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»Es heißt, nur diejenigen können unter den Göttern überleben, die ihr Herz zu Stein verwandeln. Doch diese Fähigkeit hast du mir genommen. Mein Herz schlägt für dich, und ich will dich deshalb hassen – aber ich kann es nicht.« In Silver City herrschen die Götter. Menschen dürfen in der Stadt des Lichts zwar leben, aber schon ein falscher Schritt kann für sie den Tod bedeuten. Als Aurora an den Hof der Götter berufen wird, muss sie sich plötzlich in einer Welt voller Grausamkeiten und Machtspiele behaupten. Denn ausgerechnet Colden, der Sohn des gefürchteten Herrschergotts, bindet sie als seine Dienerin für immer an sich. Doch anders als die anderen Götter will Colden Aurora nicht besitzen und verabscheut die barbarischen Regeln, die den Menschen auferlegt werden. Gefangen zwischen Misstrauen, unausgesprochenen Gefühlen und einer verbotenen Anziehung kommen sich Aurora und Colden näher – während die Welt der Götter auf einen Krieg zusteuert, der die fragile Ordnung Silver Citys ein für alle Mal in Stücke reißen könnte … Endlich! Der packende Auftakt der Götterlicht-Saga von Spiegel-Bestsellerautorin Anna Benning. Perfekt für alle Romantasy-Fans und Liebhaber*innen von Enemies to Lovers und Forced Proximity. - Anna Benningsneue Trilogie: so fesselnd, verführerisch undromantisch wie nie zuvor - Eine Götter-Fantasy, wie du sie noch nie gelesen hast. Anna Benning erschafft mit der Lichtstadt Silver City eine ganz neue, atemberaubende Welt. - Mit einer starken Heldin, die gegen alle Widerstände kämpft – für ihre eigene Freiheit in einer Welt der Unterdrückung und für ihre große Liebe
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Seitenzahl: 598
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anna Benning
»Es heißt, nur diejenigen können unter den Göttern überleben, die ihr Herz zu Stein verwandeln. Doch diese Fähigkeit hast du mir genommen. Mein Herz schlägt für dich, und ich will dich deshalb hassen – aber ich kann es nicht.«
In Silver City herrschen die Götter. Menschen dürfen in der Stadt des Lichts zwar leben, aber schon ein falscher Schritt kann für sie den Tod bedeuten. Als Aurora an den Hof der Götter berufen wird, muss sie sich plötzlich in einer Welt voller Grausamkeiten und Machtspiele behaupten. Denn ausgerechnet Colden, der Sohn des gefürchteten Herrschergotts, bindet sie als seine Dienerin für immer an sich. Doch anders als die anderen Götter will Colden Aurora nicht besitzen und verabscheut die barbarischen Regeln, die den Menschen auferlegt werden. Gefangen zwischen Misstrauen, unausgesprochenen Gefühlen und einer verbotenen Anziehung kommen sich Aurora und Colden näher – während die Welt der Götter auf einen Krieg zusteuert, der die fragile Ordnung Silver Citys ein für alle Mal in Stücke reißen könnte …
Endlich! Der packende Auftakt der Götterlicht-Saga von Spiegel-Bestsellerautorin Anna Benning. Perfekt für alle Romantasy-Fans und Liebhaber*innen von Enemies to Lovers und Forced Proximity.
Alle Bücher von Anna Benning bei Fischer Sauerländer:
Die Götterlicht-Saga:
Band 1: To Tempt a God
Band 2: To Love a God (erscheint im Herbst 2025)
Band 3: To Break a God (erscheint im Frühjahr 2026)
Die Dark Sigils-Trilogie:
Band 1: Was die Magie verlangt
Band 2: Wie die Dunkelheit befiehlt
Band 3: Wen das Schicksal betrügt
Die Vortex-Trilogie:
Band 1: Der Tag, an dem die Welt zerriss
Band 2: Das Mädchen, das die Zeit durchbrach
Band 3: Die Liebe, die den Anfang brachte
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de
Anna Benning wurde 1988 als jüngstes von drei Kindern geboren. Die Leidenschaft für Geschichten bestimmt seit vielen Jahren ihren Weg: Nach einem Studium der Literaturwissenschaft und Stationen als Buchrezensentin und Aushilfsbuchhändlerin arbeitete sie als Lektorin in einem Verlag. Eines Tages fasste sie sich ein Herz und brachte ihre eigenen Geschichten zu Papier. »To Tempt a God« ist der Auftakt ihrer dritten Trilogie.
Weitere Informationen zur Autorin unter www.annabenning.de und auf Instagram und TikTok unter annabenning.books
Dieses Buch kann sensible Themen und potenziell triggernde Elemente enthalten. Weitere Informationen dazu findest du hinten im Buch. (Achtung, diese Hinweise enthalten Spoiler!)
Ein Glossar zu den wichtigsten Begriffen befindet sich ebenfalls hinten im Buch.
Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book
© 2025, Fischer Sauerländer GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Charlie Bowater, unter Mitarbeit von Johannes Wiebel|punchdesign
Coverabbildung: Charlie Bowater
ISBN 978-3-7336-0877-4
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[Widmung]
[Karte]
[Motto]
Prolog
Teil 1
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Teil 2
15 Jahre zuvor
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Teil 3
14 Jahre zuvor
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Teil 4
10 Jahre zuvor
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Teil 5
1 Jahr zuvor
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Teil 6
400 Jahre zuvor
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
Epilog
Glossar
Danksagung
Für Christiane
Was für ein Glück, dass du die erste Idee abgesägt hast.
Jedes Buch ist sowieso immer auch dir gewidmet.
Danke für alles.
Kann ich die Götter nicht beugen,
so will ich die Hölle bewegen.
Vergil
Meine Freiheit wurde mir nicht gewaltsam genommen, sondern mit der Berührung eines Daumens. Er fuhr meine Stirn entlang, vom Haaransatz bis zum Nasenrücken und weiter hinab. Erst an meiner Unterlippe hielt er inne.
Sein Blick legte sich auf mich, und die Scham darüber, dass ich mich so von ihm hatte täuschen lassen, jagte ein Beben durch meinen Körper. Ich stellte mir vor, wie ich ihm in den Finger biss, so fest, dass die Haut nachgab und ich das Blut darunter schmecken konnte.
Doch er würde nicht bluten.
Götter bluteten nicht.
»Es ist gleich vorbei«, hörte ich ihn sagen. Und wäre die Welt eine andere – wäre ich keine Beute, umzingelt von Raubtieren –, hätte ich ihm für diese dreiste Lüge ins Gesicht gelacht.
Wie sollte es je wieder vorbei sein?
In wenigen Augenblicken waren wir aneinandergebunden.
Ich als seine Valet.
Er als mein Gott.
Der einzige Weg, es dann noch zu beenden, läge in meinem Tod.
Oder, dachte ich, während ich in seine von Göttlichkeit getränkten, goldenen Augen starrte, in seinem.
Himmelslicht
Und so begab es sich,
dass die Götter auf der Erde wandelten.
Sie sahen die Welt und alles, was war,
und die Menschen knieten vor ihnen nieder,
gefangen in ihrem ewigen Glanz.
Ich hatte vergessen, wie hell die Welt sein konnte. Mit der rechten Hand umklammerte ich die Sprosse über mir und zog mich nach oben. Ein zweiter Handgriff, gefolgt von einem dritten. Mittlerweile war ich so weit in die Höhe geklettert, dass ich im grellen Licht kaum noch etwas erkennen konnte.
Blind tastete ich nach der Schutzbrille, die auf meinem Kopf saß, und zog sie mir über die Augen. Sofort dimmte sich die Umgebung. Ich blickte nach unten. Tristan und Ravax hatten mich schon fast eingeholt, obwohl sie auf den äußeren Streben der Antenne kletterten und damit einen viel weiteren Weg hatten als ich. Ich war wohl mehr aus der Übung, als ich gedacht hatte. Obwohl die Antenne aus dickem Stahl bestand, wankte das Gerüst auf dieser Höhe ganz leicht im Wind. Doch ich machte mir keine Sorgen. Aus Erfahrung wusste ich, dass die Antenne unser Gewicht tragen würde. Die Last war ja auch nicht allzu groß. Wir waren alle in mehr als einer Hinsicht ausgehungert.
Mein Blick wanderte nach oben. Weißblauer Himmel zu allen Seiten. Den Kopf in den Nacken gelegt schaute ich mich um und … da. Einige Meter über mir erkannte ich die ersten Funken Himmelslicht. Mit einem Lächeln auf den Lippen kletterte ich weiter. Kaum, dass ich die richtige Höhe erreicht hatte, verstärkte ich den Griff um die Sprosse, an der nun mein Leben hing. Behutsam streckte ich die andere Hand so weit aus, wie ich konnte. Die Funken waren kaum größer als meine Daumenkuppe, doch ihr Licht war intensiv, eine Gruppe pulsierender Kugeln. Die Farben wechselten zwischen Gold und Weiß, und ich konnte bereits die Hitze spüren, die von ihnen ausging. Für einen Moment sah es so aus, als würden die Funken sich von mir entfernen, doch da drehte der Wind. Sie flogen auf mich zu, und eine einzige Berührung genügte, schon sanken sie durch meine Haut in meine Fingerspitzen hinein. Ein wohliges, seidig weiches Gefühl strömte von meinem Arm in meinen gesamten Körper. Ich kam mir augenblicklich stärker vor und … lebendiger.
Ein vertrauter Schmerz verengte meine Brust. Wenn ich dich doch nur mit hier hochnehmen könnte, kleiner Bruder.
»Gibst du es jetzt endlich zu?«
Überrascht wandte ich mich zur Seite. Tristan hatte mich eingeholt. Dass er schnell war, wusste ich. Aber so schnell? Das war sogar für seine Maßstäbe beeindruckend. Hier oben im Licht wirkten seine dunkelblonden Haare fast golden – und das breite Grinsen auf seinem Gesicht war definitiv schadenfroh. Er trug die gleiche Kleidung wie ich: eine hochgeschlossene Jacke und eine eng anliegende Hose, dazu ein schmaler Rucksack auf dem Rücken. Alles in Weiß, um im Himmelslicht so wenig wie möglich aufzufallen.
»Was soll ich zugeben?«
»Na, dass ich recht hatte.« Tristan zog sich ebenfalls seine Schutzbrille über die Augen, dann kletterte er die zwei verbliebenen Sprossen zu mir hoch und stieß einen Ellbogen freundschaftlich gegen meinen. »Du hast es vermisst, hier oben zu sein.«
Ich schnaubte. »Das hättest du wohl gern.«
»Natürlich.« Er zuckte mit den Schultern. »Und ich habe auch kein Problem damit, das zuzugeben.« Das Lächeln auf seinen fein geschwungenen Lippen wurde sanfter. »Du bist von uns allen schon immer am besten geklettert. Du gehörst auf die Dächer der Stadt. Mehr als jeder andere Mensch, den ich kenne.«
Ich antwortete nicht. Wir wussten ohnehin beide, dass es die Wahrheit war. Lichtfängerin zu sein war lange Zeit alles für mich gewesen. Es hatte meinem Leben einen Sinn gegeben, während sonst nichts Sinn gemacht hatte. So weit nach oben zu klettern, wo jeder Griff und jede Bewegung einzig und allein meine Entscheidung waren … natürlich hatte ich es vermisst. Aber das spielte keine Rolle. Seit Varian, mein Bruder, auf einer ganz ähnlichen Mission verunglückt war, hatte sich alles verändert. Dass ich heute, nach über einem Jahr, wieder auf Lichtfang ging, war eine einmalige Sache. Ich hatte Julien versprochen, vorsichtig zu sein. Abgesehen davon war der Monat der Berufung. Ich konnte es mir nicht leisten, etwas Leichtsinniges zu tun – und das, was ich hier gerade machte, war die Definition von leichtsinnig.
Das Himmelslicht gehörte den Göttern. Für Menschen war es streng verboten. Wir durften zwar in ihrem Glanz existieren, aber wir durften den Funken nicht zu nahe kommen.
Und sie schon gar nicht stehlen.
Es war illegal. Mehr noch: Es war lebensgefährlich. Sollten wir dabei erwischt werden, würden wir auf dem Paradeplatz im Divine District landen und das Schicksal all derjenigen teilen, die es je gewagt hatten, gegen die Regeln der Götter zu verstoßen.
Trotzdem war es das Risiko wert.
Varians Leben war jedes Risiko wert.
»Wer zuerst ganz oben ist?«, fragte Tristan und wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern kletterte sofort los. Ich verdrehte die Augen, folgte ihm aber. Die Antennen, die auf den höchsten Gebäuden von Silver City montiert waren, ragten oft über hundert Meter in die Höhe. Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal hochgeklettert, mit pochendem Herzen und starr vor Angst. Heute fiel es mir leicht, Sprosse für Sprosse hinaufzusteigen.
Der Antennenmast wurde immer dünner. Ich versuchte noch, Tristan zu überholen, bevor die zweireihigen Sprossen in eine einzelne Reihe übergingen, doch er war schneller. Als Reaktion zog ich einmal fest an seinem linken Hosenbein, während er nun direkt über mir baumelte.
Ein Lachen drang zu mir hinab. »Du hättest eben nicht so lange aussetzen dürfen!«
Ich schnaubte, kletterte aber dicht hinter Tristan weiter. Das Licht nahm an Intensität zu, genau wie der Wind, der meine blonden, zum Zopf geflochtenen Haare wild hin und her wehen ließ. Erst als meine Hand keine Sprosse, sondern ein stählernes Gitter umfasste, begriff ich, dass wir an der Spitze der Antenne angekommen waren. Tristan stand bereits auf der Plattform, die am Ende der Leiter angebracht war, und machte Platz für mich. Zu meinem Entsetzen hatte er beide Arme nach links und rechts ausgestreckt und hielt sich nur mit der Kraft seiner Beine an dem Antennenmast fest.
»Bist du wahnsinnig?« Ich vergrub sofort eine Hand in Tristans weißer Lederjacke, um ihn im Fall der Fälle halten zu können. Dann klinkte ich den Karabinerhaken, der an seinem Gürtel angebracht war, in die oberste Sprosse, wie er es selbst längst hätte tun sollen. Als er anfing zu lachen, warf ich ihm einen strengen Blick zu. »Du bist so ein Idiot, Tristan Baror.«
»Und du bist mit mir befreundet, Aurora Hale. Was sagt das über dich aus?«
»Dass ich eindeutig unter Geschmacksverirrung leide.«
Tristan hob eine Augenbraue. Dann ließ er eine Hand betont langsam vom Kinn hinab bis zu seiner Hüfte gleiten, vorbei an breiten Schultern und einem – zugegeben – sehr durchtrainierten Oberkörper. »Ich bin ja wohl ein Hauptgewinn. Innerlich. Und äußerlich.«
»Außerdem so bescheiden. Wie alt bist du noch gleich? Zwölf?«
»Zauberhafte zwanzig.« Tristan grinste mich an und deutete dann in die Ferne. »Und? Hast du deine Meinung schon geändert?«
Ich folgte seiner Geste, und obwohl ich diese Aussicht bereits viele, viele Male in meinem Leben gesehen hatte, setzte mein verräterisches Herz einen Moment lang aus.
Silver City breitete sich zu allen Seiten unter uns aus – ein weißlicher, endloser Teppich aus Straßen, Hochhäusern und künstlichen Wasserwegen. Wir befanden uns auf einem Dach mitten in den Capitol Heights, fast dreitausend Meter über dem Ground Level. Die anderen Innenbezirke, die ich von hier aus sehen konnte – Greenward zu meiner Rechten, der Bazaar Sector und Artisan’s Quarter zu meiner Linken –, zogen sich bis zum Horizont. Tausende und Abertausende Wolkenkratzer, die nicht nur eine riesige Fläche Land einnahmen, sondern auch so tief nach unten reichten, dass man ihre Sockel unmöglich erkennen konnte.
In mancher Hinsicht war Silver City wie ein Bienenstock. Die Bewohner lebten auf Ebenen – kleine Mikrokosmen innerhalb einer Stadt, die zu groß war, um es zu begreifen. Unter dem Boden, auf dem man lief, gab es nie Erde, sondern nur weitere Ebenen – Plattformen um Plattformen und darauf: Millionen von Menschen.
Ich wandte den Blick ab und schaute zurück zu dem Himmelslicht, das nun unmittelbar neben uns durch die Luft schwebte. Es sah ein wenig so aus, als würden weiße Blütenblätter durch die Luft wirbeln. Sie tanzten umher wie ein einziger Organismus, geleitet durch ein unsichtbares Ziel.
Der Anblick wäre wunderschön … wenn die Bedeutung, die es für uns Menschen hatte, nicht so grausam wäre. Denn das Himmelslicht folgte den Göttern. Es sammelte sich dort, wo sie waren, und niemals dort, wo sie nicht waren. Silver City war dank ihrer Anwesenheit vom Licht erleuchtet. Der Rest der Welt war es nicht.
Es war ein Käfig, in dem wir lebten – auch wenn man ihn nicht sehen konnte. Es gab keine Eisenstäbe, die uns umgaben. Keine Mauern, die uns innerhalb der Stadtgrenzen gefangen hielten. Es gab nur das rettende Licht auf der einen Seite – und auf der anderen: Finsternis, die den sicheren Tod bedeutete.
Deshalb blieben wir, wo wir waren.
Deshalb würden wir Silver City nie verlassen.
Ich schaute zurück zu Tristan. Er lächelte mich an, breiter als eben noch, und ein Teil von mir wollte ihn dafür zurechtweisen, dass er Spaß hatte und dumme Sprüche riss, während wir gerade unser Leben riskierten. Aber ich ließ es bleiben. Wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt hatte, dann war es das: Man sollte jeden glücklichen Moment mit beiden Händen greifen und ihn erst wieder loslassen, wenn man keine andere Wahl mehr hatte. Und ja, ich genoss es, mit Tristan hier oben zu sein – über den Dächern von Silver City, wo ich mich frei und unbeschwert fühlte wie sonst nirgendwo.
»Weißt du, was Julien mir mal erzählt hat?«, fragte ich.
»Was?«
»Dass es im Osten, hinter der Stadtgrenze, eine einzelne Ebene voller Wasser geben soll, die bis zum Horizont reicht. Man bräuchte Monate, um sie zu überqueren, aber wenn man es täte … dann würde man an einem anderen Ort auf der Welt wieder auf Land stoßen.«
Tristan schnaubte. »Das klingt verrückt.«
»Ich weiß.« Ich starrte in die Ferne, wo das Licht allmählich nachließ und man nicht mehr erkennen konnte, was Stadt und was Himmel war. »Aber wenn es stimmt, würde ich es irgendwann gerne sehen.«
Tristan suchte meinen Blick. Seine Haare wurden vom Wind sanft umhergeweht. Er war einen guten Kopf größer als ich und musste sein Gesicht nach unten neigen, um mich direkt anschauen zu können. Seine blasse Haut leuchtete im intensiven Licht, und seine Augen waren so blau wie der Himmel über uns. »Wenn es dieses andere Land gibt, finden wir es.« Er strich mir eine umherwehende Haarsträhne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte, hinter das Ohr. »Ich weiß, die Entscheidung, heute mit uns zu kommen, ist dir nicht leichtgefallen, aber … ich glaube, es ist gut, dass du hier bist. Varian wird es mit dem Himmelslicht sicherlich schon bald viel besser gehen.«
Besser. Es reichte nicht, dass es meinem Bruder einfach nur besser ging. Ich wollte, dass er aufwachte. Dass er zu mir zurückkehrte, endlich aus dem Bett aufstand und mir sagte, wie dumm ich gewesen war, mir überhaupt jemals Sorgen um ihn zu machen.
»Ich hoffe es.«
Tristans linker Mundwinkel zuckte, und er legte seine Stirn an meine. »Ich weiß es.«
Durch unsere plötzliche Nähe zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Es brachte Erinnerungen an diese eine Nacht zurück, kurz nachdem Tristans Eltern gestorben waren. Mit verzweifelten Herzen und noch verzweifelteren Berührungen hatten wir Trost beieinander gesucht, und ich wusste, dass Tristan damals gehofft hatte, dass aus unserer Freundschaft mehr werden könnte. Doch dann, vor einem Jahr, war Varians Unfall passiert. Seither gab es für mich nur noch einen Gedanken: meinen Bruder irgendwie am Leben zu halten. Für alles andere hatte ich keine Zeit.
»Aurora …«, flüsterte Tristan. Er legte eine Hand an meine Wange, und bei dem eindringlichen Ausdruck in seinen Augen versteifte sich etwas in mir.
Ich räusperte mich. »Tris«, begann ich. »Ich denke, wir sollten –«
»Könnt ihr mal Platz machen?« Ravax’ Stimme ließ mich zusammenzucken – weil sie direkt von unter mir kam. Irgendwie schaffte er es, sich auf der kleinen Plattform zwischen uns zu quetschen. »Danke schön! Sehr freundlich von euch.«
Ich schnaubte bloß.
»Du solltest doch weiter unten dein Netz aufspannen«, sagte Tristan hörbar genervt.
»Und der Neuen den größten Fang überlassen?« Ravax grinste mich an und rieb dabei mit den Zähnen über seine Unterlippe, sodass seine diversen Piercings hin und her wackelten. »Ich glaube nicht.«
Ich war bereit, das mit der Neuen zu überhören, auch wenn ich Ravax mehr als zwei Jahre als Lichtfängerin voraushatte. Doch Tristan blieb hartnäckig.
»Drei Netze auf einmal an einer einzigen Antennenspitze? Willst du, dass sie uns schnappen?«
»Du kannst ja gehen, Trissy.« Ravax hob die rechte Hand direkt vor Tristans Gesicht und streckte den Mittelfinger in die Höhe. Dann hakte er seinen Karabiner mit einem Klick an die Sprosse, zog seinen Rucksack nach vorne und holte ein Netz daraus hervor. Es war dichtmaschig, aber federleicht, und bestand aus weißen Fasern, die in den umherschwebenden Wolken nicht zu sehen waren.
Na ja. Fast nicht.
»Ich gehe runter«, bot ich an. Die Fangquote wäre dann zwar nicht mehr ganz so gut, aber immer noch gut genug, und ich hatte keine Lust auf Streit.
»Nein, bleib.« Tristan warf Ravax einen düsteren Blick zu. »Wird schon klappen. Heute ist es bewölkter als sonst.«
Mit einem Stirnrunzeln schaute ich in die Ferne. Zwar gab es auf unserer Höhe einige Wolken, aber die Netze, die andere Lichtfänger gerade auf den benachbarten Dächern aufspannten, waren trotzdem deutlich zu sehen. Das schien Ravax allerdings nicht zu kümmern. Er war längst dabei, sein Netz an die oberste Sprosse zu knoten, und als Tristan mir noch einmal zunickte, tat ich es ihm gleich. Wir arbeiteten schweigend, während mir lose Haarsträhnen über das Gesicht wehten. Schließlich warfen wir die Netze in unterschiedliche Richtungen aus, wo sie sich im Wind wie Ballons aufblähten.
Danach hieß es warten. Wenn auch nicht lange. So weit oben, wie wir waren, gab es Himmelslicht in Hülle und Fülle. Die Funken verfingen sich innerhalb kürzester Zeit in unseren Netzen, erst Dutzende, dann Hunderte und Tausende. Nach und nach bildete sich ein glühender Ball – es würde nicht mehr lange dauern, bis wir das Licht einsammeln konnten.
»Wie geht es deinem Bruder eigentlich?«
Ich blinzelte, um die Lichtflecken in meiner Sicht zu vertreiben, dann schaute ich zu Ravax. Das war das erste Mal seit Varians Unfall, dass er nach ihm fragte.
»Unverändert.«
»Finster«, fluchte Ravax leise und warf mir dann ein schmales Lächeln zu, das wahrscheinlich aufmunternd wirken sollte. »Vielleicht hilft das Licht ihm ja.«
»Ja … vielleicht.«
Ich hatte keine Ahnung, ob das Himmelslicht tatsächlich dazu imstande war, Varian aus dem Koma zu holen. Aber es würde zumindest dafür sorgen, dass seine Werte nicht schlechter wurden. Das war gerade alles, was für mich zählte.
Das Himmelslicht war göttlichen Ursprungs. Es war nicht einfach nur Licht – es war pure Lebenskraft. Und die brauchte mein Bruder gerade dringender als alles andere.
»Es tut mir übrigens echt leid, was ihm passiert ist«, fuhr Ravax fort. »Ich habe mich nie gemeldet danach, aber … na ja, du weißt ja, wie es ist.«
Ich musste mich beherrschen, nicht zu schnauben. Ja, ich wusste sehr gut, wie es war. Wir alle waren Freunde, zumindest während wir auf Lichtfang waren. Doch in der Sekunde, in der ein Auftrag erledigt war, war sich jeder wieder selbst der Nächste.
So war es bei allen, die zu Luxon gehörten – einer geheimen Widerstandsgruppe, die in ganz Silver City aktiv war. Echten Widerstand gab es natürlich nicht … nicht gegen Götter. Trotzdem versuchte Luxon, Zeichen zu setzen, indem sie Himmelslicht stahlen, Diebestouren planten oder die Verwaltungsbehörden in den Capitol Heights sabotierten. Sie operierten dezentral und im Verborgenen. Das Zellensystem, das sich über alle Innenbezirke zog, sorgte dafür, dass selbst die engsten Mitglieder nur bruchstückhaft über das gesamte Netzwerk informiert waren. Niemand kannte die wahre Größe von Luxon. Sogar jene, die sich um Salvius Kryze scharten, den Anführer von Luxon, wussten nicht, wie viele Menschen sich bereits dem Widerstand gegen die Götter angeschlossen hatten.
Diese Unwissenheit schützte die Mitglieder: Wenn eine Zelle entdeckt und gefasst wurde, wurde sie von der restlichen Gruppe abgetrennt, und Luxon konnte weitermachen. So war es auch mit Varian gewesen. Nach seinem Unfall hatte sich niemand um seine Genesung gekümmert, niemand hatte mich gefragt, ob sie mir helfen konnten. Und als ich Luxon schließlich den Rücken gekehrt hatte, hatte es keinerlei Protest gegeben.
Die Sache war: Ich verstand es. Es war hart genug, in Silver City zu leben. Mitgefühl war ein Luxus, den man sich nur schwer leisten konnte. Alles, worauf Luxon sich fokussierte, war ihr geheimer Kampf gegen die Götter. Kollateralschaden nahm man in Kauf.
Gerade, als ich Ravax antworten wollte, blendete mich etwas. Auch Tristan schaute verwirrt zur Seite … und dann, mit geweiteten Augen, nach unten.
Ich sog scharf die Luft ein. Von einem der Wolkenkratzer neben unserem flackerte ein gleißendes Licht in unsere Richtung.
Das war ein Signal. Ein Warnsignal.
»Sentinels.«
Tristan und ich hatten das Wort gleichzeitig ausgesprochen, und ich spürte, wie mein Innerstes zu Blei wurde. In all der Zeit, in der ich als Lichtfängerin auf den Dächern der Stadt unterwegs gewesen war, hatte ich das Warnsignal erst zweimal miterlebt. Ich war nie selbst betroffen gewesen – es hatte immer einer anderen Gruppe gegolten. Trotzdem wusste ich sofort, was es bedeutete: Sentinels waren auf dem Weg hierher. Und wenn sie uns sahen … hier oben … mit Netzen voller Himmelslicht …
Dann würden sie uns im Namen ihrer Götter gefangen nehmen.
Uns verhören und foltern.
Und anschließend öffentlich hinrichten lassen.
»Wir müssen sofort verschwinden.«
Tristans Stimme hatte einen Tonfall angenommen, den ich noch nie bei ihm gehört hatte. Seine Hände zitterten, während er den Knoten seines Netzes löste und es davonfliegen ließ.
Es war nur eine Sache von Sekunden, dann verteilte sich das gesammelte Himmelslicht wie ein Sternenschauer zu allen Seiten. Ravax fluchte leise bei dem Anblick, löste aber im selben Augenblick sein eigenes Netz.
»Mach schon, Aurora!«, raunte Tristan mir zu und klinkte erst seinen und dann meinen Karabinerhaken aus. Ich nickte und nahm das geflochtene Seil in die Hand, bereit, es zu lösen.
Es war die erste von genau zwei Regeln, die Luxon uns Lichtfängern auferlegt hatte: Die Sentinels durften niemals erfahren, was wir auf den Dächern der Stadt taten. Denn sonst war es das – für alle Lichtfänger. Also mussten wir dafür sorgen, dass die Netze rechtzeitig verschwanden, indem wir sie vom Wind davontragen ließen. Sie würden entweder hinter den Stadtgrenzen landen, dort, wo die Finsternis begann, oder mit dem restlichen Müll der Stadt entsorgt werden.
Ich starrte auf das Netz, aber meine Finger bewegten sich nicht. Inzwischen hatte sich so viel Himmelslicht darin gesammelt, dass der leuchtende Ball so groß war wie der Tisch, an dem Julien und ich immer zusammen aßen.
Der Tisch, an dem früher auch Varian gesessen hatte.
Varian.
»Aurora!« Nun war es Tristan, der an meinem Hosenbein zog. Er war bereits von der Plattform auf die Leiter gestiegen und ein paar Sprossen nach unten geklettert.
»Er braucht das Licht«, flüsterte ich und zerrte dann mit beiden Händen an dem Seil. Der stramme Wind sorgte dafür, dass ich das Netz nur Zentimeter für Zentimeter einholen konnte, aber ich ließ nicht nach. Varian ging es so schlecht wie noch nie zuvor. Wenn ich ohne Himmelslicht nach Hause kam, würde ich ihn ohne jeden Zweifel verlieren.
»Was machst du?«, fuhr Ravax mich von der Seite an.
»Geht einfach!«
»Bist du irre?« Ravax wollte nach dem Netz greifen, aber ich schob ihn mit einem Ellbogen zur Seite. Er funkelte mich an. »Wenn sie dich finden, sind wir alle geliefert, das ist dir klar, oder? Dann werden sie die Dächer überwachen, und wir kommen nie wieder an Himmelslicht!«
Tristan kletterte zurück nach oben. »Hau schon ab, Rav. Wir kommen nach.«
»Du lässt dich echt immer noch von ihr um den Finger wickeln?« Ravax schnaubte verächtlich. »Bitte! Wenn ihr unbedingt sterben wollt.«
Damit wandte er sich von uns ab und hangelte sich Sprosse für Sprosse nach unten, so schnell er konnte.
»Du musst nicht bleiben«, presste ich hervor, während ich mit all meiner Kraft an dem Seil zerrte. Das Warnsignal flackerte nach wie vor aus der Ferne über mein Gesicht; es schien immer hektischer zu werden.
»Doch. Muss ich.« Tristan fasste nach dem Seil, um mir zu helfen. Ich wusste nicht, wie ich einen Freund wie ihn verdient hatte – oder wie ich mich je würde revanchieren können, sollten wir das hier überleben.
Wir hatten bereits die Hälfte geschafft; das Netz war nicht mehr weit entfernt. Immer wieder glitt mein Blick nach unten zum Dach. Es war unmöglich zu erkennen, wie weit die Sentinels entfernt waren. Vielleicht patrouillierten sie ja nur am Fuße des Gebäudes, und das Warnsignal war lediglich eine Vorsichtsmaßnahme. Vielleicht würde alles gut gehen.
Vielleicht waren sie aber auch geradewegs auf dem Weg hier hoch.
Verfluchte Finsternis! Wieso ausgerechnet heute?
Als das Netz in Reichweite kam, beugte ich mich so weit nach vorne, wie es ging, und zog es an mich heran. Die Lichtfunken darin strahlten eine Hitze aus, die mir Schweiß ins Gesicht trieb. Ich wollte zu meinem Rucksack greifen, doch da hielt mir Tristan schon die erste Speicherzelle entgegen. Es waren kleine gläserne Kugeln – wir nannten sie Pearls, weil sie, kaum dass sie mit Licht gefüllt waren, einen perlmuttfarbenen Schimmer von sich gaben. Man musste nur auf eine Einkerbung in ihrer Hülle drücken, und sie saugten alles Himmelslicht auf, was in ihrer Nähe war.
Es gab kaum Technologie, die uns Menschen gehörte. Das Wenige, das wir hatten, wurde uns offiziell zugeteilt. Aber die Pearls – sie waren unsere Erfindung. Luxons Erfindung. Jedes Mal, wenn ich eine von ihnen aktivierte, fühlte ich mich, als würde ich den Göttern persönlich vor die Füße spucken.
Zusammen mit Tristan öffnete ich eine Pearl nach der anderen und ließ sie, kaum, dass sie gefüllt war, in meinem Rucksack verschwinden. Als wir bei Nummer zehn angekommen waren, trafen wir in stummem Einverständnis eine Entscheidung. Wir hätten sicherlich noch einige Dutzend weitere Pearls vollmachen können, aber das musste genügen.
Ich ließ das Netz los, damit es vom Wind davongeweht wurde. »Okay, runter«, presste ich dann hervor und folgte Tristan hinab. Ein Blick nach unten bestätigte: Ravax war nicht mehr zu sehen, weder auf der Antenne noch auf dem Dach. Wahrscheinlich war er längst aus dem Gebäude und in der Stadt verschwunden.
Gut für ihn.
Der Aufstieg hatte uns knapp zwanzig Minuten gekostet, der Rückweg würde erfahrungsgemäß schneller gehen. Doch als wir etwa die Hälfte der Strecke hinter uns hatten, das Dach vielleicht noch 150 Fuß entfernt, hielt Tristan plötzlich inne. Fast hätte ich ihm mit dem Stiefel gegen den Kopf getreten. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, als er hastig wieder drei Sprossen zu mir hochkletterte.
»Was ist l–?«
Er presste eine Hand auf meinen Mund, bevor ich weiterreden konnte. In derselben Sekunde wurde unter uns lautstark eine Tür aufgestoßen. Meine Augen weiteten sich: Vier Gestalten traten auf das Dach. Aus dieser Höhe wirkten sie beinahe klein, aber ich hatte mich schon oft genug an einem von ihnen vorbeigedrückt, um es besser zu wissen. Die Sentinels waren über zwei Meter groß, von menschenähnlicher Gestalt, aber von einer unheimlichen Perfektion, die jeden Anschein von Menschlichkeit sofort widerlegte. Ihre Körper schimmerten blendend weiß, durchzogen von goldenen Linien, die im Himmelslicht pulsierten. Ihr Gesicht war glatt und ohne Öffnungen – emotionslos, unergründlich und Furcht einflößend.
Es hieß, die Sentinels trugen den Odem der Götter in sich. Manche nannten es auch göttliche Magie, die ihre Körper antrieb. So oder so: Es war kein Zufall, dass sie keine Augen oder Münder hatten, denn sie benötigten keine Sinne wie wir Sterblichen. Sie sahen, hörten und sprachen durch die Macht der Götter, waren ihre Schöpfung, ihr Werkzeug und ihre verlängerte Faust.
Langsam ließ Tristan seine Hand von meinem Mund sinken und legte stattdessen einen Arm um meine Taille. Wir wagten es nicht, uns zu bewegen, weder nach oben noch nach unten.
Die Sentinels liefen umher, und ich starrte hinab, während sich in mir alles verkrampfte. Hatten sie uns gesehen? Wussten sie, dass wir hier waren? Suchten sie nach uns?
Sie teilten sich in Zweiergruppen auf, umrundeten die zahlreichen Abluftöffnungen, Generatoren und den Wasserturm in der Mitte. Nach und nach näherten sie sich dem Teil des Daches, wo die Antenne nach oben ragte. Nur noch ein paar Schritte, dann stünden sie direkt unter uns.
Meine Hand wanderte zu dem Lederband, das ich um den Hals trug. Ich zog daran, vorsichtig, und holte den schmalen Behälter hervor, der an dem Band befestigt war.
Das war die zweite Regel. Lichtfänger ließen sich nicht gefangen nehmen. Wir riskierten keine Befragung durch die Sentinels, sondern nahmen die Geheimnisse von Luxon mit ins Grab. Die Kapsel, die in dem Behälter lag, war die letzte Möglichkeit, selbst über das Wie und Wann meines Todes zu bestimmen. Ich war mir immer sicher gewesen, dass ich – sollte der Tag je kommen – nicht zögern würde. Alles wäre gnädiger, als sich den Sentinels auszuliefern. Doch mit einem Mal kamen mir Zweifel. Ich dachte daran, wie Varian bleich und verletzlich in seinem Bett lag – wie sein Leben nur noch an einem einzigen Faden hing, der jede Sekunde reißen konnte.
Er brauchte mich. Julien allein würde ihn nicht am Leben halten können.
Da legte sich Tristans Hand über meine. Er umschloss den Behälter mit der Kapsel und schob ihn langsam, aber bestimmt zurück unter meine Jacke. Als ich fragend zu ihm schaute, nickte er bloß in Richtung Dach. Die Sentinels standen nun unmittelbar unter uns, und … sie wendeten ihre Blicke aufmerksam nach links und rechts, aber kein einziges Mal nach oben.
Ein beinahe überwältigendes Gefühl der Hoffnung rauschte durch mich hindurch.
Sie waren nicht unseretwegen hier.
Aber … wieso dann?
Die Sentinels gaben keinen Laut von sich, aber ich wusste, dass sie miteinander kommunizierten. Mit einem Mal drehten sie sich alle in dieselbe Richtung und steuerten auf einen rechteckigen Aufbau zu, in dessen Wänden nur schmale Lüftungsschlitze, aber keine Fenster waren. Wahrscheinlich eine Art Maschinenraum. Sie versammelten sich an der Tür, dann stieß einer von ihnen sie mit einem gezielten Tritt auf und verschwand in der Öffnung.
Etwa eine Minute lang passierte gar nichts. Mit einer schweißnassen Hand klammerte ich mich an die Sprossen der Antenne und presste mit der anderen meinen gefüllten Rucksack an mich. Keiner von uns wagte es, ein Wort zu sagen.
Meine Augen weiteten sich, als der Sentinel schließlich wieder aus dem Aufbau heraustrat und dabei jemanden hinter sich her über den Boden schleifte. Es war ein Junge. Er war etwas jünger als wir, siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Seine Kleidung war dreckig, sein Körper abgemagert. Bei den Lichtern, wie lange hatte er sich hier oben auf dem Dach versteckt? Der Junge schlug mit seinen dünnen Armen um sich, versuchte vergeblich, nach den Sentinels zu treten, und schrie dabei aus vollem Hals. Ich brauchte einen Moment, um aus der Entfernung zu verstehen, was er sagte, aber dann lief mir ein Schauer über den Rücken.
»Ich werde kein Valet! Niemals! Tötet mich gleich hier!«
Pures Entsetzen sickerte in meine Knochen. Die Sentinels suchten nach dem Jungen, weil er berufen worden war. Er war als Valet auserwählt, als ein Diener der Götter. Und die Sentinels waren hier, um ihn in eines der Auktionshäuser der Stadt zu bringen – damit er dort verkauft werden konnte.
Es passierte sehr selten, dass jemand die Berufung verweigerte. Kaum einer wagte es, sich dem Willen der Götter zu widersetzen. Doch dieser Junge schrie und versuchte sich loszureißen. Die Sentinels ignorierten ihn. Einer von ihnen hielt ihn am Ärmel seines zerschlissenen Oberteils fest und schleifte ihn wie eine Puppe hinter sich her. Kurz bevor sie bei der Tür ankamen, die ins Innere des Wolkenkratzers führte, schaffte es der Junge, aus seinem Shirt zu schlüpfen. Er rappelte sich auf und stolperte davon. Für einen Moment rechnete ich damit, dass er einen Fluchtversuch in das Gebäude wagen würde, so aussichtslos es auch war. Aber dann wandte er sich in die andere Richtung, rannte an den Sentinels vorbei, quer über das Dach, geradewegs auf die Kante zu.
Tristans Hand versteifte sich an meiner Taille, und in derselben Sekunde begriff ich, dass der Junge nicht vorhatte zu fliehen. Er kletterte über die Brüstung. Seine Haare wehten heftig im Wind, während er sich aufrichtete und die Arme ausstreckte, um das Gleichgewicht zu halten. Sie ruderten in der Luft wie die Flügel eines Jungvogels, der zum ersten Mal sein Nest verließ.
Ich fragte mich, was in seinem Kopf vor sich ging.
Welche letzten Gedanken er hatte.
Ich würde es nie erfahren.
Noch bevor er springen konnte, streckte einer der Sentinels seine rechte Hand nach vorne. Die goldenen Linien auf seinem Körper leuchteten auf, bis er von einem gleißenden Licht umgeben war. Die Luft um den Sentinel herum flirrte, und an seinem Rücken bildeten sich goldene Flügel aus Licht – keine echten Flügel, nur ein Trugbild, eine Machtdemonstration. Diese Wesen hatten nichts mit Engeln gemein, nichts mit den gnädigen Lichtgestalten aus Varians Büchern.
Ich sah, wie sich ein Energiestrahl aus der Handfläche des Sentinels löste. In einem plötzlichen, verheerenden Ausbruch schoss er nach vorne – ein konzentrierter Strahl aus Licht und Hitze. Die Druckwelle erfasste auch Tristan und mich. Wir mussten uns mit beiden Händen an die Sprossen klammern, um nicht nach unten zu fallen. Als der Strahl nach einigen Sekunden abebbte, senkte der Sentinel den Arm und ließ seine Flügel verschwinden, als ob nichts geschehen wäre.
Mein Blick zuckte zurück zum Dachvorsprung. Dort, wo eben noch der Junge gestanden hatte, bedeckte ein Aschehaufen den Boden.
Ein erstickter Laut drang über Tristans Lippen. Dieses Mal war es meine Hand, die nach oben schoss und sich auf seinen Mund presste. Er war jedoch längst verstummt – erstarrt vor Angst, unser Schicksal besiegelt zu haben. Aber die Sentinels hatten ihn nicht gehört. Sie versammelten sich am Rand des Daches, ihre Köpfe nach unten auf die Asche gerichtet, als würden sie sie analysieren. Schließlich drehten sie sich um, steuerten im Gleichschritt auf die Tür zu und verschwanden im Inneren des Gebäudes.
Sie würden Ersatz für den Jungen finden. Jemand anderes würde seinen Platz als Valet einnehmen, und die Angelegenheit war erledigt. Ein weiterer Mensch ausgelöscht, als hätte er nie existiert.
Ein Teil von mir wünschte, ich könnte noch echte Verzweiflung fühlen wegen dem, was wir eben mit angesehen hatten. Aber das hier war Silver City.
Es war der Monat der Berufung.
Und die Götter kannten keine Gnade.
Meine Arme waren taub vor Anstrengung, als wir das Dach erreichten. Wir hatten noch eine weitere Stunde auf der Antenne ausgeharrt, nur um ganz sicherzugehen, dass wir den Sentinels auf dem Weg nach unten nicht in die Arme laufen würden. Als wir schließlich das Gebäude verließen und in den Trubel der Stadt eintauchten, schenkte uns jedoch niemand Beachtung.
Wir hatten die Brillen längst abgezogen, unsere Ausrüstung verstaut und hielten nun die Köpfe gesenkt. Nicht so tief, um verdächtig zu wirken, aber tief genug, um niemandem in die Augen schauen zu müssen. So sah ich nur gebräunte Beine und die Säume luftiger, farbenfroher Gewänder. Die Bewohner des Capitol-Heights-Districts flanierten um uns herum, und ich wusste, auch ohne hinzuschauen, dass viele von ihnen kunstvolle Haarteile und Hüte trugen, die sich in extravaganten Formen um ihre Köpfe wanden.
Die Menschen, die in diesem Teil von Silver City lebten, waren geschäftige Leute und verantwortlich für einen Großteil der Stadtverwaltung. Anders als die restliche Bevölkerung besaßen sie die vollen Bürgerrechte. Sie lebten nicht nur auf den höchsten Ebenen, sondern durften größere Essensrationen beziehen und Berufe außerhalb des Handwerks, der Bauarbeit oder Landwirtschaft ausüben. Und das einzig und allein, weil der Divine District – der Sitz der Götter – nur wenige Ebenen über den Capitol Heights lag. Erreichen konnten sie ihn nicht, kein Mensch konnte das, aber sie lebten in der Nähe der Götter. Näher als alle anderen. Und das genügte.
Tristan und ich eilten weiter durch die gepflegten Straßen, vorbei an Casinos, Lounges und Restaurants. Das elfenbeinfarbene Pflaster hier in den Heights reflektierte die Strahlen des Himmelslichts in alle Richtungen. Bei jedem Schritt musste ich mich zusammenreißen, nicht ständig an meinen Rucksack zu greifen, um sicherzugehen, dass die gefüllten Pearls noch da waren. Wir durften nicht auffallen, mussten in der Masse untergehen.
Wir steuerten die nächstmögliche Bahnstation an. Sie grenzte direkt an einen Zoo, in dem Tierarten untergebracht waren, die es sonst nirgendwo in der Stadt gab. Varian und ich waren früher einmal mit unseren Eltern dort gewesen – und er hatte danach tagelang von nichts anderem gesprochen.
Von der Station aus führten die Zugstrecken wie Adern durch die Bezirke von Silver City. Von den Warrens im Norden, den Dregs im Süden, dem Scribe’s Square im Osten und dem Artisan’s Quarter im Westen. Von Ebene zu Ebene, Plattform zu Plattform, von den höchsten Dächern bis nach ganz unten.
In der Bahn drängten Tristan und ich uns am Fenster aneinander, während Silver City an uns vorbeizog. Der Zug war zwischen dem zweiten und dritten Tagessegment immer am vollsten, wenn die Bewohner ihre Arbeitsstätte verließen und zur Ruhephase nach Hause zurückkehrten. An jeder Station stiegen Hunderte Menschen aus und Hunderte wieder ein, ein ewiger Wechsel, bis wir die Grenze zwischen Capitol Heights und unserem Heimatbezirk, dem Artisan’s Quarter, erreichten.
Und damit auch die Kontrollstation.
»In ein paar Minuten sind wir draußen«, hörte ich Tristan sagen, und als Antwort schenkte ich ihm ein zuversichtliches Lächeln, das ich nicht fühlte. Nicht nach allem, was heute geschehen war.
Die Türen des Zuges öffneten sich, und ich presste die Lippen aufeinander. Zwei Sentinels betraten unseren Wagen. Zwischen ihnen und uns standen sicherlich zwanzig Leute oder mehr, und obwohl die Sentinels keine Augen hatten, kam es mir vor, als würden sie mich direkt anstarren. Ich wusste, sie durchleuchteten uns Menschen – suchten nach Waffen und anderen verbotenen Gegenständen. Ich wusste, dass die Pearls in meinem Rucksack keinen Alarm verursachen würden. Das hatten sie in der Vergangenheit nicht, und heute würde es nicht anders sein. Trotzdem schlug mein Herz immer schneller gegen meine Rippen, ganz egal, wie oft ich mir einredete, dass ich nicht in Gefahr war.
Es war der Junge. Die Bilder ließen mich einfach nicht los. Ich sah ihn vor mir, wie er auf der Brüstung stand. Wie seine dünnen Arme wild hin und her ruderten, als wüsste er nicht, welche Richtung die bessere war. Vielleicht wäre der Junge nicht gesprungen. Vielleicht wäre er doch noch von der Brüstung getreten. Vielleicht hätte er sich den Sentinels ergeben und wäre jetzt auf dem Weg in den Divine District, um dort seinen Dienst als Valet zu beginnen.
Vielleicht hätte er sich entschieden zu leben.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
»Du musst dich beruhigen«, raunte Tristan an mein Ohr, und ich nickte und atmete und nickte und atmete. Die Sentinels durchleuchteten uns nicht nur, sie erkannten auch, wenn wir nervös waren, ängstlich – auffällig. Und dann schauten sie genauer hin, indem sie, zum Beispiel, Rucksäcke öffneten.
Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich selbst. Die Sentinels liefen durch das Abteil. Einer von ihnen steuerte auf uns zu. Sein gesichtsloser Kopf neigte sich hin und her, und als er sich in meine Richtung wandte, kam es mir vor, als würde er direkt in mich hineinblicken. Als würde er jeden meiner Gedanken und Ängste erfassen. Womöglich konnte er sogar erkennen, wie sehr ich sie verabscheute – sie und die Götter und alles, wofür sie standen.
Mein Herz pochte und pochte. Ich zwang mich dazu, tief einzuatmen und die Luft langsam durch meine Nase in meine Lungen strömen zu lassen. Julien hatte mich in den letzten Jahren oft genug zum gemeinsamen Meditieren überredet, ich wusste, wie es ging. Eins, zwei, drei, langsam einatmen. Eins, zwei, drei, langsam ausatmen. Doch die Bilder kamen wieder. Und die Schreie des Jungen ebenso.
Ich werde kein Valet! Niemals! Tötet mich gleich hier!
Er war mutig gewesen.
Mutig, es zu versuchen, trotz allem.
Der Sentinel kam näher, jetzt waren nur noch zwei Frauen mit einem Kind zwischen uns. Meine Finger tasteten nach dem Schultergurt meines Rucksacks. Ich Idiotin! So aufgewühlt, wie ich war, hätte ich ihn schon vor Minuten an Tristan geben sollen. Wenn sie mich durchsuchten und nichts fanden außer einem zu schnellen Herzschlag, würde nichts weiter passieren. Die Sentinels sollten uns schließlich Ehrfurcht und Respekt einflößen. Jeder Schritt ließ den Boden unter ihnen erbeben, ihre weißen, glatten Gesichter kannten kein Erbarmen, und allein ihre Gegenwart weckte das Gefühl in einem, nicht mehr als ein Staubkorn zu sein, klein und unbedeutend. Ein Mensch, der sich vor ihrem Anblick fürchtete, wäre nichts Ungewöhnliches. Doch der Sentinel war zu nah, es würde ihm auffallen, wenn wir unsere Rucksäcke tauschten.
Meine Gedanken rasten, während ich nach einer Lösung suchte. Wenn sie mich jetzt fanden … käme es meinem Todesurteil gleich. All die Trainingsstunden und Lektionen, die Julien mir in den Jahren eingebläut hatte … und, na ja, es wäre wohl eine herbe Enttäuschung für uns beide, wenn ich jetzt starb, nur weil ich meine Gefühle nicht in Zaum halten konnte. Aber was sollte ich tun? Wie konnte ich die Sentinels glauben lassen, dass mein Herz nicht wie wild schlug, weil ich etwas vor ihnen verbarg? Wie sollte ich –
»Mach einfach mit, okay?«
Es war die einzige Vorwarnung, die ich bekam, bevor Tristan eine Hand an mein Kinn und die andere in meinen Nacken legte, meinen Kopf zu sich neigte und unsere Lippen aufeinanderpresste. Es ging alles so schnell, dass ich nichts anderes tun konnte, als es zuzulassen. Seine Lippen rieben über meine, und nach einigen Sekunden des Zögerns erwiderte ich den Kuss. Mir war klar, was er da machte. Es war nicht das erste Mal, dass Tristans schnelles Denken uns vor Ärger bewahrte. Mit geschlossenen Augen legten wir die Arme um die Taille des anderen, das perfekte Bild von einem Paar, das nichts anderes wahrnahm als einander. Erst, als die schweren Schritte leiser wurden und die Sentinels den Zug wieder verließen, löste ich mich von Tristan. Etwas benommen schaute ich ihnen hinterher. Unglaublich. Das war ja wohl das älteste Ablenkungsmanöver der Welt gewesen: das verliebte Pärchen – inklusive Herzklopfen. Aber es hatte funktioniert. Weil die Sentinels genau eine Schwachstelle hatten.
Sie verstanden uns Menschen nicht.
Als ich zu Tristan aufschaute, lag ein zerknirschter Ausdruck auf seinem Gesicht. »Aurora, es tut mir –«
»Muss es nicht.« Ich stupste freundschaftlich gegen seine Schulter. »Das hätte echt schiefgehen können. Danke.«
Sein Lächeln war warm, aber es hatte seine übliche Leichtigkeit verloren.
»Jederzeit.«
Das dritte Tagessegment war längst angebrochen, als der Zug an unserer Station auf Ebene 67 hielt. Die Plattform gehörte zu den größten und wichtigsten Umschlagplätzen im Artisan’s Quarter, wo selbst kurz vor der Ruhephase überall noch reges Treiben herrschte.
Ich hatte den Großteil meines Lebens im Quarter verbracht. Nahe der siebzigsten Ebene war es bereits deutlich kühler und dunkler als oben in den Capitol Heights, aber immer noch warm und hell genug, um gut leben zu können. Werkstätten, Schneidereien und Ateliers aus Beton und Stahl dominierten das Straßenbild. Überall roch es nach frisch verarbeitetem Holz und Färbemitteln, während die Geräusche von Hämmern, Sägen und Schweißbrennern durch die Luft hallten.
Tristan und ich bogen in die schmalen und verwinkelten Straßen ein, die von dem Platz vor der Station abgingen. An den Fassaden der Werkstätten hingen bunte Banner, die die jeweiligen Handwerke und Produkte bewarben. Überall liefen Menschen mit irgendwelchen Karren hin und her, um Materialien oder fertige Waren an die Käufer zu liefern: Stoffe, Papier, Möbel, alles Mögliche. Ab und zu versuchten geschäftige Händler, uns in ihre Läden zu locken, aber Tristan und ich waren geübt darin, sie zu ignorieren.
Juliens Antiquitätenladen befand sich zum Glück im östlichen Teil des Quarter. Denn je weiter man in Richtung Westen reiste, desto näher kam man dem Grauen Gürtel. Er lag um die gesamte Außengrenze von Silver City und war im Grunde ein weiterer Bezirk, den jedoch niemand wirklich mitzählte. Dort wurde das Licht immer schwächer, und die Kriminalität nahm schlagartig zu. Je näher man zur Grenze vordrang, desto fauliger schmeckte die Luft, und die Menschen fingen an, vom Himmelslicht wie von einem Mythos zu sprechen. Die Gebäude reichten maximal bis Ebene 30, und Julien hatte mal erzählt, dass es so weit entfernt vom Divine District nur noch Streulicht gab, das den Menschen ein Minimum an Leben schenkte. Wer im Gürtel wohnte, war mehr oder weniger sich selbst überlassen. Es gab keine Sentinels, keine Kontrollen. An einem Ort, wo es nahezu vollständig dunkel war, musste niemand überwacht werden. Die Menschen wurden ohnehin kaum älter als zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre. Wenn es Probleme gab, lösten die sich also schnell von selbst.
Unsere Eltern waren im Gürtel aufgewachsen. Dank Julien konnten sie vier Jahre nach meiner Geburt in den Artisan’s Quarter umziehen, aber die lange Zeit in der Dunkelheit hatte ihren Tribut gefordert. Im Grunde sollte ich dankbar sein für die Zeit, die ich mit meinen Eltern gehabt hatte, aber es fiel mir schwer. Menschen, die in den Kernbezirken aufwuchsen, wurden vierzig, fünfzig oder sogar sechzig Jahre.
Meine Eltern hatten ein halbes Leben führen dürfen.
Mehr nicht.
Julien reiste immer noch ab und an in den Grauen Gürtel. Er hatte als Händler eine Sondergenehmigung, aber ich hatte ihn nie begleiten dürfen. Er sagte immer, dass ich als normale Bürgerin der Stadt nicht einfach so die Grenzen passieren durfte, doch ich wusste, das war nicht der einzige Grund. Im Gürtel standen Überfälle und Morde auf der Tagesordnung – und Julien wollte mich von so ziemlich allem fernhalten, was irgendwie nach Gefahr aussah.
»Weiß Julien eigentlich, wo du heute warst? Hast du ihm gesagt, dass du mit uns kommst?«
Ich schnaubte. Es war manchmal gruselig, wie gut Tristan mir die Gedanken vom Gesicht ablesen konnte. »Nein«, gestand ich. »Er ist noch zwei Tage im Gürtel, wegen irgendwelcher super wertvollen Alte-Welt-Relikte. Er hätte sich nur Sorgen gemacht.«
Tristan nickte. Er und Julien mochten sich nicht sonderlich – ich hatte nie so recht verstanden, warum. Aber wahrscheinlich stellte Tristan sich gerade vor, wie Julien ihm die Schuld für meinen Sinneswandel geben würde.
»Er wird es nicht erfahren«, beruhigte ich ihn. »Bis er wieder da ist, habe ich die Pearls längst aufgebraucht.«
Ein schmales Lächeln legte sich auf Tristans Mund. Er hatte die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben und wirkte mit einem Mal angespannt und überhaupt nicht mehr so unbekümmert wie eben auf der Antenne. Über irgendetwas dachte er nach. Schon heute Morgen hatte ich das Gefühl gehabt, dass er mir etwas erzählen wollte … es aber nicht tat.
»Der Junge auf dem Dach …«, sagte er nach einem Moment. »Er war nur einer von sehr vielen, die gerade berufen werden, weißt du? Salvius sagt, es sind fast doppelt so viele wie letztes Jahr.«
»Und woher will Salvius das wissen?«
»Dafür muss man sich nur in der Stadt umsehen. Ravax und ich waren vor ein paar Tagen auf der Dreizehnten im Bazaar Sector. Da wurde alle paar Minuten jemand von den Sentinels abgeführt.«
Ein schlechtes Gewissen machte sich in mir breit. Ich hatte während des Berufungsmonats kaum das Haus verlassen, weder letztes noch dieses Jahr. Ich hatte die gesamte Zeit im Antiquitätenladen verbracht und sogar meine Arbeitsstelle in einer benachbarten Schreinerei aufgegeben, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.
Erst da kamen Tristans Worte vollständig bei mir an. »Ihr wart auf Ebene 13? Seit wann geht ihr denn so tief runter?«
Tristan zögerte, eine Sekunde zu lange. »Salvius hatte dort einen Auftrag für Ravax und mich.«
Das war nicht die ganze Wahrheit, das hörte ich in seiner Stimme. Wahrscheinlich spielten auch die vielen Clubs, Bars und Bordelle, die es dort unten gab, eine gewisse Rolle. Ebene 13 befand sich am unteren Ende der Lowlevels, dem Teil der Stadt, der – egal, unter welchem Bezirk er lag – überall absolut gleich war.
Ich beschloss, das Thema zu wechseln. Tristan und ich waren kein Paar. Ich hatte kein Recht, darüber zu urteilen, für was – oder für wen – er sein Geld ausgab.
»Weißt du, warum auf einmal so viele Valets berufen werden?«
Auf meine Frage hin hob Tristan überrascht eine Augenbraue. »Na ja. Weil immer mehr Valets sterben und sie Nachschub brauchen.«
»Sie sterben? Aber …«
»Komm schon, Aurora. Du weißt, was ich meine. Sie sterben sicher nicht, weil sie alt werden. Sie sterben, weil die Götter gelangweilt von ihnen sind und neue Valets wollen. Was glaubst du, warum der Typ vorhatte, vom Dach zu springen? Er hat bloß den schnelleren Ausweg gewählt.«
Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich hasste den Monat der Berufung. Menschen wurden einfach so aus ihrem Leben gerissen, als wäre es nichts.
Als hätten die Götter ein Recht auf sie.
Als wäre ihre Freiheit von Geburt an nur eine Leihgabe gewesen.
Ich hatte keinerlei Vorstellung, was es genau bedeutete … den Göttern zu dienen. Ob die Valets tatsächlich nur für Hausarbeiten zuständig waren oder auch für … andere Dinge. Niemand von ihnen kehrte jemals aus dem Divine District zurück, um von ihrem Leben dort zu berichten. Wer ein Valet wurde, blieb ein Valet. Und jedes Jahr, einen Monat lang, wurden neue Diener in den Auktionshäusern an die Götter verkauft. Aus den kläglichen Resten der Menschheit pickten sie sich die vermeintlich Besten heraus – und niemand tat etwas dagegen.
Nur noch dreißig Stunden bis zum Ende des Berufungsmonats, dann war der Schrecken vorbei.
Zumindest bis zum nächsten Jahr.
Juliens Antiquitätenladen sah anders aus als die vielen Standardbehausungen auf unserer Ebene. Er lag am Ende einer Sackgasse, die Fassade war aus rotem Backstein – hier und da gab es ein Stück Moos oder ein verwittertes Graffiti. Hinter den Schaufenstern standen antike Tische und Regale, die mit uralten Büchern gefüllt waren. Die hölzerne Eingangstür knarrte bei jedem Öffnen und Schließen, als würde sie Geheimnisse flüstern, die sich über die Jahre hinter ihr angesammelt hatten. Über dem Eingang baumelte ein Schild mit goldener, halb verblasster Schrift.
Old World Treasures
Hier im Artisan’s Quarter gab es einige Geschäfte, die antike Bücher und Möbelstücke verkauften, aber keines von ihnen hatte eine derart ungewöhnliche Auswahl wie das von Julien. Er war in ganz Silver City bekannt dafür, Schätze aus der alten Welt beschaffen zu können, an die sonst niemand kam. Schätze aus der Zeit vor den Göttern – wenn es sie je gegeben hatte.
Der vertraute Duft von Papier und Leder umhüllte mich, kaum, dass die Tür hinter uns zugefallen war. Mit einem Mal war es still. Friedlich. Jedes Mal, wenn ich diesen Ort betrat, hatte ich das Gefühl, dass all die Schrecken der Stadt an der Türschwelle wie an einer unsichtbaren Wand abprallten.
Ich drehte mich zu Tristan um und zog meinen Rucksack vor mich. Stumm holte ich zwei Pearls heraus. Das perlmuttfarbene Schimmern erhellte sofort den gesamten Empfangsbereich. Ich wollte den Rest samt Rucksack an Tristan geben, doch er schaute nur kurz darauf und schüttelte den Kopf.
»Behalte sie.«
Bitte, was?
»Aber … das ist der Anteil, den ich mit Luxon ausgemacht habe. Ich sammle so viel Licht, wie ich kann, und darf zwanzig Prozent behalten, schon vergessen?«
»Niemand außer mir weiß, dass wir heute überhaupt was gesammelt haben.« Tristan klopfte gegen seinen eigenen, leeren Rucksack. »Ravax und ich haben auch nichts. Salvius wird längst wissen, dass wir heute auf Sentinels gestoßen sind. Behalte es. Dann muss ich auch nicht erklären, wie waghalsig wir gewesen sind.«
»Und was ist mit Ravax? Ihm muss doch klar sein, dass ich –«
»Ravax hat mir viel zu verdanken. Er ist überhaupt nur meinetwegen bei Luxon gelandet. Wenn ich ihm sage, dass er die Klappe halten soll, macht er das. Also … lass ihn meine Sorge sein.«
Meine Hände umschlossen die Träger des Rucksacks noch etwas fester. Das waren zehn Pearls voll mit Himmelslicht. Ich würde dieses Angebot nicht aus Stolz ablehnen. Das konnte ich mir nicht leisten.
»Danke, Tris. Für alles.«
Er lächelte schief und zog mich dann mit beiden Armen an sich. Ich erwiderte die Umarmung, bettete meinen Kopf an seiner Schulter.
»Ich kann verstehen, dass du nicht mehr mit Luxon arbeiten willst, nach allem, was passiert ist, aber …« Tristan holte tief Luft. »Wir könnten dich wirklich gut gebrauchen. Luxon ist im letzten Jahr enorm gewachsen. Salvius stellt Dinge auf die Beine, die ernsthaft etwas verändern könnten, weißt du?«
Nein. Wusste ich nicht. »Was für Dinge denn?«
»Uns ist vor ein paar Monaten etwas in die Hände gefallen«, sagte Tristan etwas vage. »Wenn alles gut läuft, wird es das Machtgefälle in der Stadt verändern und … Ich wünschte einfach, wir könnten darüber reden. Ich wünschte, du wärst ein Teil davon. So wie früher.«
Ich schloss die Augen, meine Stirn lag noch immer an Tristans Schulter. Vor einem Jahr hätte ich alles getan, um etwas zu verändern. Ich hätte jede waghalsige Mission ausgeführt, wäre jeder Spur hinterhergejagt, die den Göttern womöglich schaden könnte. Und ja … manchmal brannte dieses Feuer noch in mir. Manchmal wollte ich in den Divine District rennen, um einem der Götter einen Dolch mitten in sein unsterbliches Herz zu bohren.
Es würde mir natürlich nicht gelingen.
Ich besaß nicht einmal einen Dolch.
Und allein bei dem Versuch, mich einem Gott auch nur zu nähern, würde ich sterben.
Das machte die Sehnsucht danach allerdings nicht kleiner. Erst, wenn ich mich daran erinnerte, was meine Rachegelüste mich gekostet hatten, kam ich wieder zu mir. Varian war meinetwegen zu Luxon gegangen, war meinetwegen auf diese eine Mission gegangen, von der er nicht als er selbst zurückgekehrt war. Dass er seither im Koma lag, war meine Schuld – und alles, was ich jetzt noch tun konnte, war, ihn zu meiner absoluten Priorität zu machen.
Ich hob den Kopf und schaute Tristan entschuldigend an. »Solange es Varian nicht besser geht, kann ich das nicht.«
Die Antwort stimmte Tristan sichtlich unzufrieden, aber er wirkte nicht überrascht. Er nickte und legte dann seine linke Hand an meine Wange. »Soll ich noch mit hochkommen? Ich könnte auf Vari aufpassen, falls du ein bisschen Zeit für dich brauchst, und danach könnten wir vielleicht –«
»Das wird nicht nötig sein.«
Wir zuckten beide vor Schreck zusammen. Die Antwort war nicht von mir gekommen, sondern von jemanden hinter uns. Ich erkannte seine Stimme natürlich sofort, auch wenn er überhaupt nicht hier sein sollte. Finsternis, er hatte gesagt, dass er bis übermorgen im Gürtel zu tun hatte! Mit einem tiefen Atemzug drehte ich mich um, und Tristans Arme fielen von mir ab.
Julien lehnte am Durchgang zum Treppenhaus, das vom Erdgeschoss in den Keller zu seiner Werkstatt führte. Er trug seinen beigen Arbeitskittel, auf dem sich frische Tinten- und Leimflecke abzeichneten. Was bedeutete, dass er schon seit mehreren Stunden zurück an der Arbeit sein musste. Er hielt beide Arme vor der Brust verschränkt, und seine tiefbraunen Augen fixierten erst die Pearls in meinen Händen und sahen dann mich voller Enttäuschung an.
Julien sagte kein Wort, während er vor mir nach oben in den ersten Stock lief, wo unsere Wohnräume waren. Nachdem Tristan den Laden mit einem knappen Bis morgen verlassen hatte, hatte Julien sich nur stumm zur Treppe umgedreht, und ich folgte ihm Stufe für Stufe.
Sogar sein breiter Rücken wirkte irgendwie vorwurfsvoll auf mich.
Erst vor der Tür zu Varians Zimmer blieb Julien stehen. Sein Blick glitt zu dem Rucksack, in dem ich die Pearls verstaut hatte – und zu der weißen Lederjacke, die ich zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder trug.
Ich sah es überhaupt nicht ein, mich zu verteidigen. Dass ich heute auf Lichtfang gewesen war, würde Varians Leben retten. Julien liebte Varian wie einen Sohn. Er sollte mir dankbar sein. Stattdessen sah er mich an, als würde er es in diesem Moment – im Gegensatz zu all den anderen Momenten, in denen ich seiner Meinung nach Mist gebaut hatte – zum ersten Mal bereuen, vor sieben Jahren zwei traumatisierte Kinder bei sich aufgenommen zu haben.
Ich hob mein Kinn und verschränkte die Arme. »Sag schon, was du sagen willst, dann haben wir es hinter uns.«
Julien schaute mich nur an, ruhig und gefasst wie immer. Er war über einen Kopf größer als ich, was nicht unbedingt dabei half, ihm die Stirn zu bieten.
»Du hattest es versprochen.«
Ja, das hatte ich. Daran gab es nichts zu rütteln. Ich hatte geschworen, den Kopf unten zu halten. Vor allem im Monat der Berufung.
Aber es war ja nicht so, als hätte ich mir diese Situation ausgesucht.
»Und was noch schlimmer ist«, fuhr Julien fort, »du hast Varian allein gelassen. Es hätte sonst etwas passieren können, während du unterwegs warst.«
»Die alte Grinda hat versprochen, alle halbe Stunde nach ihm zu sehen«, verteidigte ich mich und verschwieg, dass ich ihr als Bezahlung eines der antiken Klappfeuerzeuge gegeben hatte, die Julien in einer Kiste unter dem Verkaufstresen hortete. Er durfte nie erfahren, wie oft ich schon Kleinkram aus dem Laden geklaut und dann bei unseren Nachbarn gegen Essen, Kleidung oder andere Sachen eingetauscht hatte. Er würde mir den Hals umdrehen.
»Du hast Grinda Crouch ins Haus gelassen?« Juliens Hand, die bereits auf der Klinke zu Varians Zimmer lag, versteifte sich, sodass die Knöchel hell hervorstachen. »Wie oft muss ich noch sagen, dass wir niemandem vertrauen? Nicht den Leuten hier – und auch nicht dem Jungen. Ich will nicht, dass du dich von ihm wieder in diese Sache reinziehen lässt.«
Der Junge. Diese Sache.
Julien kannte Tristans Namen – und auch den von Luxon. Aber das war eine Diskussion, die ich jetzt wirklich nicht wieder aufmachen wollte. Ich hatte Luxon den Rücken gekehrt, aber bei Tristan würde ich das nicht tun. Niemals.
»Varian geht es immer schlechter«, sagte ich stattdessen. »Und die Medizin wird jeden Tag teurer. Sie hilft auch nicht so, wie er es bräuchte. Himmelslicht ist das Einzige, was tatsächlich etwas bringt. Ich hatte keine Wahl!«
Julien rieb sich über seinen weißen Bart, der bei seiner dunkelbraunen Haut besonders hervorstach – und mich an seinen zweiundfünfzigsten Geburtstag in ein paar Wochen erinnerte. Und daran, dass das für einen Bewohner von Ebene 67 weit über dem Durchschnitt lag.
»Du nützt ihm nichts, wenn du tot bist.«
»Es war völlig ungefährlich!«
Das war wahrscheinlich die größte Lüge, die man von hier bis zum Ground Level jemals gehört hatte, und ganz sicher sah Julien mir das an.