Vorglühen - Jan Müller - E-Book
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Vorglühen E-Book

Jan Müller

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Beschreibung

Aus der Provinz nach St. Pauli. Ein Roman, so intensiv wie eine durchfeierte Nacht.  Albert hatte kaum das geleerte Schnapsglas auf den Tresen gestellt, als Gernot mit schiefer Brille auf ihn zu stob und rief: »Weiter, weiter! Wir müssen weiter!«  Gerade aus der oberbergischen Provinz nach Hamburg gezogen, findet sich Albert Bremer mitten im Irrsinn einer Nacht auf St. Pauli wieder. Er trinkt Großmutters Aprikosengeist und Unmengen von Bier, trifft die tollste Frau und die skurrilsten Typen, die er je gesehen hat. Und im Laufe weniger Stunden findet er Freunde, ein WG-Zimmer und eine Band.  Vorglühen erzählt von Hamburg 1994 und von der Musik, die nach diesem Sommer ganz Deutschland begeistern wird. Vom Aufbruch aus der Provinz in die Großstadt, von alkoholgeschwängerten Nächten und Tagen, von Rausch und Begeisterung, von Freundschaft, Liebe, Verrat und Enttäuschung. Vom elektrisierenden Gefühl, an dem Ort zu sein, an dem gerade etwas ganz Großes entsteht.  

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Vorglühen

Die Autoren

Jan Müller, geboren 1971 in Hamburg, ist seit der Gründung 1993 Bassist der Rockband Tocotronic. Müller lebt seit 2010 in Berlin und betreibt den populären Interview-Podcast „Reflektor“.

Rasmus Engler, geboren 1979 in Köln, ist Schlagzeuger und Gitarrist in diversen Bands (u.a. Herrenmagazin, Ludger). Er war Herausgeber des Fanzines „Die tobende Mumie“, schreibt für verschiedene Zeitschriften und arbeitet im „Uebel & Gefährlich“. Er lebt bis heute in Hamburg.

Das Buch

Gerade aus der oberbergischen Provinz nach Hamburg gezogen, findet sich Albert Bremer mitten im Irrsinn einer Nacht auf St. Pauli wieder. Er trinkt Großmutters Aprikosengeist und Unmengen von Bier, trifft die tollste Frau und die skurrilsten Typen. Und im Laufe weniger Stunden findet er Freunde, ein WG-Zimmer und eine Band.

Vorglühen erzählt von Hamburg 1994 und von der Musik, die nach diesem Sommer ganz Deutschland begeistern wird. Vom Aufbruch aus der Provinz in die Großstadt, von alkoholgeschwängerten Nächten und Tagen, von Freundschaft, Liebe, Verrat und Enttäuschung. Vom elektrisierenden Gefühl, an dem Ort zu sein, an dem gerade etwas ganz Großes entsteht.

Jan Müller und Rasmus Engler

Vorglühen

Roman

Ullstein

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© 2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin»Als ich noch ein Junge war« (Musik: Peter Moesser, Text: Christian Holm, Guenter Lex)© 1966 mit freundlicher Genehmigung von Edition Intro Meisel GmbHUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © plainpicture/tranquilliumAutorenfotos: © Hans ScherhauferE-Book-Konvertierung powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-2849-2

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Inhalt

Titelei

Die Autoren / Das Buch

Titelseite

Impressum

Wedel im Frühsommer 2000

Prolog

Hamburg im Frühling 1994

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Quellenangabe

Anhang

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

Wedel im Frühsommer 2000

Wedel im Frühsommer 2000

Prolog

Der Regen fällt, dachte Albert. Er fällt in den Fluss, und der Fluss fließt ins Meer, und dort verdunsten die Regentropfen, und dann halten sie sich eine Weile in Wolken auf, und die Wolken kehren wieder zurück, und dann regnet es wieder, ein lachhafter Kreislauf.

Schulauer Fährhaus, 12:30 Uhr, Regen. Rentner in Rentnerjacken zeigten mit Rentnerwissen auf die Elbe. Dabei rammten sie Kuchengabeln in Sahnetorten, alles mit dem ureigenen Rentnerernst. Erstaunlich, dachte Albert, sehr erstaunlich. So wie die Tatsache, dass er hier und heute in der Schiffsbegrüßungsanlage allein Dienst tat, er, die Landratte, die noch nicht einmal einen Palstek knüpfen konnte. Sein Nachbar Hans-Uwe hatte tatsächlich ein Kapitänsdiplom, außerdem ein Alkoholproblem. Albert hatte Hans-Uwe regelmäßig auf Schicht besucht; die Hymnen der Länder, unter denen die einfahrenden Schiffe fuhren, hatten ihn schon immer interessiert. Die vollkommen überflüssigen Fakten zu Bruttoregistertonnen, Ziel und Herkunft und so weiter hatten ihn immer beruhigt. Hans-Uwe hatte ihm in seiner angesoffenen stoischen Art stets jeden seiner Arbeitsschritte genau erklärt, und eines Tages stand Hans-Uwe vor Alberts Tür, wie immer in Kapitänsjacke, hatte auf seinen Seesack gezeigt und nur gesagt: Albert, ich muss ’ne Weile weg. Übernimm mal am Willkomm-Höft. Erstaunlicherweise hatte sich nie einer der übrigen Begrüßungskapitäne oder irgendwer von der Belegschaft des angeschlossenen Cafés darüber gewundert, dass Albert Hans-Uwes Schichten nun allein machte.

»Die SANTA CATALINA aus Tampico, Mexiko, Baujahr 1971, 27.407 Bruttoregistertonnen!«

Das Mikrofon krächzte wie ein Rabe. Während er automatisiert die Informationen von der Karteikarte ablas, tippte er mit dem Zeigefinger Dido an. Die fleischfressende Pflanze stand unbeeindruckt auf der Fensterbank und machte ihm keine Vorwürfe. Hey, hallo, Fettkraut, dachte Albert. Er griff ins Regal nach der Kassette mit der mexikanischen Hymne und legte sie ein.

Wo Toni wohl steckte? Damals hätte er Dido niemals allein gelassen. Niemals!

Hamburg im Frühling 1994

1

Vor dem Werk B standen schon reichlich Leute, und es regnete einen typischen Hamburger Kackregen. Ebenjenen Regen, der sich anschleicht und über Tage bleibt, kein Platzregen mit absehbarem Ende und auch kein Nieseln, das einfach zu verdrängen wäre, sondern der nervende Hamburger Dauerregen. Alles in ihm wurde grau, angedüstert. Es schien Albert Bremer absurd, einfach in die S-Bahn zu steigen, um zu einem Konzert zu fahren. In seiner Heimat Wehl, in der kulturellen Wüste des Oberbergischen Lands, waren Konzertbesuche unvermeidlich mit endlosen Autofahrten verbunden gewesen. Diesen Reisen waren lange und komplizierte Losverfahren vorausgegangen, wer das Fahrzeug lenken und demzufolge nüchtern bleiben musste. Eine undankbare Aufgabe, doch eigentlich hatte er die Konzerte nur dann wirklich miterlebt, wenn das Los auf ihn gefallen war.

Er war das erste Mal allein auf einem Konzert. Damals waren sie immer mindestens zu viert gewesen, weil sonst das Spritgeld für jeden Einzelnen zu hoch gewesen wäre, und wenn sich nur drei Leute interessiert gezeigt hatten, waren sie halt kurzerhand in Wehl geblieben und zu irgendeinem Besäufnis in irgendeinem Partykeller gegangen oder in irgendeinem Garten, immerhin hatte man da immer gewusst, was einen erwartete. Ob Skrei und er irgendwen hätten überzeugen können, zu einem Konzert der Coral Key Parks mitzukommen? Skrei hatte eigentlich als Einziger einen belastbaren Musikgeschmack gehabt, deswegen war er auch Alberts bester Freund. Albert musste kurz schlucken, als er an Skrei dachte, doch nur kurz, denn er war ausgesprochen aufgeregt. Die Typen um ihn herum waren eindeutig älter als er, kippten Dosenbier in sich hinein, trugen Shirts von ziemlich coolen oder ihm völlig unbekannten Bands und schienen sich genauso auf das Konzert zu freuen wie er selbst. Vereinzelt kam es zu Tumulten, erwachsene Männer tanzten Ringelreihen, warfen mit leeren Dosen oder brüllten einfach nur herum. Ein Typ, dessen Hemd die mit Fingerfarbe aufgetragenen Wörter »NON FUCKERS CLUB« zierte, segelte an Albert vorbei und warf ihn fast zu Boden.

»Pardon, pardon!«, rief er grinsend, und Albert grinste zurück. Kein Problem, alles richtig gemacht, dachte er.

»Zwanzig Mark«, sagte der Typ an der Kasse. Nicht unbedingt günstig, dachte Albert. Egal, das waren Legenden, Geiz galt jetzt nicht, und außerdem war das Hamburg und nicht die NoiseBox in Attendorn.

Mit der Karte in der Hand stand er kurz unschlüssig vor dem Eingang, als ihm jemand auf die Schulter tippte: »Albert! Na, guten Abend!«

Albert drehte sich um und blickte in ein freundliches Gesicht unter wirren Haaren, ein angedeutetes Schielen.

»Claus mit C!«

Sie waren sich vor einigen Tagen in der S-Bahn begegnet. Im letzten Moment war Claus durch die sich schließende Tür gehüpft, und Albert hatte zuerst gedacht: Was für ein Idiot. Dann, im nächsten Moment: Hochinteressanter Stil. Claus hatte eine rosa Skijacke getragen, Gummistiefel zu einer Jeans, die ähnlich zerfetzt war wie Alberts, und auf der Skijacke hatte der gleiche Button geprangt, den auch Albert an seiner Jacke trug, vier Buchstaben, weiß auf schwarzem Grund: »WÜRM«. Erkennungszeichen der Liebhaber der obskuren Ami-Band. Sie hatten Blicke gewechselt, und Claus hatte »Würm!« gesagt. Sehr richtig, hatte Albert gedacht, Würm.

»Claus Würm. Claus mit C.«

»Albert Würm. Albert mit A.«

Und schon war das Gespräch beendet: »Die Fahrkarten bitte!«

»Scheiße«, hatte Claus gezischt und sich clownesk verrenkt, um sich irgendwie in der Sitzgruppe zu verstecken. Das klappt nie, hatte Albert gedacht, doch zwei der Kontrolleure waren genau in diesem Moment von einem besoffenen Penner drei Sitzgruppen entfernt aufgehalten worden. Der Typ hatte bis zu Albert gestunken.

»Ihr seid doch Betrüger!«, hatte der Penner gebrüllt, die Kontrolleure waren ruhig geblieben.

»Ich bin ein Ehrenmann, ihr Kommunisten. Stasi raus!« Dann war ihm seine Rotweinflasche auf den Boden gefallen und durch den Mittelgang fast bis zu Alberts Füßen gerollt. Als die Bahn die nächste Station erreicht hatte, war ihnen einer der Kontrolleure bedrohlich nahe gekommen, doch als sich die Türen geöffnet hatten, war Claus wie angestochen aufgesprungen und entwischt.

»Wir sehn uns!«, hatte er gebrüllt, und Albert hatte gedacht: Schade.

Wie erfreulich, dachte Albert jetzt, nahezu oberbergisch, da begegnete man ja auch immer denselben Gestalten, sobald sich etwas abseits der Schützenfeste tat. Auf den Schützenfesten selbst allerdings ebenfalls.

»Auch zum Heroin-Rock hier?«

»Ja, ich wollte jetzt rein. Geht ja gleich los.«

Claus winkte ab. »Nee, die Vorband musst du verpassen. Donkey Kings, Hamburger Band, Muckerproleten. Ich glaub, die kennen den Besitzer. Schleimen sich überall ein.«

Claus hakte Albert unter und schleifte ihn regelrecht um die Ecke. »Komm mal mit! Wir hängen da drüben ab! Vorglühen.«

Zwei Typen saßen auf einem Metallgitter, das durch ein kleines Vordach vor dem Regen geschützt war.

»Albert, das sind Susesch und Gernot. Susesch, Gernot, das ist Albert, wir kennen uns von der Fahrkartenkontrolle am Dammtor.«

Immerhin, hier wird man vorgestellt, dachte Albert.

Susesch war sehr gut gebaut. Mit seinem gepflegten Schnurrbart, dem glänzend frisierten Haar und der edlen Lederjacke sah er aus wie aus dem Ei gepellt. Typen wie ihn hätte Albert nicht auf einem Konzert dieser Art vermutet. Gernot hingegen pflegte einen ähnlichen Stil wie Claus, nur ein wenig schmuddeliger. Seine Brille war der Inbegriff eines Kassengestells. Aus einer Plastiktüte holte er vier Dosen Holsten und drückte auch Albert eine in die Hand. »Prost und hi!«

Susesch reichte Albert die Hand. »Freut mich sehr! Der Typ mit dem Würm-Button!«

Claus sagte: »Kannst du uns eben einen Gefallen tun? Du gehst kurz rein und lässt dir ’nen Stempel geben. Danach gehst du wieder raus. Aber bitte unbedingt bei der anderen Seite, da ist noch ein Ausgang, dann kommst du wieder hierher, okay? Ich halte dein Bier so lange.«

»Kein Ding«, sagte Albert, »aber warum?«

»Siehst du dann. Bis gleich!«

Albert zeigte dem Türsteher seine Karte und ließ sich einen Stempel auf den Handrücken geben. Er sah sich kurz in der Halle um. Die Vorband war tatsächlich schauderhaft, Claus hatte nicht zu viel versprochen. Der Laden war gut gefüllt, das Publikum war gut gelaunt und gut gekleidet.

Albert verließ das Werk B über den Nebenausgang und begab sich wieder zu Claus, Susesch und Gernot.

»Ah, der Stempelbote!« Gernot griff nach Alberts Hand, drückte einen Aufkleber auf den Stempelabdruck und zog ihn gleich wieder ab.

»Welche Farbe?«, fragte Claus.

»Blau«, sagte Gernot.

Claus zückte einen blauen Filzer. Gernot malte das Stempelmotiv auf dem Aufkleber nach und drückte ihn dann auf seine Hand. Claus tat es ihm gleich. Beide hatten nun perfekte Stempelkopien auf ihren Handrücken. Claus hielt Susesch Aufkleber und Stift hin.

»Nee, lass mal«, sagte der, »ich kauf mir ’ne Karte!«

»Oho, der feine Herr!«, rief Gernot.

»Ist doch gut«, sagte Claus, »dann fällt es weniger auf. Ach so, hier dein Bier, Albert, vielen Dank!«

»Interessante Strategie«, sagte Albert und deutete auf den Aufkleber, den Claus noch in den Händen hielt.

»Wir haben immer direkt gearbeitet. Stempel mit Tintenkiller nachgemalt.«

Gernot klopfte auf der Bierdose herum. »Ja, Mann – zwanzig Mark, Abzocke. Die zwingen einen doch zum Stempelabdrücken.« Er steckte sich eine Zigarette an. »Willst du auch eine?«

»Nee, ich rauche nicht, danke.«

»Noch so einer!« Er gab Susesch ungefragt eine Zigarette.

»Das ist übrigens meine Band«, sagte Claus. »Susesch Bass, Gernot Schlagzeug und meine Wenigkeit an Gitarre und Gesang.«

»Ja, ja, Gesang«, sagte Gernot, »von wegen!«

»Wie heißt ihr denn?«, fragte Albert.

»Systemgebäude«, antwortete Gernot.

Susesch sah ihn an. »Tatsächlich? Ich dachte, wir heißen Irrtum!«

»Das ist ein Irrtum«, sagte wiederum Gernot und zerknüllte seine leere Bierdose.

Claus winkte ab. »Egal, eigentlich heißen wir Horn der Anden, aber das ist noch nicht so ganz klar. Erzähl du doch mal lieber, du bist neu in Hamburg, oder?«

»Ja, kann man so sagen«, entgegnete Albert. Er war direkt nach dem Abitur und Ersatzdienst zum Studieren nach Hamburg gekommen. Jedenfalls versuchte er immer noch, sich das einzureden. Dabei war das Germanistik-Studium nur ein Vorwand gewesen, rauszukommen. Denn Wehl bot zwei Optionen: versauern oder abhauen. Eine Kleinststadt, die nichts bot, was junge Menschen interessierte, abgesehen vom Saufen. Eigentlich hatte sich alles glücklich gefügt. Es war zum Beispiel sehr richtig gewesen, nicht nach Köln zu ziehen, was nahegelegen hätte. Geografisch und überhaupt. Aber Köln war bereits von Alberts Ex-Freundin Nele okkupiert. Dass sie dort Soziologie studieren würde, hatte für sie schon festgestanden, als sie noch ein glückliches Paar gewesen waren. Glückliches Paar. Eigentlich eine Tautologie, dachte Albert.

Dann war es eben Hamburg geworden. Ein Wink des Schicksals: Jürgen und Monika, alte Freunde von Alberts Eltern, besaßen hier eine Einzimmerwohnung.

»Das trifft sich hervorragend. Unser bisheriger Mieter, der Rüdiger, hat eine Stelle als Rechtsreferendar in Dresden ergattern können. Wir wollten eigentlich morgen neu inserieren. Ein optimales Quartier. Bekommst du supergünstig!«, hatte Jürgen zu Albert gesagt.

»Weil ihr es seid!«, hatte Monika zu Alberts Eltern gesagt.

»Klasse Studentenbude, ganz nah beim Stadtpark«, hatte Jürgen gerufen und ihm augenzwinkernd auf die Schulter gehauen. »Wirklich ideal für dich!«

Der Typ an der Tür guckte zwar skeptisch, ließ sie aber alle rein.

»Wollen wir nach vorne?«, fragte Claus.

»Unbedingt«, antwortete Albert.

Sie drängelten sich durch die Reihen Richtung Bühne, die derweil in Windeseile von den Instrumenten der Vorband befreit wurde. Die Donkey Kings hatten offenbar gnadenlos überzogen.

»Ich hol noch Bier«, rief Susesch.

Schon nach zwei Minuten gesellte er sich mit vier randvollen Bierbechern zum Rest des Quartetts.

Gernot verneigte sich, so gut das im Gedränge ging: »Susi Karimi, wie machst du das?«

Vier Hände, vier Becher Bier.

»Prost!«

»Prost!«

»Prost!«

»Prost!«

Um sie herum kam Unruhe auf, als vier Gestalten auf die Bühne schlurften. Vereinzelt blökten Fans bewundernde Schimpfwörter. Eine der Gestalten setzte sich ans Schlagzeug und begann sogleich, einen infernalischen Lärm zu machen, während die übrigen drei in der Mitte der Bühne standen und sich offenbar in einer lebhaften Diskussion befanden. Abwechselnd tranken sie aus einer Literflasche Rotwein. Der Schlagzeuger drosch unbeeindruckt weiter auf sein Instrument ein. Wie konnten sie einander in diesem Krach überhaupt verstehen? Sie wirkten angespannt. Keiner lächelte auch nur. Albert konnte sich nicht erinnern, jemals ein freundliches Foto der Band gesehen zu haben. Die Diskussion und der Schlagzeugkrach dauerten bereits mehrere Minuten an, als sich der Bassist sehr langsam an sein Instrument begab. Ein unfassbar verzerrter Bass begann im Beat drei sich ständig wiederholende Noten zu spielen, der Gitarrist hing noch an der Rotweinflasche, und der Sänger brüllte ins Mikrofon: »Good fucking evening fucking wherever we fucking are!«

Der Gitarrist stimmte recht nachlässig sein Instrument und trat dann auf den Verzerrer. Albert hatte schon an der Basslinie den Song »Impetigo« erkannt, aber mit der einsetzenden Gitarre hob sich die Stimmung im Saal. Die Masse kam in Bewegung. Jemand spritzte mit Bier um sich. Albert wurde rüde von der Seite angestoßen und ging zu Boden. Claus half ihm auf.

»Geil, oder?«

»Wahnsinn!«, brüllte Albert und versuchte, ein wenig sicherer zu stehen, aber die Menge wippte und wankte und schwankte um ihn herum. Er war Teil einer betrunkenen Materie und versank im Kontinuum aus Krach, der eine seltsam beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Der Schwankpogo, bei dem immer wieder jemand von links nach rechts und auf die Schnauze flog, war roh, aber friedlich. Albert betrachtete die Band etwas genauer. Das hinterwäldlerische Erscheinungsbild beeindruckte ihn. Ziemlich ungeduscht, dachte er.

»Die sehen aus, als hätten sie gerade einen Atomkrieg überstanden!«, brüllte Claus ihm ins Ohr.

»Ja, geil! So klingen sie auch!«, erwiderte Albert.

»Ich geh Bier holen, willst du auch eins?«

Claus hatte sich zu ihm gekämpft. Albert hob nur den Daumen. Er hatte fest vor, den Genuss dieses Konzertes durch Zuführung von Alkohol zu intensivieren. Zumal die Musik offensichtlich genau dafür gemacht war. Claus näherte sich mit einem Arm voll Bier. Als Albert den Becher ansetzte, fiel der Bassist ins Publikum. Die Band spielte weiter: »Nuclear Powered« begann, und offenbar hatten Teile des Publikums die letzten dreizehn Jahre damit verbracht, auf dieses Lied zu warten. Ein unfassbar besoffener, kugeldicker Typ in Jackett, weißen Jeans und mit Aktenkoffer stürmte auf die Bühne und versuchte, sich das Mikrofon zu krallen. Umgehend warf ihn ein Ordner von der Bühne. Unbeeindruckt, Arm in Arm mit einem nicht minder alkoholisierten Langhaarigen im Parka, grölte der Fan in der ersten Reihe weiter mit.

Was trägt dieser Mann in seinem Aktenkoffer, fragte sich Albert. Egal. Dies war genau das Hamburg, das er bisher vergeblich gesucht hatte. Ging doch.

Er verspürte nur einen starken Harndrang.

»Ich geh Bier holen!«, brüllte er Claus ins Ohr.

Im Toilettenraum stakste er über die morastigen Fliesen zur Pissrinne, in der unzählige Zigarettenstummel schwammen, und betrachtete interessiert die endlosen Aufkleberreihen. Eine Wandzeitung, dachte er.

Unweit der Tür des Toilettenraums befand sich der zweite Tresen. Trotz des laufenden Konzerts herrschte hier ein reger Andrang. Nach einigen Minuten war es Albert jedoch gelungen, sich zur Tresenkraft vorzuarbeiten und seine Bestellung aufzugeben. Während er auf die Biere wartete, schaute er auf ein kleines Podest rechts von der Bühne. Das konnte nicht sein. Unmöglich!, dachte er.

»Vier Bier, zwölf Mark!«

Er zahlte und versuchte, die Becher mit möglichst geringem Flüssigkeitsverlust in seine Arme zu schließen. Litt er an Halluzinationen? Bierbeladen blickte er auf ein Mädchen mit schwarzen Haaren. Nicht zu fassen! Die Comichändlerin bei den Coral Keys?

Er dachte zurück an seine erste Woche in Hamburg. Was Jürgen und Monika nämlich vergessen hatten zu erwähnen: Seine »ideale Studentenbude« lag im Stadtteil Barmbek, dem unbestrittenen Zentrum der Grauheit und des Trübsinns. Das einzig Interessante in dieser Diaspora war ein kleiner Laden, den er neulich entdeckt hatte. »Comics und Romane« stand mit bunten Großbuchstaben an die Scheibe geschrieben. Drinnen hatte es muffig gerochen, und erstaunlicherweise hatte nicht der übliche bärtige Endvierziger hinter dem winzigen Tresen gesessen, sondern ebenjenes Mädchen, das nun hier auf dem Konzert war. Sie hatte auftoupierte, schwarz gefärbte Haare, ein Fields of the Nephilim-T-Shirt getragen und mürrisch in einem Buch gelesen. Er hatte sofort gemerkt, dass das Mädchen ihn verunsicherte. Kein Mädchen nahm Comic-Nerds ernst. Egal, hatte er gedacht, die Augen zusammengekniffen und sich tiefer in die verwinkelten Gänge des vollgestopften Ladens begeben. Die zahlreichen Kisten mit Marvel- und DC-Superheldencomics hatte er unbeachtet gelassen. Sein Blick war auf eine Kiste in der Ecke gefallen: Ehapa Sonstiges. Darin: Goofy als Dr. Jekyll. Aha, hatte Albert gedacht. Den Band kannte er nicht, aber die Serie war ihm vertraut. Eigenwillig gezeichnet und ziemlich merkwürdige Geschichten. Kein Vergleich mit den normalen Micky-Maus-Heften, aber besser als der Schrott, der seit einigen Jahren in den »Lustigen Taschenbüchern« abgeliefert wurde.

Er hatte sich an die Anzeigen für diese Reihe erinnert, die er als Kind in der Micky Maus gesehen hatte: »Der lustigste Goofy, den es je gab«. Der Wehler Zeitschriftenladen hatte sie aber nicht vorrätig gehabt. Irgendwann hatte er dann bei einer Fahrt mit seinen Eltern nach Köln ein Heft der Reihe entdeckt und so lange gequengelt, bis sein Vater es ihm kaufte. Goofy als Galileo Galilei. Sein komplettes Wissen über Galilei speiste sich aus diesem Comic-Album. In einer Szene nahm Galileo Galilei, verkörpert von Goofy, zwei derangierte Salamis zur Hand und legte sie in einen eigenhändig konstruierten Salamibegradiger. Im Anschluss schnitt er deren Enden ab, positionierte sie auf einen Billardtisch, lochte mit einem genau berechneten Schuss über Bande das Innere der Salamis ein und konnte dann schließlich die hohlen Salamihüllen unter Zuhilfenahme von zwei Brillengläsern zu einem Fernrohr zusammenstecken. Jekyll und Hyde konnte also nicht schlecht sein. Er war mit dem Comicheft zur Kasse gegangen.

Das Mädchen hatte ihn angeblickt. »Hi!«

»Hi«, hatte Albert geantwortet.

»Aha, Goofy.«

Eigentlich hasste er es, wenn Verkäufer kommentierten, was er kaufte, aber er hatte ihre Stimme gemocht. Stimmen waren sowieso unterbewertet.

Er hatte geantwortet: »Ja, Goofy. Was soll das denn kosten? Da steht kein Preis drauf.«

»Echt nicht?«

Sie hatte sich das Heft genauer angesehen und dann geurteilt: »Zehn Mark.«

»Zehn Mark?«, hatte sich Albert laut gewundert. »Ist das dein Ernst?«

»Ja! Das ist von 1977 und selten. Also zehn Mark.«

Sie hatte sich wieder ihrem Buch zugewandt. Gute Stimme, aber blöde Kuh, hatte Albert gedacht und sich abserviert gefühlt. Er hatte mit höchstens drei Mark gerechnet. Und warum eigentlich Fields of the Nephilim? Hatte er die Musik dieser Band überhaupt schon mal gehört? Er fand sie einfach doof. Vermutlich fand er einiges doof, ohne es zu kennen. Aber mit Recht. Was machte sie eigentlich in diesem Comicladen? Im Comicladen arbeiteten doch ausschließlich Männer. Und zwar solche, die ihr Studium abgebrochen hatten. Er hatte noch kurz über diese Perspektive nachgedacht, dann jedoch wieder auf das Goofy-Heft geblickt, einen zerknüllten Zehnmarkschein aus seiner Jeans gezupft und ihn dem Mädchen auf ihr Buch gelegt.

»Hier, bitte sehr, zehn Mark für den lustigsten Goofy, den es je gab.«

Sie hatte gelächelt, entweder weil sie seinen Spruch gut gefunden hatte oder weil er ein überteuertes Heft gekauft hatte. Aber egal, ihr Lächeln war schön. Doch keine blöde Kuh, hatte er gedacht.

»Willst du ’ne Tüte?«

»Ja! Hier regnet es ja immer.«

»Echt? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

»Seit wann wohnst du denn hier?«

»Schon fast immer.«

»Okay«, hatte er gesagt, »deswegen also.«

Sie hatte nicht auf seine Bemerkung reagiert, sondern nur eine Tüte aus einer Schublade gezogen.

»Und du?«

»Ach, noch nicht so lange.«

»Okay. Welcome!«

»Danke«, hatte er gesagt und sie: »Tschüss.«

»Tschüss.«

Draußen vor dem Laden hatte er sich nicht über den Regen geärgert, der ihm dummdreist ins Gesicht regnete, und auch nicht darüber, dass er zehn Mark für ein völlig schwachsinniges Comicheft vergeudet hatte. Er hatte sich geärgert, weil er sich nicht getraut hatte, sich weiter mit ihr zu unterhalten. Er hätte ihr erzählen können, woher er kam. Aber das wäre vermutlich uncool gewesen. Zum Glück hatte er »Tschüss« und nicht »Tschö« gesagt. Ihm war klar gewesen, dass er sich diese Vokabel hier ganz schnell abgewöhnen musste. In Hamburg sagt man Tschüss, hatte er gedacht und sich gefragt, ob er sich vielleicht doch mal die Fields of the Nephilim anhören sollte.

Und jetzt war das Mädchen auf diesem Konzert. Er dankte dem Schicksal für eine zweite Chance.

Zunächst musste aber das Bier abgeliefert werden. Er erreichte Claus und Gernot zeitgleich mit Susesch, der ebenfalls vier Bier vom gegenüberliegenden Tresen geholt hatte.

»Weh und ach! Vier auf ex!«, rief Gernot.

Folgsam kippten alle das Pils herunter, die Coral Keys rabiatisierten sich zunächst etwas strukturlos in »Vintage Cheese« vom 85er-Album Fermented Acid hinein. Albert begann sich zu bewegen, sah aber ein, dass sein Bier diesen Tanz nicht überleben würde. Also hineingeschüttet, im Eiltempo. Er musste schon wieder zur Pissrinne. Die typische Durchlaufphase zu Beginn bierintensiver Abende – wie machten das eigentlich die Leute, die das ganze Konzert über an ihrem Platz verbrachten? Als er die Toilette leicht torkelnd wieder verließ, stolperte er fast in die Comicverkäuferin hinein.

»Na hoppla!«, sagte sie. Dann grinste sie ihn an. »Ach, der Goofy-Fan!«

Oh Gott, jetzt bloß nicht zu besoffen wirken, dachte Albert und sagte, so deutlich er konnte: »Goofy als Coral Key Parks.«

Sie lachte. »Wie bitte?«

Sie sagte nicht »Hä?«, und sie sagte nicht »Was?«, sie sagte »Wie bitte?«, und das klang überhaupt nicht blasiert oder blöd, sondern freundlich und interessiert. Albert schaute sie an, so gut er noch schauen konnte. Sie hatte heute kein Fields of the Nephilim-T-Shirt an, sondern einen schwarzen Rollkragenpullover, und sah ganz grundsätzlich total super aus. Er wusste, dass dies alles kein Zufall sein konnte, und er wusste auch, dass er sich umgehend vor ihr blamieren würde. »Ich dachte, du hörst nur Fields of the Nephilim?«

Wie unglaublich dämlich.

»Was sagst du?«, brüllte sie in sein Ohr.

Gelobt seien die heiligen Coral Key Parks, dachte Albert, deren infernalischer Lärm seine kleingeistige Bemerkung übertönt hatte. »Ach nichts!«

»Hier ist es echt zu laut! Wir sehen uns bestimmt nachher noch, okay?«

»Alles klar!«, sagte er und sah ihr nach, wie sie auf der Toilette verschwand. Wieder professionell eine Gelegenheit vergeudet, dachte er und begab sich zum Tresen, um sich kurz darauf schwankend mit vier weiteren Bechern Bier in Richtung Claus, Gernot und Susesch zu drängen. Albert fragte sich, wer wohl besoffener war: die Band oder die ersten Reihen im Publikum. Auf diesen Wahnsinn, der Hamburg war, ließ er sich gerne ein. Er hatte Leute kennengelernt, die er ausgezeichnet fand, und er hatte die Comicverkäuferin wiedergetroffen.

Nach dem Konzert war er erschöpft und erledigt. Auch Claus und Gernot wirkten ausgesprochen ramponiert, als sie vor dem Werk B im Nieselregen standen. Nur Susesch sah noch immer aus, als hätte er soeben frisch geduscht. Er näherte sich strahlend mit vier Literdosen Bier.

»Faxe, bist du irre?«, rief Gernot.

»Ist doch geil, war’n Sonderangebot im Imbiss!«, freute sich Susesch.

»Oje, Susesch«, sagte Claus und streckte seine Hand aus, »du bist unser Untergang.« Er öffnete die Dose. »Wo ist denn hier eigentlich ein Imbiss? Hier ist doch gar nichts!«

Susesch winkte ab. »Geheim!«

»Why not! Ein Liter is besser als keiner!«, sagte Gernot. Sie stießen an. »Wir wollen gleich auf den Kiez«, sagte Claus, »haste auch Bock?«

Albert nahm einen Schluck. Natürlich hatte er Bock. Jetzt bloß nicht nach Hause. Jetzt bloß nicht allein sein.

»Klar«, rief er und sah sich etwas nervös nach der Fachfrau für Comic-Literatur um.

In diesem Moment hielt Susesch ein Taxi an. Albert zuckte mit den Schultern und stieg mit den anderen ein. Der Fahrer störte sich nicht an den Faxe-Dosen. Sie heizten über die Ost-West-Straße. Eine breite Schneise, flankiert von Bürogebäuden. Albert blickte auf den Michel und die riesige Bismarck-Statue. Der Fahrer lenkte den Wagen auf die Reeperbahn, die voller Menschen war. Die Spielhallen und Sexshops blinkten bunt.

»Diese ganzen Ficker!«, brüllte Claus. An einer Seitenstraße hielt das Taxi.

»Zwölf Mark«, brummte der Fahrer in seinen grauen Bart. Er schien Fahrten mit volltrunkenen Herrengruppen gewohnt zu sein und blieb vollkommen ruhig, als Gernot schnurstracks von der Rückbank aufs Pflaster schlug, was Claus mit hysterischem Gelächter kommentierte. Susesch zahlte. »Fünfzehn, stimmt so!«

Albert wollte ihm ein paar Münzen geben.

»Willst du mich beleidigen?«, sagte er mit einem Ernst, der Albert erschreckte. Susesch verfiel darauf in bizarres Kichern.

Erstaunlich, dachte Albert.

Gernot schlug vor, zunächst in die Knolle III zu gehen. Albert versuchte, sich zu orientieren. In jedem Haus der kleinen Straße mit heruntergekommenen Altbauten befand sich im Erdgeschoss eine Kneipe. Überall standen Menschentrauben. Das Paradies.

»Ey, ihr Penner!«, erscholl es von der anderen Straßenseite. Zwei unrasierte Typen, der eine mit breitem ungepflegtem Iro, der andere mit einem Meckischnitt, gestikulierten übertrieben.

Claus winkte zurück. »Ach je, die Gebrüder Brett, natürlich vorm Grasshopper.«

»Nicht unbedingt niveauvoll, der Grasshopper«, erklärte Gernot. Albert nickte und folgte den anderen zu den Gebrüdern Brett. Was für ein genialer Name, dachte er.

»Woher des Wegs?«, fragte der Iro.

»Wir waren im Werk B!«

»Coral Key Parks? Das ist ja sogar uns zu asozial!«, sagte der Meckischnitt. Albert fiel auf, dass man die beiden nur anhand ihrer eigenwilligen Frisuren unterscheiden konnte.

»Nee, war geil«, betonte Claus, »aber ihr wart jetzt nicht ernsthaft die ganze Zeit hier, oder?«

»Selbstverständlich!«, rief der Iro und lachte. Er lachte ziemlich laut.

Albert betrachtete den Grasshopper durch die große Frontscheibe. Der Laden bestand eigentlich nur aus einem langen Tresen und einigen abgerockten Sesseln. Das Publikum sah ausgesprochen robust aus. Neben den Brett-Zwillingen standen drei fahrende Zimmermänner in voller Montur. Man kannte sich offenbar gut. Die Bretts verschwanden kurz im Laden, und Claus erklärte Albert, dass Axel und Harald Brett seit Menschengedenken ausschließlich im Doppelpack unterwegs waren. Wenig später kehrten die Gebrüder mit einem Tablett voll Tequila zurück. Das unvermeidliche Ritual mit Salz und Zitrone hatte Albert schon immer ekelhaft gefunden, außerdem lenkte es von der zentralen Aufgabe des Saufens ab, wie Skrei es einst formuliert hatte.

»Wir wollten erst mal in die Knolle III«, sagte Susesch.

Mecki Brett war anderer Meinung. »Nix da, da könnt ihr später immer noch hin. Wir wollen gleich in die Weststraße 11, da spielen um eins Brom!«

»Brom? Echt?« Claus war begeistert. Albert hatte keine Ahnung, was Brom sein sollte, aber es klang vielversprechend. Auch wenn sie gerade erst angekommen waren.

»Sicher!«, sagte Iro Brett. »Ist die Hochzeit von Bodo und Ariane, kostet auch nix. Wir wollten jetzt los.«

»Alles klar!«, sagte Claus und zu Albert: »Kennst du Brom? Super Noise-Rock-Band hier aus Hamburg.«

»Nie gehört«, antwortete Albert, während die Gebrüder Brett bereits auf ihre monströsen Mountainbikes gestiegen waren und sich jeweils eine Büchse Holsten öffneten. »Bis gleich, Jungs!«

Derweil hatte Gernot schon ein Taxi angehalten.

Hier fährt man recht viel Taxi, dachte Albert und befand sich bereits im Wagen. Alles verschwamm vor seinen Augen. Er musste kurz eingeschlafen sein. Im nächsten Moment hielt das Taxi. Gernot zahlte. Albert stolperte aus dem Wagen. Das Haus in der Weststraße 11 war in einem erbärmlichen Zustand. An der Tür saß ein Mädchen mit silberner Jacke und blondierten kurzen Haaren. »Zur Hochzeit von Ariane und Bodo?«

»So isses!«, sagte Susesch, und Claus fragte: »Spielen Brom schon?«

»Ich glaube, die haben gerade angefangen. Passt auf mit der Treppe, das Geländer ist lose. Zweiter Stock!«

Albert fragte sich, welchem Zweck dieses Gebäude unter normalen Umständen diente. Die Gebrüder Brett standen bereits im zweiten Stock und wirkten in der ihnen eigenen Lautstärke auf einen unauffälligen Typen ein.

»Hi, Herr Leydvoll«, begrüßte Claus ihn.

Albert überlegte, ob er sich darüber wundern musste, dass die Gebrüder Brett mit dem Fahrrad schneller gewesen waren als sie mit dem Taxi.

Herr Leydvoll nickte ihnen freundlich zu. »Hallo, Claus, hallo, Susesch, hallo, Gernot. Ich nehme an, dass ihr nicht wegen der Hochzeit hier seid, sondern wegen Brom.«

»Ja, klar!«, sagte Claus.

Herr Leydvoll schüttelte den Kopf. »Eine sehr seltsame Wahl für die Hochzeitsband. Ich weiß nicht so recht, was ich furchtbarer finde: Hochzeiten oder Noise-Rock-Konzerte.«

Claus lachte. »Wo spielen die denn?«

»Das ist ja wohl schwer zu überhören, immer den Dissonanzen folgen!«

Claus, Albert, Gernot, Susesch und die Gebrüder Brett folgten dem Lärm durch einen dunklen Flur. Dahinter befand sich ein Raum, nicht sonderlich groß und dennoch nur halb voll. Auf einer improvisierten Bühne standen vier Typen. Der Sänger brüllte mit hochrotem Kopf unverständliches Zeug in ein Mikrofon, während der Drummer mit großer Wucht komplizierte Rhythmen in das Schlagzeug drosch. Der Gitarrist spielte keine Akkorde, sondern bearbeitete seine Gitarre mit einem Drumstick, und der Bassist bemühte sich, in dieses Chaos noch mehr Verwirrung zu bringen. Albert war zwar völlig besoffen, fand die Musik aber trotzdem furchtbar. Claus und Gernot hingegen waren begeistert und begannen eine Art Hühnertanz. Susesch hatte den Raum sofort wieder verlassen. Albert lehnte sich an die Wand und entschied sich, ebenfalls rauszugehen, als ihm einer der Brett-Brüder eine Dose Bier zusteckte. Im Grunde war es physikalisch unmöglich, bei dem Krach ein Wort zu wechseln, aber für das durchdringende Brett-Organ galten Naturgesetze nicht. »Brom! Geil, oder?«

Alberts Antwort ging im Bromkrach unter. Eigentlich war er an dem Punkt angekommen, an dem keine Flüssigkeit mehr in seinen Körper passte. Dennoch kippte er das ungekühlte Bier eilends hinunter und hockte sich irgendwo in den Flur, der sich langsam zu drehen begann. Im nächsten Moment saß er schon wieder im Taxi.

»Hey, alles klar?« Claus, der auf dem Rücksitz neben ihm saß, hielt ihm eine Dose Cola hin. »Brom war geil, oder?«

»Schon vorbei?«, fragte Albert.

»Ja klar! Wir wollen jetzt endlich in die Knolle III.«

»Okay«, sagte Albert, dem die Cola sehr gut tat. Albert fragte sich, ob die anderen auch so besoffen waren wie er. Hoffentlich, dachte er. Der Wagen war zugequalmt. Auch der Fahrer rauchte. Neben dem Fahrer saß seltsamerweise nicht Susesch, sondern irgendein anderer Typ mit einer völlig unseriösen Frisur. Er drehte sich zu Albert: »Ördi! Du weißt nicht, wer ich bin, aber ich weiß alles über dich, Albert Bremer. Auch wenn du jetzt noch am Zweifeln bist: Es war die beste Idee deines Lebens, nach Hamburg zu ziehen. Und jetzt lernst du sogar mich kennen. Besser geht es nicht. Ich bin Marco. Marco Weber, fast wie Bremer! Ich bin wirklicher Hamburger. Sagt dir Berne etwas? Ich fürchte nicht. Brom kommen ja auch ursprünglich aus Hamburg-Berne. Sie haben mich immer unterstützt. Ich mache nämlich auch Musik. Allerdings richtige Musik. So wie Elvis Costello. Nur mit normalen Texten. Sonst wäre das ja für mich nicht authentisch. Wo ich doch aus Berne bin. Deshalb gehe ich auch immer zum Friseur und lasse mir vernünftige Frisuren schneiden. Nicht solche Wuselfrisuren wie ihr. Alle zwei Wochen. Bei Karstadt in der Mönckebergstraße, Trockenschnitt Fasson für zehn Mark.«

Webers Augen quollen ein wenig aus dem Gesicht hervor, und er trug eine gelbe Jeansjacke. Eine gelbe Jeansjacke!

Wie kann eine Jacke so hässlich sein, dachte Albert und lauschte weiter fasziniert den Ausführungen des Grafen von Ohne-Punkt-und-Komma. Schließlich befanden sie sich wieder in derselben Straße links der Reeperbahn wie vor zwei Stunden. Albert war froh, als er das Taxi verlassen konnte, und folgte Marco Weber, der den nahezu quadratischen Mann vor der Knolle offenbar gut kannte.

»Moin, Marco.«

»Trockner, alte Hundelunge! Guck mal, wen ich dir mitgebracht habe! Albrecht Brenner aus Süddeutschland! Der will mal Pauli kennenlernen! Ist Gumbo da?«

»Gumbo ist hinten.« Er winkte alle rein. Eine Kneipe mit Türsteher, sehr erstaunlich, dachte Albert.

Gernot und Claus hatten bedrohlich Schlagseite, verschwanden aber in Windeseile in der Kneipe. Albert gab sich Mühe, ihnen auf den Fersen zu bleiben. Wieso ausgerechnet diese Kaschemme mit fürchterlicher Schlagermusik und jungem Prollpublikum der Laden ihrer Wahl war? Albert wunderte sich. Es blieb ihm wenig Zeit, denn sofort hatte Marco Weber, der offenbar auch den Typen am Tresen kannte, ihm ein Gedeck aus Astra und Kümmel in die Hand gedrückt. Kaum hatte Albert das geleerte Schnapsglas auf den Tresen gestellt, als Gernot mit schiefer Brille auf ihn zustob und rief: »Weiter, weiter! Wir müssen weiter!«

Albert stolperte hinter ihm her. Auf der Straße sah er zunächst nur Sterne, dann Claus, der ihm aus der Tür des gegenüberliegenden Fandango zubrüllte: »Albert!! Hierher!!«

Im Fandango erwartete Albert zunächst erneut Marco Weber, der offenbar die Frau am Tresen kannte und ihm ein Gedeck überreichte. »Prost, min Jong!«

Die Schlagzahl überraschte Albert, doch er leerte Bier und Korn, so schnell er konnte. Claus und Gernot fegten zu »I Was Made For Loving You« über die Tanzfläche, wobei vor allem Gernot aussah, als hätte sein Körper kein Knochengerüst mehr.

Marco Weber schlug ihm auf die Schulter. »Komma mit rüber ins Grasshopper, ich muss da noch was besorgen!«

Willenlos folgte Albert dem echten Hamburger, der im Grasshopper offenbar den Typen am Tresen kannte und mit diesem im Hinterzimmer verschwand, nachdem er Albert mit dem obligatorischen Gedeck aus Bier und Schnaps versorgt hatte. Wenige Sekunden oder Minuten später trafen Claus und Gernot ein, wobei Gernot aus Richtung der Toilette und Claus vom Eingang kam, was Albert verwunderte. In Freude versetzte ihn der Umstand, dass Claus unmittelbar den leeren Platz hinterm Tresen einnahm und Bier zapfte, während Gernot auf den Sesseln herumkletterte und die Bilder an den Wänden neu dekorierte, indem er sie verkehrt herum wieder aufhängte. Claus reichte ihm ein Bier über den Tresen, als Marco Weber mit dem Wirt aus dem Hinterzimmer kam.

Dieser war über den selbstlosen Einsatz von Claus als Tresenhilfe alles andere als erfreut. »Alter! Mach dich vom Acker, du Schwachmat! Sonst setzt das was!«

Im nächsten Augenblick wurde er auf die Straße befördert. Gernot, der soeben begonnen hatte, alle leeren Sessel umzudrehen, flog ihm auf einen Tritt des erbosten Kneipiers buchstäblich hinterher.

Alberts Füße gehorchten nur noch schlecht, doch er blieb den Missetätern auf den Fersen. Diese wedelten vor der Goldmarie wie von Sinnen mit den Armen, flankiert von drei Typen in Karohemden. Zwei von ihnen waren überdurchschnittlich lang und hager. Albert torkelte zu ihnen hinüber.

Claus führte eine Art Stepptanz auf. »Albert ausm Oberbergischen, darf ich Ihnen das Triumvirat der Ostfriesen vorstellen: Okke, Felk und Friedrich!«

Die Vorgestellten nickten Albert wortlos, aber freundlich zu. Der, den Claus als Friedrich vorgestellt hatte, war der kleinste der drei und trug eine äußerst sonderbare türkise Wollmütze mit ausgeleierten Ohrenklappen. Er reichte Albert eine Flasche, die kein Etikett hatte.

»Mutters Aprikosengeist! Lass dir schmecken!«

Albert ließ es sich schmecken, dann zerrte Gernot ihn in die Goldmarie. »Los, weiter!«

Hinter dem schweren Türvorhang konnte Albert vor lauter Zigarettendunst zunächst kaum etwas erkennen, dann fiel ihm auf, dass er bereits doppelt sah. Gernot näherte sich mit einer Flasche Bier und einem Glas Cola, das er Albert hinhielt. »Hier, zur Erfrischung!«

Albert nahm einen großen Schluck. Es handelte sich um Whisky-Cola. Dann drängte er sich hinter Gernot in die Kneipe hinein. Claus hüpfte um einen am Tresen lehnenden Typen mit Baseball-Kappe und mürrischem Gesichtsausdruck herum und sang: »Pfannebecker, der ewige Auerhahn, ohoo!« Das animierte Gernot, sein Bier über den dergestalt Inkriminierten zu entleeren, was dieser mit fassungslosem Kopfschütteln quittierte. Albert betrachtete die Szene mit tiefer Zufriedenheit. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Einer der beiden langen Ostfriesen blickte ihn mit glasigen Augen und freundlichem Grinsen an. »Mutters Aprikosengeist bräucht ich mal!«

Albert reichte ihm die Flasche. »Pardon und gerne doch!«

»Feiner Jung!«, brummte der Friese, der wahrscheinlich Felk hieß, und hielt Albert die Flasche mit fragendem Blick vor die Nase. Er wollte abwinken, nahm dann aber doch einen weiteren Schluck. Seine Beine wurden zu Gummi. Als Felk mit der Flasche am Hals den Laden verließ, stürmte Marco Weber an ihm vorbei und sprang Albert an die Kehle. »Albert! Hast du mal nen Zwanni? Ringo vom Grasshopper will unbedingt seine Kohle! Der poliert mir gleich die Fresse!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand der Schuldner in Richtung Getränkelager. Albert blieb keine Zeit, sich mit diesem Auftritt tiefergehend zu beschäftigen, da Gernot und Claus, begleitet von einem unauffälligen Herrn mit Nickelbrille und Kurzhaarfrisur, die Goldmarie fluchtartig verließen. Zwei Lederjackenbrecher folgten ihnen fäusteschwingend. »Das ist kein Spielplatz hier, ihr verfluchten Hühnerficker!«

Albert fühlte sich sehr richtig am Platz, auch wenn hier in St. Pauli offenbar immer Krieg an allen Fronten herrschte. Der Schnapsnebel im Kopf ließ ihn klarer sehen, und er stolperte dem Idiotentrio strahlend hinterher. Die Lederjacken standen mit drohendem Blick auf dem Bürgersteig, entschieden sich dann aber, in die Goldmarie zurückzustampfen. Gernot, Claus und der Nickelbrillenheini lugten grinsend hinter einem geparkten Lieferwagen hervor. »Hierher! Albert! Ab in den Hinkelstein!«

Im Stechschritt marschierten sie auf ein völlig heruntergekommenes einstöckiges Gebäude zu, vor dem eine nachlässig bekritzelte Tafel »KORN 1 MARK« versprach.

Albert reichte der Nickelbrille die Hand.

»Tach! Albert Bremer!«

»Benno, hallo!«

Im Hinkelstein übernahm erneut Gernot die Schnapsversorgung. Albert überlegte, wann er aufgehört hatte mitzuzählen. Sie mähten alle Schnäpse nieder, Musik und Licht verschwammen zu bunten Wolken. Benno wurde von Claus und Gernot bezüglich seines aktuellen Filmprojektes ausgequetscht. »Der Regisseur Benno Weichsel leidet an einer Regieblockade!«, erklärte Gernot empört. Ein echter Regisseur, dachte Albert, Wahnsinn. In Wehl hatte letztes Jahr sogar das Programmkino »Smoky« zugemacht. Smoky, was war das denn bitte schön für ein Name für ein Kino? Rauchen war ja dort nie erlaubt gewesen. Die Gebrüder Brett überfielen den Hinkelstein und Albert. Sofort hatte er ein weiteres Bier in der Hand. Dann rangen die Bretts Weichsel zu Boden und forderten die Fortsetzung seines letzten Films Der Knochenklub, während Gernot sich kurz entschlossen mit einer Frau mit einem Rieseniro in eine Ecke verzog und hemmungslos rumknutschte.

»Ekel-er-re-gend!«, sagte Claus und bestellte zwei Gin Tonic. Alberts Zunge war zu schwer, um diesen Angriff auf seine Unversehrtheit abzuwehren. Plötzlich standen die drei Friesen am Tresen. Albert war sich nicht sicher, ob sie gerade den Hinkelstein betreten oder schon die ganze Zeit dort gestanden hatten, während er automatisch die Flasche mit Mutters Aprikosengeist an den Hals führte, die ihm wahrscheinlich Friedrich wortlos in die Hand gedrückt hatte. Einer der Bretts hatte die Jukebox in Beschlag genommen. Auf »Es fährt ein Zug nach Nirgendwo« tanzte Gernot Walzer mit der Punkdame, während Claus und die Gebrüder Brett als menschliches Knäuel durch den Hinkelstein rollten und harmlose Zecher umwarfen. Albert legte einen Solo-Pogo aufs Parkett, den die drei Friesen klatschend und johlend anfeuerten. Der Brett mit dem Meckischnitt hatte sich aus der Menschentraube gelöst, die sich mittlerweile auch Gernot und die Irokesenfrau einverleibt hatte, und spurtete wieder zur Musikbox. »Jump« von Van Halen dröhnte los, auch das Ostfriesentrio verlor die Contenance, es war ein einziges Gewühl aus Armen, Beinen und Biergläsern, und wieso wurde die Flasche mit Mutters Aprikosengeist eigentlich niemals leer?

»Heidewitzka«, lallte Gernot, »ich machmichma vom Acker!«

Er hinterließ eine Leerstelle auf dem Bürgersteig.

Albert fixierte angestrengt seine Armbanduhr. Zwei Armbanduhren? Seit wann hatte er zwei Armbanduhren? Nele hatte schon wegen einer Armbanduhr die Augen verdreht. Albert hatte sie in Bonn auf dem Flohmarkt erstanden und ihr voller Stolz präsentiert. Die Frau hatte wirklich keinen Sinn für Stil und Ästhetik, dachte er. Dafür saß sie jetzt wahrscheinlich mit den üblichen Exil-Oberbergern auf einer unsäglich öden WG-Party in Köln-Deutz, beziehungsweise: das mit Sicherheit nicht mehr, denn es war fünf Uhr. Er befand sich hackenvoll im tiefsten St. Pauli und war sehr zufrieden, sich nicht das übliche Gefasel von Thomas und Sven und Lars und Babsi und Nele und so weiter anhören zu müssen, im Zweifel über irgendwelche Leute von der Schule und im schlimmsten Fall über irgendwelche Lehrer.

Claus sagte sehr langsam: »Ich glaub, ich muss auch pennen!«, und Albert lallte eher zu sich selbst: »Wie komm ich denn jetzt ins Scheißbarmbek?«

Claus winkte ab. »Zarmutek is’ weg, aber seine Matratze is’ noch da, komm doch eben mit, Talstraße is’ hier ums Eck!«

Sie wankten in die Reeperbahnseitenstraße, die Albert noch schäbiger vorkam als alles, was er im Laufe des Abends gesehen hatte. Sie passierten Sexshops, eine Schwulenbar und das Gebäude der Heilsarmee.

Nummer 24, so unscheinbar wie heruntergekommen. Claus fummelte am Türschloss herum und fiel beinahe ins Treppenhaus. Es war stockfinster.

»Licht is wieder kaputt.«

Sie tasteten sich in den zweiten Stock, wo Claus umständlich die Wohnungstür öffnete und Licht machte.

»Ersma in die Küche. Hier muss doch noch Whisky sein … meine Fresse … Von der Unmöglichkeit, eine Hausbar zu pflegen, wenn man mit Robin Zarmutek zusammenwohnt!«

Fluchend verschwand Claus in seinem Zimmer, während Albert auf einem völlig aus der Form geratenen Bürostuhl Platz nahm. Claus kam zurück und wedelte mit einer Rumflasche vor Alberts Gesicht herum.

»Cola? Ich kann gegenüber beim Imbiss ’ne Cola holen.«

»Unfug!«, lallte Albert.

»Eis? Willste wenigstens Eis?«

»Unfug!«, lallte Albert.

Claus goss zwei Gläser ein. Sie stießen an, und in das Klirren der Gläser mischte sich Getöse im Treppenhaus, kurze Zeit später war ein Kratzen am Türschloss vernehmbar.

Claus grinste. »Tonio Kröger …«

Die Tür öffnete sich, und ein langer Typ mit geringfügig zu kurzer Lederjacke stolperte in den Flur.

»’n Abend, die Herren!«

»Komm ran, Toni. Einen warmen Rum zur frühen Stunde?«

Toni griff sich gleich die ganze Flasche.

»Ich war im Psycho Dog bei This Is War! Claus, das is Musik mit Power! Astreiner Sleaze Rock. Ich sach dir eins, die Neunziger sind die neuen Siebziger!«

»Is klar, Toni. Was hältst du eigentlich von Blues?«

»Jaja, du denkst immer, ich bin hintendran! Is aber nich! Gib mal den Rum!«

»Du hast den Rum in der Hand, Toni!«

»Ja, is klar! Wo issen der Kasentoaster?«

»Hat Zarmutek mitgenommen.«

»Scheiße, Mist und Kacke! Ich wollte dir doch was von This Is War vorspielen!«

»Nimmste halt die Gitarre, Toni!«

Toni nahm einen weiteren Schluck Rum und deutete mit dem Zeigefinger auf Claus. »Weißte wat? Das mach ich!«

Toni und Claus eierten in eines der Zimmer, die zur Straße lagen, wo Claus die Gitarre einstöpselte und den Verstärker aufdrehte.

»Fenster auf!«, befahl Toni. Albert öffnete das Fenster und stellte den Verstärker aufs Fensterbrett.

Toni drosch die Akkorde von »Satisfaction« in Claus’ völlig verstimmte Gitarre. Erste Passanten blieben stehen und lauschten andächtig, was Claus animierte, mit seinem Badmintonschläger Federbälle auf die gegenüberliegende Straßenseite zu spielen.

Ich bin eigentlich ein Beatles-Typ, dachte Albert, doch dann schwang er sich aufs Fensterbrett und brüllte, was er für den Text von »Satisfaction« hielt. Claus stellte sich neben ihn und spielte Luftgitarre auf dem Schläger, während Toni sich im beschissensten Gitarrensolo seit Menschengedenken verlor. Es klingelte. Toni spielte sich in nie gekannte Höhen. Es klopfte hartnäckig an der Tür. Albert schrie sich die Seele aus dem Leib. Es donnerte sehr nachdrücklich an der Tür. Von der Straße erscholl Applaus. Toni latschte zur Wohnungstür und öffnete. Dort stand mit freiem Oberkörper ein blondgelockter Athlet in Radlerhosen. Er sprang Toni regelrecht an den Hals.

»Seid ihr völlig irre? Ich fahr gleich Achterbahn in eurer Bude, ihr blöden Heckenpenner!«

Claus zog Albert unauffällig ins hintere Zimmer, wo sich die beiden blödsinnig kichernd unter Tonis Schreibtisch verkrochen. »Jens Harm von oben, der is’ dummerweise Kickboxer!«

Unterdessen diskutierte Toni mit dem erregten Sportler.

Unter Aufbietung sämtlicher diplomatischer Fertigkeiten gelang es ihm, den Wutentbrannten davon zu überzeugen, dass körperliche Gewalt nicht vonnöten sei. Nachdem er die Wohnungstür sehr behutsam geschlossen hatte, stiefelte Toni zu Albert und Claus, die immer noch unter seinem Schreibtisch hockten. »Habt ihr das mitbekommen? So eine Unverfrorenheit! In der eigenen Wohnung zusammengefaltet! Der wollte mir alle Knochen brechen! Frechheit sondergleichen! Ich ruf morgen den Anwalt an.« Toni baumelte noch immer die Gitarre um den Hals. »Aber ruhig jetzt! Sonst kommt der Harm gleich wieder! So ein Hanswurst! Ich hau dem auf die Fresse!«

2

Albert erwachte mit stechenden Kopfschmerzen. Seine Augen brannten, und ihn plagte heftiger Durst. Er richtete sich langsam auf und stieß sich den Kopf an der Zimmerdecke. Ein Hochbett also. Er lag unter einer giftgrünen Frotteedecke, ein grauer Wollpullover hatte ihm als Kopfkissen gedient. Neben der Matratze befand sich ein Stapel alter Zeitschriften. Stern, Twen, Quick, Konkret, allesamt mit grellbunten Titelblättern, die seine Kopfschmerzen noch verstärkten. Ein tragbarer Fernseher der Marke VEB Robotron mit einem verbogenen Kleiderbügel als Antenne stand am Fußende. Das Hochbett war riesig, drei Matratzen nebeneinander.

Wo war er hier? Und wie spät war es? Langsam kam ihm der gestrige Abend in den Sinn. Was für ein T-Shirt trug er da? Mit Mühe las er die aufgedruckten Worte »GOD IS OUR PAROLE!«.

Meine Parole ist Nachdurst, dachte Albert und quälte sich langsam die Sprossenwand hinunter, die als Leiter zum Hochbett diente.