Waldviertelmorde - Maria Publig - E-Book

Waldviertelmorde E-Book

Maria Publig

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Walli Winzer hat die Nase voll: von den Männern, den immer länger werdenden Aufenthalten im Kosmetikstudio und von den Shoppingtouren in den Designershops der Wiener City. Als ein drohendes Burnout seine Schatten vorauswirft, weiß die erfolgreiche Inhaberin einer PR-Agentur eines ganz genau: Sie braucht Ruhe! Ein altes Haus im Waldviertel nahe Wien soll ihre künftige Oase sein. Doch schon bald erweist sich diese als intrigendurchsetzte, mörderische Fallgrube.

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Seitenzahl: 376

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Maria Publig

Waldviertelmorde

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Mörderische Ruhe Walli Winzer hat die Nase voll: von den Männern, den Kosmetikstudios und den Designershops der Wiener City. Als ein Burn-out seine Schatten vorauswirft, weiß die erfolgreiche PR-Lady: Sie braucht Ruhe! Da kommt ihr der Vorschlag ihrer Schulfreundin, ein altes Haus im Waldviertel nahe Wien zu kaufen, gerade recht. Eine Oase der Ruhe und des Friedens, denkt Walli. Doch schon bald entpuppt sich diese als intrigante, mörderische Fallgrube. Da gibt es eine verschlossene Dorfgemeinschaft, einen Dorfpolizisten, der eher als Sozialarbeiter denn als Inspektor unterwegs zu sein scheint, einen schüchternen Postboten, eine dem Reiterwahn verfallene Großstadt-Schickeria und einen Reitstallbesitzer, der auch schon mal bessere Zeiten gesehen hat. Was für eine schreckliche Welt, denkt Walli, wäre da nicht Kater Filou, den ihr eine Nachbarin aufs Auge gedrückt hat und der ihr Leben ganz schön durcheinanderbringt. Genau wie der charmante Tierarzt, für den die Frauen im Ort schwärmen.

Maria Publig wurde in Wien geboren und verbrachte mit ihrer Familie viele Sommer im südlichen Waldviertel. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Journalistin für Tages- und Wochenzeitungen. Später wechselte sie für 15 Jahre als Moderatorin und als Redakteurin, in zum Teil leitender Funktion, in den ORF und schrieb Kultursachbücher, die international ausgezeichnet wurden, bevor sie sich dem Krimischreiben zuwandte. Wovon sie überzeugt ist: Für gute Gedanken und Kreativität muss man sich Zeit nehmen. Die gönnt sie sich zwischendurch, genauso wie viele anregende Gespräche mit ihren wunderbaren Nichten und das gemeinsam ziemlich oft im Waldviertel. Mehr Informationen zur Autorin unter:

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © fotofrank/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5700-5

Widmung

Für Lilly

PROLOG

Es ärgerte ihn, dass er leichtfertig in den Wald mitgefahren war. Doch er wollte ungestört mit ihm reden. Eine Lösung finden für das Unfassbare, das dieser Mann begangen hatte. Das hatte Maxim Ionescu seiner Mutter versprochen.

Doch bisher antwortete dieses Ekel nicht auf seine Fragen. Stattdessen war es dessen wortloser Griff in die Seitentasche der Jeans gewesen, der ihm Angst gemacht hatte. Er glaubte, das Blitzen einer Waffe gesehen zu haben. Im selben Moment rannte er los. Er versuchte, ins Dunkel des Waldes zu kommen. Er konnte vorerst nichts Genaues erkennen. Das Sonnenlicht zuvor war grell gewesen. Seine Augen mussten sich erst an das Halbdunkel gewöhnen.

Er stöhnte, als er mit der Schulter gegen den Stamm einer Fichte prallte. Aber er ignorierte den Schmerz und lief weiter. Weiter. Das war jetzt der einzige Impuls, dem er folgte.

Sein Verfolger war hinter ihm. Noch hatte er genügend Abstand. Er setzte alles daran, ihn zu halten, um bei nächster Gelegenheit irgendwo abzutauchen. Das musste gelingen, obwohl er jede Sekunde einen Schuss erwartete. Doch nichts geschah.

Ein Zufall hatte Maxim an diesen Ort geführt. Doch plötzlich begann sich der Spieß umzudrehen. Immer noch war ihm rätselhaft, wie ihn sein Verfolger in dieser endlosen Einsamkeit der Waldviertler Wälder hatte aufspüren können. Er war sich so sicher gewesen, seine Spur ausgelöscht zu haben, der Weg von Rumänien bis nach Österreich war lang gewesen. Aber eben nicht lang genug, um diese Menschentreiber abzuwimmeln. Um das Böse aus Albiu in Ostrumänien fernzuhalten oder es gar zu vertreiben.

So, wie man sie auch damals nicht gerufen hatte, und sie trotzdem kamen. Ihre Gesichter sah man nicht. Eine gleichförmige Wand des Schweigens. Das wollte er ändern. Er hatte Beweise. Er wollte seine Mission zu Ende bringen. Um seiner Mutter willen. Damit Frieden einkehrte. Falls dies irgendwann überhaupt möglich sein würde. Bitte, nur noch jetzt untertauchen, vom Erdboden verschwinden können, raste es durch seinen Kopf. Ein letztes Mal, damit nicht alles umsonst sein würde.

Der Waldboden mit seiner dicken Nadelschicht wurde weicher. Maxim Ionescu spürte, wie er bei jedem Auftreten nachgab. Das rasche Tempo von zuvor wurde nun zum Risiko. Das Körpergewicht begann, sich nach allen Seiten ungleich zu verteilen. Unkontrolliert. Er begann zu torkeln. Seine Beine trugen ihn nur noch mühsam. Ein Zickzacklauf forderte seine gesamte Geschicklichkeit. Mit einem Pistolenlauf im Rücken würde die Situation an eine Hasenjagd erinnern.

Warum war er diesem menschlichen Bluthund nur bis an den Waldrand des Dorfs Großlichten gefolgt. Er kannte ihn. Warum sollte er hier, in Österreich, anders sein als zu Hause in Rumänien, in dem gottverlassenen Albiu.

Die Erinnerung an die Geschichte trieb Maxim Ionescu weiter an, auch wenn er spürte, dass ihn allmählich die Kräfte verließen, sein immer noch schnelles Tempo langsamer wurde. Kurz noch, machte er sich Mut! Gleich würde er den Waldrand erreichen. Die Koppeln des Reitgestüts »Sonnblick« waren in der Nähe. Dort würde sein Verfolger von ihm ablassen und nicht schießen. Denn jeden Schuss würde man hören. Jagdgesellschaften fanden nur am Wochenende statt, und der Förster kannte sein Revier.

Maxim Ionescu lief weiter, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Er schrie laut auf, als ihm die Äste der Fichten ins Gesicht schlugen und deren Nadeln seine Haut aufplatzen ließen. Der Wald war dicht. Doch sein Ziel war die Lichtung, die er erreichen wollte.

Als er kurz zurückblickte, um seinen Verfolger einzuschätzen, kippten seine Tennisschuhe in eine kleine Moosgrube. Es knackste, und er fiel hin. Kurze Zeit später knackste es noch einmal – und sein Schädel lag blutend unter einem dicken Ast. Er schaute in das erschöpfte Gesicht seines Peinigers, dessen Hände noch das Ende des mächtigen Blocks hielten, in weit aufgerissene Augen, aus denen dennoch keine Emotion sprach. Sie fixierten ihn. Maxim sah an ihnen vorbei. Ein Blick ins Leere. Er spürte das warme Rieseln seines Blutes, das über seine Wangen in die geöffneten Augen rann. Im Bruchteil eines Augenblicks erkannte Maxim Ionescu, dass die zuvor festen Silhouetten des Waldes zu verschwimmen begannen. Seine Augen füllten sich mit dunkelrotem Blut. Sein Schmerz nahm weiter zu, bis ihn ein heller Schein aus allem befreite.

1. KAPITEL

Auf diesen Augenblick hatte sie lange gewartet. Keinen Morgen würde es künftig mehr mit Hektik und penibler Vorbereitung auf den ersten Besprechungstermin geben. Den Gedanken genoss sie sichtlich, sie rekelte sich auf dem Sofa und zog gemütlich die Beine zur Seite. Der erste Schluck Kaffee so früh am Tag war für sie immer der beste gewesen – und das würde er auch weiterhin bleiben, war sich Walli Winzer sicher. Sie atmete tief durch und fühlte sich rundum zufrieden. Erst jetzt merkte sie, wie still draußen noch alles war. Ein Luxus, auf den sie hier aufmerksam wurde, für den sonst keine Zeit gewesen war. Komisch, früher hatte sie Stille fast bedroht. Jetzt empfand sie solche Situationen nahezu als Geschenk. Sie wusste allerdings auch, dass die nicht lange so bleiben würde. Denn bald brächte der Tag jene Lebendigkeit, die Menschen in unterschiedlicher Weise zusammenführte. Ein Gedanke, der Walli verhalten schmunzeln ließ.

War das nicht auch alles relativ zu betrachten? Konnte nicht schon eine einzige menschliche Begegnung den Tag in eine ziemliche Schieflage bringen? Walli Winzer kannte da so einige Nervensägen, die das locker auch heute noch hinbekämen. Allen voran ihr Ex-Ehemann Thomas, der den Klassiker hinlegte, indem er sich von Walli zu wenig beachtet fühlte. Seine Vorwürfe, sie befände sich stets auf zwei Kirtagen gleichzeitig, konnte Walli ja noch bis zu einem gewissen Grad verstehen, doch dass er anfing, seine exzentrische Leidenschaft für Schlangen in allen Größen und Varianten in der gemeinsamen Wohnung auszuleben, das nahm sie dann doch persönlich.

Den Unterton seiner Spielerei hatte sie verstanden, dazu brauchte sie keine psychologischen Ratgeber. Das war aber nur das sogenannte Tüpfelchen am i. Sie erkannte, dass die Zeit gekommen war, sich neuen Annehmlichkeiten des Lebens zuzuwenden.

Ihr Job in der Werbebranche brachte sie mit vielen attraktiven Männern zusammen, die sie ohne weitere Verantwortung anlocken, die gemeinsame Zeit genießen und wieder verabschieden konnte. Als PR-Agentin verbrachte Walli besonders viel Zeit mit vorwiegend männlichen Klienten, wo schließlich das eine auch zum anderen führen konnte. C’est la vie! Was tat man nicht alles, um für gute Stimmung speziell in Geschäftsbeziehungen zu sorgen. Wenn die gegenseitige Chemie sich auch ins Private hinüber führen ließ, so what? Walli war die Letzte gewesen, die eine attraktive Begleitung von der Bettkante zu stoßen pflegte. Thomas hatte so etwas immer geahnt, doch nichts Genaueres wissen wollen. Wozu auch? Es hätte nichts geändert. Was er nicht wusste, irritierte ihn nicht. Er hielt es heute noch so, obwohl ihre Trennung nun schon viele Jahre zurücklag.

Charismatiker fand man in Geschäftsführungen großer Firmen häufig. Immerhin sollten sie einen Riesenapparat zusammenhalten und mussten im Medienzeitalter für die Kamera auch gut aussehen. Machtmenschen in schwachen Momenten zu erobern, war immer schon Wallis Spezialität gewesen. Ein Spiel, das sie gut beherrschte und das ihr neben ihren professionellen Fachkenntnissen selbst zu Macht und Einfluss verholfen hatte.

Ihre PR-Agentur lief seit langer Zeit gut, und sie hätte im Laufe der Jahre sogar noch an Aufträgen zulegen können. Doch war es ihr immer wichtig, selbst noch den Überblick zu behalten und dicht an allem dran zu bleiben.

Dass sie dadurch anderen Mitbewerbern mitunter Aufträge mit fragwürdigen Mitteln vor der Nase weggeschnappt hatte, war ihr bewusst, doch kümmerte es sie nicht wirklich. Sie legitimierte es damit, dass sie stets unkonventionelle Konzepte vorantrieb und umsetzte. So verstand Walli Winzer auch ihre Agentur immer schon als Labor für Gesellschaftspolitisches. Klang hochtrabend. Für sie war es aber immer selbstverständlich gewesen. Tobias und Silvia, ihre Mitarbeiter, waren Teil davon.

Doch jetzt war alles anders. Mit 50 verspürte Walli mit einem Mal die Sehnsucht nach einer Wende in ihrem Leben. Nicht, dass sie an ihrer Person etwas hätte ändern wollen oder vor etwas davonlief, bereits völlig ausgepowert oder unglücklich wäre. Nein. Sie wollte ihren Blickwinkel erweitern, einfach die Segel neu setzen. Sie beschloss, dazu ins Waldviertel zu übersiedeln und zu warten, was käme. Einfach einmal abwarten. Warten auf irgendetwas oder irgendwen. Auftanken.

Der viele Trubel in Wien um sie herum hatte sich abgenützt und begann sie schlichtweg sogar zu langweilen. Ihre Kreativität litt darunter, so empfand zumindest sie selbst es. Den Menschen in ihrem beruflichen Umfeld war das noch nicht aufgefallen – und das war gut so. Doch vielleicht standen sie knapp davor, dem musste sie vorbeugen.

Bisher hatte Walli stets die richtige Einschätzung, wann eine Phase in ihrem Leben vorbei war und sie besser in sich hineinhören sollte. Es gab nicht viele solcher Momente, doch wenn, war sie stets gestärkt aus ihnen hervorgegangen.

Wie sie so im Pyjama mit ihrem Kaffee in der Hand dasaß und nachdachte, freute Walli sich darüber, dass ihre Selbsteinschätzung, Kampfgeist und ihr Sinn für Gerechtigkeit über die Jahre ungebrochen geblieben waren. Sie war einst blauäugig vielen Situationen gegenüber gewesen. Doch so waren junge Frauen heute nicht mehr. Davon war sie überzeugt.

Während Walli so vor sich hinbrütete, merkte sie zu spät, wie ein wenig Kaffee auf ihren Ärmel tropfte. Sie wischte ihn weg, hob den Arm und versuchte gedankenverloren, den Rest aufzusaugen.

Sie selbst und ihre Generation berufstätiger Frauen hatten durch weibliche Karriereschmieden dafür gesorgt, solche Schieflagen ein wenig zu korrigieren. Geeignete Strategien und Weiterbildung seien notwendig, sonst würde sich nie etwas verändern. Männer kochten auch nur mit Wasser. Manchmal ließen sie es sogar übergehen, wie die Wirtschaftskrise mit fatalen Folgen gezeigt hatte. Vor allem für die Ärmsten, bis heute.

Doch das tägliche Ringen um Marktanteile war tatsächlich ein hartes Geschäft und forderte viel. Das musste auch Walli Winzer erkennen und als PR-Lady eigenwillige Techniken entwickeln, die mitunter ziemlich rüde sein konnten. Sie war darin äußerst kreativ und erfolgreich. Das mussten auch ihre GegnerInnen anerkennen.

Es gab kaum etwas in Wallis Leben, was sie nicht selbst erlebtund getan hatte oder sich zumindest vorstellen konnte. Sie legte sich stets zügellos ins Zeug. Das war Teil ihres Erfolgs, und sie musste zugeben, dass es ihr richtig Spaß machte, sonst könnte sie es so viele Jahre nicht durchhalten.

Eine wichtige Erkenntnis gab’s auch: Die meisten Wirtschaftsstrategien und das Führen von Konzernen bestehen zum Großteil weniger aus Wirtschafts-Know-how als aus dem geschickten Einsatz von Psychologie. Wie in der Werbung. Und davon verstand Walli nun viel. Das Wort skrupellos wird dabei nicht kleingeschrieben. Im Gegenteil. Die feine Klinge in diesem Metier zu beherrschen, verstand sie erst jetzt so einigermaßen.

Was sie bisher alles erlebt hatte und wie sie vieles durch ihren Scharfsinn, ihre hervorragenden Recherchemethoden, ihren Sinn für Kommunikation, ihren Fleiß und, nicht zu vergessen, ihren Instinkt für Untrügliches vor anderen in Erfahrung bringen zu können, verhalf ihrer PR-Agentur zu Ansehen und lukrativen Aufträgen – und das schon seit langer Zeit.

Walli verband auch immer gerne Berufliches mit Privatem. Ihre aktive Rolle im Beuteverhalten begleitete sie schon seit Studienzeiten. Während ihres Publizistikstudiums hatte sie Thomas kennengelernt. Sein empfindsames, verinnerlichtes Wesen mit einem Schuss Exzentrik hatte sie damals gereizt. Er glaubte an eine bessere und gerechtere Welt, indes Walli doch immer realistischer und strukturierter war als er.

Als späterer Musik- und Biologieprofessor an einer Schule schätzte Walli auch seine Einfühlsamkeit in die pubertären Befindlichkeiten seiner Schülerinnen und Schüler. Doch eines war für Walli immer klar gewesen: Sie wollte keine Kinder. Ihr Ziel war die bedingungslose Freiheit.

Dass sie nach vielen Jahren dann doch noch geheiratet hatten, war ein Kompromiss, den sie Thomas gegenüber eingegangen war. Das rächte sich. Ihrer Beziehung tat das nicht gut. Irgendwann war die Luft draußen, und Walli floh aus der Enge. Ab da, in ihrem neuen Leben, ging die Karriere steil bergauf.

Deshalb hatte sie auch nie darüber nachgedacht, ob sie nicht doch an ihrer Beziehung hätte arbeiten sollen. Was bringt’s? Auch jetzt war es nur ein kleiner flüchtiger Gedanke gewesen, als sie so entspannt auf ihrem Sofa saß nach den strapaziösen Wochen des Umzugs von Wien nach Großlichten, in denen sie vorübergehend bei Freundin Lena übernachtet hatte.

Vor einem halben Jahr hatte sie den Entschluss gefasst, die Agentur zur Hälfte ihrer langjährigen Vertrauten Silvia Manner zu übergeben. Walli wollte noch anderes erleben, als von einem Sitzungstermin zum anderen zu hetzen. Sie war in den besten Jahren, sah immer noch gut aus. Mit einigem strategischen Geschick und weiblichem Instinkt würden bestimmt noch Dates zustande kommen. Sie wollte weiterhin auf alles vorbereitet sein, was ihr die Welt bieten konnte. Doch Walli spürte, dass sie langsam ihre Kräfte zu verlassen drohten und sie etwas dagegen tun musste. War es Erschöpfung, oder bewegte sie sich schnurstracks auf ein Burn-out zu? Irgendwie war da ja noch mehr im Leben als bloß Societyevents und Agenturroutine, die seit langer Zeit ihr Leben bestimmten. Sie wollte, nein, sie musste sich jetzt von den Strapazen der letzten Jahrzehnte erholen und neue Kräfte sammeln.

Das kleine Bauernhaus, eigentlich ein altes Schulgebäude, im gottverlassenen Großlichten im niederösterreichischen Waldviertel war so etwas, was sich Walli bisher nie hätte vorstellen können. Dennoch hatte sie es gekauft – und da war auch noch dieser Kater.

Sein Name war Filou. Sie hatte ihn als Geschenk von Mizzi Troger, einer Freundin Lenas, erhalten. »Denn was wäre ein Landleben ohne Tiere«, hatte ihr die resolute Dame bei ihrem Einstand vorgehalten. Und das ihr, die Verantwortung für alles Lebendige bisher erfolgreich abwehren konnte! Wallis Lichtblick: Eine Katze würde zumindest nicht verhungern, sondern sich durch Mäuse selbst versorgen. Was blieb ihr also anderes übrig, als das miauende Etwas entgegenzunehmen?

2. KAPITEL

Ein schriller Klingelton fuhr Walli Winzer durch Mark und Bein und unterbrach die Morgenruhe. Er gehörte zum alten Festnetz im Haus. Sie hatte es belassen. Denn in ein historisches Gebäude gehörte so etwas, fand sie. Und es war immerhin ein Jahrhunderte altes Schulgebäude, in dem bis in die 1960er-Jahre unterrichtet worden war.

So laut, wie sie das Läuten jetzt hörte, konnte man das mit Sicherheit seinerzeit auch bis in den Schulhof hören. Trotzdem: Hätte Walli gewusst, wie nervenaufreibend so ein altes Bakelittelefon aus 1959 klingen konnte, sie hätte sich vielleicht doch anders entschieden.

»Hallo, Walli!«, schallte es mit herzerfrischender Fröhlichkeit vom anderen Ende der Leitung. »Und – wie lief die erste Nacht im neuen Leben?«

Es war Lena Breitenecker, Wallis beste Freundin, die mit ihrem Mann Hans und den beiden Kindern schon vor fast zehn Jahren nach Großlichten gezogen war. Sie hatten damals kurzerhand beschlossen, das Stadtleben hinter sich zu lassen und den Hof von Lenas Eltern zu übernehmen. Mit großem Erstaunen hatte Walli damals die Entscheidung zur Kenntnis genommen. Verstanden hatte sie diese aber ehrlich gesagt nicht. Denn von Tierhaltung hatten Hans und Lena keine Ahnung. Wie sollten sie dann einen Biobauernhof führen?

Doch wo ein Wille, da ein Weg. Zuerst führten sie die kleine Wirtschaft der Eltern weiter. In Spezialkursen und mit einem neuen Wirtschaftskonzept entwickelten Lena und Hans den landwirtschaftlichen Betrieb mit Kühen, Ziegen und Mohnfeldern langsam und mit großem Einsatz zu einer der modernsten Hightechanlagen des Waldviertels. Nachhaltigkeit mit umweltschonendem Anbau sowie Verarbeitung gingen voraus.

Lena mit ihren sozialen Techniken war immer schon Meisterin des Instrumentalisierens gewesen. Als ehemalige Lehrerin einer Wiener Schule mit hohem Migrationsanteil konnte sie in ihrer Umgebung einiges bewegen. Ihre bunt zusammengewürfelten Klassen profilierten sich. Einige ihrer SchülerInnen engagierten sich zivilgesellschaftlich, und die Klassengemeinschaft galt als vorbildlich. Schließlich hatte sie auch viel in ihrem privaten Umfeld herumexperimentiert, was die meisten ziemlich nervte.

Wie mit Walli hatte sie auch mit Hans nicht immer Erfolg. Er durchschaute viele ihrer Vorhaben. Doch war er immer wieder von ihrer Herzlichkeit und ihrem Idealismus fasziniert. Deshalb unterstützte er sie und half, viele ihrer Ideen und Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Der heruntergekommene alte Bauernhof war sicherlich die größte Herausforderung für die beiden gewesen – auch für ihre Beziehung. Doch nach der Wirtschaftskrise von 2008 verlor der gelernte Wirtschaftsexperte und Bankenprofi Hans Breitenecker alle Illusionen. Der Wunsch und die Idee Lenas, ein eigenes kleines Reich zu betreuen, wo nur sie beide die Spielregeln festlegten, kamen ihm gerade recht – auch wenn es wie Großlichten in einer ziemlich abgelegenen Ecke Österreichs war. Es war keine Weltflucht, die Hans und Lena packte, sondern der unbändige Wille und die Kraft, etwas Neues und Sinnvolles angehen zu wollen. Etwas, das schon lange in ihnen gereift war und wofür sie nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten mussten.

Immer noch saß Walli Winzer der laute Klingelton des Telefons in den Gliedern. Dass sie die Lautstärke zurückdrehen würde, stand fest. Vor Lena wollte sie allerdings nicht das schreckhafte Stadtkind geben.

»Ist wirklich alles okay?«, erklang es nochmals aus der Leitung. Diesmal schon etwas besorgter, da Walli zunächst einige Sekunden wortlos verstreichen ließ.

»Alles bestens. Muss mich erst selbst an diese absolute Stille gewöhnen«, säuselte Walli, die sich nun wieder gesammelt hatte. »Ich hätte nie gedacht, dass mir dieses monotone Stadtbrummen fehlen würde. Im Sommer war in Wien der Geräuschpegel ab sieben Uhr am höchsten. Alles war auf dem Weg zur Arbeit. Auf den Wecker musste ich da nicht extra schauen. Ich wusste, wie spät es war. Dass ich das allerdings gegen das Rauschen der Tannen- und Fichtenwälder und ab und zu dem Tuckern eines Traktors aus der Ferne eingetauscht habe, bereue ich nicht, falls du das von mir hören willst.«

»Ich finde deine Entscheidung mit dem alten Schulhaus heute noch super.«

Walli dachte kurz nach, ob ihr in der Vergangenheit etwas entgangen sein könnte und sie sich etwa wieder hatte manipulieren lassen. Aber ihr Puls blieb ruhig. Ein Beweis dafür, dass es doch ihr eigener Entschluss gewesen war.

»Ganz ehrlich, ich weiß zwar noch nicht ganz, wo ich alles im Haus finde, aber ich nehme an, dass sich das bald geben wird. Der Stilmix aus alten Möbeln und modernem Luxus ist jedenfalls gelungen. Ich fühle mich wohl und könnte mich hier fast einbunkern.«

»Auch eine Möglichkeit!«, freute sich Lena über die gute Stimmung Wallis.

»Doch ehe du dich ganz der Schwärmerei hingibst, möchte ich dich an deinen heutigen Fixtermin erinnern. Vor einer Woche hast du uns zugesagt, an den Vorbereitungen zur Spendensammlung für mein geplantes E-Carsharing Projekt mitzuhelfen.Ich hoffe, du hast das nicht vergessen, meine Liebe«, klang Lena Breitenecker sehr bestimmt. Sie wusste nämlich, dass Walli gar nicht begeistert von der Sache war, im tiefsten Waldviertel zu Tätigkeiten vergattert zu werden, für die sie in Wien angemessen bezahlt bekam und von denen sie sich jetzt zumindest auf einige Zeit distanzieren wollte.

Walli hatte die Sache natürlich verdrängt oder wollte sich zumindest so lange wie möglich taub stellen. »Ach ja, heute ist das? Ich hätte jetzt die Tage vertauscht. So schnell geht das, wenn man den Kalender nicht mehr vor sich hat«, schwindelte Walli ein bisschen.

»Wir treffen uns in Hannes seiner Stubn zum Graumohnstrudel-Backen. Den wollen wir ja beim Fest verkaufen. Einige Frauen und Männer aus dem Ort werden auch dabei sein.«

»Was heißt das: ›in seiner Stubn‹? Wo soll das sein?«

»Der Lechner Hannes hat jetzt an sein Wirtshaus und seine Bäckerei eine sogenannte Lehrbackstube dranbaut. Das mit dem Germteig is schließlich net so einfach. Er soll ja so richtig schön aufgehn. Die Leut im Waldviertel können das alle. Aber die Wochenendhäusler, die Gäst bei uns und die Jungen, die wissen das nicht mehr. Alle haben den Hannes immer g’fragt, bis er es ihnen gezeigt hat. Jetzt bringt er es allen bei, die’s lernen wollen. Das macht er acht Mal im Jahr und auf spezielle Anfragen als Incentive bei Tagungen oder Firmenfesten.«

»Und da kommen Leute?« Walli konnte solchen Kochehrgeiz nur schwer nachvollziehen. Sie hielt es eher mit: essen ja, kochen nein.

»Und wie! In Scharen, sage ich dir!«, tönte es vom anderen Ende der Leitung. Walli glaubte dem nicht so sehr, denn sie erinnerte sich nur zu gut an ihre unzähligen Werbetelefonate. Die eigene Begeisterung sollte den Gesprächspartner mitreißen. Nur mit dem Unterschied: Lena war von diesem Projekt wirklich begeistert und genoss sichtlich den Gedanken ans Backvergnügen.

»Wann geht’s los?«, ließ sich Walli breitschlagen.

»Wir starten um 15.00 Uhr, damit wir bis zum Abend möglichst viele Waldviertler Spezialitäten schaffen. Verkauft wird dann morgen Vormittag beim Sommerfest«, gab sich Lena zuversichtlich.

»Übrigens, auch Frau Brunner, die Frau des Bürgermeisters, freut sich, dich kennenzulernen. Wie jemand aus der Stadt in dieses kleine Nest ziehen kann, ist ihr nach wie vor schleierhaft. Doch es ist wichtig, dass du mit ihr bekannt bist, weil viele Kontakte des Ortes über sie laufen. Sie ist, wie du dir vorstellen kannst, die Drehscheibe für Klatsch und Tratsch. Etwas, was man manchmal durchaus brauchen kann und was dir ja auch nicht ganz fremd ist, meine Liebe«, stichelte Lena.

»Also wirklich, was soll ich dazu sagen!«, entrüstete sich Walli. »Was hältst du von mir?«

»Nur das Richtige!«, unkte Lena weiter. »Du wirst sehen, es wird dir Spaß machen. Und als Überraschung gibt es auch einige interessante Zeitgenossen hier in der Waldviertler Pampa.«

»Na, darauf bin ich neugierig.«

»Du findest mich am Biobuffet beim Spendeneintreiben und Brote streichen. Das gibt’s nämlich auch. Bis dann!«

3. KAPITEL

Wieder hatte sie sich etwas aufschwatzen lassen. Irgendwie war Walli sogar zornig auf Lena – aber vor allem auf sich selbst. Beruflich konnte sie so gut Nein sagen, doch privat ließ sie sich immer wieder breitschlagen. Und Lena hatte das besonders gut drauf wie schon während der gemeinsamen Schulzeit. Walli Winzer spürte so ein bekanntes Kribbeln in sich hochkommen, das sich immer dann bemerkbar machte, wenn sie knapp vor dem Ausflippen war. Dachte sie aber daran und konzentrierte sich darauf, verflog es wieder. Zuweilen musste sie sogar darüber lachen – wie auch jetzt.

Nicht nur der laute Klingelton, sondern auch Wallis kurzes inneres Knurren rief Meister Filou auf den Plan. Im Katzenschritt, tänzelnd wie eine Feder, schwebte er aus dem hintersten Winkel des Zimmers lautlos auf Walli zu. Sie wollte sich gerade umdrehen und stolperte fast über ihn.

Sie erinnerte sich daran, dass sie dem Kater noch kein Frühstück hingestellt hatte. »Hallo, ich habe gedacht, Landkatzen jagen Mäuse und streichen nicht dauernd bettelnd um die Beine ihrer Menschen. Wie soll man da Tiere artgerecht halten, wenn sie sich das Leben erleichtern, indem sie die Nahrungssuche ins Wohnzimmer verlegen?«

Filou schaute sie fragend an. Er saß artig wie eine Porzellankatze und blickte Walli mit großen Unschuldsaugen an, als könnte er sie nicht ganz verstehen, was bei Katzen meist strategischer Bluff ist. Kurz simulierte er mit seiner Mimik, nachdenken zu wollen. Im gleichen Augenblick schien er auch den Entschluss zu fassen, die Gedanken seiner neuen Besitzerin aufzugreifen, um sie natürlich völlig umzumodeln. Mit großen Kulleraugen, das Köpfchen schief und ein kleines Lächeln auf den Katzenlippen, so sah es zumindest aus. Ein flüchtiger Augenblick nur, und Filou – sein Name sprach Bände – hatte Wallis Herz erobert.

Irgendwo habe ich gelesen, dass es in Österreich und in Deutschland mittlerweile zu wenige Mäuse für zu viele Katzen geben soll. Vielleicht ist das aber auch nur ein Gerücht, das die Tierfutterindustrie streut. Die Zeitungen recherchieren ja nicht mehr gut genug, und die KonsumentInnen glauben, was Konzerne PR-mäßig verbreiten, ging es Walli durch den Kopf.

Sie kannte solche Strategien ziemlich gut und war erstmals froh, nicht mehr für so etwas verantwortlich sein zu müssen. Auch wenn sie immer noch mit einem Fuß in der PR-Branche stand, eines hatte sie mit Silvia Manner bereits gemeinsam entschieden: Totale Verdummungs-PR wollten sie in ihrer nunmehr gemeinsamen Agentur nicht mehr machen. Silvias Lebensgefährtin war Malerin und hatte sie, nicht zuletzt mit einem fulminanten Ausstellungskonzept, von Nachhaltigkeit überzeugt.

Filou allerdings war Wallis neue Erkenntnis sichtlich egal. Er saß immer noch starr aufblickend vor ihr, als wolle er sie weiterhin an ihr Vorhaben erinnern. Jeder ihrer Schritte wurde von ihm genau überwacht. Taktisch blieb der neue kleine Mitbewohner so lange auf seinem Platz sitzen, bis seine Besitzerin irgendwann wieder auf ihn aufmerksam wurde. Wir Katzen haben etwas, was ihr Menschen nicht habt: Zeit, schien Filou felsenfest überzeugt.

Und genau das war im Moment Wallis Problem. Zeit war ohnehin Mangelware. Dass sie heute noch etwas Wichtiges vorhaben würde, damit hatte sie nicht gerechnet, sondern war auf einen ruhigen, gemütlichen Tagesbeginn eingestellt gewesen. Stattdessen hieß es jetzt, freundliche Nasenlöcher zu machen und Lena bei ihrem Projekt zu unterstützen. Doch ehrlich gestanden fand sie die Idee ja wirklich gut und war bereit, dafür ihr Bestes zu geben – auch wenn es heute nur ihre mehr als bescheidenen Backkünste sein würden.

Doch – wumm!

Shit! Jetzt war es so weit.

Kurze Stille.

Filou hatte sie zuvor gewarnt, und sie hatte nicht darauf reagiert.

Walli flog mit einem Satz an ihm vorbei, direkt auf den Teppich. Sie kam seitlich zu liegen.

»Sag, kannst du dich nicht wegbewegen? Musst du hier stehen bleiben?«, polterte sie drauf los, um im gleichen Moment froh darüber zu sein, dass weder ihr noch dem Kater etwas Ernsthaftes passiert war.

Filou schlich sich mit aufgestelltem buschigem Schweif fort. Seine Mimik verriet nun doch etwas Schuldbewusstes.

Mit großen Katzenaugen bat er um Vergebung und hoffte, dass seine Zielperson jetzt gelernt hätte, dass auch die Geduld von Katzen nicht überstrapaziert werden durfte.

Walli hatte verstanden, ging zum Vorratsschrank und holte eine Fertigschale mit Biorind heraus. Lena hatte ihr gleich einen ganzen Schwung an Katzenköstlichkeiten mitgegeben, auch wenn echtes Fleisch unersetzbar blieb. Doch für solche Überlegungen hatte Walli jetzt wirklich keine Zeit.

Viel mehr beschäftigte sie der Gedanke, was sie heute für ihren gesellschaftlichen Einstand in Großlichten anziehen sollte. Na ja, eigentlich handelte es sich großteils um Lenas befreundeten Förderkreis des E-Carsharing-Projekts. Es war also kein offizieller Anlass, aber es hinderte Walli nicht daran, sich als Neuankömmling ins rechte Licht rücken zu wollen.

4. KAPITEL

Es war Punkt 14.00 Uhr. Die Großlichtener schienen es mit der Zeit nicht so genau zu nehmen. Denn als Walli die Bäckerei betrat, waren überraschenderweise viele schon da und mit Feuereifer bei der Sache. Offensichtlich wussten die meisten, was zu tun war. Walli wusste es nicht und lehnte sich vorerst an den malerischen Stützpfosten im Eingangsbereich, der mindestens 300 Jahre alt sein musste. Nach der Gesamtrenovierung war er neu eingebaut worden. Von hier aus hatte sie einen guten Überblick über die Backstube.

Es gab dicke Wände in dem alten Gebäude mit kleinen Sprossenfenstern. Die dunkle alte Holzdecke des Raums ließ die vergangenen Zeiten lebendig werden, und der abgetretene Schiffboden machte die Backstube erst so richtig heimelig. Trockenblumendekorationen aus Mohnkapseln erinnerten an das berühmte Gold des Waldviertels. Sie waren mit echten Wiesenblumen und historischer Backgerätschaft kombiniert und hingen an den Wänden. Ein echter Feuerofen in der Mitte war das optische Herzstück des Raums. Malerisch wie eine archaische Feuerstelle markierte er das Zentrum des Geschehens. Um ihn herum gruppierte sich eine Menge Menschen, um beim Backen mitzuhelfen oder bloß zuzusehen. Sie mussten eindeutig Nostalgiker sein, dachte Walli.

Den Backprofis stand für ihren Strudel die perfekte Backtemperatur des neuesten E-Herds in Hightechqualität zur Verfügung. Er stand ganz hinten an der Wand.

Wallis Kochkünste waren eher bescheiden, so auch ihr Backtalent. Doch diese Höllenmaschine lockte sogar sie. Damit soll ja alles viel schneller gehen, und darüber hinaus spart man nicht nur Zeit, sondern auch Energie. Das wollte sie gleich alles selbst ausprobieren.

Kochprofi Hannes Lechner hatte sich für seinen kulinarischen Tempel in ziemliche Unkosten gestürzt. Die Schnittstellen von Zu- und Anbauten in der Bäckerei waren auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Stilistische Brüche in der Architektur waren behutsam vorgenommen worden. Es passte alles stilsicher zum übrigen Mauerwerk der ältesten Backstube der Umgebung, stellte Walli fest. Sie blieb weiterhin seitlich stehen und nahm die Atmosphäre auf.

Hannes, Anfang 40, war immer schon einer gewesen, der gerne gegen den Strom schwamm, das wusste Walli von Lena. Er war das schon zu einer Zeit, als man hier für eigenwillige Gedanken noch zum Sonderling gestempelt wurde. Sein Vater, auch Bäcker, war vom alten Waldviertler Schlag gewesen: konservativ, katholisch, traditionell, wie es hier, im entlegensten Winkel des südlichen Waldviertels, üblich war.

Die Weite der Wälder und Fluren und die Abgeschiedenheit mancher Bauerhöfe schien über die Zeiten hinweg mehr das Zwiegespräch mit dem Allmächtigen als der Menschen untereinander gefördert zu haben, ging es durch Wallis Kopf. In besonderen Fällen korrespondierten sie sogar lieber mit Elfen und Kobolden, hatte sie irgendwo gehört.

Walli hegte allerdings den Verdacht, dass solche mystischen Geschichten einigen findigen Tourismusmanagern eingefallen waren, um die spröden Eigenheiten einiger Einheimischer zu erklären.

Dass sich jedenfalls mehr in den Köpfen der WaldviertlerInnen abspielte, als sie nach außen hin zeigten, bewies nicht nur ihre Wortkargheit, sondern auch ihre Neigung zu Geheimnissen.

Hannes Lechner durchbrach alle Klischees. Und das eher unbewusst. Er war herzlich, beredt, voll Ideen und getraute sich so manches. Seine Umgebung bewunderte ihn inzwischen. Denn mittlerweile war er zu einer lokalen Berühmtheit geworden.

Begonnen hatte alles mit einem Preiskochen im Fernsehen. Er bewarb sich bei einer Kochshow und gewann den Wettbewerb mit dem uralten Graumohnstrudelrezept seiner Oma.

Backbegeisterte wollten daraufhin diese Waldviertler Spezialität nachbacken. Interessenten meldeten sich aus Deutschland, Tschechien, Linz und Wien. Hannes Lechner mietete sich daraufhin in eine Kochschule in der Wiener Innenstadt ein und alle, die wollten, konnten mitmachen. Bald schon musste er sich allerdings eine effizientere Organisation seiner Kochseminare einfallen lassen. Denn die ständigen Fahrten nach Wien strengten ihn nicht nur körperlich an, sondern lähmten produktionstechnisch auch seinen Back- und Wirtshausbetrieb, in dem er während solcher Zeiten nicht mitarbeiten konnte. Das aber war sein Tagesgeschäft, die Umgebung mit Brot und Semmeln zu beliefern und für ArbeiterInnen und TouristInnen Mittagsmenüs anzubieten. Abends wechselte er seit Kurzem zwischen Stammwirtshaus im Ortszentrum und dem neuen Haubenlokal im prominenten Gestüt »Sonnblick« hin und her. Er legte sich wirklich ins Zeug, der Hannes.

Spaß machten ihm aber weiterhin die Übungsbackkurse. Sie liefen seit Jahren gut und hatten den Nebeneffekt, dass mittlerweile das ganze Jahr über auch seine vier Gästezimmer belegt waren. Sonst waren sie im Sommer nur bei Wanderern und Mountainbikern gefragt gewesen.

Walli blickte in die Runde. Es dauerte einige Zeit, bis sie Lena entdeckte. Und die war hier in ihrem Element, dachte sie. Sie packte eifrig zu und schleppte einen Stapel Eiertassen aus dem Nebenraum herein.

»Hallo, Walli, schön, dass du gekommen bist!«, rief sie erfreut. Scheinbar hatte Lena nicht wirklich mit der Freundin gerechnet.

»Die Mizzi Troger kennst du ja.« Lena reichte Mizzi die Eiersteigen weiter. »Die Mizzi ist übrigens auch seit letzter Woche unsere neue Vorsitzende des Dorfverschönerungsvereins, und das ist ihre Tochter Sandra, die beste Freundin meiner Lisa.«

Wie gerufen bogen die beiden 16-Jährigen um die Ecke, waren aber so ins Gespräch vertieft, dass sie das, was um sie herum passierte, nicht wahrnahmen.

»Grüß Sie! Haben Sie sich denn schon eingelebt?«, fragt Mizzi Troger. Sie war eine große, schlanke Frau Mitte 40.

»Ich bin so langsam dabei. Muss erst die einzelnen Flecken und Örtlichkeiten kennenlernen. Auch bei mir zu Hause bin ich noch fleißig am Suchen. Es braucht noch a bissl«, smalltalkte Walli in versucht holprigem Waldviertlerisch. Das Gespräch wurde unsanft unterbrochen, als ein junger Mann forschen Schrittes auf sie zukam, doch dabei torkelte und Walli ziemlich unsanft anrempelte.

Sein Riesentablett mit einer ganzen Mohnstrudelpartie konnte er gerade noch retten. Walli zerriß er durch den heftigen Fußtritt die neuen Wolford-Netzstrümpfe, die sie lange Zeit vor dem Spiegel passend zum Kleinen Schwarzen ausgesucht hatte. Zugegeben war ihr Outfit zum Strudelbacken etwas unpassend, doch Walli wollte sich blicksicher in Szene setzen.

»Geh’ Nico! Musst du immer unsere Gäste so schoarf angehen?«, amüsierte sich eine ältere etwas untersetzte Frau mit lustigen Augen und hochgestecktem Haarknoten.

»Rosa, lass’ eam halt. Des is eam do passiert und hot er net absichtlich toan«, lockerte eine andere namens Vroni die Situation.

Diese Aussage linderte weder Wallis stechenden Schmerz im linken Wadenbein noch die Laufmasche ihrer sündteuren Strumpfhose.

Sie fühlte ein inneres Brennen aufsteigen, wie sie es schon lange nicht gespürt hatte. Früher hätte sie daraufhin losgebrüllt. Doch jetzt, nach langen Jahren des autogenen Trainings, hatte sie gelernt, mit ihren Emotionen umgehen. Sie presste sich ein verständnisvolles verkrampftes Lächeln ab – und schwieg.

»Oh, das tut mir schrecklich leid. Wie soll ich das wieder gut machen?«, bemühte sich der junge Mann, die Situation noch irgendwie zu retten. Bevor Walli noch antworten konnte, stürmte Lena um die Ecke und antwortete an ihrer Stelle: »Nico, an Wallis Edeldessous wirst du so leicht nicht herankommen, da sie nur die von Agent Provocateur bevorzugt. Und die müsstest du übers Internet bestellen. Du kannst aber unser neues Gemeindemitglied einmal zum Kaffee nach Zwettl oder Gföhl einladen oder dich über die Obstbäume in ihrem Garten hermachen. Die benötigen sicher einen Pflegeschnitt.«

Walli sah Lena fassungslos an. Sie hätte nicht gedacht, dass sich feinste Netzstrümpfe so einfach gegen Baumschnitt oder Kaffee eintauschen ließen. Nach Sekunden der Stille – was bei Walli normalerweise selten vorkam – und einem vielsagenden Blick verspürte sie einen weiteren Tritt auf ihrer rechten Wade, der diesmal aus Lenas Richtung kam. Er war jetzt in der Art, wie sie ihn noch aus ihrer beider gemeinsamer Schulzeit her kannte. Er hatte Walli immer dann getroffen, wenn sie besser ihr Temperament zügeln sollte. Und das war jetzt eben auch der Fall gewesen. Als Team waren die beiden Freundinnen immer schon unschlagbar.

Walli rückte daher ihren Tonfall zurecht: »Ach, das macht doch nichts. Es ist ja nur eine Laufmasche«, log sie und spürte einen unaufhörlich pochenden Schmerz. Sie hatte das subjektive Gefühl, als würde ihr ein gewaltiger Blutstrom das Bein runterfließen. Doch keiner der anderen sagte etwas, weshalb es wohl nicht so sein konnte. Walli atmete tief durch und beschloss, nicht mehr daran zu denken.

Ihr fiel auch ein, dass Lena sie bereits Tage zuvor darauf aufmerksam gemacht hatte, dass heute ein Großteil der Dorffrauen zusammenkommen würde, nicht nur, um zu backen, sondern auch um sie kennenzulernen. Haltung zu zeigen, war daher angesagt! , dachte Walli. Sie verhielt sich also gezwungen freundlich und unterdrückte ihren Groll. Der Lümmel hätte seine Augen offen halten sollen, ärgerte sie sich ein letztes Mal.

Nico Salmer, der die ganze Zeit über das schwere Backblech in der Hand gehalten hatte, machte nochmals eine betroffene Geste und verabschiedete sich schnell, um der peinlichen Situation zu entfliehen. Er war ein sportlicher junger Mann, groß mit dunkelblonder Sturmfrisur.

»Mit dem Nico wirst du noch oft zu tun haben, Walli«, war Lena sichtlich erleichtert, die Situation wie in alten Zeiten gemeinsam gemeistert zu haben. »Er ist unser Postbote und ein sehr netter, hilfsbereiter Kerl. Und diskret ist er auch. Bei allem, was der weiß, kommt nichts über seine Lippen. Ab und zu, wenn die Männer unterwegs sind und arbeiten, hilft er bei kleinen Reparaturen aus. Es ist also ganz nützlich, wenn du es mit Gelassenheit genommen hast. Ihm hat das wirklich leidgetan. Übrigens, ungewöhnlich, dass er so tollpatschig war«, kicherte Lena augenzwinkernd und war auch schon wieder weg.

Walli spürte, wie der Schmerz ihrer Wade langsam nachließ, und beschloss, doch noch etwas zu bleiben und Lenas Rat vom »hart im Nehmen« umzusetzen. Immerhin wollte sie jetzt längere Zeit auf dem Land verbringen. Und da hieß es, neue Sitten und Gebräuche anzunehmen. Und das Waldviertel kam Walli gegenüber dem Moloch Wien nun schon wirklich wie eine andere Welt vor.

»I bin die Rosa Grandl. Woin S’ a bei uns a bissl mittuan?«, riss eine Stimme im Hintergrund Walli aus ihrem inneren Monolog. »Die Lena hot mi gebeten, Ihna so a Stückl Teig in die Hand z’ druckn. Kommen S’ zu uns zum langen oidn Kuchltisch. Do können ma z’sammen auswalken.«

Gesagt, getan. So schnell konnte Walli gar nicht schauen, stand sie schon mit Schürze über dem Kleinen Schwarzen am Küchentisch und knetete.

Sie konnte sich wirklich originellere Situationen vorstellen, doch es war ja schließlich für einen guten Zweck. Und der kam vor allem jenen Frauen zugute, die jetzt um sie herum standen.

Viele von ihnen lebten seit mehreren Generationen im Ort und waren nur wenig herumgekommen. Das Einkaufsziel war für die meisten Gföhl. Für speziellere Einkäufe fuhr man nach Zwettl. Für Wien hatten die meisten wenig übrig. Vielleicht nur deshalb, weil sie es nicht kannten. Zur Schulzeit gibt und gab es zwar für alle Schülerinnen und Schüler eine verpflichtende Wienwoche, doch viele überzeugte das nicht. Sie blieben Großstadtmuffel.

Nun standen acht Frauen um Walli herum, die wenig miteinander sprachen. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass sie sich schon ewig kannten, und sie einander deshalb nichts mehr zu erzählen wussten.

Oder es passierte hier nichts? Auch eine Möglichkeit.

Walli beobachtete, wie sie selbst in eine gewisse Wortkargheit, ja fast Wortlosigkeit verfiel. Eine Seite, die sie sonst nicht an sich kannte. Ihr hektisches Großstadtleben hatte ihr dieses Loslassen vom Alltag in der Vergangenheit nicht gestattet und keinen Platz mehr für Ruhe und Langsamkeit eingeräumt. Deshalb war sie allerdings hier, um das zu ändern, und hatte sich das alte Schulhaus gekauft.

Walli merkte, wie das monotone Kneten des Teigs sie merklich zu entspannen schien. Nicht zuletzt gingen ihr deshalb solche Gedanken durch den Kopf, die sie schon lange nicht gehabt hatte.

So wie sie war, völlig überreizt von den vielen Eindrücken einer Großstadt, vielleicht fehlten genau solche Impulse manchen Frauen in Großlichten. Sie rackerten sich jahraus, jahrein für ihre Familien und für die Dorfgemeinschaft ab. Und wo blieb ein wenig Zeit für sie selbst? Aber was dachte sie denn! Das ging sie nun alles rein gar nichts an.

Walli war da, um Lena beim Mohnstrudelbacken zu helfen, damit ein E-Car für die Gemeinde angeschafft werden konnte. Eben. Alle durften dann damit fahren. Punktum.

Walli spürte, dass sie dieses städtische Lebensgefühl, das sie so instinktsicher durch jede PR-Kampagne führte, zurückfahren musste, wollte sie sich hier gut einleben. Und diese Frage hatte sie auf lange Sicht noch keineswegs für sich geklärt.

5. KAPITEL

»Nie hätt’ ich mir gedacht, dass der Wanninger Karl so viel Geld lockermacht für a Zuchtlamm. Sonst kauft der doch nur das billigste Vieh z’samm, das er kriegen kann und dann sowieso vom Stall gleich zum Schlachter führt. Die haben doch nie a Grün g’sehn«, schüttelte der Schlager-Bauer den Kopf.

»Tja, der macht jetzt auf anders. Der kauft billig Weidegrund zusammen und stellt seine Viecher drauf. Früher hat er sie nur im Stall stehen gelassen«, sagte ein anderer.

»Das därf er jetzt nimma, des Gesetz verbietet ihm das«, ergänzte ein kräftiger Mann und nickte dabei bedeutsam.

Mehrere Bauern aus Großlichten und Umgebung standen mit einem Bierglas in der Hand beisammen. Die Gruppe war nur eine von vielen beim bunten Treiben am Wiesenfest. Ihr Gespräch war dem Wetter angepasst – hitzig.

»Man muss sagen, der hat Glück gehabt und wenigstens jemanden g’funden, der ihm die Wiesen billig verkauft hat. Die meisten warten darauf, ob sie zu Baugrund umgewidmet werden und verkaufen dann an Immobilienfirmen, die zusammenkaufen, was das Zeug hält. Sie zahlen halt mehr.«

»Jo, des is aber immer no net so viel. Daher muss man wach bleiben, dass unsere Almen und unser Ackerland nicht schon bald weg sind wie viele Steppen in Afrika. Dort werden die Leute aus ihrer Heimat vertrieben, weil korrupte Politiker über deren Köpfe hinweg Grund und Boden verkaufen und sich bereichern. Globalisierung nennt man das. Ganze Landstriche werden billigst von Konzernen aufgekauft«, stellte Hans Breitenecker grimmig fest.

Einige Neugierige hatten sich inzwischen dazugestellt.

»Große Konzerne haben es jetzt erst einmal auf Bodenschätze in den Entwicklungsländern abgesehen, um die geht es ihnen vor allem. Später dann werden sie das Land zerstört zurücklassen. Denn bisher gibt es dort weder Umweltauflagen noch Kontrollen«, fuhr Hans Breitenecker fort.

»Und so etwas haben wir Bauern derzeit viel zu viel. 100 Jahre lang hat meine Familie den Käse nach einem eigenen Familienrezept gemacht. Niemand ist je davon krank geworden. Heute erlauben die Gesetze das nicht mehr, und es gibt ständig neue Auflagen und fast keine Förderungen«, erzählte der Alois Schlager.

»Jo, und du weißt ja als ehemaliger Banker, wie des geht und was die da oben machen. Gut, dass du noch amol die Kurve gekratzt hast«, nickte einer der Bauern Hans Breitenecker zu.

Hans kniff seine Lippen zur Zustimmung zusammen: »Auch fast in letzter Minute. Ich kann mir jetzt nichts Schöneres vorstellen, als selbst Bauer zu sein.«

»Gibt’s da a Verschwörung, weil ihr alle beisammen steht?«, lästerte ein bereits ziemlich angeheiterter junger Mann aus der Zuhörergruppe. Die drückende Hitze samt Bier hatte sichtlich seine Sinne getrübt.

»Geh’ Franzi, gib a Ruh und hör zum Saufen auf!«, konterte ein Gleichaltriger und versuchte, ihn aus der Gruppe wegzuziehen.

»Ich glaub, der is seit gestern Abend nicht mehr nüchtern«, rief ein anderer.

Daraufhin rempelte der Franzi den Lästerer an, weshalb dieser zu Boden ging und lachte.

»Bist ang’rennt?«, kam es postwendend wenig verständnisvoll zurück.

Der zu Boden Gegangene stand auf und warf sich heftig auf den Franzi, der gerade nach seinem Bierglas greifen wollte, das verschüttet in der Wiese lag. Er packte ihn am Hemdkragen, zog ihn hoch und wirbelte ihn im Kreis herum.

»Hörst auf, du Dolm?«, kreischte der Franzi und versuchte wankend, nach hinten zu greifen, um seinen Angreifer zu fassen, was ihm nicht so leicht gelang.

Hans Breitenecker und Nico Salmer stürzten sich auf die beiden, nachdem die Sache noch mehr zu eskalieren drohte. Eine typische Kirtagrauferei bahnte sich an. Es gelang ihnen, die Streitenden aus der mittlerweile engen Verkeilung zu lösen.

»Is jetzt endlich Schluss!«, brüllte Hans. »Das soll ein Fest und kein Ringkampf werden!«

Inzwischen war auch Dorfpolizist Sepp Grubinger geholt worden. Ein großer, etwas untersetzter Mann mit sanftem Blick. Er strahlte Ruhe aus und ließ sich von so einer Begebenheit keineswegs aus der Fassung bringen.

Mit routinierter Geste verstand er es, die Angeheiterten auf Abstand zu halten.

Auch einige Männer und Frauen der Freiwilligen Feuerwehr waren nun dazu gekommen.

»Es is eh nix!«, sagte er knapp und deutete mit einer Handbewegung die Bedeutungslosigkeit der Situation an.

Erfreut nahmen es alle Umstehenden zur Kenntnis und verliefen sich auf der großen Wiese.

Während sich das Gespräch weiter um die angespannte Situation der Bauern in der Region drehte, hatte es Walli Winzer an diesem sonnigen Julitag vorgezogen, zu Fuß von ihrem alten Schulhaus auf einem Feldweg über den kleinen Hügel Richtung Veranstaltung zu gehen. Es war der kürzere Weg dorthin und verlief fast parallel zur Bundesstraße.

Das kräftige Grün der saftigen Wiesen mit Margeriten, Kornblumen und blühendem roten, rosa und weißen Mohn hatte ihr immer schon gefallen. Die gelegentlichen Besuche bei Lena und Hans waren in ihrer Erinnerung stets damit verbunden gewesen. Waldviertel und Sommer gehörten in ihrer Vorstellung zusammen, denn andere Jahreszeiten hatte sie hier bisher nicht erlebt.

Die Festwiese lag am Ende des Orts. Eine Flut von Autos säumte den großzügig abgesperrten Bereich. Bunte kleine Figuren bewegten sich emsig um die aufgestellten Bänke und Tische. Als gäbe es darin Routine, wusste jeder, was zu tun war, und die Blasmusik der Trachtenkapelle wurde immer lauter, je näher sie kam.

Walli blieb kurz stehen und ließ die Szene auf sich wirken. Großlichten konnte also wirklich eine kleine Festgemeinde aufstellen. Sie hatte es Lena und den anderen Veranstalter­Innen des Charity-Events gewünscht, aber nicht im Ernst damit gerechnet, dass so viele daran teilnehmen würden.

Denn meist hatte sie niemanden gesehen, wenn sie tagsüber ins Ortszentrum ging. Entweder hatten die Leute so viel zu tun, weshalb sie niemanden auf der Straße treffen konnte, oder, kam ihr auch langsam der Verdacht, die Bevölkerung wich ihr, der Fremden, ganz bewusst aus.

Nicht selten beobachtete sie, wie eine Gestalt aus dem Kräutervorgarten ins Hausinnere huschte und sich kurze Zeit später die weißen Vorhänge leicht bewegten.

Sie ärgerte sich darüber.

Gerne würde sie mit den Leuten plaudern. Doch sie war eben eine »Zuagreiste«, wie man Nicht-Großlichtener nannte. Und die war man hier nicht gewöhnt – trotz Fernsehen und Zeitungen.

Außer Lena und Hans kannte sie niemanden. Ihr Auftritt gestern in der Backstube war auch alles andere als glanzvoll gewesen. Walli spürte, wie ihr die Erinnerung daran noch immer die Röte ins Gesicht trieb. Dabei war sie ja sonst nicht so schüchtern. Doch schien ihr, das Leben auf dem Land irgendwie verklemmt zu sein, oder wurde es nur sie zunehmend?