Waldviertelfluch - Maria Publig - E-Book

Waldviertelfluch E-Book

Maria Publig

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Wein und Design - die neuen Hobbys der Wiener PR-Lady Walli Winzer. Sie soll die Vernissage einer russischen Galerie organisieren. Da kommt die Weinverkostung im Waldviertler Kamptal genau recht. Der Riesling belebt nicht nur die Sinne, sondern fördert einige aggressive Winzer zutage. Bald liegt deren Verbandsvorsitzender tot hinterm Presshaus. Ein Brüderpaar zankt ums Erbe. Die Ehefrau gibt sich bedeckt. Walli ist verwirrt. Auch wegen des feschen Polizeioberst aus Krems, der nicht ermitteln will.

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Seitenzahl: 333

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Maria Publig

Waldviertelfluch

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Chaos im ParadiesWein und Design – die neuen Hobbys der Wiener PR-Lady Walli Winzer. Mit ihrer Agentur soll sie in der City die Vernissage einer russischen Galerie organisieren. Dafür kommt die Weinverkostung im Waldviertler Kamptal genau recht. Der Riesling belebt nicht nur die Sinne, sondern fördert einige aggressive Winzer zutage. Diese bereiten Walli genauso Sorgen wie ein rigider Männerclub, der die taffen Studentinnen Lisa und Sandra seit einiger Zeit auf die Palme bringt. Bald liegt der Verbandsvorsitzende tot hinterm Presshaus. Ein Brüderpaar zankt ums Erbe, alte Familienwunden reißen auf. Um den Toten scheint niemand zu trauern, nicht einmal seine Ehefrau. Walli ist verwirrt. Auch wegen des feschen Polizeioberst aus Krems, der am Weinfest mit ihr flirtet. Er ersucht sie, Dorfpolizist Grubinger inoffiziell bei den Ermittlungen zu unterstützen. Der ist sauer! Gärtner Florian Wagner ist dieses Geplänkel ebenso ein Dorn im Auge. Bald stößt er unerwartet auf eine Spur. Wird sie jene Wallis kreuzen?

Maria Publig wurde in Wien geboren und verbrachte mit ihrer Familie viele Sommer im südlichen Waldviertel. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Journalistin für Tages- und Wochenzeitungen. Später wechselte sie als Moderatorin und als Redakteurin in den ORF. Bevor sie sich dem Krimischreiben zuwandte, schrieb sie Kultursachbücher, die international ausgezeichnet wurden. Wovon sie überzeugt ist: Für gute Gedanken und Kreativität muss man sich Zeit nehmen. Die gönnt sie sich zwischendurch – ziemlich oft im Waldviertel.

 

PR-Agentin Walli Winzer ermittelt:

1. Fall: Waldviertelmorde

2. Fall: Killerkarpfen

3. Fall: Waldviertelfluch

4. Fall: Waldviertelblut

5. Fall: Waldviertelrache

6. Fall: Waldviertelspur

Stille Nacht, keiner wacht

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Wolfgang / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6324-2

Widmung

Das Buch ist Dir, liebe Gabi Schilda-Brachetka, gewidmet. Du hättest es gemocht.

1. Kapitel

Ursprünglich hatte er sich alles ganz anders vorgestellt.

Er hustete, hielt sich dabei am Geländer fest und lief die Treppe hinunter. Nach wenigen Stufen blieb er stehen. Atmete hastig und schnell. Schloss dabei die Augen. Mit der linken Hand griff er sich mit gespreizten Fingern an die Brust. Als könnte er sich durch diese Geste beruhigen. Doch es half nicht.

Er atmete stoßweise. Kurz darauf sammelte er sich.

Dunkelheit.

Er senkte die Schultern. Sein Kopf fiel leicht nach vorne. Instinktiv balancierte er seinen Körper, um den Halt nicht zu verlieren. Seine Beine sollten ihn tragen. Noch. Bläute er sich ein. Nicht stürzen! Nicht schlappmachen! Zumindest so lange, bis er auf dem Lehmboden unten ankäme. Sicher ankäme.

Dem feuchten. Dem kalten.

Dann würde er sich an einem der umstehenden Eichenfässer abstützen. Festhalten. Sanft auf den Boden gleiten lassen.

Das Brennen wurde stärker, breitete sich ringförmig an seiner Seite aus. Er seufzte. Stöhnte.

Der mittelgroße Mann stand gekrümmt da. Wie verwundet. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Langsamer einzuatmen. Ruhiger zu werden.

Irgendwie gelang ihm das. Zumindest hatte er den Eindruck, dass es ihm guttat. Als er die Augen wieder öffnete, war es jedoch anders. Nichts hatte sich verändert. Nichts, was ihn vorher aufgewühlt hatte, hatte an Bedeutung verloren.

Aber das steht doch nicht dafür!, durchbohrte es seine Gedanken. Vor allem nicht nach diesen vielen Jahren. Als sie da plötzlich alle vor ihm standen, kehrte sie zurück: diese Sprachlosigkeit, diese Gelähmtheit, diese Angst vor ihnen.

»Das war einmal! Jetzt nicht mehr!«, raunte er beschwörend vor sich hin.

Der Raum um ihn herum wirkte düster. Seine Augen hatten sich noch nicht an das Dunkel im Weinkeller gewöhnt. So wie seine Seele sich nie an sie alle gewöhnen würde. »Nie!«, stöhnte er leise vor sich hin.

Hierher war er geflüchtet. Vor ihnen. Wie früher. Da war der Keller noch nicht abgesperrt gewesen. Hatten nicht so kostbare Weine hier drin gelagert. Doch heute war er offen.

Heute am Tag des Weins. Der Weinprämierung. An dem Tag, der auch den Auftakt zur kommenden Weinlese darstellte. Mit allen, die hierhergekommen waren und mitfeiern wollten.

Das waren aber vor allem – sie.

Als er nach einer Weile wieder heraufkam, blickte er in eine bestens gelaunte Gesellschaft. Sie prosteten einander zu und warfen mit losen Trinksprüchen um sich. Niemand ahnte, wie ihm zumute war. Niemand wusste, dass er unten gewesen war. Niemand beachtete ihn. Er gehörte zwar zu ihnen, doch als wirklich zugehörig betrachtete er sich nie.

Er fühlte sich noch immer schwummerig. Die regelmäßigen Aufregungen hatten ihm auch diesmal zugesetzt. Irgendwann würde das ein Ende haben. Das schwor er sich. Bei diesem Gedanken wurde ihm leichter. Er blickte zurück. Danach begann er, sich langsam unter die Leute zu mischen.

»Ja, ist das eine Überraschung! Sigi, komm her zu uns!«

Ein schlanker grau melierter Mann mit attraktiver Begleitung an seiner Seite wandte den Kopf in jene Richtung, aus der jemand seinen Namen gerufen hatte. Sigis Blick fiel auf einen korpulenten Mann, der ihm heftig gestikulierend zuwinkte. Da er mit seiner Begleitung gerade erst gekommen war und keinen ihm sonst Bekannten ausgemacht hatte, steuerte er die kleine Gruppe um jenen Mann an. Auch die Übrigen hatten inzwischen aufgehört zu sprechen und wandten sich interessiert dem Herbeigerufenen zu.

»Grüß dich, Alfi! Hab mir fast gedacht, dass ich dich hier treffen würde!« Sigi war seiner Begleitung vorausgegangen und hatte sich durch die Menge der umstehenden Gäste des bekannten Weinguts durchgearbeitet. Während des letzten Schritts hielt er seinem Bekannten bereits die ausgestreckte Hand zum Gruß hin und legte die andere zugleich jovial auf dessen Oberarm. »Na sowieso bei so einem Ereignis!«, grinste er bestätigend.

»Darf ich bekannt machen: Martina, meine Frau.« Alfi präsentierte eine Frau mit frisch vom Friseur geföhnter Lockenpracht, die elegant ihre Hand hob und die blonde Mähne verwegen zurückwarf. Sigi verneigte sich vor ihr und deutete einen Handkuss an.

Danach drehte er sich zur Seite, um endlich seine Begleitung neben sich zu platzieren. »Darf ich vorstellen: Frau Karnikoff. Und das ist Alfi Schlieringer, Spitzenfunktionär des niederösterreichischen Weinbauverbunds.«

»Olga Karnikoff«, vervollständigte die eben Vorgestellte ihren Namen. Sie war eine schlanke, groß gewachsene Frau mit geglätteten und blond gesträhnten Haaren. Alle nickten freundlich.

»Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Einiges habe ich ja bereits über Sie gehört. Dass Sie jetzt ein halbes Jahr hier sind und beruflich schon viel erreicht haben.« Alfi drückte ihre Hand und nickte anerkennend, fast salutierend. Beide Frauen begrüßten einander verspätet ebenfalls per Handschlag und mit einem breiten Lächeln. Die ausgiebigen Höflichkeitsfloskeln und Vorstellungsrituale der Männer amüsierten sie sichtlich.

Ein junger Kellner vom Catering-Service ging mit einem Tablett an ihnen vorbei, was Alfi Schlieringer dazu nützte, vier Weingläser untereinander aufzuteilen. »Herrlich, so ein kalter Riesling!«

»Es ist aber noch nicht der heute prämierte Kamptal DAC Riesling Reserve 2017. Der kommt später, nach der Prädikatsverteilung!«, flüsterte Alfi Sigi lächelnd zu.

»Da kommt Freude auf! Dank des Erfolgs vom Loisl.« Alfi Schlieringer hob das Glas und prostete seinen Geschäftspartnern zu.

»Es ist nicht nur ein erfolgreiches, sondern auch ein ansehnliches Weingut«, stellte Olga Karnikoff nach dem ersten genussvollen Schluck fest.

Mit einem Blick musterte sie den großen Innenhof mit mehreren prächtigen Holztoren, die alle geschlossen waren. Nur eines davon stand offen und führte in eine Halle, wo man von außen bereits riesige Stahltanks sehen konnte.

»Ja, der Hof ist so schön, weil die Frau vom Loisl, also dem Alois, dem Besitzer vom Hof, einen grünen Daumen hat. Ihr seht’s ja die Blumenrabatten an der Fassade des alten Weinbauernhofs und dort die Blüteneinfassung.« Martina wies in die Mitte der Anlage. Sehen konnte man fast nichts, da viele Gäste davorstanden.

»Ich wundere mich sowieso, dass die Arbeiter vom Weingarten mit den großen Maschinen nicht schon hineingetuscht sind«, ergänzte die Ehefrau eines anderen Weinbauers.

»Geh, was sagst denn da! Das schaut sich doch jeder gerne an. Die passen auf, dass nix passiert«, quietschte die Blondine mit Mickey-Mouse-ähnlicher Stimme.

Ein schrilles Lachen konterte von der schräg gegenüberliegenden Seite des Hofs. Ein Teil der Gäste blickte in die Richtung, wo die Stimmungskanone zu stehen schien. Eine auffällig gekleidete Frau mittleren Alters zog offenbar als Alleinunterhalterin eine ganze Runde in ihren Bann. Nicht nur sie, auch die Übrigen bogen sich vor Lachen. Die gute Stimmung übertrug sich bald auf alle Umstehenden und der Geräuschpegel im Hof schwoll beträchtlich an.

»Also Walli, was du immer siehst und wie du die Leute nachahmen kannst, das ist schon sehr böse!«

Die Genannte musste sich selbst erst die Tränen vom Lachen aus den Augen streichen. Sie machte das gekonnt mit der Rückseite des Zeigefingers. Dabei gab sie acht, das kunstvoll aufgelegte Make-up nicht zu verwischen, was ihr routiniert gelang. »Na, und wenn ich euch sage, genau so war’s?«

Der Lachorkan schwoll nochmals an.

»Die Karner, meine Nachbarin, und Gott sei Dank gibt’s nur eine neben mir, steht doch tatsächlich direkt am Zaun und schaut durch ihre schütteren Thujen zu mir herüber. Dabei glaubt sie, ich sehe sie nicht. Ich hab nach fünf Minuten so getan, als wäre irgendein Maulwurf am Werk. Bin dann von meiner Terrasse direkt zum Zaun gestürmt und habe geschrien: ›Husch, husch‹, dabei auf den Boden gesehen und mit den Händen Richtung Sybille Karner gewachelt. Daraufhin hat sie sich so erschreckt, dass sie quietschend über ihre eigenen Bodendecker gestolpert ist.« Eine Frau gleichen Alters sah zwar belustigt, aber doch etwas genervt aus. Walli bemerkte ihr Gegenüber: »Lena, es ist ihr eh nix passiert! Aber merken wird sie sich ihre ständige Indiskretion so vielleicht schon.«

»Geh, tu dir nix an. Die wirst du nicht ändern. Übrigens ist sie genauso neugierig wie du!«, grinste Lena Breitenecker amüsiert. »Du weißt eh, dass nur die ewig miteinander streiten, die einander ähnlich sind. Andere stehen nämlich darüber. Also, ich mein: über den Dingen, du unduldsame Walli Winzer!«

Walli verdrehte verschmitzt die Augen und musste nochmals lachen. »Wenn ich daran denke, dass ich in den kommenden Wochen öfter in Wien sein werde als in Großlichten, leidet sie vielleicht schon an Entzugserscheinungen.«

»Wir werd’n uns hoit a bissl um sie kümmern, solang du weg bist«, meldete sich Mizzi Troger, die Obfrau des Dorfverschönerungsvereins von Großlichten, die heute mit ihrer Tochter Sandra gekommen war.

»Bitte auch noch, wenn ich wieder da bin! Da bleibt sie dann vielleicht nicht mehr so fixiert auf mich.«

»Du bist halt ihre direkte Umgebung. Eure Häuser stehen beide in der Seitengasse von der Hauptstraße und sind von den anderen Richtungen her ausschließlich von Äckern, Wanderwegen und Wäldern umgeben.«

»Na bitte! Schaut’s, wer da kommt!«, amüsierte sich Lisa, Lenas Tochter, und rempelte ihre beste Freundin Sandra leicht am Oberarm. Beide kicherten.

Sybille Karner schlängelte sich mit ihrer Nichte Anna Szabo, einer attraktiven jungen Frau, durch die inzwischen noch dichter gewordene Menschenansammlung. Nach einem kleinen Blick in die Runde redete sie mit Anna, und sie steuerten direkt die Clique vom Reiterhof an.

Walli Winzer sah inzwischen, dass Großlichtens Bürgermeister Josef Brunner mit seinem Amtskollegen aus dem hiesigen Plankenstein und dem in Kürze auszuzeichnenden Besitzer des Weinguts und Vorsitzenden des DAC-Winzerverbands Kamptal, Alois Steinrieder, im Gespräch war. Ein stattlicher Herr mit angegrautem Haar in Galauniform gesellte sich zu ihnen. Alle verneigten sich vor ihm, schienen von seiner Anwesenheit angetan zu sein. Er sah gut aus, wie Walli gleich feststellte. Mit einem Blick erkannte sie sofort, dass er ohne weibliche Begleitung erschienen war. Bevor also noch eine andere auf die Idee kommen konnte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und da Walli sowieso Alois Steinrieder persönlich vorgestellt werden wollte, stapfte sie auf der Stelle los und drängte sich gekonnt in die Gruppe. Der Ring öffnete sich widerstandslos und Walli stand mitten unter einigen der wichtigsten Honoratioren des Waldviertels.

»Grüß Sie Gott, Herr Bürgermeister!«, unterbrach sie das Gespräch und streckte Josef Brunner entschlossen ihre Hand entgegen. Verdutzt ob Walli Winzers Vertraulichkeit, zeigte Brunner sich kurzerhand als Politprofi und versierter Vertreter der Gemeinde Großlichten, die 20 Kilometer weit entfernt lag, indem er Wallis Gruß aufmerksam erwiderte.

Sonst ließ sie ja kein gutes Haar an ihm. Aber auch dem Bürgermeister war die oft mehr als distanzlose und lästige Wienerin ein Dorn im Auge. Doch in der Ferne machte man eben gute Miene zum bösen Spiel.

Es war immer das Gleiche: Walli Winzer hielt sich in vielem einfach nicht an die Gepflogenheiten des örtlichen Lebens. Ja, hintertrieb sie sogar, hatte er nahezu den Eindruck! Er erinnerte sich immer noch verärgert an ein von ihr gekipptes Gemeindeprojekt. Er hatte es mit einem befreundeten Immobilientycoon erarbeitet. Dann kam sie – und weg war’s! Alle Mühe umsonst gewesen. So ein Pech und vor allem – Ärger! Ihm schwoll jetzt noch der Hals vor Zorn, wenn er daran dachte.

Dass diese Winzer dann noch die Unverfrorenheit besessen hatte, den Reiterhof zu kaufen, war für ihn nur noch die Spitze der Frechheit gewesen. Große Gewinne waren so für den Ort, anders als er es vorgehabt hatte, wirklich nicht zu erwarten. Die paar Reiter und Reiterinnen machten das Kraut finanziell absolut nicht fett. Das Mega-Wellnesshotel, das er hingegen an dessen Stelle geplant und infolge des Baus mehrerer Industrieanlagen in die Umgebung integriert hätte, wäre seiner Meinung nach die Aufwertung der Region gewesen. Seiner Region. Ebenso hätte sich die Gemeindekasse gefüllt, die nach der Wirtschaftskrise noch immer leer geblieben war. Daher unterstützte Bürgermeister Brunner selbstverständlich auch den geplanten Kraftwerksbau im Kamptal. Denn ohne Strom ging heute ja rein gar nix mehr.

Doch von all dem Groll wollte sich Peppi Brunner, wie ihn seine Freunde nannten, heute nichts anmerken lassen. Mit routiniertem Lächeln begrüßte er Walli Winzer und stellte sie den anderen höflich vor.

»Was verschlägt eine PR-Agentin ins Waldviertel?«, bezog Alois Steinrieder Walli Winzer sofort ins Gespräch ein.

Walli erzählte ihm von ihrem kürzlichen Sabbatical im Waldviertel, der Renovierung ihres alten Hauses, dem Kauf des Reiterhofs »Sonnblick« und vielen Aktivitäten, die sie in Zukunft für Großlichten vorhätte.

Bürgermeister Brunner spitzte die Ohren und hörte mit erstauntem Blick zu.

Walli Winzer konnte sehr überzeugend sein. Dass das meiste davon geflunkert war, spielte für sie keine Rolle. Was tat eine Frau nicht alles, um sich in der männerdominierten Wirtschaft Gehör zu verschaffen. Die machten es schließlich auch nicht anders; strichen heute ihre Bedeutung hervor und am nächsten Tag war die Firma pleite. So ging Wirtschaft. Bluffen und dann im richtigen Augenblick zugreifen!

2. Kapitel

Nachdem Walli Winzer die Erfolge ihrer PR-Agentur in aller Ausführlichkeit dargestellt hatte, erörterte sie den Grund ihres Besuchs: »Ich bin eigentlich hier, weil ich für meine Firma den Auftrag zur Ausrichtung der Vernissage ›Modern Moskau‹ in der ›Galerie artpark‹ in der Wiener City erhalten habe. Da ich jetzt meistens im Waldviertel unterwegs bin, ist es klar, dass ich neue Weine aus dem Kamptal beziehe. Warum nicht gleich den prämierten von Ihnen!«

Alois Steinrieder zeigte sich erfreut: »Das wird sich auf jeden Fall machen lassen!«

Walli Winzer nickte zustimmend. Ohne seine Reaktion abzuwarten, entzog sie Steinrieder ihre Aufmerksamkeit und wandte sich dem Mann in der Galauniform zu.

Jetzt hielt der Bürgermeister von Plankenstein, Ernst Pfaffinger, den Augenblick für gekommen, sich in Szene zu setzen. Nachdem Walli ihre Bedeutung als künftige Investorin der Region überzeugend herausgestrichen hatte, schaltete er sich als lokaler Gastgeber ein: »Darf ich Ihnen unseren hohen Besuch vorstellen: Dr. Ludwig Weichselbaumer, Leiter des Landeskriminalamts, Außenstelle in Krems.«

Charmant lächelte er die PR-Expertin an, verneigte sich und führte ihre Hand bis knapp vor seinen Mund. Walli war bezüglich seiner Galanterie beeindruckt. Erfreulicherweise schmatzte er ihr nicht wie andere auf den Handrücken, sondern deutete den Handkuss bloß an. So, wie es sich, wenn’s schon sein musste, gehörte.

Wie oft hatte sie andernfalls die Gelegenheit genützt, sich im ersten unbeobachteten Moment den feuchten Handrücken an ihrem Kleid abzuwischen. Igitt, fand sie so etwas grausig! Antiquiert obendrein.

Oberst Weichselbaumer hatte Manieren. Er wusste offensichtlich, was sich gehörte. Für Walli Winzer war er dadurch einschätzbar geworden, was sie dazu animierte, alle Spielregeln des Flirtens gekonnt einzusetzen. Und sie wirkten! Gut gelaunt nickte der Spitzenbeamte der Männergruppe zu, was einige mit einem verstohlenen Lächeln quittierten. Beide wandten sich daraufhin vom erlauchten Kreis ab und mehr einander zu.

»Das freut mich sehr, endlich auch einmal einen Spitzenpolizisten aus Niederösterreich kennenzulernen«, erwiderte Walli Winzer die Höflichkeit Weichselbaumers. Er gab sich ein wenig verlegen, was ihr sichtlich gefiel und sie zu einem sonnigen Lächeln ermunterte.

Seine Neigung für Walli Winzer kaschierend, nahm er allerdings sofort Haltung an. In freundlich-sachlichem Tonfall fuhr Weichselbaumer fort: »Erfreulicherweise verläuft bei uns auf dem Land doch manches ruhiger als in der Stadt, wo Menschenmassen auf engstem Raum neben- und übereinander getürmt miteinander leben müssen. Daher passiert dort einfach mehr.«

»Das stimmt. Wobei ich in Wien noch nie einen Toten gesehen habe. In Großlichten hingegen in den letzten Monaten leider schon!«

»Ah, ich kann mich da an Fälle hier in der Nähe erinnern.«

»Unseligerweise war ich bei einigen Todesfällen vor Ort. Einmal geriet ich sogar selbst unter Mordverdacht.«

»Ja, jetzt weiß ich wieder: Eine Wiener PR-Lady hatte die Ermittlungen maßgeblich unterstützt. Das waren Sie?«

Walli Winzer beschloss, sich mit ihrem Kommentar lieber zurückzuhalten. Denn unterstützt war ein absolut dehnbarer Begriff, den die Polizeikommunikation offensichtlich dafür verwendet hatte. Denn in Wahrheit war sie es gewesen, die die Fälle gelöst und dabei fast ihren eigenen Kopf riskiert hatte. Ergeben hatte sich alles rein zufällig. Weil sie überall ihre Nase hineinsteckte! Auch hier. Schrecklich. Eine Berufskrankheit eben. Es war wie bei ihrer Recherche zu lukrativen PR-Aufträgen. Da hörte sie nämlich auch nicht eher auf, bis alle Fakten vor ihr auf dem Tisch lagen.

Kurz darauf erreichte Walli Winzer meist ihr Ziel! Doch die vergangenen Waldviertler Mordfälle? Die waren bereits Geschichte. Warum jetzt also den prickelnden Augenblick unnötig belasten?, dachte Walli.

»Ich bewundere Zivilcourage, Mut und Scharfsinn, bei Frauen speziell«, wollte der Oberst offenbar das Gespräch mit ihr kokett ankurbeln. »Das scheint bei Ihnen auch noch mit einer Portion Energie und Charme verbunden zu sein«, fügte Dr. Ludwig Weichselbaumer hinzu und grinste sie an.

Walli merkte, dass ihr bei seinem offensiven Flirtversuch langsam warm wurde. Sie räusperte sich und drehte sich leicht zur Seite. Das viele Sprechen und die jetzt knisternde Stimmung hatten sie durstig gemacht. Fieberhaft suchte sie nach einem Kellner für ein weiteres Glas des köstlichen Rieslings aus dem prämierten Weingut. Okay. Vielleicht wäre es vorher doch besser, nach einem Glas Mineralwasser zu greifen.

Sie winkte auffällig nach dem Erstbesten, dessen sie habhaft werden konnte. Der Oberst zeigte sich darüber einigermaßen überrascht. Mit ihrer ausladenden Geste hatte Walli schließlich weniger die Aufmerksamkeit des jungen Aushilfscaterers auf sich gezogen als jene Florian Wagners.

Der Gärtnermeister aus Großlichten und Ex-Lover Wallis war gerade dabei, vorsichtig ein passendes Blumenarrangement für die mittlere Anrichte durch die Menge zu tragen. Im Vorbeilaufen warf er Walli einen misstrauischen Blick zu.

»Wenn Sie wollen, übernehme ich das für Sie.«

»Gerne.«

Ludwig Weichselbaumer machte sich sofort auf den Weg, etwas Trinkbares zu ergattern.

Walli Winzer bemerkte Florian erst jetzt. Sie freute sich. Da er aber ernst blieb, sich ihre Blicke nur kurz trafen und er keine Anstalten machte, auf sie zuzugehen, sondern dem Polizeichef verdutzt nachsah, glaubte sie zu verstehen. Walli grinste in sich hinein. War da doch noch etwas von damals zwischen ihnen geblieben? Also, zumindest von seiner Seite her, appellierte sie an sich selbst.

Walli hatte Florian lange nicht gesehen. Über ihren einst unüberlegten Quickie im Schlosspark hatten sie nie wieder gesprochen. Es hatte sich schlichtweg keine Möglichkeit ergeben. Es war schon lange her. Trotzdem freute sie sich über seine verblüffte und irritierte Reaktion.

Doch Walli Winzer wollte darüber nicht länger nachdenken. Mittlerweile hatten sich zwischen sie und die Nachbargruppe mit Steinrieder einige Männer gestellt, die ihre Anliegen recht lautstark vorbrachten.

»Loisl, du kannst net einfach so über uns drüberfoahn und öffentlich in der Zeitung verkünden, dass wir alle im Kamptal jetzt auf Bio-Weinbau umsteigen werden. Du host uns net gfrogt! Des woar voreilig, damit du die Auszeichnung von den Behörden kriagst – oba ohne uns!«, empörte sich einer der Weinbauern.

»Du willst uns damit erpressen, dass ma nimma zurückkönnen!«, ergänzte ein anderer.

»Wir reden noch drüber! Aber jetzt ist das leider ganz schlecht«, versuchte Alois Steinrieder, seine Kollegen zu beruhigen.

»Is’ oba besser, wenn glei’ die Burgemoasta a dabei san. Wenigstens hören dann olle des Gleiche!«

Die Diskussion zeichnete sich ab, auf länger angelegt zu sein.

»Karl, wir red’n no’ drüba«, versuchte Steinrieder vor den verstummten Bürgermeistern der Umgebung, die Angelegenheit zu vertagen.

»Des geht net, dass du allen von uns so hohe Ausgaben ungefragt aufbrummst. Wie sollen wir das denn abbezahlen? Die Förderungen vom Land und der EU werden immer weniger!«

»Die Umstellung auf Bio dauert lang und kostet viel!«

»Bei die Unwetter, die’s jetzt a no’ immer gibt, is’ des a zusätzliches finanzielles Risiko für uns!«

»I bin sowieso scho’ mit mein Betrieb überschuldet. Noch mehr kann i ma nimma leisten!«

»Aber meine Herren!«, versuchte auch Ernst Pfaffinger den Protest der Weinbauern zu besänftigen.

»Wir werd’n sicher a Möglichkeit finden«, gab sich auch Alois Steinrieder zuversichtlich.

»Woit’s ihr uns verarschen? Wir sind die Letzten, an denen immer alles hängen bleibt«, empörte sich einer und näherte sich Steinrieder auf Tuchfühlung. Der schnappte nach dessen Arm, drehte ihn grob nach hinten, weshalb dieser aufschrie. Danach ließ Alois Steinrieder den Empörten los. Die Situation blieb weiter angespannt.

Walli Winzer wurde das dämliche Männergehabe zu bunt: »Jetzt reicht’s! Es gibt sicher einen besseren Zeitpunkt, wo ihr das besprechen könnt. Heute gibt’s die Preisverleihung!«

Alois Steinrieder wirkte sichtlich erleichtert, als der Aufgebrachte Abstand von ihm nahm.

»Darauf kannst Gift nehmen!«, polterte Karl Aichinger und verließ zornig mit seinen Gefährten den Hof.

»Was war denn da los?«, drängelte sich ein junger dunkelhaariger Mann durch die Gästeschar im Innenhof des Winzerguts und stand kurz darauf neben Steinrieder.

»Robert, es ist nix. Es war nur der Aichinger Karl, der immer gegen alles ist. Dauert halt a bissl länger, bis er’s und die anderen kapiert haben. Aber irgendwann werden’s das dann schon nachmachen.«

Bürgermeister Pfaffinger führte die Situation wieder zum Anlass zurück: »Heute kommt der Herr Landesrat. Mit dem werde ich die Situation kurz besprechen. Ich bin sicher, dass er für die Widerständler eine Lösung weiß.« Leicht weggedreht, ergänzte er Richtung Steinrieder: »Irgendein Finanztopf wird sich schon finden.«

Olga Karnikoff stand dicht bei der Gruppe und musste daher einiges mitgehört haben. Sie drehte sich um, nachdem sie der Bürgermeister während des Sprechens mit einer ausladenden Geste angerempelt hatte.

»Oh, sorry!«

»Kein Problem«, antwortete sie erschrocken lächelnd mit leichtem russischem Akzent. Ihr Blick fiel dabei auf den jungen Steinrieder, der merkbar ihre Mimik erhellte.

»Darf ich bekannt machen: mein Sohn Robert.«

»Freut mich!« Robert Steinrieder verneigte sich höflich vor allen. Dann hielt er kurz vor Olga Karnikoff inne. So, als würde ihn etwas beschäftigen. »Arbeiten Sie nicht für Dimitri Olschiraska?«

»Ja, aber heute hat mich seine ›Galerie artpark‹ in der Wiener Innenstadt hierhergebracht. Ich habe den Transport der Kunstwerke organisiert und betreut. Herr Olschiraska betreibt seit Kurzem eine Galerie in Wien neben seinem Pharmakonzern. Kunst ist jetzt seine neue Leidenschaft. Außerdem ist er gerne in Wien.«

»Und im Waldviertel – so ein Zufall!«, fühlte sich Walli Winzer dazu ermuntert, etwas zu sagen. »Ich kenne nämlich die Geschäftsführerin, Sonja Frey. Meine Agentur ›Firebird‹ organisiert die Vernissage zur nächsten Ausstellung. Ist auch etwas Neues für uns, da wir sonst ausschließlich auf Public Relations ohne Eventbetrieb ausgerichtet sind.«

»Wirklich? Ich liebe Kunst, vor allem die zeitgenössische. Mich begeistert, wie viel persönlicher Ausdruck in jedem Objekt steckt.«

»Jaja«, log Walli Winzer gekonnt. Sie hatte keine Ahnung von solchen Dingen und interessierte sich, ehrlich gesagt, auch nicht dafür. Für Walli sah dieses ganze Moderne-Kunst-Zeug gleich aus. Abgefahren.

Als Kind eines Arbeiters der Floridsdorfer Lokomotivfabrik hatte sie andere Interessen gehabt. Zum Beispiel spielte sie gerne mit Kindern auf den zum Teil unasphaltierten Straßen im Wiener Grätzl Donaufeld. Damals gab es fast keine Autos. Erst mit dem Bau der Gemeindebauten entstanden Fahrbahnen. Mit gebraucht gekauften Fahrrädern aus dem Secondhandshop machte man schließlich die Gegend unsicher. Die sozialen Straßenschlachten im Floridsdorfer Gemeindebauhinterhof verarbeitete man als Kind nur schwer oder eben nicht. Die rauen Sitten von damals versteckte sie mittlerweile gekonnt hinter professionellem Gehabe. Nur manchmal, wenn sie sich ärgerte und aufregte, ging die alte Walli samt Vorstadtdialekt mit ihr durch. Das Gemeindebaukind von damals war sie in ihrem Innersten geblieben. Die untergriffigen Sozialtechniken gab es bei ihr auf Abruf, wobei sie die in speziellen Seminaren sogar treffsicher ausbauen konnte. Frei nach dem Motto: Man lernt eben nie aus. Vor allem nicht, wenn man wusste, wie hart es war, in gehobene Kreise aufzusteigen, was Walli in der Jugend um jeden Preis angestrebt hatte. Über den zweiten Bildungsweg und unter Einsatz aller ihr zur Verfügung stehenden weiblichen Waffen hatte sie es letztlich geschafft – bis ganz hinauf! Und darauf war Walli Winzer stolz.

Wofür sie sich allerdings immer begeistern konnte, waren Feste, Empfänge und Partys. Zugegeben: Jetzt, wo sie bereits an die 22 plus war, wie sie gerne launig bemerkte, gab’s zwar öfter mehr vom Gleichen, doch zeitweise machte es trotzdem noch Spaß.

Walli blickte wieder in die Runde und suchte sehnsüchtig nach etwas Trinkbarem. Oberst Weichselbaumer schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein, und keiner der Caterer mit Getränketablett war in Sicht!

Mist!

Es war inzwischen später Vormittag. Die Sonne knallte Anfang Herbst immer noch ganz schön kräftig auf den Platz. Mitten in der Menschenmenge zu stehen, sorgte zusätzlich für einige Grad mehr.

»Frau Karnikoff, Sie entschuldigen. Ich hole mir jetzt selbst was zu trinken, sonst komme ich noch um!«

Olga Karnikoff lachte. »Ja, tun Sie das! Bis später!«

Walli war gerade dabei, sich auf den Weg zu machen, als sich unter den Gästen Unruhe breitzumachen schien.

»Ahhh!«, johlte die Menge auf.

Walli Winzer hatte keine Ahnung, worum es ging. Sie war von ihrer Statur her zwar nicht klein, doch sehen konnte sie von ihrer Position aus trotzdem nichts. Wesentlich Größere hatten sich direkt vor ihr aufgepflanzt, und in dem Getümmel wurde sie hin und her geschoben. Langsam gelang ihr schließlich die Sicht auf eine junge Frau in Tracht mit prunkvollem Kopfputz. Ihr voraus schritten einige Fahnenträger mit Wappen aus Niederösterreich und der Waldviertler Gemeinde Plankenstein, gefolgt von einer Blaskapelle. Dahinter zog ein Haflinger einen Karren, beladen mit Holzbottichen voll frisch geernteter Trauben. Dann schritt der Landesrat mit Gefolge zwischen den vergnügten Festgästen durch.

Die Menge drängelte Walli Winzer nahe an Alois Steinrieder heran, der dem Landesrat bereits freundschaftlich zugewunken hatte. Als Steinrieder sie bemerkte, raunte er ihr zu: »Um 12.00 Uhr vor dem Eingang zum alten Weinkeller! Ich mache eine Führung für Sie und zeige Ihnen unsere Bestände!«

»Alles klar!« Sie hatte den Zuruf gerade noch verstanden, als die Umstehenden erneut zu johlen begannen.

3. Kapitel

Während Walli Winzer auf ihr Getränk wartete, streifte ihr Blick wieder Lena Breitenecker, die sie mit Ehemann Hans in einiger Entfernung sah. Beide waren eifrig dabei, für die anschließende Verkostung des prämierten Rieslings ihr jüngst ebenso in Frankreich ausgezeichnetes Käsesortiment aufzulegen. Walli hatte nach der Rückkehr der Breiteneckers deren große Freude miterlebt und war sich sicher, dass so ein internationaler Erfolg die ganze Region enthusiastisch stimmen würde.

Eine lokale Auszeichnung wie heute mit dem Steinrieder Kamptal DAC Riesling Reserve 2017 bedeutete gleichfalls den ersten Schritt in die richtige Richtung, war sich PR-Profi Walli Winzer sicher. Daher nützte sie gleich die Gelegenheit, die Marke »Kamptal Riesling« marketingstrategisch in Wien zu verankern. Zur Vernissage kamen meist Ästheten und Gourmets, die aus ihrer Erfahrung das ideale Publikum für Produkteinführungen dieser Art waren.

Auch Lena hatte lange und hart für den Erfolg ihres prämierten Ziegenkäses gearbeitet. Sie hatte noch viel vor.

Hans schleppte weiter Plastiksteigen heran, die bereits am Biohof einsortiert worden waren. Lena holte kunstvoll drapierte Vorlegeplatten hervor. Käsebesteck sowie Weidenkörbe mit diversen Weißbrot- und ausgewählten Schwarzbrotsorten breitete sie dekorativ auf den Tischen aus. Sohn Lukas nahm ihr die leeren Kisten ab und trug sie anschließend zurück zum Lieferwagen.

Walli wollte gerade zum Buffet gehen, überlegte es sich dann aber doch anders, als sie sah, wie sich Florian Wagner neben Hans stellte. Er hatte seine Garderobe inzwischen dem Anlass angepasst. Wie immer sah er blendend aus. Die beiden Männer sprachen offenbar über die Blumenarrangements auf den Buffettischen, mit denen Hans sehr zufrieden schien. Florians Gesichtsausdruck wirkte entspannt, änderte sich jedoch schlagartig, als er Ludwig Weichselbaumer an sich vorbeigehen sah. Er musterte den Oberst auffällig, der sich vorsichtig, um die Getränke nicht zu verschütten, durch die Menge drängte. Was Florian in diesem Augenblick wohl dachte?, fragte Walli sich. Schnell wandte er sich lächelnd einem Neuankömmling zu: einer jungen hübschen Frau, halb so alt wie Walli.

Walli Winzer kniff erbost die Augen zusammen, hatte aber keine Gelegenheit mehr, ihre Emotionen weiter zu ordnen, da mit einem Mal Dr. Ludwig Weichselbaumer direkt vor ihr stand und dadurch den Blick auf Florian Wagner verstellte. Er reichte ihr ein Glas Mineralwasser und eines mit Riesling. Mit seinen großen Händen hatte er keine Probleme gehabt, zwei Gläser auf einmal zwischen den Fingern zu platzieren.

Walli griff erleichtert zu. Sie hatte in diesem Moment das Gefühl, dass ihr der Himmel Oberst Weichselbaumer geschickt hatte, der nicht nur ihren Durst zu löschen verstand, sondern auch ihre Gedanken an Florian Wagner zerstreute.

Sie sprachen über die Ermittlungsarbeiten in Niederösterreich, neue Polizeimethoden und die österreichische Zusammenarbeit mit europäischen Behörden. Im Großen und Ganzen empfand Walli Winzer Oberst Weichselbaumer nicht nur als angenehmen, sondern auch als gebildeten und kompetenten Menschen.

Trotzdem gebot ihre Neugier einen weiteren Blick in Richtung Florian Wagner. Gekonnt sah sie an ihrem Gesprächspartner vorbei, nickte interessiert, ohne seiner Ausführung weiter größere Beachtung zu schenkte. Doch sie sah Florian nicht mehr. Wohin war dieser Schlawiner verschwunden? Und mit ihm dieses halbe Kind? Sollte er tatsächlich jetzt mit ihr unterwegs sein? Walli vergrößerte ihren Blickwinkel und wechselte dazu sogar ihre Position. Sie bat Oberst Weichselbaumer, den Platz mit ihr zu tauschen, was dieser willig tat.

Keine Spur von Florian.

»Ah, Grubinger!«, rief sie plötzlich. Sie entdeckte ein weiteres bekanntes Gesicht. Sepp Grubinger war Dorfpolizist in Großlichten. Er war eben zum Haupttor hereingekommen und blickte noch etwas unschlüssig um sich. Neben ihm stand Ehefrau Resi, ebenfalls mittleren Alters, die sich im Gespräch mit einer ihr offenbar bekannten Frau befand. Es war ein Small Talk, dem Frau Grubinger mehr mit lächelnder Miene beiwohnte, als dass sie sich aktiv daran beteiligte. Ihre nach hinten gebundenen Locken wippten, wenn sie zustimmend nickte. Sepp Grubinger erwiderte Wallis Zuruf mit dem Hochziehen seiner Augenbrauen. Anhand seiner Beklommenheit merkte sie, dass er Oberst Dr. Weichselbaumer erkannt hatte. Der rührte sich nicht, sondern wartete das Intermezzo seiner Gesprächspartnerin ab. Danach fuhr er unbeirrt mit einer detailverliebten Ausführung über die Neuaufstellung der Polizeiadministration in Krems fort.

Eben als Weichselbaumer zu Ende gesprochen hatte, stand Grubinger samt Ehefrau neben Walli Winzer. Letztere wandte sich ihnen sogleich zu: »Grüß Sie! Es ist schön, Sie auch einmal anderswo als in der Polizeistation zu sehen.«

»Wie ich sehe, halten Sie’s ohnehin nicht lang ohne Polizeibegleitung aus!«, witzelte Grubinger und trat Oberst Weichselbaumer gegenüber, wobei er sofort polizeiliche Haltung einnahm.

»Ist schon in Ordnung. Sie sind mit Ihrer Frau privat hier. Da lassen wir das Formelle«, gab sich Dr. Weichselbaumer jovial.

Walli Winzer beeindruckte der gelassene Umgangston des Obersts mit einem Rangniederen. Auch wenn sein Ton nichtsdestoweniger etwas herablassend klang. Weichselbaumer trug immerhin Uniform und war einer von Grubingers obersten Chefs in der niederösterreichischen Polizeihierarchie.

Sepp Grubinger trat einen Schritt zur Seite und stellte sich wieder neben seine Frau. Sie sah ihn beschwichtigend an, als hätte sie bereits bemerkt, dass ihr Mann unsicher geworden war. Grubinger wirkte tatsächlich erleichtert, nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen zu müssen, und ließ den Oberst weiterreden: »Ich bin ja hier in diesem Ort aufgewachsen. Viele meiner Familienmitglieder sind in der Weinbranche tätig. Einige haben ihre Rieden in der Umgebung, die anderen sind bereits im internationalen Weinhandel tätig. Ja, so verändern sich auch bei uns die Zeiten!«

»Toll, dass sich das in den vergangenen Jahren für Österreich und hier im Waldviertel so gut entwickelt hat!«, freute sich Resi Grubinger. »Noch vor ein paar Jahrzehnten, Mitte der 1980er-Jahre nach dem schrecklichen Glykolskandal, hätte sich das niemand vorstellen können.«

Ludwig Weichselbaumer räusperte sich unangenehm berührt: »Ja, das war für alle Weinbauern eine schreckliche Zeit. Da will sich hier keiner mehr daran erinnern. Ich selbst war damals ein junger Bursche und hab vieles miterlebt. Einige Weinbauern hat das sogar um ihre Existenz gebracht. Sie mussten ihre Weingärten an andere verkaufen, weil ihnen keiner mehr die Weine abnahm. Daher wird hier nicht gerne darüber gesprochen. Vor allem nicht an so einem Freudentag wie heute mit einer prestigeträchtigen Auszeichnung, auch für die Region. Heben wir also das Glas auf unseren Loisl. Dass er uns zurückgeholt hat, was wir schon verloren glaubten! Ein Hoch und Prost!«

Weichselbaumer wirkte erleichtert, das Thema abgewendet zu haben, und schien sich für Alois Steinrieder ehrlich zu freuen. Alle hoben ihr Glas und stießen an. Nur Walli blieb bei Mineralwasser. Der Oberst sah sie fragend an, lächelte und ließ sein Glas dennoch mit dem ihren wohltuend anklingen.

Walli gefiel das. Sie wusste, dass man sonst nur mit Gläsern gleichen Inhalts anstieß. »Bei meinem Durst muss das vorher runter! Sonst singe ich gleich beim Musikgstanzl der Blasmusikgruppe mit«, amüsierte sie sich selbst wohl am meisten über ihr No-Go der sonstigen Etikette.

Weichselbaumer war ihr Fauxpas sichtlich egal. Es schien ihm vielmehr sogar zu gefallen, nicht zu entsprechen und sich nicht vor anderen zu genieren.

Walli trank ihr Glas Mineralwasser in einem Zug leer. Nichts hatte sie in letzter Zeit so ersehnt und genossen wie diese kühle Labung eben. Na ja, obwohl sie sich sonst auch noch erfreulichere Erlösungen für ihre körperlichen Bedürfnisse vorstellen konnte. Denn kleinen Flirts gegenüber war sie nie abgeneigt gewesen. Die waren allerdings im besten Alter nicht mehr so einfach an jeder Ecke zu finden.

Walli Winzer blickte den kessen Polizeioberst von der Seite an und erhaschte seinen freundlichen Blick. Von der Bettkante würde sie den sicher nicht stoßen, stellte sie amüsiert fest. Offensichtlich hatte sie all ihre Sinne wieder beisammen.

Doch Walli wollte jetzt den anderen zuhören. Schließlich hatte sie während ihrer Ausbildung zur PR-Agentin an vielen Seminaren zur Gesprächsführung teilgenommen. Zuhören war wichtig! Nur so kamen gute Geschäfte zustande. Man machte sich währenddessen ein Bild vom anderen und konnte sich gut auf ihn einstellen. Wegen eines Weindeals war sie schließlich auch hierhergekommen.

Nur, es war jetzt Oberst Weichselbaumer, der nahezu ununterbrochen sprach, und nicht Winzerchef Steinrieder. Egal. Mit einem Glas Riesling in der Hand entspannte sie sich völlig. Mal sehen, wohin das alles führte.

Weichselbaumer erwies sich ebenso auf dem Gebiet des Weins als äußerst bewandert: »Der Boden hier enthält viel Löss. Den brauchen die Rieden, um gut zu gedeihen. Das Klima im Sommer ist tagsüber heiß und in den Nächten kühlt es ab. Ideale Voraussetzungen für Weißwein. Am besten für Grünen Veltliner oder Riesling.«

»Verkosten kann man die guten Tropfen überall. Oft auch in den malerischen alten Kellergassen im Kamptal, wo die Weinbauern noch viele ihrer Weine lagern«, ergänzte Frau Grubinger.

»Des san oba nur die Kloanen, die’s mehr für Liebhaber des oidn Handwerks und für sich und ihre Familien keltern. Oder ausgewählte Gäste. Die anderen miassn scho’ so groß sein wie der Hof do vom Loisl. Leben können di andern nimma davon«, ergänzte Rosa Grandl, eine ältere Bäuerin aus Großlichten. Sie war gut befreundet mit Lena Breitenecker und kannte sich in der Umgebung aus.

Sepp Grubinger war wie Walli wortloser Beobachter und überließ den Frauen und dem Oberst das Terrain. Walli war sich nicht sicher, was ihm gerade durch den Kopf ging. Jedenfalls glitt Grubingers Blick abwechselnd von seiner Frau zu Weichselbaumer, dann zu Rosa Grandl. Zeitweise verzog er den Mund zu einem Lächeln, wenn es die Situation erforderte. Dass er sich dabei wohlfühlte, bezweifelte Walli Winzer. So weit kannte sie den Dorfpolizisten aus Großlichten schon. Vielmehr tat er es aus Verlegenheit. Sie hielt ihn für schüchtern, doch durchaus emotional intelligent. Nur bei manchem haperte es ihrer Meinung nach eindeutig ein wenig bei ihm. Wenn sie allein an seine oft grotesken Ermittlungsansätze dachte. Böse Walli! Ja, sie wusste, dass sie manchmal eine richtig arrogante Stadttussi sein konnte. Na und? Vieles davon war bei ihr oft auch Schüchternheit. Aber ließ sie sich davon ausbremsen oder setzte dadurch ihr Verstand aus? Warf sie das aus dem Konzept? Vielleicht hätten das andere gerne! Doch diese Freude machte sie ihnen nicht. Niemandem.

Immerhin hatte sie sich alles selbst erkämpfen müssen. Nichts war ihr in die Wiege gelegt worden. Ein durchschlagskräftiges Frauennetzwerk ähnlich den Old-Boys-Netzwerken gab es noch nicht. Und diese funktionierten in Zeiten wie diesen mehr denn je.

Walli Winzer holte sich daher, was sie brauchte. Darin war sie richtig gut geworden! Auch wenn’s nicht immer redlich zuging. Na und? Man musste schauen, wo man blieb! Gäbe es in allen Führungsetagen nur sanfte, träge Leute wie Grubinger, wäre sie immer noch die kleine Schaufensterdekorateurin aus der Vorstadt. Keiner wäre je auf sie aufmerksam geworden. Ihren Grips hätte sie sich sonst wohin stecken können. Sie hatte ihren strategischen Scharfsinn erst spät entdeckt, aber immerhin noch rechtzeitig, um ihn zielgerichtet einzusetzen.

»Gibt’s in dieser Region eigentlich auch Rotwein?«, fragte Walli spontan. Sie wollte die Aufmerksamkeit Ludwig Weichselbaumers wieder auf sich ziehen, was ihr mit dieser Frage gelang. Alle schauten sie wegen der abrupten Unterbrechung erstaunt an.

»Ah …«, überlegte Weichselbaumer kurz. »Weniger«, sagte er schließlich. »Das Klima ist für die Rotweintrauben hier im Kamptal etwas zu rau. Die brauchen das ganze Jahr über mildere Nächte und wärmere Tage. Die Winter sind hier strenger als beispielsweise im pannonischen Raum des Burgenlands, ganz im Osten Österreichs.«

»Wir ham aber a Rotweingebiete in Niederösterreich«, ergänzte Resi Grubinger. Ihr Mann Sepp sah sie mahnend an. Immerhin wies sie seinen obersten Chef zurecht! Man ließ solche Herren einfach reden, was sie wollten. Die waren doch eh gleich wieder weg in Krems oder in St. Pölten. Warum extra auffallen? Was fiel denn der Resi ein! Er sah besorgt zu Weichselbaumer.

Der gab sich gelassen und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Wie zuvor über die Polizeireform dozierte er jetzt über den niederösterreichischen Wein: »Natürlich gibt es hier auch ausgewiesene Rotweingebiete, wie zum Beispiel beim Pinot noir, auch Blauer Burgunder genannt, oder die in Carnuntum. Schon die Römer erkannten die Vorteile dieser niederösterreichischen Thermenregion. Sie errichteten dort nicht nur Thermalbäder, sondern auch ausladende Weingärten, und kultivierten das Keltern. Sie bauten Blaufränkische Trauben für den Rotwein an, den sie aus Italien her kannten und vermissten. Denn Carnuntum war über lange Zeit einer der wichtigsten strategischen Militärstützpunkte, der …«

Bei seinen nun folgenden langen historischen Ausführungen klinkte sich Walli Winzer gedanklich aus. Sie nickte zwar immer wieder zustimmend, doch ihren Blick zog das inzwischen üppig gefüllte Buffet auf sich.

Dort sah sie einen jungen Mann, offensichtlich ein Praktikant, denn Lehrlinge waren in Österreich Mangelware geworden, der recht linkisch eine Platte mit würfelig geschnittenen Käsestückchen trug. Ein ungesichertes Elektrokabel auf dem Boden ließ ihn zudem nach unten schauen, weshalb einige Käsestückchen herabkullerten. Er fluchte, sah verstohlen nach links und rechts, ob ihm jemand zugesehen hatte. Dann bückte er sich, hob sie auf und legte sie unauffällig zu den übrigen.

Walli ekelte, was sie da sah. Das durfte doch nicht wahr sein! Wo waren denn die Lehrlinge, die etwas von der Pike auf lernten? Dazu zählten in erster Linie Sauberkeit und Hygiene.

Noch bevor sie sich so richtig entrüsten konnte, sprang eine schlanke schwarz-weiße Katze behänd auf den Tisch und schnappte sich die nachträglich beigelegten Stückchen. Nicht nur Walli erschrak darüber, sondern vor allem der Praktikant. Er wich vor der stürmischen Attacke zurück.

»Nein, das gibt’s doch nicht!«, schrie Hans Breitenecker, als er die kleine Diebin unbeholfen vorüberziehen sah. Hans nahm die von der Katze berührten Teile heraus und machte sich daran, wieder ein halbwegs ansehnliches Käsetürmchen zu formen. Der Praktikant stand daneben und tat so, als ginge ihn alles nichts an.

Walli schluckte angewidert und nahm sich vor, nichts aus diesem Bereich des Käsesortiments zu nehmen.