Wahnsinnig verliebt - April Morgan - E-Book

Wahnsinnig verliebt E-Book

April Morgan

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Beschreibung

Ella erwacht, fixiert an einem Bett, ohne Erinnerungen. Ein Arzt informiert sie, dass sie bewusstlos an einem Flussufer gefunden wurde und niemand ihre Identität kennt. Gefangen in einer psychiatrischen Klinik, darf Ella diese nicht verlassen und beginnt, unheimliche Visionen zu bekommen. Immer wieder wird sie von Erscheinungen einer blutverschmierten Gestalt heimgesucht. Inmitten dieses Chaos trifft sie auf Blue, einen weiteren Patienten ohne Erinnerungen. Gemeinsam taumeln sie durch eine surreale Zwischenwelt aus Schmerz, Vertrauen und Verrat, zwischen Leben und Tod. Ist ihre Freiheit nur eine Illusion? Kann Ella den Kreis aus Gewalt und Verzweiflung durchbrechen, um endlich aufzuwachen und zurück ins Leben zu finden? Oder bleibt sie für immer gefangen in Blackmoor – jener morbiden Zwischenstation, in der Erinnerung verblasst und ihre Seele zerbricht? Ein tiefgründiger, packender Psychothriller über Liebe, Wahnsinn und den Kampf um die eigene Identität. Triggerwarnung bitte beachten! Psychische Erkrankungen und Suizid spielen in dieser Geschichte eine Rolle.

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Contents
Wahnsinnig verliebt
Prolog
Das Erwachen
Etwas stimmt nicht
Wo ist Abgial?
Verschlafene Zeit
Nächtlicher Besuch
Wer bist du?
Wo bin ich?
Was war das?
Was zählt, sind wir
Alles löst sich auf
Du musst aufwachen
Wo ist Blue?
Isolation
Er ist Weg
Neuanfang
Verrückte Träume
Was hat es mit Blue auf sich?
Fallen lassen
Was ist Real?
Wo bin ich?
Blue ist zurück
Aufwachen
Die Realität
Epilog
Ella
Blue
Wahnsinnig verliebt
Im Blackmoor Institut
April Morgan
Psychothriller mit Romance
Triggerwarnung
Dieses Buch enthält explizite Darstellungen von sexuellen Inhalten, Gewalt und Missbrauch. Auch psychische Erkrankungen und Suizid werden thematisiert. Alle Orte, Figuren und Handlungen sind frei erfunden. Wenn dir eines dieser Themen Unbehagen bereitet, empfehle ich dir, von der Lektüre Abstand zu nehmen.
Vielen Dank, dass du den Mut hattest, mein Buch in die Hand zu nehmen. Wenn du dir ein Bild von den Charakteren machen möchtest, findest du am Ende des Buches ihre Abbildungen.
Viel Spaß beim Lesen.
In Liebe
April
Prolog
„Ella, du musst aufwachen.“ Wie aus dem Nichts spüre ich eine Hand, die mir den Mund zuhält, und sofort schnellt die Panik in mir hoch. Instinktiv schlage ich nach der Person, die mich mitten in der Nacht überfällt.
„Tschh, Ella, ich bin’s nur“, flüstert eine vertraute Stimme, während ein Schatten sich vor mein Bett stellt. „Beruhige dich, du darfst nicht schreien, sonst kommen sie.“
Keuchend atme ich in seine Hand, nicke zaghaft. Endlich zieht er sie weg, und ich kann wieder frei durchatmen.
„Was machst du hier?“ frage ich überrascht, als ich Blue erkenne.
„Du warst heute Abend nicht beim Essen. Ich... ich habe mir Sorgen gemacht.“
Ich lasse mich unsanft in mein Kissen fallen. Einmal das Abendessen verpassen, und schon spielen alle verrückt.
„Tut mir leid, ich bin eingeschlafen“, murmele ich, müde bis in die Knochen. Ich rolle mich zusammen, schließe die Augen – keine Kraft für einen Kampf mit Blue, um ihm klarzumachen, dass er hier nichts verloren hat und mich nicht so überrumpeln soll.
„Nicht so schlimm. Ich wollte nur wissen, ob du noch du bist“, sagt er kryptisch.
„Ich bin noch ich“, antworte ich, ein Gähnen entwischend.
Plötzlich hebt er die Decke an, als wolle er ins Bett kriechen. „Was machst du da, Blue? Verschwinde!“
Aber er bleibt, legt sich einfach zu mir unter die Decke. Dieser Kerl kennt wirklich keine Grenzen. Zärtlich zieht er mich in seine Arme.
„Bitte verlass mich nicht, Ella. Ich halte das hier ohne dich nicht aus. Du musst bei mir bleiben.“
Eigentlich sollte ich ihn aus meinem Bett schmeißen, doch seine gebrochene Stimme hält mich zurück. Also umklammere ich seine Hand, die meine festhält. Dieses seltsame Gefühl von Vertrautheit schwebt erneut zwischen uns, macht die Situation erträglich – nicht so unangenehm, wie sie mit einem Fremden eigentlich sein sollte.
„Werde ich nicht,“ flüstere ich kaum hörbar.
Seufzend zieht er mich noch fester an sich, und in diesem Moment wird mir schmerzhaft bewusst, wie tief ich die Nähe eines anderen Menschen brauche – wie sehr ich genau diese Nähe jetzt genieße. Oder ist es nur die Nähe zu ihm?
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich wirklich hier bin. Doch es fühlt sich an, als wären es Monate, vielleicht Jahre, als wäre ich schon immer gefangen in dieser grauen, tristen Klinik – im Nichts, im Nirgendwo. Vollkommen emotionsleer, ein Sinn entgleitendes Dasein. Als wäre ich aus einem langen Traum erwacht oder in einem Albtraum gefangen.
Der Gedanke, nicht ganz allein zu sein, dass zumindest einer hier ist, treibt mir Tränen in die Augen. Ob vor Glück oder vor Traurigkeit, kann ich nicht sagen. Ich drehe mich in seiner Umarmung zu ihm, sehe ihn an – oder zumindest dorthin, wo ich seine Augen vermute. „Danke,“ wispere ich leise.
Sanft streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fährt mit der anderen Hand wohltuend über meinen Rücken. „Für dich würde ich alles tun, Ella.“
Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen, seine Gedanken lesen – um zu spüren, ob diese Worte mehr sind als nur Floskeln. „Aber warum?“ frage ich ihn, ehrlich neugierig.
„Ich weiß nicht genau, warum, aber es fühlt sich an, als würde ich dich schon ewig kennen – als wären wir uns schon vor all dem hier begegnet. Vielleicht denkst du, ich bin verrückt, aber ich bin mir sicher: Wir kannten uns schon vorher. Als ich dich sah, da war dieses unbeschreibliche Gefühl von Vertrautheit. Ich kann es nicht genau erklären. Du musst mir einfach glauben – ich bin nicht verrückt.“
Diesmal bin ich es, die ihre Hand an seine Wange legt. Er schmiegt sich genießend in meine Berührung. Seine Hand gleitet gefühlvoll über meinen Arm, entlang meiner vielen unebenen Narben. Instinktiv will ich meinen Arm wegziehen, doch er hält ihn vorsichtig fest und hindert mich daran, sie zu verstecken.
„Du musst dich nicht schämen. Ich habe auch Narben.“ Behutsam nimmt er meine Hand und legt sie auf seinen Oberkörper, unter sein T-Shirt. Meine Finger tasten die unebenen Stellen ab, und ohne zu überlegen, streiche ich zaghaft über die Erhebungen.
„Siehst du? Es spielt keine Rolle, wie viele Narben wir tragen. Sie erzählen von Kämpfen, die wir ausgefochten haben – sei es körperlich oder seelisch. Unsere Narben machen uns zu dem, was wir sind. Jede Narbe ist ein Sieg.“
Ich hänge seinen Worten nach. Wenn ich mir diese Narben selbst zugefügt habe, dann habe ich einen Kampf gegen meine inneren Dämonen geführt – und gewonnen, weil ich noch hier bin. Und wenn sie jemand anderes verursacht hat, dann habe ich trotzdem gesiegt, denn wer auch immer es war, konnte mich nicht besiegen.
Ein zerbrechliches Gefühl von Hoffnung breitet sich in mir aus. Die Hoffnung, diese Hölle zu überstehen, hier rauszukommen, zurück in ein echtes Leben. Eine zweite Chance zu bekommen, egal, was in meinem früheren Leben passiert ist. Ich will wissen, wer ich war, bevor all das begann. Warum ich hier gelandet bin.
Blue und ich verschmelzen zu einer Einheit, eng aneinandergeschmiegt. Er gibt mir den Halt, den ich jetzt so dringend brauche – und ich nehme, was er mir geben kann, mit offenem Herzen an.
Das Erwachen
Piep...Piep...Piep
Was ist das für ein Geräusch?
Piep...Piep...Piep
Woher kommt dieses unerträgliche Piepen?
Piep...Piep...Piep
Das Geräusch frisst sich in mein Kopf, ein metallisches Insekt, das sich durch meine Schläfen bohrt. Jeder Ton ein Nagel. Jeder Nagel ein Pulsieren, als würde mein Schädel von innen zersprengt.
Piep...Piep...Piep
Hör auf. Hör auf. Hör verdammt noch mal auf. Es ist kein Piepen mehr, es ist eine Invasion durch jeder meiner Gehirnwindungen.
Piep...Piep...Piep
Die Schmerzen in meinem Kopf sind inzwischen zu unerträglichen Qualen geworden, doch das Piepen durchdringt gnadenlos die Stille. Meine Hände – warum bewegen sie sich nicht? Ich willsie heben, will mir die Ohren zudrücken, doch meine Arme liegen schwer wie Blei.
Piep...Piep...Piep
Hektisch reiße ich die Augen auf. Weißes brennendes Licht trifft mich, brennt sich in meine Netzhaut. Lässt die Umgebung zu einen verschwommenen Albtraum formen. Der Schmerz in meinen Kopf ist ein unaufhaltsamer Bohrhammer.
Piep...Piep...Piep
Können diese Geräusche nicht endlich aufhören. Bitte, bitte, ich möchte endlich Ruhe.
Piep...Piep...Piep
Gegen jeden Instinkt öffne ich erneut die Augen, blinzel gegen das Licht an. Es ist grell und alles um mich herum verschwimmt zu schemenhaften Konturen. Ich kann nichts klar erkennen.
Ein neuer Versuch meine Hände zu heben scheitert, ein Widerstand hält mich zurück.
Die gesamte Situation überwältigt mich und wirkt surreal, doch das unaufhörliche Piepen drängt mich zum Handeln.
Ich schaue an mir hinunter und sehe, dass ich offenbar in einem Bett liege. Eine helle Decke ist über mir ausgebreitet. Als ich versuche, meine Beine zu bewegen, fühlen sie sich ebenfalls wie in einen eisernen Griff an.
Mit starrem Blick fixiere ich die Stelle, wo ich meine Hände vermute. Stück für Stück ziehe ich die raue Decke zur Seite, bis ich meine Arme freilege.
Ein brauner, fester Gurt liegt um mein Handgelenk und verhindert, dass ich mich bewegen kann. Mit Mit einer ruckartigen Bewegung zerre ich an den Gurten. Einer gibt ein kleines Stück nach, doch meine Handgelenke bleiben gefesselt. Die Haut darunter brennt, als hätte man mir Säure in die Adern injiziert. Ich starre hinab.
„Verdammt“, denke ich mir. Wo bin ich hier?
Noch einmal lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen und schaffe es langsam, die einzelnen Gegenstände zu fixieren.
Es muss eine vernünftige Erklärung für diese Situation geben. Ich drehe mich in die Richtung, aus der das Piepen kommt, und sehe einen Kasten, ein grüner Monitor, auf dem eine Linie mit wiederkehrenden Ausschlägen zu erkennen ist, begleitet von verschiedenen Zahlen. Ein Vitalmonitor, schließe ich daraus.
Warum bin ich an dieses Gerät angeschlossen und warum bin ich an diesem Bett fixiert?
Gründlich prüfe ich den Raum: weiße, schlichte Wände, ein Rollwagen, auf dem ein dicker Ordner liegt. Der Ordner darauf ist nicht einfach dick – er ist übergroß, gefüllt mit Papieren. Auf dem Deckel klebt ein Etikett. Eine Nummer. Kein Name. Daneben eine graue Tür, die verschlossen ist, und ein Fenster, das mit weiß-grau gestreiften Vorhängen verhangen ist und mir den Blick nach draußen verwehrt.
Wie bin ich hierhergekommen?
Mit angestrengtem Nachdenken versuche ich, das Rätsel zu lösen und mir irgendwelche Bilder ins Gedächtnis zu rufen, aber da ist nur Dunkelheit.
Ich muss in einem Krankenhaus sein, da bin ich mir absolut sicher. Aber wie ich hierher gelangt bin, kann ich mir in keiner Weise erklären. Ich presse die Augen zusammen, versuche, durch den schwarzen Nebel in meinem Kopf zu greifen – doch da ist nichts. Nur Leere. Ein ausradiertes Etwas, das wie ein amputiertes Glied schmerzt. Keine Frage, die ich mir selbst stelle, kann ich auch nur ansatzweise beantworten.
Die Fragen hämmern lauter als der Monitor.
Was ist passiert? Wo bin ich? Woher komme ich? Und die wichtigste Frage: Wer bin ich?
Panik ergreift mich, meine Atmung beschleunigt sich, und das Gerät neben mir piept immer schneller. Was zum Teufel ist hier los? Erneut reiße ich an meinen Händen und blicke auf sie hinab. Schmale Hände mit abgeblättertem, orangefarbenem Nagellack – sie kommen mir fremd vor.
Immer fieberhafter reiße ich an meinen Fesseln, die sich schmerzhaft in meine Gelenke schneiden und die Haut an den Stellen röten lassen. Plötzlich – Bewegung: Die Tür öffnet sich. Ein älterer Herr, Mitte 50 muss er sein, mit kurzen, zurückgekämmten grauen Haaren, einer runden Brille und einem weißen Kittel, tritt ein. Füllt den Raum mit einer unangenehmen Präsenz.
Augenblicklich schreie ich ihn an: „Machen Sie mich los! Machen Sie mich auf der Stelle los!“
Gelassen nähert er sich, scheinbar unbeeindruckt von meinem Gefluche, stellt sich an mein Bett und blickt auf mich herab.
„Beruhigen Sie sich, dann können wir uns unterhalten und schauen, ob wir die Fixierung entfernen können.“  Seine Stimme klingt wie eine alte Schallplatte, abgespielt, eine, die man schon viel zu oft gespielt hat.
Wir? Ich scheine hier kein Mitspracherecht zu haben, bin ihm vollkommen ausgeliefert.
Hektisch schüttele ich den Kopf: „Machen Sie mich sofort los, ich will hier raus, bitte lassen Sie mich gehen.“
Nun ist er es, der entschieden den Kopf schüttelt und wiederholt beruhigend auf mich einredet: „Das kann ich nicht. Zuerst müssen Sie sich beruhigen, und dann besprechen wir alles. Die andere Option ist, dass ich Ihnen etwas zur Beruhigung gebe und wir es morgen erneut probieren.“
Morgen? Was soll das alles? Man kann mich doch nicht gegen meinen Willen hier behalten und ans Bett fesseln, ich habe doch Rechte.
Entschlossen schließe ich die Augen und versuche, meinen Körper und Geist zu beruhigen, indem ich den Anweisungen des Mannes folge. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Zögerlich öffne ich erneut die Augen.
Der Mann im Kittel steht regungslos da, seine Augen hinter der Brille fixieren mich mit einer kühlen, analytischen Präzision, die mich erschauern lässt. Etwas an der Art, wie er mich mustert - nicht wie einen Patienten, sondern wie ein Präparat unter Glas - jagt mir eisige Schauer über den Rücken. Jeder Nerv in meinem Körper schreit nach Flucht, aber ich zwinge mich zur Ruhe. Jetzt ist nicht die Zeit für impulsive Reaktionen.
"Mein Name ist Doktor Harris", sagt er mit einer Stimme, die zu glatt, zu kontrolliert klingt. "Ich bin der leitende Arzt dieser Einrichtung." Er macht eine bewusste Pause, bevor er fortfährt: "Können Sie mir sagen, was vorgefallen ist? Oder wo Sie sich befinden?"
Harris. Den Namen habe ich noch nie gehört.
"Nein", presse ich hervor und spüre, wie sich meine Muskeln unter den Gurten anspannen. "Ich weiß gar nichts. Was für eine Klinik fixiert Menschen gegen ihren Willen?"
Seine Lippen verziehen sich zu etwas, das ein Lächeln sein soll, aber eher einer Reflexstudie gleicht. "Interessant", murmelt er, während sein Stift über das Papier kratzt. Das Geräusch geht mir durch Mark und Bein - es klingt, als ritze er die Worte in die Oberfläche ein, nicht als schreibe er sie.
Ein heißer Zorn steigt in mir auf bei dieser gleichgültigen Reaktion. Interessant? Meine ganze Existenz reduziert auf eine klinische Beobachtung? Ich beiße die Zähne zusammen und atme tief durch. Dieser Mann hält alle Fäden in der Hand - und ich bin mir nicht einmal sicher, ob er sie nicht um meinen Hals schlingen würde, wenn es seinen Zwecken dient.
Harris' Blick bleibt gefühllos, als er unbeirrt fortfährt: "Ihr Name? Das aktuelle Datum? Ihr Herkunftsort?" Jede Silbe klingt wie ein medizinisch präziser Schnitt - als würde er bewusst meine Hilflosigkeit sezieren.
Warum diese Farce? Mein Gedächtnis ist ein schwarzer Abgrund, und sein beharrliches Befragen fühlt sich an wie Steinwürfe in diese Leere. Ich spüre, wie sich meine Finger in den Handflächen verkrampfen, die Nägel in das fleischige Polster der Gurten graben.
"Ich habe es doch gesagt", zische ich durch zusammengebissene Zähne, "ich erinnere mich an nichts. Nicht an meinen Namen, nicht daran, wie ich hierher kam, nicht einmal daran, warum zum Teufel ich an dieses Bett gefesselt bin!" Meine Stimme überschlägt sich fast. "Vielleicht sollten Sie mir stattdessen ein paar Antworten geben, Doktor?"
Sein Stift kratzt ungerührt weiter über das Papier. Das Geräusch treibt mir scharfe Nadeln ins Gehirn. Jeder Nerv in meinem Körper schreit danach, ihm dieses verdammte Aktenbrett aus den Händen zu schlagen – wenn nur diese widerlichen Gurte nicht wären.
Wer auch immer ich war - offenbar jemand mit der Geduld eines angezündeten Feuerwerkskörpers. Oder war diese Reaktion natürlich? Wer könnte in dieser absurden Situation schon gelassen bleiben? Die Adern an meinen Schläfen pochen im Takt des Monitors, ein stummer Protest gegen diese entwürdigende Prozedur.
Er blickte von seinen Notizen auf. Seine Augen hinter den Gläsern blieben ausdruckslos, wie zwei matte Laborproben unter Glas. "Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Man brachte Sie als 'Unbekannte' zu uns. Bisher konnten wir Ihre Identität nicht klären. Wir hofften, Sie könnten uns sagen, wer Sie sind."
Das Wort "Unbekannte" traf mich wie ein Faustschlag. Es fühlte sich an, als würde ich mich auflösen – ein namenloses Nichts in einem fremden Krankenbett. "Wann... wo wurde ich gefunden? Was ist passiert?"
Seine Hände falteten sich über der Akte, eine perfekte Gebetshaltung ohne Frömmigkeit. "Gestern. Man fand Sie am Ufer des Blackmoor River. Sie hatten eine erhebliche Dosis Beruhigungsmittel intus." Ein winziges Zucken um seine Mundwinkel. "Die Polizei vermutet einen... gescheiterten Selbstmordversuch."
Mein Blick fällt automatisch auf meine Unterarme. Unter den Gurten zeichneten sich blasse, Linien ab – die stumme Sprache eines Schmerzes, an den ich mich nicht erinnern konnte.
"Sie befinden sich im Blackmoor-Institut", fügte er hinzu, während sein Zeigefinger über die Aktenkante streicht. Eine merkwürdig intime Geste. "Als leitender Psychiater entschied ich, Sie zu sichern. Für Ihre eigene Sicherheit."
Das Wort "sichern" klingt wie ein Euphemismus für "wegschließen". Und "Sicherheit" – wessen Sicherheit meinte er eigentlich?
Mein Blick fällt erneut auf die Arme – diese fremden, zerschnittenen Landkarten eines Lebens, das nicht mein Eigen zu sein scheint. Die Narben ziehen sich wie bleiche Schlangen über die Haut, stumme Zeugen einer Verzweiflung, die ich nicht kenne. Selbstmord? Der Gedanke fühlt sich falsch an, wie ein schlecht sitzendes Kostüm.
Ein trockener Kloß bildet sich in meiner Kehle. "Warum...", meine Stimme bricht, "warum ist da nichts? Keine Erinnerung? Kein einziges verdammtes Fragment?"
Dr. Harris' Finger berühren den Rahmen seiner Brille in einer sorgfältigen, fast zeremoniellen Geste, als würde er sich für das, was kommt, wappnen. Mit der anderen Hand drückt er einen Knopf am Monitor. Das Piepen verstummt abrupt – die Stille danach ist ohrenbetäubend.
„Unser Geist“, sagt Harris langsam, während seine Finger methodisch die Gurte lösen, „ist ein merkwürdiger Verbündeter. Er vergisst, um zu überleben. Ein Schutzmechanismus.  Sein Atem stockt einen Moment zu lang, "Vielleicht liegt es aber auch an den Medikamenten oder Sie haben sich den Kopf verletzt. Genau können wir das nicht sagen. In den meisten Fällen kommt die Erinnerung nach und nach wieder, und wir können Ihnen dabei helfen. In einigen Fällen jedoch ist es komplizierter."
Die Lederriemen schnalzen auf, als sie sich öffnen. Meine Handgelenke tragen rote, pulsierende Abdrücke – lautlose Zeugen meiner Gefangenschaft. Ich reibe mir die Haut, als könnte ich die Erinnerung an die Fesseln wegwischen.
„Wenn ich diese Erinnerungen wirklich verdrängt habe …“ Meine Stimme zittert, als ich die unausweichliche Frage stelle: „Will ich dann überhaupt wissen, was passiert ist?“
Harris’ Hände verharren über dem letzten Gurt. Ein Schatten huscht über sein Gesicht, zu schnell, um ihn zu deuten. „Das ist die falsche Frage“, erwidert er mit einer neuartigen Schroffheit. „Die richtige Frage lautet: Wollen Sie hierbleiben? Wir können Sie in diesem Zustand nicht entlassen.“
Mit einem letzten Ruck löst er die letzte Fixierung.
„Wir bereiten ein Zimmer für Sie vor“, fährt er fort und wischt sich die Hände ab, als hätte er gerade schmutzige Arbeit verrichtet. „Außerhalb der Überwachungsstation. Aber glauben Sie nicht, dass der Weg einfach wird. Wir beginnen morgen direkt mit der Therapie!“
Eine Frage die mir keine Ruhe lässt, hängt mir noch auf der Zunge: „Und wenn... wenn die Erinnerungen nie zurückkommen? Wie lange muss ich dann hier bleiben?“
Dr. Harris‘ Blick wird für einen Sekundenbruchteil nachdenklich. „So lange, bis wir sicher sind, dass Sie stabil genug sind, um uns zu verlassen.“
Ohne ein weiteres Wort dreht er sich abrupt um und geht. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss – ein endgültiger, metallischer Klick, der mir durch die Wirbelsäule fährt.
Minutenlang starre ich auf die graue Tür. Meine Gedanken kreisen wie gefangene Vögel.
Frei. Ich bin frei von meinen Fesseln. Aber es fühlt sich so gar nicht nach Freiheit an.
Langsam, als fürchtete ich, mein Körper könnte mir einen Streich spielen, schiebe ich meine Beine über die Bettkante. Die Zehen berühren den kalten PVC-Boden –
– der sich unter meinem Blick verformt. Wellen schlagen durch das Grau, als wäre der Boden flüssig. Ich kneife die Augen zu. Nebenwirkungen der Medikamente müssen das sein.
„Alles wird gut“, flüstere ich mir zu, während mein Schädel weiter hämmert. „Bald weiß ich wieder, wer ich bin. Bald komme ich hier raus.“
Doch eine andere Stimme in mir, leise und zersetzt, erwidert: Aber wer sagt, dass du das wirklich willst?
Erst nach endlosen Minuten lässt der Schwindel nach. Meine Beine zittern wie Wackelpudding, aber der Drang, diesem Bett zu entkommen, ist stärker. Ich stemme mich hoch – die Welt schwankt – und kralle mich an der Metallkante fest. Das dünne Krankenhemd klebt kalt an meinem Rücken. Wo ist meine Kleidung? Was trug ich, als man mich fand?
Mein Blick fällt auf die Oberschenkel. Auch hier – diese bleichen Linien, wie von unsichtbaren Fäden durchzogen. Selbstverletzung? Der Gedanke fühlt sich erfunden an, wie aus einem schlechten, falschen Film. Wie könnte ich mir das antun, wenn jede Berührung der Narben mich jetzt erschaudern lässt?
Mit unsicheren Schritten taste ich mich zum Fenster. Die Vorhänge rascheln wie warnende Flüsterstimmen, als ich sie zur Seite schiebe.
Draußen: ein Wald. Dicht. Überall stehen Laubbäume. Die Bäume leuchten in bunten Herbstfarben. Das Wort kommt mir sofort, fest verankert. Wie ein verlorenes Buch, in dem nur einzelne Seiten noch lesbar sind. Warum weiß ich, was Jahreszeiten sind, aber nicht, ob ich jemals einen Baum berührt habe? Warum erinnere ich mich an das Konzept von Namen, aber nicht an meinen eigenen?
Meine Handfläche presst sich gegen das eiskalte Glas.
Vor der Klinik erstreckt sich ein gepflegter Park – Wege führen in alle Richtungen, Bänke wie wartende Wächter. Die graue Betonmauer umrahmt alles, grinst mich an: Hoch genug, dass du nie drüberkommst.
Meine Finger krallen sich am Fenstergriff fest. Es rührt sich nicht. Natürlich nicht. Ich presse die Stirn gegen das kühle Glas. Vielleicht ist es besser so. Wer weiß, welche verzweifelten Seelen hier noch liegen? Menschen, die alles tun würden, um zu fliehen, die vielleicht geradewegs aus dem Fenster springen würden –
– so wie ich.
"Verrückte", haucht mein Spiegelbild. Das Wort brennt. Aber bin ich nicht die Verrückteste von allen? Diese Narben. Diese leere Stelle, wo mein Gedächtnis sein sollte. Ich sehne mich nach draußen – nach diesem unmöglichen Gefühl: Herbstluft in der Lunge. Blätter, die unter Füßen knirschen. Hatte ich jemals Füße, die Blätter zertrampelten?
Die Fragen brüllen. Mein Kopf droht zu zerspringen. Mit unsicheren Schritten wanke ich zurück zum Bett –
– als die Tür aufschwingt.
Eine junge Frau stürmt herein, ihr graues Outfit wie eine zweite Haut. Uniform, erkenne ich. Ihre blonden Zöpfe hüpfen, als sie mich anstrahlt – zu strahlend, zu perfekt. Wie eine Puppe, der man Lächeln beigebracht hat.
„Hallo, ich bin Ina.“ Ihre Stimme klingt wie eingefrorener Saft – süß, künstlich. „Darf ich ‚du‘ sagen? Wir duzen hier alle Patienten.“ Ihr Kopf neigt sich zur Seite, als würde sie ein Tier beobachten.
„Ja, klar“, antworte ich. Meine Stimme klingt hohl, als käme sie aus einem anderen Raum. Ihr Lächeln weitet sich – zu perfekt, zu symmetrisch. Ein aufgeklebtes Grinsen, das nicht bis zu den Augen reicht.
„Super! Ich bringe dich jetzt in dein Zimmer.“ Ihre Hände zittern leicht, als sie mich mustert. „Kannst du laufen oder soll ich...“
„Ich kann laufen.“ Ich unterbreche sie schärfer als beabsichtigt. Ihre Pupillen verengen sich einen Moment.
Dann greift sie ungefragt nach meinem Arm. Ihre Finger graben sich ein wie zwei Bekannte auf Shoppingtour. Wir könnten Freundinnen sein, sagt diese Geste. Wir könnten Spaß haben. Ich hasse sie.
Behutsam zieht sie mich mit, als ich noch einmal stoppe.
„Meine Kleidung“, platze ich heraus und bleibe stehen. „Wo ist sie?“
Ihr Lächeln strahlt weiter eine künstliche Freundlichkeit aus. „Ach, die musste das Krankenhaus leider... aufschneiden.“ Eine winzige Pause. „Bei der Erstversorgung.“ Ihre Augen huschen über meine Narben – zu schnell, um zufällig zu sein. "Aber das ist kein Problem, wir haben hier einiges in der Klinik, du wirst davon etwas erhalten."
Zerschnittene Kleidung. Zerschnittene Haut. Zerschnittene Erinnerungen. Ist überhaupt noch etwas ganz an mir?
Schweigend lasse ich mich durch den Flur zerren. Die Wände scheinen sich mit jedem Schritt enger zusammenzuziehen. Grau. Weiß. Grau. Weiß. Ein hypnotisches Muster, das sich mir einbrennt.
Wenn man nicht bereits verrückt ist … denke ich, während Inas Parfüm mir den Atem raubt … dann wird man es spätestens hier.
Station 1. Der Aufzug surrend wie ein müder Wachhund. Die Gänge sind leer – keine Patienten, kein Personal, nur das gedämpfte Echo unserer Schritte auf dem Linoleum.
„Therapiestunde“, quietscht Ina ungefragt. Ihre nervige Stimme klingt wie gekratztes Teflon. „Alle beschäftigt.“
Zimmer 13. Die Zahl grinst mich an in schmutzigem Weiß. Mein neues Zuhause. Mein neuer Sarg.
„Willkommen!“ Inas Arme breiten sich aus wie die eines schlechten Schauspielers in einer Seifenoper. Ich trete ein – und die Tür schnappt hinter mir zu.
Ein Bad gleich rechts.