbrettbauch zur Schau. Es konnte nie schaden, zu zeigen, was man hatte, und sein Gesicht war nicht gerade seine stärkste Waffe. »Das ist der American Way of Life«, machte er weiter, so laut, dass alle, die das Fenster offen hatten, es hören konnten. »Immer weiter das machen, was man immer gemacht hat, damit man immer weiter das kriegt, was man immer gekriegt hat. Hab ich recht?«, wandte er sich an eine attraktive Geschäftsfrau mit Anzug in einem BMW. Sie lächelte ihn tatsächlich an und kaufte ihm eine Zeitung ab. »Gott segne Sie, Miss. Genau das hab ich gemeint, meine Damen und Herren!«

Er machte ununterbrochen weiter, laberte die Leute zu und schaffte, dass immer mehr Hände mit Kleingeld zu den Fenstern herausgestreckt wurden.

»He, Denny.« Mitch deutete mit dem Kinn auf zwei Verkehrspolizisten, die von der Vierunddreißigsten her auf sie zukamen. »Ich glaub, die beiden da ham nich allzu viel für uns übrig.«

Noch bevor die beiden Polizisten etwas sagen konnten, legte Denny los. »Betteln ist nicht verboten, meine Herren. Nur in öffentlichen Parks, und als ich das letzte Mal nachgesehen hab, da war die M-Street noch kein Park!«

Einer der Beamten deutete auf das umgebende Verkehrschaos, auf die Werkstattwagen der Strom- und Gasversorgungsunternehmen und auf die Feuerwehrautos. »Du willst mich wohl verscheißern, oder? Los jetzt, verschwindet von hier.«

»Ach, nun kommen Sie schon, Mann, wollen Sie zwei obdachlose Kriegsveteranen wirklich daran hindern, sich auf ehrliche Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen?«

»Warst du schon mal im Irak, Mann?«, fügte Mitch hinzu. Jetzt fingen die ersten Leute an, sie anzustarren.

»Ihr habt gehört, was mein Kollege gesagt hat«, erwiderte der zweite Polizist. »Und jetzt verzieht euch. Sofort!«

»He, Mann, bloß weil du ein Arschloch hast, heißt das noch lange nicht, dass du dich auch wie eins benehmen musst«, sagte Denny und erntete ein paar Lacher. Er spürte, wie das unfreiwillige Publikum langsam auf seine Seite umschwenkte.

Plötzlich wurde es handgreiflich. Mitch ließ sich nur sehr ungern anfassen, und der Bulle, der es probiert hatte, landete zwischen den Autos auf dem Arsch. Der andere legte Denny die Hand auf die Schulter, aber Denny schlug sie blitzartig weg.

Zeit zu verschwinden.

Er glitt über die Motorhaube eines gelben Taxis und lief in Richtung Prospect Street. Mitch war direkt hinter ihm.

»Stehen bleiben!«, rief ihnen einer der Polizisten nach.

Mitch rannte weiter, aber Denny drehte sich um. Jetzt befanden sich mehrere Autos zwischen ihnen und den Bullen. »Was willst du denn machen? Einen obdachlosen Kriegsveteranen erschießen, mitten auf der Straße?« Er breitete die Arme aus. »Na los, Mann. Leg mich um. Damit sparst du dem Staat ein paar Kröten.«

Die Leute fingen an zu hupen, und ein paar riefen zu den geöffneten Wagenfenstern heraus.

»Lass den Kerl doch in Ruhe, Mann!«

»Unterstützt unsere Truppen!«

Denny lächelte, salutierte kurz und knapp mit dem Mittelfinger und rannte Mitch nach. Eine Sekunde später liefen sie die Dreiunddreißigste Straße entlang und waren bald nicht mehr zu sehen.

2

Als sie bei Dennys steinaltem Chevrolet Suburban ankamen, der im Lot 9 neben der Lauinger Library auf dem Unigelände in Georgetown abgestellt war, lachten sie noch immer.

»Das war der Hammer!« Schweißtropfen glänzten auf Mitchs teigigem Gesicht, aber sein Atem ging unverändert ruhig. Er war der Typ, bei dem auch die Muskeln eher wie Fett aussahen. »›Was willst du denn machen?‹«, ahmte er Denny nach. »›Einen obdachlosen Kriegsveteranen erschießen, mitten auf der Straße?‹«

»Die True Press, ein Dollar«, erwiderte Denny. »Mittagessen im Taco Bell, drei Dollar. Das Gesicht von dem Bullen, als du ihn auf den Arsch gesetzt hast? Unbezahlbar. Schade, dass ich kein Foto gemacht habe.«

Er zog einen orangenen Briefumschlag unter dem Scheibenwischer hervor und stieg auf der Fahrerseite ein. Der Wagen stank immer noch nach den vielen Zigaretten und den Burritos vom Abend zuvor. Auf der einen Seite der Rückbank, gleich neben einem Plastiksack mit Pfanddosen, befand sich ein Haufen aus zusammengeknüllten Kissen und Decken.

Dahinter, unter einem Stapel mit zusammengefalteten Kartons, ein paar alten Teppichstücken und einem doppelten Sperrholzboden, lagen zwei Walther PPS Neun-Millimeter-Pistolen, eine halbautomatische M21 und ein M110-Scharfschützengewehr in Militärausführung, dazu eine Infrarot-Zielvorrichtung, ein Fernrohr, ein Satz Werkzeug zur Reinigung der Waffen und etliche Schachteln mit Munition. Das Ganze war in eine dicke Plane gehüllt und mehrfach mit Bungee-Seilen umwickelt worden.

»Du hast deine Sache gut gemacht, Mitchie«, sagte Denny. »Echt gut. Bist die ganze Zeit über schön cool geblieben.«

»Ach was«, meinte Mitch und leerte den Inhalt seiner Taschen auf das Plastiktablett zwischen den beiden Vordersitzen. »Ich bleib doch immer cool, Denny. Ich bin fast so was wie ’n Eisschrank.«

Denny zählte die Tageseinnahmen. Fünfundvierzig … nicht schlecht für so eine kurze Schicht. Er gab Mitch zehn Ein-Dollar-Scheine und ein paar Münzen.

»Und, was meinst du, Denny? Bin ich jetzt so weit? Also, ich finde, ich bin so weit.«

Denny ließ sich gegen die Sitzlehne sinken und zündete einen der halb gerauchten Stummel aus dem Aschenbecher an. Den gab er Mitch und steckte sich selbst einen zweiten an. Und wo er gerade dabei war, nahm er den orangefarbenen Umschlag mit dem Strafzettel, zündete ihn ebenfalls an und ließ ihn brennend auf den Betonboden fallen.

»Ja, Mitch, ich glaube, du bist so weit. Die Frage ist: Sind sie auch so weit?«

Mitchs Knie arbeiteten wie Presslufthämmer. »Wann fangen wir an? Heute Abend? Was is mit heute Abend? Wie sieht’s aus, Denny, hmm, wie sieht’s aus?«

Denny lehnte sich zurück und zuckte die Achseln. »Du solltest Ruhe und Frieden genießen, solange es noch geht, weil du nämlich früh genug schweinemäßig berühmt sein wirst.« Er stieß einen Rauchring aus und dann noch einen, der direkt durch den ersten hindurchschwebte. »Bist du bereit, Mitch? Bereit, berühmt zu werden?«

Mitch blickte zum Fenster hinaus und beobachtete ein paar süße Schülerinnen mit kurzen Röckchen, die den Parkplatz überquerten. Seine Knie trommelten immer noch einen Wirbel nach dem anderen. »Ich bin bereit, ich will endlich loslegen, das will ich.«

»Braver Junge. Und wie lautet unsere Mission, Mitchie?«

»In diesem Saustall in Washington endlich Ordnung schaffen, so, wie die Politiker immer sagen.«

»Ganz genau. Die reden darüber …«

»Aber wir unternehmen was. Ganz genau. Ganz genau.«

Denny streckte die Faust aus und Mitch stieß mit seiner dagegen, dann ließ er den Motor an. Er stieß zurück, ließ sich viel Zeit, damit sie die Mädchen noch einmal ganz ausführlich von hinten betrachten konnten.

»Apropos lecker«, sagte er, und Mitch lachte. »Wo willst du essen? Wir haben jede Menge Scheine im Portemonnaie.«

»Taco Bell, Mann«, entgegnete Mitch, ohne eine Sekunde nachdenken zu müssen.

Denny legte den ersten Gang ein und fuhr los. »Warum überrascht mich das kein bisschen?«

3

Mein Leben drehte sich in diesen Tagen vor allem um Bree – Brianna Stone, auch bekannt als »der Felsblock« des Metropolitan Police Departments. Und, ja, es stimmte in jeder Beziehung: Sie war verlässlich, tiefschürfend, wundervoll und so sehr ein Teil meines Lebens geworden, dass es ohne sie einfach nicht mehr vorstellbar war. Ich fühlte mich so ausgeglichen und normal wie seit Jahren nicht mehr.

Natürlich war es kein Nachteil, dass es im Morddezernat der Metro Police in letzter Zeit so ruhig zuging. Als Polizeibeamter fragt man sich in solchen Zeiten automatisch, wann wohl die nächste Steinlawine auf einen niederprasselt, aber so trafen Bree und ich uns an diesem Donnerstag zu einem glatt zweistündigen Mittagessen. Normalerweise sehen wir uns tagsüber nur dann, wenn wir gemeinsam an einem Mordfall arbeiten.

Wir saßen im Hinterzimmer von Ben’s Chili Bowl, gleich unter den Autogrammkarten der Stars und Sternchen. Ben’s ist vielleicht nicht gerade das Weltzentrum der Romantik, aber trotzdem eine Institution in Washington. Allein die geräucherten Würstchen, eine Spezialität des Hauses, sind den Besuch wert.

»Weißt du eigentlich, wie wir seit Neuestem im Büro genannt werden?«, sagte Bree, nachdem sie die Hälfte ihres Kaffee-Milchshakes getrunken hatte. »Breelex.«

»Breelex? Wie Brad und Angelina? Das ist ja grauenhaft.«

Sie lachte, konnte nicht einmal so etwas wirklich ernst nehmen. »Wie gesagt: Polizisten haben einfach keine Fantasie.«

»Hmm.« Ich legte ihr unter dem Tisch sehr sanft eine Hand aufs Bein. »Es gibt selbstverständlich auch Ausnahmen.«

»Selbstverständlich.«

Alles andere musste warten, und zwar nicht nur, weil die Toiletten in Ben’s Chili Bowl unter keinen Umständen infrage kamen. Denn wir hatten heute tatsächlich noch einen sehr wichtigen Termin.

Nach dem Essen schlenderten wir Hand in Hand durch die U-Street bis zu Sharita Williams’ Schmuckgeschäft. Sharita war eine alte Freundin aus der Highschoolzeit und darüber hinaus eine wahre Künstlerin bei der Aufarbeitung antiker Schmuckstücke.

Als wir ihren Laden betraten, bimmelten einige winzige Glöckchen über unseren Köpfen.

»Na, ihr seht aber wirklich schwer verliebt aus.« Sharita stand hinter dem Tresen und lächelte uns an.

»Das liegt daran, dass wir es sind, Sharita«, erwiderte ich. »Und ich kann es wirklich wärmstens weiterempfehlen.«

»Beschaff mir einen guten Mann, Alex, und ich bin sofort dabei.«

Sie wusste, warum wir hier waren, und holte eine kleine schwarze Samtschachtel unter der Ladentheke hervor. »Es ist wirklich sehr schön geworden«, sagte sie. »Ein ganz wundervolles Stück.«

Der Ring hatte meiner Großmuter gehört, Nana Mama, mit den unfassbar kleinen Händen. Wir hatten ihn ändern lassen, damit er an Brees Finger passte. Er bestand aus einer Jugendstilfassung in Platin mit drei Diamanten, also absolut perfekt aus meiner Sicht – ein Diamant für jedes Kind. Es mag sich kitschig anhören, aber ich hatte das Gefühl, als ob dieser Ring alles verkörperte, was Bree und mir wichtig war. Das Ganze war schließlich mehr als nur wir beide, und ich fühlte mich wie der glücklichste Mann der Welt.

»Trägt er sich gut?«, erkundigte sich Sharita, nachdem Bree ihn übergestreift hatte. Die beiden konnten ihren Blick nicht von dem Ring nehmen, und ich meinen nicht von Bree.

»Ja, sehr gut«, sagte sie und drückte mir die Hand. »Das ist der schönste Ring, den ich je gesehen habe.«

4

Am späten Nachmittag ließ ich mich noch einmal im Daly Building sehen. Letztendlich spielte es ja keine Rolle, wann ich mich um den ganzen Papierkram kümmerte, der unaufhörlich meinen Schreibtisch zu überfluten schien.

Als ich den Bereitschaftsraum im Dezernat für Kapitalverbrechen betrat, kam mir Chief Perkins entgegen, begleitet von einem Unbekannten.

»Alex«, sagte er. »Gut. Dann kann ich mir einen Weg sparen. Würden Sie uns begleiten?«

Da war offensichtlich etwas im Gang, und zwar nichts Gutes. Wenn der Chief jemanden sprechen will, dann kommt dieser Jemand zu ihm und nicht andersherum. Ich machte auf dem Absatz kehrt, und wir gingen zurück zum Fahrstuhl.

»Alex, ich möchte Ihnen Jim Heekin vorstellen. Jim ist der neue stellvertretende Leiter des Geheimdienstdirektorats drüben beim FBI.«

Wir gaben einander die Hand. Heekin sagte: »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Detective Cross. Ihr Wechsel war ein großer Verlust für das FBI, aber ein Gewinn für die Metro Police.«

»O je«, erwiderte ich. »Schmeicheleien sind immer ein schlechtes Zeichen.«

Wir lachten, aber in meinen Worten steckte mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Wer sich im Bureau einen Chefsessel ergattert hatte, führte meist zunächst einmal alle möglichen Neuerungen ein, einfach nur, damit alle merkten, dass jetzt ein frischer Wind wehte. Die Frage war: Was hatte Heekins neuer Job mit mir zu tun?

Nachdem wir uns in Perkins’ großzügigem Büro niedergelassen hatten, wurde Heekin präziser.

»Kann ich davon ausgehen, dass Sie mit unseren FIGs vertraut sind?«, wandte er sich an mich.

»Die Field Intelligence Groups«, sagte ich. »Ich habe bis jetzt noch nie direkt mit einer zu tun gehabt, aber natürlich weiß ich, was das ist.« Die FIGs waren als Schaltstellen zwischen dem FBI und anderen Strafverfolgungsbehörden eingerichtet worden, um einen besseren Informationsfluss zu gewährleisten und die Ermittlungen in bestimmten Bereichen zu bündeln. Auf dem Papier hörte sich das alles ganz vernünftig an, aber es gab auch Kritiker, die darin nur einen weiteren Schritt einer Entwicklung sahen, die mit dem elften September begonnen hatte: dass nämlich das FBI sämtliche Verantwortung für die Verbrechensbekämpfung im Land auf andere abzuwälzen versuchte.

Heekin fuhr fort: »Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist die Gruppe in Washington mit allen Polizeidienststellen in der näheren Umgebung vernetzt, also auch mit der Metropolitan Police. Außerdem natürlich mit der National Security Agency, dem Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives, dem Geheimdienst … mit allen. Wir setzen uns regelmäßig einmal im Monat zusammen, und wenn es die Situation erfordert, natürlich auch öfter.«

So langsam kam ich mir vor wie bei einem Verkaufsgespräch, und ich hatte auch schon eine konkrete Ahnung, was er mir verkaufen wollte.

»Im Allgemeinen werden die einzelnen Polizeidienststellen in der FIG durch den jeweiligen Chief vertreten«, ging seine gleichmäßige, wohlbemessene Ansprache weiter, »aber wir hätten als Vertreter der Metro Police gerne Sie mit im Boot.«

Ich warf Perkins einen Blick zu. Er meinte achselzuckend: »Was soll ich sagen, Alex? Ich habe einfach viel zu viel zu tun.«

»Lassen Sie sich keinen Bären aufbinden«, meinte Heekin. »Ich habe mich im Vorfeld schon mit dem Chief und davor mit FBI-Direktor Burns beraten. Und jedes Mal ist nur ein einziger Name gefallen, nämlich Ihrer.«

»Danke«, sagte ich. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich bin hier eigentlich ganz zufrieden.«

»Ja, ganz genau. Das Dezernat für Kapitalverbrechen ist die perfekte Stelle für so eine Position. Das wird Ihnen die Arbeit in jedem Fall erleichtern.«

Jetzt wurde mir klar, dass es sich keineswegs um ein Angebot handelte, sondern um eine Anweisung. Als ich zur Polizei zurückgewechselt war, hatte Perkins mir so gut wie jeden Wunsch erfüllt. Jetzt war ich ihm etwas schuldig. Das wussten wir beide, und er wusste, dass ich so etwas nicht einfach ignorierte.

»Aber ich bleibe Detective, das heißt in erster Linie Ermittler. Ich will mich auf keinen Fall an irgend so einen Schreibtisch binden lassen.«

Perkins grinste mich über seinen Schreibtisch hinweg an. Er wirkte irgendwie erleichtert. »Einverstanden. Damit bleiben Sie auch auf der gleichen Gehaltsstufe.«

»Und meine eigenen Fälle haben Vorrang vor allem anderen?«

»Ich glaube nicht, dass wir da Probleme bekommen werden«, meinte Heekin, der sich bereits erhoben hatte. An der Tür gab er mir erneut die Hand. »Meine Gratulation, Detective. Mit Ihrer Karriere geht’s bergauf.«

Ja, genau, dachte ich. Ob ich will oder nicht.

5

Denny ging voraus, und Mitch folgte ihm, wie der geistig zurückgebliebene Lennie in diesem alten Roman von Steinbeck, Von Mäusen und Menschen. »Gleich hier rauf, Kumpel. Na los, nicht einschlafen.«

Das neunte Stockwerk war gleichzeitig das oberste. Plastikfolie hing über den Wandrahmen aus fünf mal zehn Zentimeter dicken Kanthölzern, und der Boden bestand aus ungehobelten Sperrholzplatten. Ein Palettenstapel vor den Fenstern zur Eighteenth Street hin bildete einen idealen Ausguck.

Denny breitete die Plastikplane auf dem Boden aus. Sie setzten ihre Rucksäcke ab. Er legte Mitch eine Hand auf den Rücken und zeigte zur Treppe, die sie gerade eben heraufgekommen waren.

»Erster Fluchtweg«, sagte er, drehte sich dann um neunzig Grad und zeigte auf eine andere Tür. »Zweiter Fluchtweg.« Mitch nickte jedes Mal. »Und wenn wir getrennt werden?«

»Waffe abwischen, fallen lassen, und dann treffen wir uns beim Auto wieder.«

»Bravo, gut so.«

Sie hatten den Ablauf bestimmt schon fünfzig Mal von vorn bis hinten durchgekaut. Ständige Wiederholung, das war das Entscheidende. Mitch besaß alle möglichen ungeschliffenen Talente, aber für das Denken war alleine Denny zuständig.

»Noch Fragen?«, sagte er jetzt. »Dann raus damit, und zwar jetzt. Nachher kräht kein Hahn mehr danach.«

»Näääh«, erwiderte Mitch. Seine Stimme klang matt und geistesabwesend, so wie immer, wenn er sich auf etwas anderes konzentrierte. Er hatte die M110 bereits auf das Zweibein gestützt, den Schalldämpfer aufgeschraubt und war gerade dabei, das Zielfernrohr zu kalibrieren.

Denny setzte seine M21 zusammen und schlang sie über die Schulter, sodass sie sich flach an seinen Rücken schmiegte. Wenn alles nach Plan verlief, würde er sie gar nicht brauchen, aber eine zusätzliche Absicherung war in jedem Fall sinnvoll. Die Walther steckte im Halfter an seinem Oberschenkel.

Mit einer Diamantklinge und einem Kreisglasschneider ritzte er einen perfekten, fünf Zentimeter großen Kreis in die Scheibe und zog ihn anschließend mit einer kleinen Saugglocke heraus. Das Licht der Straßenlaternen drang bis nach oben und spiegelte sich im Fenster.

Während Mitch seine Position einnahm, räumte Denny noch eine Stelle direkt hinter ihm und etwas links versetzt frei. Von dort konnte er Mitch über die Schulter und praktisch direkt den Gewehrlauf entlangblicken. Sogar der Größenunterschied war jetzt zu etwas nütze.

Er holte sein Fernrohr aus dem Koffer. Von hier hatten sie freie Sicht auf den Eingang der Taberna del Alabardero. Durch das Fernrohr mit seiner hundertfachen Vergrößerung konnte Denny praktisch die Schweißporen auf den Gesichtern der Menschen erkennen, die das mächtig angesagte Restaurant betraten und verließen.

»Na, komm, Schweinchen, komm«, flüsterte er. »He, Mitch, weißt du, wie ein Schwein weiß, wann es genug gegessen hat?«

»Keine Ahnung.«

»Wenn es platzt.«

»Der war gut«, gab Mitch zurück. Seine Stimme klang genau so ausdruckslos wie zuvor. Er hatte jetzt seine typische Stellung eingenommen – sah ein bisschen merkwürdig aus, wie er den Arsch rausstreckte und die Ellbogen anwinkelte, aber für ihn war es genau richtig so. Sobald er sich in dieser Haltung befand, rührte er sich nicht mehr vom Fleck, warf keinen einzigen Blick mehr zur Seite, so lange, bis es vorbei war.

Denny machte seine abschließende Kontrolle. Er beobachtete den Dampf, der aus einem Lüftungsgitter auf der gegenüberliegenden Straßenseite drang und steil nach oben zog. Die Lufttemperatur betrug ungefähr fünfzehn Grad Celsius. Alles war bereit.

Jetzt brauchten sie nur noch ein Ziel, und das würde nicht lange auf sich warten lassen.

»Und, seid ihr so weit, du und dein Gerät, Mitchie?«, sagte er.

»Mit meim Gerät leg ich sie alle flach, Denny.«

Er kicherte leise. Mitch war wirklich ein Hammer, absolut der Oberhammer.

6

Gegen 19.35 Uhr hielt ein schwarzer Lincoln Navigator vor der Taberna del Alabardero, einem der Läden, in denen die Promis der Stadt zurzeit bevorzugt ihren Hunger stillten.

Zu den beiden hinteren Türen und zur Beifahrertür stieg jeweils ein Mann aus, während der Fahrer im Wagen blieb. Alle drei trugen dunkle Anzüge und kaum erkennbare Krawatten.

Banker-Krawatten, dachte Denny. So was würde ich nicht mal zu meiner eigenen Beerdigung tragen.

»Die beiden von der Rückbank. Hast du die?«

»Alles klar, Denny.«

Alles war genau berechnet. Der Schusswinkelkompensator würde helfen, die Wirkung der Schwerkraft auf das Geschoss auszugleichen. Aus solch einem Winkel wäre der Schuss sonst unwillkürlich zu hoch gegangen.

Denny beobachtete die Zielpersonen durch sein eigenes Fernrohr. Er saß wirklich auf dem besten Platz. Na ja, auf dem zweibesten. »Schütze bereit?«

»Bereit.«

»Feuer.«

Mitch stieß langsam den Atem aus und gab innerhalb von zwei Sekunden zwei Schüsse ab.

Schmauchspuren hingen in der Luft. Die beiden Männer gingen zu Boden, der eine fiel auf den Bürgersteig, der andere sank an der Eingangstür des Restaurants herab. Es war schon ziemlich spektakulär anzuschauen … zwei perfekte Kopftreffer, zweimal direkt in die Schädelbasis.

Und schon flippten die Leute auf der Straße aus. Der dritte Mann stürzte sich mit einem Kopfsprung zurück ins Auto, während alle anderen wegrannten oder sich niederkauerten und schützend die Hände über die Köpfe hielten.

Sie brauchten keine Angst zu haben. Die Mission war erledigt. Mitch hatte bereits angefangen abzubauen … der Kerl war ja der reinste Formel-1-Mechaniker.

Denny nahm die M21 ab, holte das Magazin heraus und fing an zu packen. Vierzig Sekunden später waren sie auf der Treppe und jagten ins Erdgeschoss hinab.

»He, Mitch, du willst dich nicht irgendwann mal in ein Amt wählen lassen, oder?«

Mitch lachte. »Vielleicht werd ich ja eines Tages Präsident.«

»Das hast du absolut perfekt gemacht da oben. Du kannst stolz auf dich sein.«

»Ich bin auch stolz, Denny. Zwei blöde Arschlöcher weniger. Die können keinen mehr verarschen.«

»Zwei tote Schweine!«

Mitch stieß ein Quieken aus, das ziemlich eindeutig nach Schwein klang, und Denny fiel ein, bis ihre Stimmen durch das leere Treppenhaus hallten. Sie waren regelrecht betrunken von dem reibungslosen Ablauf. Wie im Rausch!

»Und du weißt auch, wer die Helden in dieser Geschichte sind, Mitchie?«, fragte er.

»Wir sind das und niemand sonst, Mann.«

»Aber haarscharf, verdammt noch mal. Wir haben das gemacht, wir ganz alleine. Zwei echte amerikanische Helden aus Fleisch und Blut!«

7

Als wir vor der Taberna del Alabardero ankamen, herrschte das totale Chaos. Das hier war kein gewöhnlicher Anschlag oder Raubüberfall gewesen. So viel war mir klar, noch bevor ich aus dem Wagen ausgestiegen war. Im Radio war von einem Attentat aus großer Distanz die Rede gewesen, von einem Scharfschützen, den niemand gesehen, und Schüssen, die niemand gehört hatte.

Und dann waren da noch die Opfer. Der Kongressabgeordnete Victor Vinton war tot und mit ihm Craig Pilkey, ein bekannter Banken-Lobbyist, der kürzlich sowohl sich selbst als auch Vinton in die Schlagzeilen gebracht hatte. Diese Morde waren ein Skandal im Skandal. So viel zum Thema »Ruhige Zeiten im Morddezernat«.

Gegen beide Toten wurde gegenwärtig wegen des Verdachts der Einflussnahme zugunsten der Finanzindustrie ermittelt. Da war von angeblichen Hinterzimmergeschäften und Wahlkampfspenden die Rede und davon, dass die falschen Leute reich – beziehungsweise noch reicher – wurden, während die bürgerliche Mittelschicht in rekordverdächtiger Zahl ihre Häuser verlor. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass es etliche Menschen gab, die Vinton und Pilkey am liebsten tot sehen wollten. Wahrscheinlich sogar eine ganze Menge.

Trotzdem, das Motiv war im Augenblick nicht die Frage, die mich am meisten beschäftigte. Es war das Vorgehen. Warum die große Entfernung, warum mit einem Gewehr, und wie hatte sich das alles so problemlos bewerkstelligen lassen, mitten auf einer belebten Straße in der Innenstadt?

Die beiden Leichen lagen bereits zugedeckt auf dem Bürgersteig, als ich mit meinem Partner und Kumpel John Sampson bei der Markise vor dem Restaurant eintraf. Die Hauptstadtpolizei war bereits da, das FBI unterwegs. »Im Blickpunkt der Öffentlichkeit« ist in Washington gleichbedeutend mit »Unter dem Druck der Öffentlichkeit«, und die stetig wachsende Anspannung innerhalb des abgesperrten Areals ließ sich fast mit Händen greifen.

Wir entdeckten noch jemanden von uns, Mark Grieco vom Dritten Bezirk, und er brachte uns auf den neuesten Stand. Der Lärm um uns herum war so groß, dass wir brüllen mussten, um einander überhaupt zu verstehen.

»Wie viele Zeugen gibt es?«, wollte Sampson wissen.

»Mindestens ein Dutzend«, meinte Grieco. »Wir haben sie nach drinnen gebeten, aber die sind alle völlig fertig mit den Nerven. Und niemand hat den Schützen gesehen.«

»Was ist mit den Schüssen?«, schrie ich Grieco ins Ohr. »Wissen wir, woher die gekommen sind?«

Er deutete über meine Schulter die Eighteenth Street entlang. »Von da hinten, kaum zu glauben. Die Kollegen sind gerade dabei, das Gebäude zu sichern.«

An der nördlichen Ecke der K-Street, nur wenige Querstraßen entfernt, befand sich ein Haus, das offensichtlich gerade renoviert wurde. Die Fenster waren allesamt dunkel, nur im obersten Stock brannte Licht, und ich erkannte, dass dort Menschen hin und her gingen.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst«, sagte ich. »Wie weit ist das denn entfernt?«

»Gut zweihundert Meter, vielleicht sogar noch mehr«, schätzte Grieco. Wir machten uns zu dritt auf den Weg.

»Sie haben gesagt, dass die Opfer in den Kopf geschossen wurden?«, wollte ich wissen. »Ist das richtig?«

»Ja«, erwiderte Grieco düster. »Voll auf die Zwölf, wenn Sie meine Ausdrucksweise entschuldigen wollen. Da hat jemand genau gewusst, was er tut. Ich hoffe bloß, er hängt nicht noch irgendwo rum und beobachtet uns.«

»Und das richtige Gerät hat er auch gehabt«, sagte ich. »Bei dieser Entfernung.« Wenn er einen Schalldämpfer benutzt hatte, dann war klar, wie der Schütze vollkommen unbemerkt hatte entkommen können.

Ich hörte, wie Sampson vor sich hin murmelte: »Verdammt, die Geschichte kotzt mich jetzt schon an.«

Ich blickte über meine Schulter zurück. Von meinem Standort aus konnte ich nicht einmal mehr das Restaurant sehen, sondern nur noch die rot-blauen Blinklichter, die von den umliegenden Häuserfassaden reflektiert wurden.

Das ganze Vorgehen – die weite Entfernung, der unmögliche Winkel, die Taten an sich, nicht nur einer, sondern zwei perfekte Treffer in einem überdurchschnittlich belebten Umfeld – zeugte von einer außerordentlichen Verwegenheit. Ich glaube, der Schütze wollte, dass wir beeindruckt waren, und das war ich auch – unter durch und durch professionellen Gesichtspunkten.

Aber gleichzeitig machte sich eine schleichende Furcht in meinen Eingeweiden breit. Diese Steinlawine, an die ich immer wieder gedacht hatte, war gerade eben über uns hereingebrochen.

8

Zu Hause angekommen schwang ich meine langen Beine über die zweite und dritte Stufe der Eingangstreppe hinweg, damit sie nicht quietschten. Es war kurz nach halb zwei Uhr morgens, aber in der Küche roch es immer noch nach Schokoladenkeksen. Sie waren für Jannie, für irgendeine Schulveranstaltung. Ich war zufrieden mit mir, weil ich immerhin wusste, dass sie eine Veranstaltung hatte, gab mir aber gleichzeitig etliche Punkte Abzug, weil ich nicht wusste, was es genau war.

Ich stibitzte mir einen Keks – ganz wunderbar, mit einem Hauch Zimt in der Schokolade – und zog die Schuhe aus, bevor ich mich nach oben schlich.

Als ich im Flur stand, sah ich, dass bei Ali immer noch Licht brannte, und als ich ins Zimmer schaute, stellte ich fest, dass Bree neben seinem Bett eingeschlafen war. Er hatte heute ein bisschen Fieber gehabt, und sie hatte den alten Ledersessel alias Wäscheständer aus unserem Schlafzimmer in sein Zimmer geschoben.

Ein Buch aus der Leihbibliothek, Die Maus und das Motorrad, lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß.

Alis Stirn war zwar kühl, aber er hatte sich bloßgestrampelt. Sein Kuschelbär namens Truck lag kopfüber auf dem Fußboden. Ich deckte sie alle beide wieder zu.

Als ich Bree das Buch aus dem Schoß nehmen wollte, hielt sie es fest.

»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«, flüsterte ich ihr ins Ohr.

Sie lächelte, ohne aufzuwachen, als hätte ich mich in einen ihrer Träume eingeschlichen. Ich fühlte mich wohl dort, also schob ich meine Arme unter ihre Knie und Achseln und trug sie hinüber in unser Bett.

Liebend gerne hätte ich ihr die Schlafanzughose und das T-Shirt und, wo ich schon dabei war, auch noch alles andere ausgezogen, aber sie lag so wunderschön und friedlich da, dass ich es einfach nicht übers Herz brachte, irgendetwas zu verändern. Stattdessen legte ich mich neben sie und sah ihr eine ganze Weile beim Schlafen zu. Sehr schön.

Aber irgendwann ließ es sich nicht mehr vermeiden. Meine Gedanken wanderten zurück zu meinem Fall, zurück zu dem, was ich vorhin gesehen hatte.

Und damit ließen sich auch die Gedanken an jene düsteren Tage im Jahr 2002 nicht mehr wegschieben, als wir das letzte Mal etwas Vergleichbares mitgemacht hatten. Das Wort »Heckenschütze« ruft bei vielen Menschen in Washington, mir selbst eingeschlossen, nach wie vor sehr unangenehme Erinnerungen hervor. Aber gleichzeitig gab es in diesem Fall hier ein paar ziemlich furchterregende Unterschiede, beispielsweise die Fähigkeiten dieses Distanzschützen. Und es kam mir irgendwie kalkulierter vor. Aber dann, Gott sei Dank, schlief ich ein. Allerdings zählte ich Leichen und keine Schäfchen.

9

Die Washington Post lag bereits ausgebreitet vor Nana Mama auf dem Tisch, als ich um 5.30 Uhr die Treppe nach unten kam. Auf der ersten Seite, in der oberen Hälfte, war zu lesen: »Attentat in der Innenstadt. Heckenschütze ermordet zwei Menschen.«

Sie tippte mit ihrem knochigen Zeigefinger darauf, als könnte ich das übersehen.

»Ich will nicht behaupten, dass irgendjemand den Tod verdient hat, ganz egal, wie habgierig er ist«, sagte sie geradeheraus. »Das ist wirklich eine schreckliche Geschichte. Aber diese beiden Männer waren alles andere als Engel, Alex. Die Leute werden eine gewisse Befriedigung empfinden, und damit musst du klarkommen.«

»Und auch dir einen wunderschönen guten Morgen.«

Ich beugte mich zu ihr hinunter, gab ihr einen Kuss auf die Wange und legte automatisch meine Hand auf die Teetasse, die sie vor sich stehen hatte. Eine kalte Tasse bedeutete, dass sie schon lange wach war, und diese hier fühlte sich kühl an. Ich nörgle nur ungern an ihr herum, aber ich versuche eben auch, darauf zu achten, dass sie ausreichend Ruhe bekommt, vor allem seit ihrem Herzinfarkt. Nana wirkt zwar alles andere als zerbrechlich, aber sie ist immerhin schon über neunzig.

Ich goss Kaffee in meinen Thermosbecher und setzte mich, um einen Blick in die Zeitung zu werfen. Es ist grundsätzlich interessant zu erfahren, was ein Killer über sich selbst zu lesen bekommt. Der Artikel war mit vorgefassten Meinungen gespickt und an ein paar entscheidenden Stellen schlicht und einfach falsch. Wenn angeblich kluge Menschen dämliches Zeug verfassen, schaue ich weg, und auch das hier war ein Artikel, der unbedingt ignoriert gehörte.