Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss - Anna Benning - E-Book
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Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss E-Book

Anna Benning

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Beschreibung

»Die Vortexe zerstörten unsere Welt. Wir lernten in ihnen zu laufen. Doch niemand ahnte, was sie in uns entfachen würden …« Für Elaine ist es der wichtigste Tag ihres Lebens: In Neu London findet das spektakuläre Vortexrennen statt, und sie ist eine der Auserwählten. Hunderte Jugendliche jagen bei dem Wettkampf um den Globus – doch nicht zu Fuß. Sie springen in die Energiewirbel, die die Welt vor Jahrzehnten beinahe zerstört haben. Der Sprung in einen Vortex ist lebensgefährlich, doch gelingt er, bringt er einen wie ein geheimes Portal in Sekunden von einem Ort zum anderen. Elaine will das Rennen um jeden Preis gewinnen. Doch mitten im Vortex erwacht eine Macht in ihr, die die Welt erneut erschüttern könnte. Und der Einzige, der Elaine nun zur Seite stehen kann, ist ein Junge, der nichts mit ihr zu tun haben will … Der packende Auftakt einer Future-Fantasy-Trilogie auf Weltklasseniveau!

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Seitenzahl: 590

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Anna Benning

Vortex

Der Tag, an dem die Welt zerriss

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Inhalt

MottoTeil eins Neu London123456789101112Teil zwei Sanktum13141516171819202122232425Teil drei New York City2627282930313233Sanktum Einige Tage später34Verzeichnis der GruppierungenKarteDankLeseprobeDie Energie unseres Vortex

Unsere Fähigkeit, eine Einheit in der Vielfalt zu erreichen,

wird das Meisterstück und die Bewährungsprobe

unserer Zivilisation sein.

 

Mahatma Gandhi

Teil einsNeu London

Auszug aus dem Handbuch der Anwärter
Innere KuratoriumsangelegenheitenDas Vortexrennen

Nach dem fünften Ausbildungsjahr werden alle Anwärter, die ihre Jahresprüfungen am verantwortlichen Lehrinstitut bestanden haben, vom zuständigen Leiter zum Vortexrennen eingeladen. Alle Anwärter haben sich zum genannten Termin pünktlich an der Startlinie einzufinden. Für die korrekte Ausrüstung sind der Anwärter sowie seine Erziehungsberechtigten verantwortlich. Eine Krankmeldung gilt als automatischer Rückzug aus dem Bewerbungsprozess. Der Anwärter ist für seine körperliche Unversehrtheit während des Rennens selbst verantwortlich.

1

»Wir werden zu spät kommen!«, rief ich über meine Schulter und wühlte weiter in der Eigentumskiste, die Luka wohl das letzte Mal vor fünf Jahren sortiert hatte. T-Shirts, Jeans, Zeitschriften und Comics, Spielekonsolen aus drei Generationen, halbleere Fruchtgummipackungen, eine silberne Uniform, abgewetzte Laufschuhe, aber kein Detektor.

Wo war er bloß?

»Werden wir nicht«, kam es nur von unter dem Bett zurück. Zwei Füße mit löchrigen Socken lugten darunter hervor.

Ich zog die Hände angeekelt aus der Kiste, als ich auf einen klebrigen Kaugummi stieß. Es war wirklich ein Wunder, dass in dem ganzen Gerümpel noch kein Leben entstanden war. Ratlos richtete ich mich auf und ließ meinen Blick im Zimmer umherschweifen. Die Quartiere der Anwärter waren sehr übersichtlich eingerichtet. Jeder von uns hatte nur ein Bett, ein Schrankabteil, einen Nachttisch und eine Kiste für unseren gesamten Besitz. Es war also ziemlich schwer, hier drin etwas zu verlieren. Zumindest für alle, die nicht Luka Woodrow hießen.

Die sechs Hochbetten waren blitzblank aufgeräumt, schließlich würden wir heute zum letzten Mal in diesem Zimmer übernachten. Auch auf meinem Bett war nichts zu sehen. Mit den grauen Laken und den grauen Kissen hob es sich höchstens dadurch vom Rest des Zimmers ab, dass meinen Schlafplatz keine Poster, Postkarten, Plüschtiere und sonstiger Krimskrams zierten.

»Wie kannst du bitte deinen Detektor verlieren?«, fragte ich mit wachsender Verzweiflung. »Das ist dein wichtigster Besitz. Du weißt, dass sie dich ohne ihn auf keinen Fall antreten lassen!«

Lukas roter Haarschopf kam zum Vorschein, als er sich unter dem Bett hervorhievte. Er besaß ernsthaft die Unverschämtheit, die Augen zu verdrehen – bemerkenswert, schließlich war er gerade dabei, unser Leben zu ruinieren. »Ich hab ihn nicht verloren«, sagte er mit einem frechen Grinsen. »Ich hab ihn verlegt. Das ist ein Unterschied.«

»Nicht wenn wir ihn nicht wiederfinden«, seufzte ich und spähte zum hundertsten Mal auf meinen eigenen Detektor. Das runde Gerät an meinem Handgelenk blinkte bereits rot, ein klares Zeichen dafür, dass mein Leben auf einen tiefen, dunklen Abgrund ohne Wiederkehr zusteuerte.

8.44 Uhr. Sechzehn Minuten – bis zum Startsignal, wohlgemerkt. Die Rede des Kuratoriumsleiters hatten wir ohnehin längst verpasst. Varus Hawthorne war nämlich, ganz im Gegensatz zu uns, immer pünktlich.

Eine Minute würde ich Luka noch geben. Nicht mehr. Ich brauchte fünf Minuten bis nach unten, das würde mir gerade genug Puffer geben, um nicht disqualifiziert zu werden. An dem Tag, der über mein gesamtes zukünftiges Leben entschied, würde ich nicht zu spät kommen. Auch nicht wenn mein bester Freund drauf und dran war, sich sein Leben zu vermasseln.

Seit Monaten hatte ich mich auf dieses Rennen vorbereitet. Es war die letzte Prüfung, die auf uns Anwärter zukam, und die Teilnahme daran galt als die größte Ehre, die einem Menschen auf der Erde zuteilwerden konnte. Ich war jeden Tag mehrere Kilometer gelaufen, hatte Kraft- und Ausdauertraining gemacht und sogar den Mentalunterricht von Mrs Pemberton besucht. Und wenn es eine völlig sinnlose Sache auf dieser Welt gab, dann war es Konzentrierte Fokussierung und Gedankenlenkung bei Mrs Pemberton, der alten Schreckschraube.

Endlich würden wir nicht nur die richtige Sprungtechnik in den Simulationen trainieren, sondern wirklich durch einen Vortex springen. Wir würden die Energie um uns herumwirbeln sehen, durch sie hindurchrennen – und uns von ihnen über die Welt tragen lassen.

Endlich konnten wir zeigen, was wir in den letzten Jahren gelernt hatten – und herausfinden, wer von uns zum Vortexläufer geeignet war.

Keiner der anderen Anwärter war so gut vorbereitet wie ich, da war ich mir sicher. Und deswegen musste ich jetzt los.

»Hab ihn!«, sagte Luka, kaum, dass ich meinen Entschluss gefasst hatte. Er zog seinen Detektor mit einem triumphierenden Strahlen aus dem Wäschekorb neben der Tür.

Fassungslos beobachtete ich, wie eine Socke von dem armbanduhrähnlichen Gerät hinabglitt. Ich wollte gar nicht wissen, wie der allerwichtigste Gegenstand, den ein Anwärter besaß, in die Schmutzwäsche geraten konnte.

Stattdessen entfuhr mir ein Stoßseufzer, den man sicherlich noch in den Zonengebieten hinter Neu London hören konnte. Für einen Moment schloss ich erleichtert die Augen.

»Ellie, komm schon!« Luka war in seine Laufschuhe geschlüpft und hielt mir nun die Tür auf.

Mit weit ausladenden Schritten rannten wir in den Korridor, der von den Anwärterquartieren aus nach unten führte. Wir kamen an den Klassenzimmern und Trainingsräumen vorbei, in denen wir die letzten fünf Jahre verbracht hatten. Es war schwer zu glauben, dass ich nach dem heutigen Tag nicht mehr jeden Morgen um acht Uhr an meinem Platz in der zweiten Reihe sitzen würde. Dass Luka nicht mehr ständig Grimassen schneiden würde, wenn unsere Lehrer nicht hinsahen. Und dass ich nicht mehr auf den Rücken von Holden Hawthorne starren würde, dem talentiertesten Jungen unseres Jahrgangs, in der leisen Hoffnung, er würde sich irgendwann zu mir herumdrehen.

Aber so war es nun mal. Ab morgen war unsere Zeit an dieser Schule für immer vorbei. Ab morgen würde jeder Anwärter seinen Platz im Kuratorium einnehmen. Und heute würde sich zeigen, welcher Platz das war.

Wir rannten weiter, und unsere hektischen Atemzüge wurden mit jedem Schritt lauter. Die Gänge des Institutsgebäudes waren endlos und einschüchternd, verkleidet mit metallenen Platten und schlangenförmigen Beleuchtungsstäben an den weit entfernten Decken.

Ich erinnerte mich noch gut an den Tag, als ich das Kuratorium zum ersten Mal betreten hatte. Ich war gerade zwölf geworden, und Tante Lis und ihr Mann Gilbert hatten mich zu meinem Antrittsbesuch als Anwärterin begleitet. Die beiden arbeiteten selbst im Kuratorium: Meine Tante war Anwältin im Verwaltungsbereich, ihr Mann der Chefnavigator unseres Instituts, das wichtigste Amt, das direkt dem Leiter unterstellt war.

Und obwohl mir die beiden zuvor mehrfach von dem riesigen Eingangsbereich erzählt hatten, der extra so gebaut war, dass man sich sofort klein und unbedeutend fühlte, wenn man ihn betrat, erstarrte ich trotzdem nach wenigen Schritten zur Salzsäule.

Das Kuratorium war … unheimlich schön, auf eine Art und Weise, die nicht von dieser Welt war.

Es war einer der höchsten Wolkenkratzer in ganz Neu London. Er schraubte sich wie ein Luftwirbel knappe dreihundert Meter in die Höhe, und alle Räume darin sahen aus, als wären sie in ständiger Bewegung. Über die Wände und Böden zogen sich wellenartige filigrane Linien, die man nur erkannte, wenn man genauer hinsah, die einem aber das Gefühl gaben, als würden die Metallverkleidungen langsam davonfließen. Die Korridore waren wie ein Strudel angelegt, der sich immer weiter nach oben und immer weiter in die Mitte schraubte. Sobald man den Eingangsbereich betrat, fühlte man sich, als würde ein sanfter Sog einen davontragen.

Jede Bewegung verläuft in der Zeit und hat ein Ziel, stand in großen Lettern über der Eingangspforte des Kuratoriums. Es war das Zitat eines großen Philosophen – und der Leitspruch aller Kuratorien auf der Welt.

Das Institutsgebäude sollte einen riesigen lebendigen Vortex darstellen, hatte mir Gilbert damals erklärt. Und je höher es einem erlaubt wurde, ins Gebäude vorzudringen, desto mehr hatte man sich in den Augen des Kuratoriums verdient gemacht. Im untersten Bereich gab es die Verwaltungs- und Forschungsräume, im mittleren Ring wurden wir und die restlichen fünf Jahrgänge der Anwärter ausgebildet. Danach folgten die Unterkünfte der Navigatoren und Zonenwächter, und ganz am Ende, kurz unterhalb der Gebäudespitze: die Quartiere der Vortexläufer, die sich wie ein schützender Kreis um das Büro des Leiters legten.

Und genau dort wollte ich nach dem heutigen Tag hin.

Als wir endlich am unteren Ende des Ganges angekommen waren, stieß ich die Tür auf, die uns zum Innenhof hinausführte. Die Sonne blendete mich, doch davon ließ ich mich nicht aufhalten.

Der Hof war so groß wie zwei Fußballfelder, und sein Boden war mit unzähligen grauen und blauen Mosaiksteinen gepflastert, die, in einer Spirale angeordnet, einen Wirbel ergaben. Die Statuen, die links und rechts neben den alten Mauern des Kuratoriumsgebäudes standen, waren Abbilder der Institutsleiter, die weltweit im Amt waren. Es waren zehn an der Zahl, genau wie heute nur zehn von uns ihren Traum verwirklichen würden.

Ein paar Leute aus dem Publikum drehten sich verwundert um, als Luka und ich den Wirbelweg entlangrannten, aber die meisten starrten weiterhin gebannt nach vorne.

Es müssen mehrere hundert sein, dachte ich. Wahrscheinlich war heute sogar das gesamte Kuratorium anwesend: alle Lehrer, alle Verwaltungsangestellten, selbst ein Großteil der Navigatoren, die in einer Reihe hinter dem Pult standen, angeführt von Gilbert, der der Startlinie am nächsten war.

Das Vortexrennen fand viermal im Jahr statt, immer in einem anderen Kuratoriumssitz. In diesem Jahr waren die Institute von Neu London, Moskau, Kairo und Kapstadt an der Reihe. Nächstes Jahr: Hongkong, Tokio, Sydney und New York. Da die Rennen in alle Territorien der Welt ausgestrahlt wurden, stellten sie die größte Attraktion des Jahres dar. Die Kameradrohnen waren überall im Einsatz, die Menschen strömten nach draußen zu den Liveübertragungen – absolut niemand wollte sich das Spektakel entgehen lassen.

Die Einzigen, die bei den Feierlichkeiten fehlten, waren die Vortexläufer, doch die wohnten nie den Anwärterprüfungen bei.

Dafür war ihre Aufgabe viel zu wichtig.

Erleichtert stellte ich fest, dass die Eröffnungszeremonie noch nicht ganz zu Ende war. Ich verlangsamte meine Schritte, um unser Eintreffen etwas weniger auffällig zu gestalten, aber natürlich hatten uns längst alle bemerkt.

Über die Menge hinweg senkte sich der Blick von Varus Hawthorne auf uns. Wie erwartet, war er bereits am Ende seiner Rede angekommen und ließ sich auch von unserer Unterbrechung nicht irritieren.

»Nur zehn von Ihnen werden in die ehrenwerten Reihen der Läufer aufgenommen«, schallten seine Worte über den Hof. »Zehn von Ihnen werden künftig unsere geliebte Stadt vor denen beschützen, die wie Heuschrecken über sie herfallen wollen. Also, laufen Sie schnell, aber konzentriert, Anwärter! Sie wissen: Eine einzige falsche Entscheidung kann das Ende Ihrer Prüfung bedeuten! Mögen die Besten gewinnen, und mögen die Besten zu den größten Läufern der zehn Territorien werden!«

Tosender Beifall brandete auf. Hawthornes Stimme war mindestens so beeindruckend wie sein Äußeres. Graublonde, leicht gewellte Haare umrahmten ein Gesicht, das wie das eines antiken römischen Helden aussah. Er hatte einen kräftigen Kiefer, eine gerade Nase und eine hohe Stirn. Seine Lippen waren schmal und stets etwas nach unten geschwungen. Er war ein gutaussehender, aber immer sehr ernster Mann. Und in Momenten wie diesem erinnerte er mich so sehr an seinen Sohn, dass es weh tat.

Hawthorne entfernte sich einen Schritt vom Podium und stellte sich mit Gilbert und den restlichen Navigatoren neben die Startlinie. Ich hatte keinen Zweifel, dass den beiden unser spätes Eintreffen aufgefallen war. Während Hawthorne sich nichts anmerken ließ, hatte Gilberts Gesicht einen angespannten Ausdruck angenommen. Es hatte sich diese tiefe Falte zwischen seinen Brauen gebildet, die er nur bekam, wenn er Luka und mir am liebsten eine ordentliche Standpauke halten würde.

Gilbert räusperte sich verlegen und blickte zusammen mit Hawthorne auf das Gerät in seinen Händen.

Der Detektor des Chefnavigators sah aus wie eine große Version der Detektoren, die jeder von uns am Handgelenk trug. Es waren im Grunde tragbare Computer, mit denen man so gut wie alles machen konnte. Sie waren Sonargerät, Kompass und Medienzugang in einem. Vom Display aus konnte man die Daten überallhin projizieren, auf einen Monitor, auf eine Wand, ja sogar in die Luft. Die Technik darin war unheimlich komplex, wie unser Lehrer für Vortexenergie und Antigravitation mehrfach betont hatte. Wie sonst sollte so ein unscheinbares Gerät vorhersagen können, dass genau heute, um neun Uhr, an diesem Ort ein Vortex entstand?

Vor meinem inneren Auge sah ich den Countdown auf Gilberts Detektor ablaufen, unnachgiebig und gnadenlos, während ich das letzte Stück bis zur Startlinie lief.

Außer uns standen alle Anwärter in ihren silbernen Uniformen auf ihren Positionen. Vierundvierzig Jungs und Mädchen, die nach den mehrwöchigen Prüfungen noch übrig geblieben waren. Manche kamen aus kleineren Anwärterzentren, die in Schottland, Deutschland oder Frankreich angesiedelt waren, manche waren wie Luka und ich direkt in einem Kuratorium ausgebildet worden. Ursprünglich hatte es über zweihundert Anwärter gegeben, doch die meisten waren längst ausgeschieden und würden nun eine Karriere in den Forschungs- und Verwaltungsabteilungen des Kuratoriums einschlagen.

Nur wenige waren dazu bestimmt, ein Läufer zu werden.

Ich musste unbedingt dazugehören.

Die meisten Anwärter kannte ich nur aus dem Unterricht. Freundschaften bedeuteten mir nicht viel. Sie durften mir nichts bedeuten, denn was brachte mir schon ein guter Freund, wenn ich am Ende als Elfte ins Ziel ging?

Mit wild klopfendem Herzen kam ich an der Startlinie zum Stehen. Die kalte Morgenluft zog stoßweise durch meine Lungen und zwang mich dazu, ruhig zu werden. Heute ist der Tag, sagte ich mir. Dass Luka mich mit seiner Schusseligkeit fast um meinen Startplatz gebracht hätte, musste ich verdrängen.

Fokussieren, Elaine. Richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Atem. Sei stabil wie ein Fels. Dass ausgerechnet jetzt Mrs Pemberton zu mir sprach, war wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass ich jeden Moment vor Aufregung umkippte.

Da drang eine schneidende Stimme zu mir herüber. »Ich fass es nicht, dass ihr Versager sogar heute zu spät kommt.« Ich spähte zur Seite und traf auf zwei blaue Augen und einen spöttisch verzogenen Mund. »Was war’s denn diesmal? Hat dein Geliebter wieder seine Klamotten abgefackelt, Collins?«

»Luka ist nicht mein Geliebter«, zischte ich und fügte dann etwas leiser hinzu: »Und das mit seinem Pullover war ein Versehen.«

Außerdem waren bereits Wochen seit Lukas letztem Anfall vergangen. Er hatte sich unter Kontrolle. Luka gehörte nicht zu diesen Heuschrecken, von denen Hawthorne gesprochen hatte. Nicht wirklich. Dass sich sein Blut von unserem unterschied, mochte für hochnäsige Ziegen wie Mia Rose Lancaster eine Rolle spielen. Für mich nicht.

»Ein Unfall? Wohl eher ein Freak-Fall. Dass Mister Woodrow ihn überhaupt bis hierher gebracht hat, ist eine Schande für das ganze Institut. Aber rede es dir schön, wenn du kannst.« Über Mias Gesicht huschte ein siegessicheres Lächeln. »Nach dem heutigen Tag seid ihr sowieso nicht mehr mein Problem, sondern das eurer zukünftigen Kollegen – den Zonenwächtern.«

»Das werden wir ja sehen«, blaffte ich zurück, in der Hoffnung, dass sie endlich Ruhe gab.

Ich war Mias Giftspuckerei unendlich leid. Ihr Vater produzierte die Uniformen für das Kuratorium, was dazu führte, dass die Lancaster-Familie stinkreich war und großen Einfluss ausübte. Allerdings keinen so großen wie Gilbert, der als Chefnavigator nach Varus Hawthorne nun mal der mächtigste Mann im Territorium war.

Mias Familie saß auf der Hierarchieleiter knapp unter meiner. Und deshalb hasste sie Luka und mich inbrünstig.

Dass ich ausgerechnet neben dieser Schlange an die Startlinie gehen musste, war wahrscheinlich nicht das beste Zeichen, aber ich weigerte mich, deshalb nervös zu werden. Stattdessen ließ ich meinen Blick über die anderen Anwärter in meiner Nähe schweifen.

Die meisten schauten konzentriert nach vorne, einigen schlotterten sichtlich die Knie. Außer Mia blickte nur noch ein Junge in meine Richtung. Mit seinen dunkelblonden Haaren, den goldbraunen Augen und der ernsten Miene war er auch heute seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.

Ein zugegeben ziemlich mitleiderregender Teil von mir wollte einfach nur breit lächeln, weil Holden Hawthorne mir seine Aufmerksamkeit schenkte, aber ich zwang mich dazu, es auf ein möglichst lockeres Kopfnicken zu beschränken. Für Schwärmereien war jetzt kein Platz.

Holdens Mundwinkel zuckten kurz, dann wandte er sich wieder ab. Mit ziemlicher Sicherheit war ich längst aus seinem Gedächtnis verschwunden.

Das Mädchen in der zweiten Reihe. Die Zweitbeste in der Klasse. Das war ich wohl auch noch am letzten Schultag.

Egal. Heute zählte nur das Rennen. Heute würde ich allen beweisen, dass ich das Zeug zur Läuferin hatte.

Ich war bereit.

Da fingen die Zuschauer um uns herum an zu klatschen und zu jubeln, als stünden die zehn Sieger längst fest. Ich durchforstete das Publikum und war endlos erleichtert, als ich Tante Lis an der linken Seitenlinie entdeckte. Beinahe hätte ich ihre blonde Lockenmähne in der Menge übersehen – sie war nämlich die Einzige, die auf ihrer Bank sitzen blieb, während alle anderen aufsprangen. Ihr war offensichtlich nicht nach Jubeln zumute. Stattdessen sah sie schrecklich besorgt aus.

Lis hatte sich immer dagegengestemmt, dass ich eine Läuferin werden wollte. Während andere Eltern alles dafür täten, ihre Kinder heute an dieser Startlinie zu sehen, hatte Lis mir Vorträge gehalten. Wusstest du, dass die Läufer eine durchschnittliche Lebenserwartung von 42 Jahren haben? 42, Elaine! Allein dass sie heute dem Rennen beiwohnte, war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.

Ich warf ihr ein zaghaftes Lächeln zu, und als Lis ihre Arme um ihren Körper schlang und aufmunternd zurücklächelte, spürte ich, wie meine Gedanken endlich aufhörten zu rasen.

»Deinetwegen bin ich schon völlig durch den Wind, bevor wir überhaupt angefangen haben«, raunte ich Luka zu, während ich in Startposition ging.

Luka grinste. Sein typisches unbekümmertes Luka-Grinsen, das mich sofort versöhnlich stimmte, ob ich es wollte oder nicht.

»Du schaffst das«, sagte er. »Sie werden deinen Staub schlucken.«

Ich nickte, denn ich wusste, dass ich es schaffen musste, und nahm die Mauer vor uns ins Visier.

Für Außenstehende musste unsere Rennstrecke völlig absurd aussehen. Alle Teilnehmer standen an einer Linie aufgereiht, doch statt dass sich vor uns ein weiter Weg über ein offenes Gelände erstreckte, starrten wir geradewegs auf eine Wand.

Natürlich wusste ich, was in wenigen Sekunden vor mir liegen würde. Noch blinkten die Gravisensoren, fingernagelgroße Kügelchen, die überall im Institut angebracht waren und tagein, tagaus dafür sorgten, dass keine Vortexe mitten im Kuratorium entstanden. So klein sie waren, hatten sie doch ungeheure Macht. Nur heute würde Gilbert sie für die Dauer des Rennens – und unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen – deaktivieren.

Ich wusste, welche Gefahren auf mich warteten. Das Vortexrennen war nicht zu Unrecht die letzte Stufe unserer Ausbildung. Immer wieder verletzten sich Anwärter bei ihrem ersten Vortexsprung. Manche kamen den gefährlichen Energien zu nahe, die in den Wirbeln wirkten, andere gingen auf der Strecke verloren. In der Regel wurden sie später von den Läufern aufgesammelt, die für solche Notfälle abgestellt waren, aber jedem von uns war klar, dass für einige die Hilfe zu spät kommen würde.

Todesfälle waren bei den Vortexrennen keine Seltenheit. Die letzte Strecke hatte sich über die USA nach Kanada bis nach Grönland gezogen, und dabei war ein Junge mitten durch einen Vortex in einen gefrorenen See gesprungen und nie wieder aufgetaucht.

»Anwärter!«, schallte Hawthornes tiefe Stimme über den Innenhof. Die Kameradrohnen um uns herum zoomten der Reihe nach auf jeden Anwärter. Die Aufnahmen wurden auf den Leinwänden ringsum übertragen – und in die ganze Welt. Nach dem heutigen Tag würde jeder Mensch unsere Namen kennen, und ich bemühte mich, so stark und entschlossen wie möglich dreinzuschauen.

Hawthornes Blick ruhte dagegen auf seinem Sohn, und die Erwartung, die in seinen Augen aufblitzte, jagte mir Schauer über den Rücken.

Sollte das Unmögliche eintreten und ich heute nicht in die Riege der Läufer aufgenommen werden – Lis und Gilbert würden mich umarmen und trösten und mir sagen, dass ein Navigator eine genauso wichtige Aufgabe hatte. Holden dagegen … Für Holden gab es keine Alternative. Als Sohn des Kuratoriumsleiters durfte dieser Tag für ihn nur einen einzigen Ausgang haben: Er musste nicht einfach über die Ziellinie kommen, er musste das Rennen gewinnen.

»Es ist so weit«, rief Hawthorne wieder. »Jede Bewegung verläuft in der Zeit und hat ein Ziel, Anwärter. Denkt daran. Handelt danach. Auf mein Zeichen!«

Gilbert trat nach vorne. Als Chefnavigator lag es in seiner Verantwortung, dass das Rennen reibungslos verlief und der Vortex genau dann entstand, wenn das Startsignal ertönte. Allein dafür hatte er wochenlange Berechnungen angestellt, die Luka, meine Tante und mich fast in den Wahnsinn getrieben hatten.

Gilbert war ein großer, eher dünner Mann mit hellbraunen Haaren, der in jeder Lebenslage perfekt geschniegelt aussah und so etwas wie Aufregung gar nicht kannte. Er blickte abwechselnd prüfend zur Wand und dann zurück zu seinem Detektor. Hin und her, bevor er warnend die linke Hand hob.

Noch in derselben Sekunde blinkten die Gravisensoren an den Wänden zum letzten Mal auf. Ihr blaues Licht war für mich immer ein Zeichen von absoluter Sicherheit gewesen – nun wurden sie schwarz.

Mein Blick schnellte ein letztes Mal zu Lis. Sie lächelte nicht mehr. Es wird alles gutgehen, sandte ich eine stumme Botschaft. Mach dir keine Sorgen.

Dann richtete ich meinen Blick nach vorn.

Mit schnellen Bewegungen prüfte ich, dass der Rucksack auf meinem Rücken gut festgezurrt war. Ich zog an meinen blonden Haaren und band den Pferdeschwanz fester. Dann spürte ich schon, wie vor mir ein erstes Flirren entstand – ein Surren in der Luft. Es war wie eine schwüle Hitze, die sich an einem Punkt verdichtete, sich wie ein Wirbel auseinanderzog und lauter und lauter wurde.

Ein echter Vortex.

»Anwärter!«, rief Hawthorne wieder. Wir alle lehnten uns nach vorne und fokussierten den größer werdenden Kreis, in dem Himmel, Erde, Wand und Luft ineinander zu verschmelzen schienen.

»Tretet vor in: drei!«

Das Herz pochte mir bis zum Hals, und ich spürte es kaum, als Luka meine Hand in seine nahm und sie sanft drückte.

»Viel Glück«, flüsterte er.

»Viel Glück«, gab ich gepresst zurück.

»Tretet vor in: zwei! Tretet vor in: eins!«

Alles in mir spannte sich an, und ich nahm einen letzten tiefen Atemzug.

»Tretet vor: Jetzt!«

Das Wort war wie ein Kanonenschuss, und alle vierundvierzig Anwärter stürmten gleichzeitig nach vorne. Manche waren schneller als andere, aber Geschwindigkeit war nur der halbe Sieg. Ich war erst die Vierte, die in den Vortex sprang.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie einige sofort wieder herauskatapultiert wurden. Ich schloss die Augen, um mich so zu konzentrieren, wie ich es in den Simulationsstunden gelernt hatte.

Sei so schnell wie ein Pfeil, rief ich mir die Worte unserer Lehrer ins Gedächtnis, als ich begann, ins Zentrum des Vortex zu laufen. Spüre den Strom, aber komm ihm niemals zu nahe.

Die Energie zerrte von allen Seiten an mir, hüllte mich ein in elektrisches Zucken, gefolgt von einem gleißenden Licht.

Jede Bewegung verläuft in der Zeit und hat ein Ziel, dachte ich und schloss die Augen.

Jede Bewegung verläuft in der Zeit und hat ein Ziel.

Jede Bewegung verläuft in der Zeit und hat ein Ziel.

Dann zog mich der Vortex durch die Welt.

2

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der Vortex verblasste, dann war um mich herum nur noch Wasser. Instinktiv wollte ich nach Luft schnappen, doch stattdessen drang die kalte, salzige Flüssigkeit direkt in meine Nase und ließ mich würgen. Ich strampelte mit den Füßen und drückte mich nach oben. Zumindest hoffte ich, dass ich nach oben schwamm. Es dauerte mehrere Beinschläge, bis ich endlich die Wasseroberfläche durchbrach, und ich hustete, als sich meine Lungen mit Atemluft füllten.

Ich hatte es geschafft. Ich war tatsächlich durch einen Vortex gesprungen!

Schnell überblickte ich meine Umgebung. Der Himmel war strahlend hell, also musste es mitten am Tag sein. Ich riss den rechten Arm nach oben und schaute auf meinen Detektor. Der lange Zeiger rotierte noch im Kreis, was zum einen bedeutete, dass ich nicht mehr in derselben Zeitzone war, und zum anderen, dass ich auf keinen Fall warten konnte, bis der Detektor sich richtig eingestellt hatte.

Im Grunde war die Uhrzeit auch egal. Offensichtlich war ich nicht in der Themse gelandet, dafür war die Luft zu schwül und das Wasser zu sauber. Und das wiederum bedeutete, dass ich schnellstmöglich den nächsten Vortex finden musste, um wieder nach Neu London zu kommen.

Ich warf einen weiteren Blick auf den Detektor. Zwei kleine grüne Kreise blinkten darauf, also waren Vortexe in der Nähe. Ich drehte mich im Wasser, bis der eingebaute Kompass in die richtige Richtung zeigte, dann prüfte ich, ob mein Rucksack noch fest saß, und schwamm los.

Der Sprung durch einen Vortex löste immer ein leichtes Schwindelgefühl aus, das hatte ich schon in den Simulationen festgestellt. Unser Lehrer für Praktische Sprungtechniken hatte uns erklärt, dass die Reaktion unserer Körper auf den Sprung stark mit der Länge eines Vortex zusammenhing. Zog sich der Wirbel nur von Neu London nach Edinburgh, fühlte man nahezu keine Beeinträchtigung. Nach dem Sprung durch den längsten bisher gemessenen Vortex, der über den halben Globus führte, hatte sich der betroffene Vortexläufer dagegen zwei Stunden lang die Seele aus dem Leib gekotzt.

Da ich Mühe hatte, die Übelkeit abzuschütteln, waren wir also zumindest nicht mehr in unserem Territorium.

Ich spähte zur Seite über die türkisfarbenen Wellen. Die anderen Anwärter müssten eigentlich in der Nähe gelandet sein, aber noch konnte ich keinen von ihnen sehen.

Luka wird es hassen, dachte ich. Schwimmen war schon immer eine der wenigen Sportarten gewesen, in der er nicht glänzte. Und seit er wusste, welche schrecklichen Kräfte in seinem Blut schlummerten – seit er wusste, dass er wenigstens zu einem Teil zu denen gehörte –, mied er das Wasser, so gut es ging.

Nicht an Luka denken, ermahnte ich mich. Konzentriere dich, deine ganze Zukunft hängt von diesem Tag ab. Also strampelte ich schneller, kraulte durch das Salzwasser und kam wenig später an einem goldenen Sandstrand an. Sind wir in der Karibik gelandet?, fragte ich mich und rannte geradewegs durch die Reihe von Palmen. Lianen, Farne und bunt blühende Büsche erstreckten sich zu allen Seiten. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie unerträglich heiß es war. Insekten zirpten, Vögel zwitscherten. In der Ferne brüllten sogar ein paar Affen.

Mit geschlossenen Augen versuchte ich, den Lärm des Dschungels auszublenden. Der Detektor an meinem Handgelenk vibrierte, die grünen Punkte wurden größer, und ich hielt inne, um mich zu orientieren. Ein Vortex lag im Norden, einer im Südwesten, beide glücklicherweise an Land. Jetzt galt es nur noch herauszufinden, welcher Vortex mich am schnellsten nach Hause brachte.

Die Zahlen, die neben den grünen Punkten aufleuchteten, zeigten uns die Richtung, Länge und Lebensdauer eines Vortex, aber das brachte mir nicht viel, wenn das Ortungssystem mir nicht bald sagte, wo ich war. Erst wenn ich das wusste, konnte ich abschätzen, welcher Vortex mich näher zu meinem Ziel brachte. Und die Zeiger kreisten immer weiter.

Ich schloss die Augen und nahm tiefe, ruhige Atemzüge. Dann lauschte ich in mich hinein. Es dauerte nicht lange, bis das Flirren in der Ferne zu mir drang.

Ich erinnerte mich, wie unser Lehrer damals gesagt hatte, dass die Vortexe aus den Simulationseinheiten mit denen in der Wirklichkeit nur wenig gemein hatten. Die Vortexe in der echten Welt drangen durch alles hindurch, was auf ihrem Weg lag; sie vermischten Stein mit Wasser, mit Luft, mit Erde. Und dadurch hinterließen sie Spuren, die wir fühlen konnten, wenn wir nur aufmerksam genug waren.

Die beiden Vortexe waren nicht mehr weit von mir entfernt. Der im Südwesten fühlte sich eher nass und kalt an, während der im Norden heiß und rau war. Mitten im Ozean zu landen war kein schöner Gedanke, auch wenn Läufern das natürlich oft genug passierte. Also blickte ich mich noch einmal um, entdeckte weiterhin niemanden und rannte in Richtung Norden.

Konzentriert starrte ich auf den Boden, während ich über Wurzeln, Moos und Steine sprang. Das Gelände war unwegsam, und ich fragte mich, ob Gilbert gewusst hatte, wohin der erste Vortex führen würde. Denn eigentlich hatte das Kuratorium nur eine Kontrolle über das Rennen: zu bestimmen, durch welchen Vortex wir zuerst sprangen. Alles danach war purer Zufall. Von jetzt an war es ganz und gar unsere Entscheidung, welchen Weg wir einschlugen und wie wir zurück nach Neu London fanden.

Manche Läufer hatten schon Stunden damit zugebracht, den einen perfekten Vortex zu finden, der sie so nah wie möglich beim Kuratorium absetzte. Andere nahmen den nächstbesten, und dann den nächsten und den nächsten, in der Hoffnung, dass sie damit schneller ans Ziel kamen als die anderen.

Der Vortex, für den ich mich entschieden hatte, war nun in unmittelbarer Nähe. Ich rannte um einen meterbreiten Baum, dann hörte ich es. Ein Knacken hinter mir. Als hätten sich die anderen Anwärter abgesprochen, brachen plötzlich links und rechts mehrere silberne Gestalten aus dem Dickicht hervor.

Na großartig! Die Kletten folgten mir! Zuerst entdeckte ich Mia mit ihren platinblonden Haaren. Ein hochgewachsener Junge mit dunkelbraunem Teint und muskelbepackten Armen war ihr dicht auf den Fersen – soweit ich wusste, war er ein Anwärter aus Edinburgh. Hinter ihm folgte ein Mädchen mit schmalem Gesicht und einem Dutt auf dem Kopf.

Und dann tauchte auch Holden zwischen den Palmen auf, doch im Gegensatz zu den anderen lief er mir nicht nach, sondern versuchte, mich zu überholen.

Wir warfen uns einen kurzen Blick zu, als wir Seite an Seite auf den Vortex zusteuerten. Um mich herum waren immer mehr Schritte zu hören, als würden alle vierundvierzig auf denselben Punkt zulaufen. Natürlich konnte das nicht stimmen, denn bei jedem Vortexrennen scheiterten bereits mehrere Anwärter an dem ersten Sprung. Sie konzentrierten sich einfach nicht gut genug, und der Vortex spuckte sie auf halbem Wege wieder aus.

Wenn sie Glück hatten.

Ich konnte nur hoffen, dass Luka unter den verbliebenen Läufern war. Mit seiner Konzentrationsfähigkeit war es nämlich auch nicht sonderlich gut bestellt.

Das Flirren in der Luft war inzwischen mit bloßem Auge zu sehen. Der Wirbel lag direkt hinter der Spitze einer steilen Böschung, so dass man den letzten Meter mit einem beherzten Sprung hinter sich bringen musste. Ich legte noch etwas Tempo zu, sprintete einige Schritte vor Holden den Hügel hinauf und …

Ich schrie, als jemand an meinem Rucksack zog. Verdammt! Dann bohrte sich ein Ellbogen in meinen Rücken, und ein Fuß wurde in eine meiner Kniekehlen gerammt. Das brachte mich endgültig zu Fall, und ich schrie erneut, als ich den Hügel hinabstürzte. Gerade noch konnte ich mich mit den Händen abfangen. Über mir entdeckte ich noch einen platinblonden Schimmer und bildete mir ein, Mia grinsen zu sehen, während sie direkt hinter Holden durch den Vortex sprang.

Verdammt, damit hätte ich rechnen müssen!

Ich ließ mich mit einem Stöhnen auf den Untergrund sacken, unmittelbar vor einem Lemuren, der mich mit seinen riesigen Augen fassungslos anstarrte.

Ja, wollte ich ihm sagen. Ich bin genauso überrascht.

Für einen Augenblick gab ich mich dem Schmerz hin, dann hievte ich mich auf die Füße. Ich strauchelte, sah überall kleine Lichtreflexe und war dankbar, als mich zwei Hände an den Schultern packten und mir Halt gaben.

Zuerst dachte ich, dass Holden vielleicht umgedreht war, aber stattdessen lächelte mir Luka entgegen.

»Komm schon, Faulpelz«, sagte er und zog mich an der Hand die Böschung hinauf. »Pause kannst du später noch machen.«

»Du hättest nicht auf mich warten sollen«, keuchte ich. Beim Vortexrennen musste sich jeder selbst der Nächste sein.

»Und meine zukünftige Läuferpartnerin zurücklassen?«, fragte er, und seine kastanienbraunen Augen funkelten amüsiert. »Kommt gar nicht in Frage. Komm schon, holen wir die Lahmärsche ein.«

Ich konnte ein kurzes kratziges Lachen nicht mehr zurückhalten.

Nach seiner Diagnose hielten viele Anwärter Luka für einen Freak, aber für mich war er ganz einfach mein bester Freund. Mein einziger Freund. Und Momente wie diese zeigten mir wieder warum.

Wir brauchten fast fünf qualvolle Minuten, bis wir am höchsten Punkt der Böschung ankamen. Gemeinsam nahmen wir Anlauf, sprangen durch den Vortex, und der Sog trug uns davon. Ich ließ die Bewegung widerstandslos durch meinen Körper gleiten, während ich versuchte, mich so klein wie möglich zu machen, um nicht von den tödlichen Energien am Rand berührt zu werden.

In den Simulationssprüngen hatten die Vortexe nur aus Energieströmen bestanden, aus nüchternem blauem Flackern. In der Wirklichkeit sah das anders aus – ich konnte sehen, wie der Vortex sich über die Erde schraubte, sah Meere und Himmelsfetzen an mir vorbeiziehen. Der Anblick raubte mir den Atem. Beim ersten Mal hatte ich die meiste Zeit die Augen geschlossen und mich nicht getraut hinzuschauen, doch jetzt – oh, jetzt bekam ich gar nicht genug. Ich schoss mit nervenzerreißender Geschwindigkeit durch die Welt, und ich spürte das Adrenalin nur so durch meine Adern pumpen.

Es war viel zu schnell vorbei.

Als ich die Orientierung zurückerlangt hatte, war um mich herum nur Wüste. Sand. Überall. Daher kam also die Hitze, die ich gespürt hatte.

Luka landete diesmal ganz in meiner Nähe. Die anderen Anwärter, elf, zwölf, fünfzehn, rannten dagegen bereits weit vor uns über die Dünen. Wir konnten sie unmöglich einholen, jeder Schritt im tiefen Sand kostete wahnsinnig viel Kraft. Schon auf halber Strecke ging mir die Puste aus, ich schleppte mich bloß eine Düne nach der anderen nach oben und schlidderte sie dann wieder herunter.

Die anderen waren längst verschwunden, als wir auf den Vortex zukrochen, der inzwischen halb unter Sand vergraben war. Mist! Wir mussten mitten ins Zentrum springen, aber das war komplett verschüttet. Sofort begannen wir zu graben, und der heiße Sand brannte so sehr an meinen Fingern, dass ich schon bald vor Schmerzen zitterte.

»Hör auf! Lass mich das machen«, presste Luka zwischen den Zähnen hervor. Er drängte mich zur Seite, so dass ich mit dem Graben aufhören musste. Seine Finger tauchten mühelos in den brennend heißen Untergrund hinein, immer und immer wieder.

»Luka …« Ich sah ihm unsicher zu, doch er grub nur unablässig weiter.

»Was?«, raunte er. »So ist es wenigstens mal für etwas gut.«

Ich presste die Lippen aufeinander und sagte nichts dazu. Luka durfte seine Kräfte nicht einsetzen, schon gar nicht beim Vortexrennen. Wenn uns jetzt eine der Drohnen entdeckte, würde er disqualifiziert werden. Und ich vielleicht auch.

Allerdings tat er ja nicht wirklich etwas. Dass seine Haut die Hitze mühelos absorbierte – dafür konnte er nichts.

Luka grub und grub, und ich starrte angespannt auf die rote Anzeige auf meinem Detektor, die mir sagte, dass der Vortex nicht mehr lange stabil bleiben würde. Verdammt! Ich sah bereits, wie er am Rand flackerte! Es würde nicht mehr lange dauern, bis er verschwand.

»Schneller!«, rief ich und half nun doch wieder mit.

Da – das Flirren wurde stärker. Wir hatten es fast geschafft! Wenn wir nicht sofort sprangen, würde sich der Vortex auflösen – und wir wären in der Wüste gestrandet.

Kaum hatten wir den Vortex freigelegt, griff ich Luka an der Hand und zog ihn mit mir. Einen Moment später spürte ich voller Erleichterung den vertrauten Sog und ließ Luka wieder los.

Das war gerade noch gutgegangen.

Wir schlingerten, als wir davongezogen wurden. Der Vortex rauschte über die Erdoberfläche, und die Vibrationen schüttelten mich viel stärker durch, als ich es gewohnt war. Schon bald verlor ich Luka aus den Augen und konzentrierte mich nur auf mich selbst.

In der echten Welt ist jeder Vortex anders, erinnerte ich mich an Gilberts Worte, als er Luka und mir spätabends Zusatzstunden in den Simulationskabinen gegeben hatte. Er hatte uns heimlich in den Überwachungsraum des Chefnavigators geführt – ein Raum, den niemand, nicht mal die anderen Navigatoren kannten – und uns gezeigt, wie die Simulationen funktionierten. Diese Vortexe sind künstlich – und immer gleich. Da draußen ist das anders. Da draußen können sie euch schneller umbringen, als ihr blinzeln könnt. Wenn ihr einen Vortex wirklich beherrschen wollt, müsst ihr wissen, mit welcher Art ihr es zu tun habt. Erst dann könnt ihr ihn meistern.

Eisern biss ich die Zähne zusammen. Dieser Vortex wollte definitiv nicht gemeistert werden, aber trotzdem schaffte ich es, mich einigermaßen in seiner Mitte zu halten. Als der Sog nachließ, rollte ich mich ab und blieb erschöpft auf dem harten Pflaster liegen, auf dem ich gelandet war.

Der Zeiger auf meinem Detektor rotierte wieder, als ich mich aufrappelte. Ich befand mich auf einem Platz, der auf der einen Seite von herrschaftlichen Häusern gesäumt wurde. Luka war nirgends zu sehen, er musste an einer anderen Stelle rausgekommen sein. Aber trotzdem war ich nicht allein. Unzählige sehr schick gekleidete Menschen standen auf dem Platz und starrten auf eine Projektion, die auf die Fassade eines Hochhauses geworfen wurde. Dahinter, im Hafen, sah man eine riesige Luxusyacht neben zahlreichen Zweimastern vor Anker liegen.

Okay …

Mit einem Mal wurde mir schmerzlich bewusst, wie völlig zerzaust ich schon jetzt aussehen musste. Sobald ich mich bewegte, rieselte eine Mischung aus Sand, Blättern und Blütenstaub aus meinem Haar. Bestimmt krabbelte auch der ein oder andere Käfer auf mir herum.

Das Ortungssystem meines Detektors aktualisierte sich und zeigte mir meinen Standort an.

Na toll. Ich war mitten in Cannes gelandet.

Kaum hatte sich die Erkenntnis in meinem Kopf breitgemacht, prasselte schon ein wahres Blitzlichtgewitter auf mich ein. Menschen rannten auf mich zu.

»Ils sont là!«, rief eine Frau aufgeregt. »Les coureurs!«

Einige der Reichen und Schönen hielten mir Stifte entgegen, und ich verstand erst gar nicht, was das sollte, bis irgendjemand aus der Menge doch tatsächlich »Autogramm!« rief.

War das ihr Ernst? Ich war noch nicht mal eine Läuferin – und selbst wenn! Wir waren mitten im Rennen!

Schnell wandte ich mich ab und ließ meinen Blick über die Köpfe hinwegschweifen.

Jetzt verstand ich auch, wieso sich hier so viele Leute versammelt hatten. Sie schauten die Liveübertragung des Rennens an. Die Kameradrohnen waren heute überall auf der Welt im Einsatz. Die Navigatoren schickten sie in kürzester Zeit zu den neuen Standorten, die sie durch unsere Detektoren übermittelt bekamen. So hatten sie uns jederzeit im Blick, egal, wo wir von den Vortexen ausspuckt wurden. Aktuell zeigten die Drohnen drei verschiedene Schauplätze: Anwärter, die mit Hilfe von Atemmasken tauchten, Anwärter, die in der Wüste gestrandet waren, und eine weitere Gruppe Anwärter, die gerade begannen, einen Kirchturm hochzuklettern.

Beim letzten Bild war definitiv der Hafen von Cannes im Hintergrund zu sehen, also musste der Turm in der Stadt liegen. Ich drehte mich um die eigene Achse. Die Blitzlichter schossen mir unangenehm in die Augen, aber den Turm mit der riesigen Uhr in der Mitte entdeckte ich trotzdem. Er überragte die Häuser im Norden der Stadt; die Entfernung von hier zu schätzen war unmöglich.

»Lassen Sie mich vorbei!«, rief ich und quetschte mich durch die Massen. Eine Drohne musste mich entdeckt haben, denn meine nicht ganz so sanften Bemühungen, mir einen Weg zu bahnen, wurden direkt auf der Hochhausprojektion ausgestrahlt.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich die Schickimickimenge hinter mir gelassen hatte. Ich rannte durch die Gässchen der Stadt, vorbei an Bistros, Parks und zahlreichen Luxushotels, und versuchte ungefähr die Richtung zum Turm einzuhalten, was bei den verwinkelten Straßen gar nicht so leicht war. Cannes war zum Bersten voll mit Touristen – klar, die Stadt war nach der Großen Vermengung eine der letzten an der französischen Küste, die nicht zu weiten Teilen unter Sand begraben lag.

In den Häuserschluchten verlor ich den Turm mehrmals aus den Augen. Mein Kompass blinkte rötlich, sobald ich mich wieder vom Vortex entfernte, und ich fluchte, als ich die Gasse, durch die ich eben gerannt war, wieder zurücklief.

Endlich erreichte ich den Kirchturm. Er lag an einem runden Platz, der glücklicherweise ziemlich verlassen war. Nur wenige Leute tummelten sich an einem Springbrunnen, der vor der Eingangspforte der Kirche stand.

Entgegen all meiner Sorge waren die Anwärter in ihren silbernen Uniformen noch immer dort. Sie hingen ratlos an der Spitze des Turms und diskutierten heftig miteinander. Zuerst verstand ich nicht, was das Problem war, doch dann blickte ich nach oben und stöhnte innerlich.

Keiner der Anwärter hatte den Vortex bislang erreichen können. Und das lag daran, dass er einige Meter neben der Turmspitze in der Luft lag … Viel zu weit entfernt, um hineinzuspringen.

3

Ich starrte auf meinen Detektor. Nichts – da war nur dieses eine grüne Licht. Einen anderen Vortex gab es nicht, zumindest nicht in der Stadt. Und dieser führte in eine eiskalte Gegend, die zwar Neu London nicht wirklich näher zu sein schien, aber auch nicht weiter weg.

Der Vortex war unsere einzige Chance, und ich scannte die Gegend nach einer Lösung ab. Auf dem Turm waren elf oder zwölf Anwärter zu sehen. Es war unmöglich zu sagen, wie viele insgesamt noch übrig waren. Je länger ein Rennen dauerte, desto mehr verstreuten sich alle in die vier Himmelsrichtungen.

Noch war jedenfalls keiner von ihnen im Kuratorium angekommen. Sonst hätte ich längst eine Benachrichtigung auf meinem Detektor erhalten.

»Na, hast du eine Idee?«, fragte da eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und starrte überrascht in Holdens goldbraune Augen.

Er wirkte fast etwas belustigt, als er die verzweifelten Anwärter auf dem Kirchturm beobachtete. Sicherlich hatte auch er sofort begriffen, dass der Vortex so niemals zu erreichen war.

»Noch nicht«, gab ich zu. »Oder hast du zufällig eine Leiter dabei?«

Holden lachte. »Zufällig nicht, aber vielleicht finden wir ja irgendwo ein Trampolin.«

»Oder Stelzen«, fügte ich hinzu, und wir grinsten uns an.

Dann schauten wir wieder hinauf zum Kirchturm. Er war nicht sonderlich hoch, aber weit höher als die umliegenden Dächer. Deshalb konnte man auch von keinem anderen Punkt aus den Vortex erreichen. Das einzige Gebäude, das in etwa hoch genug wäre, war ein Museum, und das lag leider auf der anderen Seite der Straße.

Allerdings …

Ich zog meinen Rucksack vom Rücken und wühlte durch dessen Inhalt. Nachdem ich das richtige Päckchen gefunden hatte, zog ich eine Schnur heraus.

»Du hast eine Idee«, sagte Holden und kam interessiert näher.

Er stand jetzt so dicht bei mir, dass ich den Duft seines Shampoos riechen konnte. Sandelholz und etwas, das mich ein bisschen an Grapefruit erinnerte. Mein Herz klopfte schneller, und ich nickte. »Hilfst du mir?«

»Klar«, sagte Holden. »Wenn du mich mitnimmst.«

Ich hob beide Brauen. »Natürlich.« Das war gar keine Frage.

»Na dann. Los geht’s, Partnerin.«

Partnerin. Schnell biss ich mir auf die Unterlippe und zwang mich, bei der Sache zu bleiben.

Ich deutete zu dem Museumsgebäude und hielt Holden erwartungsvoll ein Ende der Schnur entgegen.

Sein Blick folgte der Richtung meines Fingers, dann sah er zurück zur Schnur und schließlich nach oben zum Vortex. Langsam legte sich ein Grinsen auf seine Lippen.

»Genial!«, rief er mir zu, griff nach der Schnur und sprintete über die Straße. Den Passanten, die bereits aufgeregt auf uns zeigten, gab er unmissverständlich zu verstehen, dass sie Abstand zu halten hatten.

Die Schnur in meiner Hand wurde unterdessen immer länger – und immer breiter, je weiter sie gespannt wurde. Während Holden in die andere Richtung rannte, ging ich selbst so unauffällig wie möglich auf die Rückwand des Kirchturms zu. Die restlichen Anwärter diskutierten noch wild darüber, was zu tun war. Anscheinend beschlossen einige von ihnen gerade, den Sprung zu wagen, was mir nur recht war.

Der Erste, ein großgewachsener, durchtrainierter Junge, schleuderte sich mit Anlauf in die Luft. Wie erwartet verfehlte er den Vortex jedoch um mehrere Meter und prallte wenig später hart auf dem Boden auf. Seine Größe hatte es ihm schwergemacht, sich richtig abzurollen. Er schrie vor Schmerzen, während er sich das Bein hielt, das mit ziemlicher Sicherheit gebrochen war.

Der Junge hatte Glück, dass seine Uniform das Gröbste abgefangen hatte. Das Exoskelett, das in den Stoff eingewebt war, machte uns nicht nur schneller und stärker, es glich auch Stöße und harte Landungen aus. Andernfalls wäre jetzt nicht nur sein Bein gebrochen.

Von der Kirchturmspitze ertönten aufgeregte Rufe.

Ruhig wartete ich, bis sich die restlichen Anwärter abgefedert hatten. Keiner von ihnen erreichte den Vortex, nicht mal ansatzweise, doch die meisten hatten aus dem Sprung des Jungen gelernt. Weitsprünge, Abrollen, Drehungen im Flug, Vierpunktlandungen, all das hatten wir bis zum Erbrechen geübt.

Es gehörte schließlich zum Alltag eines Läufers.

Als ich sicher war, dass ich den Turm für mich hatte, knotete ich die Schnur an meine Gürtelschlaufen und fing an hinaufzuklettern.

An den Händen waren unsere Uniformen mit ausfahrbaren Haken ausgestattet, die ich nach und nach in den Stein schlug. Das Seil spannte an meiner Hüfte, was bedeutete, dass auch Holden bereits losgeklettert war.

Sobald wir oben ankommen würden, durfte ich keine Zeit verlieren, denn auf dem Detektor an meinem Handgelenk leuchtete wieder ein rotes Licht auf. Der Vortex würde sich in Kürze auflösen.

»Was soll das denn werden?«, keifte eine Stimme von unten. Sie war so schrill, dass ich gar nicht hinsehen musste, um zu wissen, wem sie gehörte. Ich kümmerte mich nicht um Mia und band stattdessen das inzwischen dicke Seil um ein Eisengitter, das die Turmspitze umrahmte. Schnell prüfte ich, ob der Knoten hielt, dann drehte ich mich und blickte in Richtung des Museums. Holden hielt dort einen Daumen nach oben gestreckt, also drückte ich auf einen Knopf am Ende des Seils, bis ein leichtes Surren ertönte und es sich fest spannte.

Wie ich es geplant hatte, führte das Seil genau über dem Vortex entlang. Jetzt mussten wir uns nur bis zur Mitte hangeln und dann hineinfallen lassen.

Das schienen auch die anderen Anwärter zu begreifen, denn unter mir wurde das Geschrei immer lauter, während die Ersten wieder am Kirchturm nach oben kletterten.

Ich setzte mich auf die Kante des Eisengitters und nahm das Seil in die Hände. Wow, war das hoch! Kurz schloss ich die Augen, dann stieß ich mich ab. Ich griff fest zu, verhakte meine Füße ineinander und hangelte mich am Seil voran.

Von der anderen Seite sah ich Holden auf mich zukommen. Im Gegensatz zu mir versuchte er, über das Seil zu laufen – wodurch er wesentlich schneller war, aber das Seil auch ordentlich in Bewegung brachte.

Doch … wer war da hinter ihm? War das …

Luka! Innerlich jubelte ich, als ich seinen roten Haarschopf entdeckte.

Er und Holden schienen sich irgendwas zuzubrüllen, aber zumindest prügelten sie sich nicht, was im Vergleich zum letzten Schuljahr ein echter Fortschritt war.

Das Seil ächzte unter unserem Gewicht, je näher wir der Mitte kamen, denn auch hinter mir hatten sich die Anwärter inzwischen auf den Weg gemacht. Wir schwankten hin und her, und ich hatte Mühe, mich festzuhalten, während Holden unbeirrt seinen Weg fortsetzte.

Doch auch Luka holte auf. Er und Holden rangelten auf den letzten Metern heftig miteinander. Beide versuchten, den anderen herunterzuwerfen, und so fielen sie mehr oder weniger ineinander verkeilt in den Vortex, der sie in Sekundenschnelle davonzog.

Ich hatte nur noch zwei oder drei Meter. Die anderen kamen hinter mir immer näher. Der salzige Wind, der vom Meer in unsere Richtung blies, wehte mir meinen Zopf und den daran klebenden Sand ins Gesicht.

Noch ein Handgriff, dann –

»Das … kannst du … vergessen!«, rief Mia hinter mir und fasste nach meinem Fuß.

Das passiert mir heute kein zweites Mal, schwor ich mir und trat aus. Ich erwischte Mia an der Schulter, sie schwankte, aber leider nicht genug, um vom Seil zu fallen.

Der Vortex war inzwischen genau unter mir. Wenn ich losließe, würde ich direkt darin landen. Mein Blick legte sich auf die Dutzenden Anwärter, die mit roten Gesichtern am Seil baumelten, dann fasste ich einen Entschluss.

Heute würden nur zehn von uns durchkommen.

Und ich musste eine von ihnen sein.

Mit dem Fuß holte ich noch mal aus, doch diesmal war nicht Mia mein Ziel, sondern das Seil. Ich rammte die ausfahrbaren Haken an meinem Schuh in die Faser und zog daran. Sofort riss einer der Stränge, und ich legte nach, ein weiterer Tritt und noch einer …

»Was tust du da?!«, kreischte Mia panisch und versuchte erneut, mein Bein zu greifen. Ich trat zu, wieder und wieder, zog an dem verflixten Seil, bis es endlich nachgab und riss.

Durch die hohe Spannung sprangen die Hälften sofort wie ein Gummi in beide Richtungen davon. Während die Anwärter vom Seil mitgezogen wurden und unsanft gegen den Kirchturm krachten, ließ ich, so schnell ich konnte, los.

Als ich in den Vortex fiel, versuchte ich noch, Mia abzuschütteln, doch ihr Griff um mein Fußgelenk war eisern. Der Wirbel schleuderte uns hin und her, so schlecht war mein Absprung gewesen. Mia schrie vor Schmerzen auf, als ihre Hand in die gefährlichen Vortexenergien am Rand geriet. Die Uniform platzte auf, ihre Haut verbrannte, und sie konnte sich gerade noch so ins Zentrum des Stroms retten. Ein unglaublicher Schwindel erfasste mich, und kurz bevor mir schwarz vor Augen wurde, krachte ich mit dem Gesicht voran in einen Schneeberg.

Zitternd hievte ich mich auf die Knie, als ich mir des eisigen Windes bewusstwurde.

Wo waren wir diesmal gelandet?

Mein Detektor hatte sich bereits umgestellt. Die Zeitzone war dieselbe, also konnten wir nicht weit gesprungen sein. Irgendwo in den Alpen, wie es schien, denn vor mir erstreckte sich in einem Halbrund ein Bergpanorama mit unzähligen hohen, schneebedeckten Gipfeln.

Noch nie war ich so froh, dass unsere Uniform extreme Temperaturen sofort ausglich. Trotzdem fiel es mir schwer, die Augen bei dem frostigen Wind offen zu halten. Schnell stand ich auf und machte einen Schritt nach vorne.

Unter meinem Schuh knackte es.

»Nicht bewegen!«, hörte ich Luka von irgendwoher rufen.

Langsam drehte ich mich um und entdeckte ihn nur wenige Meter von mir entfernt. Er stand einfach da, mit gespreizten Beinen und starrem Blick.

Ich spähte nach unten. Vorsichtig wischte ich mit einem Fuß den Schnee beiseite.

O nein.

Ich war gar nicht in tiefem Schnee gelandet, sondern mitten auf einem zugefrorenen Bergsee. Rund um meine Schuhe hatten sich zarte Risse gebildet.

Hektisch sah ich mich um. Die wenigen blauschimmernden Flächen waren ringsum mit dickem, flockigem Schnee überzogen, so dass schwer zu erkennen war, wo genau das Ufer verlief. Auf der einen Seite wurde der See von Bergwänden begrenzt, die sich wie ein gigantisches Amphitheater ausbreiteten. Auf der anderen Seite, ganz nah bei uns, gähnende Leere. Hier schien der See an einen Abhang zu grenzen. Ich wollte gar nicht wissen, wie tief es dort nach unten ging.

»Wir müssen irgendwas tun!«, rief ich Luka zwischen japsenden Atemzügen zu. Das Hangeln am Seil hatte mich ganz schön Kraft gekostet.

Hinter mir hörte ich ein Geräusch. Ich drehte mich um und entdeckte Holden, der vielleicht fünfzehn Meter von uns entfernt auf die Bergseite zurannte. Seinen sicheren Schritten nach zu urteilen schien er festen Boden unter den Füßen zu haben. Und noch jemanden sah ich: Mia. Sie war nicht weit von uns aus dem Vortex gefallen, und auch sie blickte ängstlich nach unten.

Holden kam zum Stehen, als er unsere heikle Lage bemerkte. Aus der Ferne erkannte ich, dass er entschuldigend lächelte.

»Sorry, Partnerin!«, hallte sein Ruf übers Eis, dann drehte er sich um und rannte weiter. Mein Blick glitt zur Bergseite, und ich erkannte sofort, wo er hinwollte. Auf einem Felsvorsprung, gar nicht weit entfernt, surrte ein Vortex friedlich vor sich hin.

Ein Funke der Enttäuschung flammte in mir auf, als Holden seinen Weg unbeirrt fortsetzte, auch wenn ich natürlich verstand, dass er nicht auf mich warten konnte.

Hinter dem Vortex lag … Neu London. Ich wusste nicht, woher dieser plötzliche Gedanke kam. Derart genau vorherzusagen, wohin ein Wirbelweg führte, war unmöglich. Wir spürten nur … Temperaturen, Gerüche, die Beschaffenheit der Böden, der Gewässer, der Luft. Der Detektor gab uns eine Richtung an, aber niemals ein Ziel.

Und doch: Hinter diesem Vortex wartete Neu London. Da war ich mir ganz sicher. Was bedeutete, dass wir das Rennen verlieren würden, wenn wir nicht endlich von diesem See runterkamen.

»Ich hab einen Plan!«, rief Luka mir da zu.

»Und der wäre?« Ich versuchte, nicht allzu skeptisch zu klingen. Lukas Pläne hatten in der Regel eine Fifty-fifty-Chance, heillos schiefzugehen.

»Wir schwimmen!«

Meine Augen weiteten sich. »Schwimmen?«, schrie ich über die kalten Böen hinweg, in der Hoffnung, dass ich mich verhört hatte. Er konnte doch nicht ernsthaft vorhaben –

Doch da legte Luka bereits eine Hand auf die Eisschicht, die den gesamten See bedeckte.

»Luka, nicht!«, rief ich – zu spät. Seine Fingerspitzen umgab ein rötliches Leuchten, und ich verfolgte entsetzt, wie Feuertropfen aus seiner Haut perlten und sich durch das Eis fraßen. In alle Richtungen breiteten sich die Lavaströme aus, schlängelten sich in meine Richtung und ließen das Eis, auf dem ich stand, in Sekundenschnelle schmelzen.

Gleichzeitig sackten Luka und ich ins Wasser. Ich spuckte und ruderte panisch mit den Armen. Doch schließlich wurde mir klar, dass das Wasser nicht mehr kalt war, ich nicht von tödlichem Eis umkreist war. Luka hatte eine Schneise bis zum rettenden Ufer freigelegt, das nun als schmaler Streifen zwischen dem Abgrund und dem See zu erkennen war. Das Wasser lag friedlich da, warm und einladend.

»Du darfst deine Kräfte nicht einsetzen«, zischte ich Luka zu und schielte in den Himmel. Zum Glück dauerte es manchmal recht lange, bis die Drohnen uns fanden.

»Du kannst mir später danken«, sagte er mit einem Zwinkern und begann, so lässig durch das Wasser zu kraulen, als wären wir in der Schwimmhalle des Instituts.

»Dafür, dass du geschummelt hast?«, rief ich ihm hinterher. »Das ist gegen die Regeln!«

Luka hielt inne und lachte. »Du hast doch gesagt, ich solle etwas tun. Du hättest dich einfach klarer ausdrücken müssen!«

Fassungslos schwamm ich Luka hinterher. Er wartete auf dem Uferstreifen und zog mich aus dem Wasser. Kaum hatte ich das warme Nass verlassen, fing ich an zu bibbern, noch stärker als zuvor.

Hinter uns knarzte und knackte es. Dort, wo Mia stand, war der gefrorene See noch intakt. Sie warf uns wütende Blicke zu und kämpfte sich Schritt für Schritt auf das Ufer zu. Von hier aus konnte ich die Beschaffenheit des Sees viel besser erkennen. Und ich konnte den türkisfarbenen Fleck sehen, wo das Eis besonders dünn war. Ein Fleck, auf den Mia unversehens zusteuerte.

Schon war ein spitzes Kreischen zu hören, und Mia krachte samt perfekter Flechtfrisur in den See. Sie ruderte mit den Armen, tauchte unter und wieder auf, versuchte vergebens, sich an den abgesplitterten Eisplatten hochzuziehen.

»Komm schon!«, rief Luka mir zu und deutete auf die Bergseite, die von hier aus in einem weiten Bogen zu erreichen war. Der Vortex flimmerte dort mit unverminderter Kraft.

Holden war längst verschwunden, und auch Luka rannte los, um es ihm nachzutun.

Ich jedoch zögerte. Der Junge vom letzten Vortexrennen kam mir in den Sinn. Der Junge, der trotz seiner schützenden Uniform nicht mehr gerettet werden konnte und in einem Eissee wie diesem erfroren war.

Seine Eltern hatten mit Tränen in den Augen Interviews gegeben und gesagt, wie stolz sie waren, dass ihr Sohn im Dienste des Kuratoriums sein Leben gelassen hatte.

Egal, wie gemein Mia in den letzten Jahren zu mir gewesen war, egal, wie oft sie Luka schikaniert hatte, weil er anders war … Ich konnte sie nicht zurücklassen. Nicht, wenn ich ihr einfach nur vom Ufer aus eine Hand reichen musste, um sie rauszuziehen.

Doch bevor ich mich umdrehen konnte, drückte mich schon jemand zur Seite. Mia hatte sich allein aus dem Eisloch befreit und warf sich mit ihrem klitschnassen Körper gegen mich, um an mir vorbeizukommen. Ich hielt mich an ihr fest, wir stolperten zusammen nach hinten … und direkt auf den Abgrund zu.

Als Mia auf den Boden krachte, brachte mich die Bewegung ins Taumeln. Ich ruderte mit den Armen, doch es gab nichts, woran ich mich festhalten konnte. Da waren nur die steil abfallende Flanke in meinem Rücken und der Eiswind, der mich unerbittlich hinabzog.

Ich konnte nicht einmal mehr schreien, als ich im freien Fall in die Tiefe stürzte.

4

Ich fiel.

Doch es war kein normales Fallen.

Zwischen einem Blinzeln und dem anderen war die Luft um mich herum plötzlich nicht mehr eisig und klar. Sie wurde durchzogen von einer knisternden Energie, einem lauten Surren. Um mich herum zogen Himmelsfetzen an mir vorbei, dann drang der Geruch nach Abgasen, Fett und Salz zu mir. Der Berghang, an dem ich gerade noch vorbeigesaust war, verwandelte sich Stück für Stück in eine andere Kulisse, und mir wurde erst klar, dass ich direkt vom Berg in einen Vortex gefallen sein musste, als ich eine Straße auf mich zurasen sah.

Ich konnte einen Schrei nicht zurückhalten. In meiner Panik tastete ich nach dem Nächstbesten, das ich greifen konnte, was in diesem Fall eine verrostete Feuerleiter war. Ich spürte, wie mir die raue Oberfläche die Haut aufrieb, ließ aber trotzdem nicht los. Nach ein paar Metern landete ich mit einem Stöhnen bäuchlings auf hartem Asphalt.

Ich bewegte mich nicht. Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob ich es überhaupt konnte. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, Luft in meinen Körper zu pressen, vorsichtige Atemzüge zu nehmen und ansonsten möglichst stillzuhalten. Jedes Ein- und Ausatmen verursachte ein besorgniserregendes Knacken in meiner Lunge, und wenn ich schluckte, schmeckte es nach Kupfer.

Langsam hob ich den Kopf und warf einen verschwommenen Blick auf meine Umgebung.

Wo war ich bloß gelandet? Definitiv waren das nicht mehr die Alpen. Es war mitten in der Nacht, und ich war in irgendeiner Seitengasse einer Stadt gelandet, zumindest hörte ich Autos und Sirenen im Hintergrund. Der Boden bestand aus Pflasterstein und darauf lag … eine dünne Eisschicht.

Na toll. Wo auch immer ich war, hier war es nach wie vor eiskalt. Der Himmel war nur mit wenigen runden Wölkchen bedeckt, die so starr wie Schimmelschwämme in einer Petrischale aussahen.

Ich umklammerte meinen Oberkörper, fest entschlossen, mich und meine Innereien zusammenzuhalten.

Diese verdammte Mia! Das war das allerletzte Mal, dass ich Mitleid mit ihr hatte!

Aber wo war bitte dieser Vortex hergekommen? Denn anders war das Ganze nicht zu erklären: Ich musste durch einen Vortex gefallen sein. Ich dachte zurück. Mein Detektor hatte lediglich den Vortex am Berggipfel angezeigt. War ein zweiter etwa genau in der Sekunde ins Leben getreten, in der ich in den Abgrund gestürzt war?

»Das sah ja ganz schön gefährlich aus«, ertönte da eine fremde Stimme, die mich zusammenzucken ließ.

Unter Aufbringung all meiner Kräfte hob ich den Kopf und richtete den Blick auf einen alten Mann, der ein paar Meter vor mir an der Wand lehnte. Er saß auf einem Stapel durchweichter Kartons, mehrere Mäntel und Schals um sich gewickelt. Neben ihm brannte in einer Tonne ein Feuer.

»Vielleicht solltest du solche Stunts in Zukunft sein lassen«, schlug der Obdachlose vor.

Ich hätte gelacht, wenn mir der Brustkorb nicht so weh täte. Klar, für ihn musste es so ausgesehen haben, als wäre ich aus purem Leichtsinn mitten auf die Gasse gesprungen.

»Danke«, sagte ich und versuchte, mich aufzurappeln, was mir jedoch nicht gelang. »Ich nehm’s mir zu Herzen.« Auf den Knien sitzend, zog ich an meiner Uniform, bis sich die Kapuze herauslöste und ich sie über den Kopf ziehen konnte. Dann zerrte ich mir den Rucksack von den Schultern, um darin nach meinem wichtigsten Besitz zu suchen.

»Oh«, hörte ich den Mann sagen. »Du bist eine von denen.«

Seine Stimme hatte einen alarmierten Unterton angenommen, der mich innehalten ließ.

Ich sah an mir herab, auf das Symbol, das auf meiner Uniform zu sehen war. Das Convectum war das internationale Zeichen des Kuratoriums. Ein kleiner Punkt bewegte sich in einer Schleife nach oben, bildete dort einen Kreis, bevor er sich wieder zu einem Punkt auf der anderen Seite zurückzog. Das Convectum symbolisierte die Fähigkeit, von einem beliebigen Ort in der Welt zu einem anderen zu reisen, egal, wie weit dieser entfernt war.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der Obdachlose aufstand und die Mäntel dabei von ihm herunterfielen. Mein verschwommenes Sichtfeld klarte allmählich auf, und was ich nun sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Der Mann war gar kein Obdachloser. Er war auch überhaupt nicht alt. Sein Gesicht war nicht faltig, es war durchfurcht, so als würde seine Haut teilweise aus Rinde bestehen. In seinen Augenbrauen entdeckte ich kleine Mooskissen, und statt Haaren zogen sich dicke Wurzeln über seinen Kopf.

O verdammt! Er war ein Vermengter. Ein Split!

Freak, ging es mir durch den Kopf, aber ich verdrängte das Wort sofort und spürte, wie sich wegen Luka ein schlechtes Gewissen in mir breitmachte. Ein schlechtes Gewissen, das sofort von aufkommender Panik überlagert wurde.