Stille Nacht, keiner wacht - Maria Publig - E-Book

Stille Nacht, keiner wacht E-Book

Maria Publig

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Schnee, Stille und Frieden. All das wünscht sich die Wiener PR-Lady Walli Winzer, als sie ihr Haus im Waldviertel betritt. Doch dann winkt ihr ein neuer Auftrag: Sie soll eine globale Friedensausstellung betreuen. Dabei lenkt sie ein attraktiver Weihnachtsmann ab, der auch das Faksimile von „Stille Nacht“ bewacht. Aber der Mann im roten Mantel macht anderen Frauen ebenfalls schöne Augen. Und kurz darauf liegt der Frauenschwarm tot im Sägewerk. Das war’s mit Stille und Frieden für Walli.

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Maria Publig

Stille Nacht, keiner wacht

Weihnachtskrimi

Zum Buch

Waldvierteltod Schnee, Stille und Frieden. All das wünscht sich die stressgeplagte Wiener PR-Agentin Walli Winzer, während sie mit Kater Filou ihr Wochenendhaus im Waldviertel betritt. Als gleich darauf ein attraktiver Weihnachtsmann an der Tür klingelt, ist sie vollends begeistert. Nicht nur von ihm, sondern auch von dem Auftrag, der sie erwartet: Sie soll eine globale Friedensausstellung zur Wirkungsgeschichte des berühmten Liedes „Stille Nacht“ betreuen. Der Hobby-Weihnachtsmann arbeitet als Security und bewacht das Original, das sich seit einer Auktion in einem Waldviertler Safe befindet. Auf dem Weihnachtsmarkt macht er allerdings auch anderen Frauen schöne Augen. Und nachdem der Glühwein die Sinne eifersüchtiger Ehemänner benebelt hat, liegt der Weihnachtsmann enthauptet auf dem Gelände des Sägewerks. War es Eifersucht? Geplantes Kalkül? Ein neuer Fall für Walli Winzer und Dorfpolizist Sepp Grubinger.

Maria Publig wurde in Wien geboren und verbrachte mit ihrer Familie viele Sommer im südlichen Waldviertel. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Journalistin für Tages- und Wochenzeitungen. Später wechselte sie als Moderatorin und Redakteurin in den ORF. Bevor sie sich dem Krimischreiben zuwandte, schrieb sie Kultursachbücher, die international ausgezeichnet wurden. Wovon sie überzeugt ist: Für gute Gedanken und Kreativität muss man sich Zeit nehmen. Die gönnt sie sich zwischendurch – ziemlich oft im Waldviertel.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © fotofrank / AdobeStock

und paranormal / shutterstock

ISBN 978-3-8392-7318-0

1. Kapitel

Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Viele in der Wiener City hatten dadurch gute Stimmung. Das jedoch war nicht der Grund allein.

»Frohe Weihnachten wünsche ich dir jetzt schon! Falls wir einander nicht mehr sehen sollten.«

Eine junge Frau mit Studentenrucksack winkte einem gleichaltrigen Mann zu, stieg danach auf ihr Fahrrad und fuhr los. Im vorweihnachtlich dichten Gedränge am Graben streifte sie einen älteren Herrn im feinen Wollmantel. Er lächelte erschrocken, entschuldigte sich, indem er die Hände schuldbewusst hob, und sah nochmals zurück zu seiner jüngeren Begleiterin. Offenbar konnte er sich nur schwer von ihr trennen. Die Frau lächelte verhalten, zeigte aber sonst keine Reaktion und blieb am Punschstand stehen.

Normalerweise wäre der Blick der modebewussten PR-Agentin Walli Winzer etwas länger am Outfit der attraktiven Frau hängen geblieben, um mit Kennerinnenblick festzustellen, welche Accessoires diese zum neuesten Modell von Isabel Marant trug. Doch dazu hatte sie keine Zeit mehr, denn ihre Hände waren voll mit Taschen und Weihnachtspaketen. Langsam, aber sicher begannen die Tragegriffe sie in die Handflächen zu schneiden. Außerdem grübelte sie, was sie obendrein ablenkte. Denn ihr fehlte das letzte Darüber-Streusel in Form eines originellen Geschenks für Lena. Bei ihr und deren Familie würde sie am Weihnachtsabend eingeladen sein. Das Hauptpräsent hatte sie schon gefunden. Aber irgendetwas Kleines schwebte Walli zusätzlich für ihre beste Freundin seit Jugendtagen vor. Etwas, das nicht unbedingt kostbar war. Doch bereits während sie das Geschenk auspackte, sollte es deren Herz erwärmen.

Walli Winzer drückte sich an einigen Schaufenstern die Nase platt. Danach kam sie an einem Infostand für Spenden zur »Rettung des Regenwalds« vorbei. Da sie Lena wirklich gut kannte, wusste sie, dass so etwas das Richtige für sie sein würde. Walli spendete einen beträchtlichen Betrag, der die Mädchen am Infostand erst einmal aufschauen ließ. Danach machte sie sich auf den Weg, zufrieden, für die Welt und somit für Lena einen sinnvollen Beitrag geleistet zu haben. Sie wusste, dass die einstige Lehrerin in Wien gerne ökologische und soziale Bausteine verantwortete, und freute sich, so in ihrem Sinn gehandelt zu haben.

Jetzt blieb Walli sogar ein bisschen Zeit, eventuell noch etwas für sich selbst zu finden. Das ging zwar weniger in diese Richtung. Doch indem man die Wirtschaft durch Einkäufe belebte, würde man auch Gutes tun können, indem … indem – augenblicklich fielen ihr keine wirklich passenden Argumente ein. Oh ja, indem man in der Gesellschaft die Existenz aller sichern könnte. So ginge es nämlich auch. Puh! Also, derzeit besonders einiger. Ähm, eher einiger Weniger, dachte man an die vielen Konzernriesen, deren Aktionäre weltweit praktisch alles unter sich aufteilten. Wie in einem Pyramidenspiel vereinten sie viele Firmen unter einer mächtigen, meist unbekannten Dachmarke.

Gut, mit dem Weltretten – obwohl Weihnachten nahte – wollte es die PR-Lady jetzt auch nicht übertreiben. Der Nachhaltigkeitsgedanke hielt sie dann aber doch davon ab, in die Fashion-Meile Goldenes Quartier in der Tuchlauben einbiegen zu wollen.

Ein kleines Brötchen mit einem Glas Sekt im Schwarzen Kamel, einer der ältesten kulinarischen Institutionen und besonderes Juwel der Wiener City, lockte sie da schon eher. Sie stellte ihre Taschen unter einen Bistrotisch auf der Straßenseite und beobachtete die Umstehenden.

Es war mitten am Nachmittag und wie meist viel los. Trotzdem kamen hier ausschließlich Menschen zusammen, die sie nicht kannte. Das war sonst keineswegs so. Denn als Fachfrau für Public Relations, also Öffentlichkeitsarbeit, traf sie sonst Bekannte an fast jeder Ecke in Wien. Doch die meisten von ihnen waren offenbar zu Weihnachtsfeiern geladen und daher beschäftigt.

Sie hingegen hatte sich vorgenommen, heuer einmal so richtig ruhige und stimmungsvolle Weihnachten erleben zu wollen. Abseits von all dem Trubel. In der Stille und Abgeschiedenheit des Waldviertels. Mit Schnee, Nadelwäldern und friedliebenden Menschen, die an gemütlichen Adventnachmittagen noch gemeinsam buken oder selbst Weihnachtsschmuck anfertigten. Sie stellte sich vor, dass die Waldviertlerinnen und Waldviertler dazu Glühwein tranken und Weihnachtslieder sangen.

Na gut. Das wusste auch Walli, dass das wohl ein frommer Wunsch ihrerseits sein würde. Denn sogar im Waldviertel, der nördlichsten Region in Österreich, wo sie seit einigen Jahren ein renoviertes Schulhaus besaß, war mittlerweile die neue Zeit angebrochen und zog nicht nur die Jugend in ihren Bann. Was sie sich in ihrer Wunschvorstellung zusammenreimte, war wohl nur noch die blasse Erinnerung an die gute alte Zeit, die sie allerdings durch den Mangel allen Lebenskomforts und gesellschaftlicher Offenheit so sicher nicht wieder erleben wollte. Doch manche Brauchtümer sollten nicht völlig in Vergessenheit geraten, dafür hatte selbst die PR-Expertin einiges übrig. Vieles davon hatte schließlich den Charakter einer Gegend geprägt. Und Weihnachten hatte immer etwas mit Nach-Hause-Zurückkehren zu tun. Zu dem, was einem vertraut war. Das einem behagte.

Ein Weihnachtsmann in roter Robe und weißem Rauschebart rasselte plötzlich mit einem Glöckchen laut vor ihrer Nase. Dabei schwenkte er seinen Korb mit Geschenkbons für das angrenzende Goldene Quartier. Walli Winzer versuchte zu entdecken, wer hinter der Verkleidung steckte. Doch beim besten Willen konnte sie nichts ausmachen. Es war auch nicht zu erkennen, ob Mann oder Frau. Die weiße Lockenpracht verhüllte den Großteil des Gesichts, der Rauschebart den Rest. Die Größe war indifferent.

Da der Weihnachtsmann die vielen Geschenktaschen um Walli herum sah und merkte, dass sie ihm Aufmerksamkeit schenkte, fühlte er sich aufgefordert, zu ihr kommen. Er begrüßte sie freundlich und legte ihr einen der Bons sowie ein Weihnachtskonfekt auf den Tisch. Walli lächelte, sprach einige Dankesworte und genoss es, gemeinsam mit dem Stimmungsbringer im Mittelpunkt zu stehen.

Ja, so etwas war ein kleiner Ausflug ins globale Weihnachtswunderland, der Spaß machte. Sogar im Kitsch einte er alle Menschen in ihrer Freude. Was durchaus seinen Reiz hatte, wie sie für sich feststellte. Ein sanftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie dem Weihnachtsmann ein paar launige Worte mit auf den Weg gab. Sie hatte das Gefühl, dass sich dadurch auch die Stimmung ihrer Umgebung hob.

Walli biss vom Brötchen ab, das man ihr inzwischen gebracht hatte, und nahm einen Schluck Sekt.

»Darf ich mich zu Ihnen stellen?«, fragte ein junger Mann. »Ich finde es köstlich, was Sie dem Weihnachtsmann da eben geantwortet haben.«

Walli Winzer schmunzelte und nippte erneut von ihrem Glas. »Na ja, wenn’s doch wahr ist«, zeigte sie sich selbst noch amüsiert. »Als alter Herr trägt er doch ziemlich viel mit sich herum. Wie schafft er das in seinem Alter, die ganze Welt in nur einem Tag zu bereisen? Ich wollte einfach seine Anti-Aging-Formel wissen.«

»Ich glaube, ab einem gewissen Alter verlieren sich die Jahre sowieso wie von selbst.« Der attraktive Unbekannte platzierte sich neben Walli und blickte wie sie zur Straße hin. Beide schauten dem Weihnachtsmann nach, der flink und unbeschwert seine Bons an Passanten verteilte. »Da hat es das Christkind doch viel leichter als er.«

Walli lachte hell auf. »Das kann ich mir genauso schwer vorstellen. Es wurde eben erst geboren und besucht noch am selben Tag die ganze Welt. Wie sollte das gehen?«

»Der Funke von Liebe und Fürsorge füreinander ist doch eine Sache des Augenblicks. Und Sympathie entsteht laut Psychologie bekanntlich innerhalb von nur zehn Sekunden. Also, seine Reise in unsere Herzen funktioniert daher sofort.« Er sah Walli freundlich an und prostete ihr mit seinem Glas zu.

Walli erwiderte seine Geste. Die Leichtigkeit und der Charme des jungen Mannes gefielen ihr, weshalb sie das Gespräch auch launig fortsetzte.

Der Weihnachtsmann war inzwischen in Richtung des großen Innenstadtplatzes Am Hof verschwunden, daher gewann das Christkind im Gespräch wieder an Bedeutung.

»So ein unschuldiges Kind hat etwas Selbstloses, Entwaffnendes. Bei seinem Anblick tauen sogar die knorrigsten Typen auf, habe ich beobachtet«, spann Wallis Gegenüber den Faden gedanklich weiter und rückte näher an die Gesprächspartnerin heran.

Walli Winzer war das zwar nicht unangenehm, sie trat aber während des Talks ihrer angehenden Weitsichtigkeit wegen instinktiv einen Schritt zur Seite, um die Mimik des jungen Mannes besser lesen zu können. Dabei stieß sie mit dem Fuß an eine der Geschenketaschen, weshalb diese kippte. Sie bückte sich und richtete sie auf. Nachdem Walli hochgekommen war, sprach sie die Freude des Schenkens an und brachte somit den Weihnachtsmann wieder ins Gespräch ein. Dann meinte sie: »Wissen Sie, natürlich berührt so ein unschuldiges Kind. Noch dazu im Winter. In der Krippe. Umsorgt, aber doch zurückgelassen von allen. Von der Gesellschaft. Keine Frage das alles. Aber Sie haben recht: Mit diesem offenbar unscheinbaren Kapitel beginnt die Bedeutung des Christentums für die Welt. Aber es ging in dessen Geschichte leider wie so oft mehr um Struktur als um die Macht der Liebe. Und da, finde ich, spalten Religionen leider seit jeher die Menschheit mehr, als sie diese einen.«

»Hm. Da haben Sie schon recht. Aber wenn man wie ich mit dem Christkind aufgewachsen ist, möchte man es nicht missen. In der Vorweihnachtszeit wird man selbst wieder zum Kind. Glaubt bedingungslos ans Gute. An die Liebe. Ich erinnere mich plötzlich an vieles aus meiner Kindheit. Die Welt bleibt für mich stehen. In diesem Augenblick. In der Adventzeit. Dieser ganze Shoppingwahn interessiert mich dann nicht.«

»Na, da muss Sie ja die Werbeflut hier überall mächtig nerven?« Walli Winzer zeigte mit einer ausladenden Geste auf die sie umgebenden Geschäfte.

»Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: schon. Ich treffe mich da lieber mit Freundinnen und Freunden. Wir schenken einander das Kostbarste heutzutage: Zeit und Aufmerksamkeit.« Er griff in seine Manteltasche und holte eine kleine Geschenkpackung hervor, die er ihr entgegenhielt. »Raten Sie mal, was da drin ist.«

Walli zog ihre Schultern hoch und legte die Stirn in Falten. »Puh, da muss ich passen. Von Schmuck bis …«, sie hielt inne, »zu einem Vanillekipferl könnte ich mir alles vorstellen.«

Der Mann lachte. »Beinahe.«

Er legte das Geschenkpäckchen auf den Tisch und betrachtete es danach länger.

»Ich verrate es Ihnen: Es ist ein kleiner Tannenzapfen aus der Umgebung von Oberndorf in Salzburg, dem Ort, wo das Lied ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ komponiert und erstmals aufgeführt wurde. Wir hatten vor vielen Jahren dort gemeinsam Urlaub gemacht.«

Walli staunte über eine solche Idee. »Ja, das ist natürlich auch nett: das Schenken von Erinnerungen. Sehe ich das so richtig?«

Sein beseelter Gesichtsausdruck schien dies zu bestätigen. Er griff nach dem Päckchen mit der goldenen Schleife und drehte es sanft in der Hand. »Ich hoffe, dass sich meine Freunde darüber freuen werden.« Er sah hoch und sein Blick erhellte sich, als er ein ihm zuwinkendes Paar näher kommen sah. Der Mann wies ihnen mit einer Geste den Nachbartisch.

Walli gegenüber hob er nun sein Weinglas und prostete ihr zu. »Mich hat unsere kleine Unterhaltung sehr gefreut, und ich wünsche Ihnen noch eine schöne, friedliche Adventzeit.« Er verneigte sich und stellte sich danach an den Nebentisch, um seine Freunde zu begrüßen. Auch diese warfen Walli Winzer einen freundlichen Blick zu. Ganz so, als würde es ihnen leidtun, die Unterhaltung unterbrochen zu haben.

Aber Walli wusste, dass der Imbiss nur ein kleines Intermezzo gewesen war. Zugegebenermaßen nett und ungewöhnlich. Doch wenn sie an die Einladung bei ihrer Jugendfreundin Lena und deren Familie am Weihnachtsabend dachte, würden sich deren Kinder, bloß mit einem Tannenzapfen beschenkt, wohl eher weniger darüber freuen. Daher war es ratsam, schnell noch nach den restlichen Geschenken zu schauen.

Walli stopfte das letzte Stück ihres Brötchens in den Mund und trank aus. Dann griff sie nach ihren Weihnachtstaschen und begab sich ins dichte Treiben Richtung Ad­ventmarkt am Wiener Stephansplatz.

2. Kapitel

»Miau, miau, miau«, raunte es unwirsch aus der Katzenbox, die am Beifahrersitz neben Walli angegurtet war. Um der schlechten Laune zusätzlich Ausdruck zu verleihen, boxte die Katze wie ein wild gewordener Tiger auch noch mit ihrem Körper gegen die Innenwände.

Wo der Kater diese Kraft herholte, war Walli schleierhaft. Sie hatte trotz Fixierung alle Mühe, die Box am Platz zu halten. So schupste sie diese während der Fahrt immer wieder in ihre Position zurück. Leicht war das nicht. Immerhin dufte sie den Autoverkehr nicht aus den Augen verlieren. Doch das Tier ließ sich kaum bändigen.

»Ist ja gut, Filou! Da musst du durch. Leg dich hin und schlafe. In einer Stunde sind wir in Großlichten. Dann darfst du wieder raus.«

Diese Prognose schien wenig Eindruck auf den Eingebunkerten zu machen. Aus dem strikten, auch hilflosen Tonfall merkte er, dass er in nächster Zeit kaum erfolgreich sein würde, und legte mit einem Veitstanz nochmals kräftig nach. Walli legte zur Beruhigung ihre Hand auf die Katzenbox, rutschte aber seitlich ab, weshalb sie der wütende Kater durch das Gitter hindurch mit den Krallen erwischte.

»Aha, du Ungetüm!« Walli zog ihre Hand erschrocken zurück und hielt sie an ihren Mund. Ein Blutstropfen quoll aus der winzigen Wunde. Seinetwegen wäre sie beinahe dem Vorderen aufgefahren. Eine Notbremsung verhinderte Schlimmeres. Die lange Bremsspur am eisigen Boden stoppte nur wenige Zentimeter vor der Stoßstange des anderen.

In der Früh hatte es ein wenig geschneit, was in Wien sofort für ein mittleres Verkehrschaos sorgte. Straßenbahnen blieben bereits wegen leichter Schneeverwehungen auf den Gleisen stehen, und Autos stotterten vor grünen Ampeln, weil der Motor bei Minusgraden nicht mehr mitmachte. Das wiederum verursachte Verkehrsstau, der bei vielen für Unmut sorgte.

Das gelegentliche Hupen der Autos nervte auch Filou. Während Walli ihm Vorhaltungen wegen des lädierten Fingers machte, gab er diesmal ganz und gar nicht klein bei. Denn manchmal signalisierte der Kater durchaus, dass ihm einer seiner misslungenen Streiche auch leidtat.

Das Gegenteil war jetzt der Fall: Er posierte mit Drohgebärde. So hatte Walli ihn noch nie erlebt. Sie konnte ihn nun genau beobachten, da sie mitten im Chaos feststeckte. Viel war von Filou nicht zu sehen, denn seinen Rücken hielt er dicht an die Oberseite der Box gepresst. Sie starrte daher auf seine dünnen, langen Beine. Sein buschiges Schwänzchen, das er bedrohlich wie einen Fächer vor ihr ausbreitete, hob sich kontrastreich vom Hintergrund des silbergrauen Bezugs am Beifahrersitz ab. Sie kannte Filou gut genug, um zu wissen, dass es in erster Linie Verzweiflung war, die seine übertriebene Reaktion ausgelöst hatte. Verstärkt durch die Kälte, die ebenso Wallis Nasenspitze spürbar umklammerte. Ihre Stimme wurde deswegen weicher. »Filou, gleich wird es wärmer hier drin. Ein bisschen dauert es noch.«

Der Kater fixierte sie unerbittlich. Walli war richtiggehend froh, dass diese Gitterstäbe sie voneinander trennten. Denn diese vier Kilo Lebendmasse konnten mitunter beängstigend werden. Oft hatte sie Filous Zorn zwar noch nicht erlebt, doch sie wusste, wozu er fähig war. Und das würde sie nicht auf die Spitze treiben wollen.

Ihn in die Transportbox zu bringen, war stets eine Herausforderung. Mit aller List musste sie dabei vorgehen. Nur: Filou war ein echter Stratege! So gab es offenbar vor einer Reise Schlüsselinformationen für ihn, die ihn sofort einen der verborgenen Winkel in Wallis Wiener Wohnung aufsuchen ließ. Erst nach längerem Suchen fand ihn Frauchen und verfrachtete ihn in den Käfig.

Dabei passierte das jedes Mal, noch bevor Walli ihren Trolley hervorgeholt hatte. Danach hätte sie es zumindest verstanden, weshalb er das Weite suchte. Nein, Filou verfügte über den sprichwörtlichen sechsten Sinn, der manchmal ihre geheimsten Gedanken zu erraten wusste. Ja, diese sogar gegebenenfalls weiterführte. Sie überhaupt mit seinem sonstigen Verhalten sogar inspirierte, wenn sie mal nicht weiterwusste.

Unheimlich war so ein Tier, ging es ihr durch den Kopf. »Eine Stunde noch, mein Kleiner, dann darfst du wieder tun und lassen, was du willst. Jetzt aber musst du leider durch!«

Filou entspannte sich ein wenig. Offenbar erkannte er am Tonfall von Wallis Stimme, dass die Situation im Augenblick unabänderlich war. Aus dem Käfig heraus dagegen anzukämpfen, ließ selbst den versierten Strategen resignieren. Er legte sich auf die weiche Decke und starrte, um sich selbst zu beruhigen, geradeaus nach vorne.

Wie um diese kleine Szene abzurunden, setzte sich endlich die Autoschlange in Bewegung. Da es dennoch kurz dauern würde, bis das Gebläse der Heizung voll im Gange wäre, zog Walli die nebenliegende Decke, die sie im Winter für ihren Kater dabeihatte, über die Box. Offenbar war das in seinem Sinn, denn plötzlich hörte er zu fauchen auf.

Etwa eine Dreiviertelstunde später auf der Schnellstraße Richtung Krems hatte es heftig zu schneien begonnen. Dichte Flocken blieben an der Windschutzscheibe hängen. Obwohl Walli gut funktionierende Wischerblätter hatte, beschloss sie, am Regler eine niedrigere Stufe einzuschalten und langsamer zu fahren. Die längere Verweildauer der kleinen Flocken, die sternförmig seitlich am Glas hinunterrutschten, riefen in ihr weihnachtliche Gefühle hervor.

Sie freute sich auch stets, wenn sie von der Kremser Bundesstraße, der B 37, nach Gföhl einbog. Von da war’s nicht mehr weit nach Großlichten. Die ruhige Musik, die sie aus ihren Favorites gewählt hatte, ließ sie zusätzlich vom schnellen Tempo der Stadt herunterkommen.

Filou döste inzwischen friedlich neben ihr. Die Decke hatte sie längst beiseitegeschoben, um ihm mehr Luft zu lassen. Die sensible Interpretation der georgisch-französischen Pianistin Khatia Buniatishvili von Franz Schuberts »Impromptu Ges-Dur, op.90 Nr. 3 D 899« hatte ihn eindeutig friedlich gestimmt, was die unvergleichliche Barbra Streisand mit »I’ll Be Home for Christmas« fortsetzte.

Weil der Kater auf Musik allgemein gut reagierte, zog er zunehmend damit auch Frauchen mit. Dabei war Walli ursprünglich kein ausgesprochener Fan von Musik gewesen. Doch Silvia Manner, ihre Ziehtochter und kunstbeflissene Co-Geschäftspartnerin, sowie deren Lebenspartnerin waren ausgewiesene Musikexpertinnen. Schubert wurde gleich eine Vorliebe Filous. Doch genauso zählten auch Mozart, Sarah Vaughan, Tracy Chapman oder k.d. lang zu seinen musikalischen Favoriten, die Walli daher gerne in ihre Musiksammlung dauerhaft aufnahm.

Nördlich von Krems war die Waldviertler Landschaft bereits dicht mit einer Schneedecke überzogen. Es hatte hier wohl schon seit den frühen Morgenstunden geschneit. Walli drosselte das Tempo erneut und ließ ihren Blick über die ehemals Rüben-, Raps- und Sonnenblumenfelder gleiten. Diese schlummerten jetzt unter dem Schnee. In wenigen Monaten würden sie mit ihrer blühenden Schönheit die Umgebung zu neuem Leben erwecken. Walli Winzer freute sich darauf. Doch jetzt genoss sie erst einmal die weiße Pracht. Sie sah überwältigend aus. Walli befand: fast schon kitschig. Wie auf einer Postkarte.

Die neuen Winterreifen, für die sie sich vor Kurzem entschieden hatte, probierte sie nun das erste Mal auf winterlicher Fahrbahn aus und war damit sehr zufrieden. Lautlos glitt sie mit ihrem Tesla dahin. Eine schwarze Katze, die auffällig durch den Schnee hüpfte, ließ sie schmunzeln. Das war bestimmt die Minki von der Mizzi Troger. Die Nachbarin Lenas war Vorsitzende des Dorfverschönerungsvereins und hatte ihr Filou einst richtiggehend aufgezwungen. Denn fast jedes Haus in Niederösterreich hielte eine Katze, hatte Mizzi damals gemeint. Außerdem sei so ein Sanftpföter gut für strapazierte Nerven. Na ja. In vielem konnte Walli der Katzenexpertin im Großen und Ganzen zustimmen. Vor allem, was Behaglichkeit und Intuition betrafen. Da waren Katzen schon außergewöhnlich.

Walli sah nach ihrem schlafenden Wunderkater.

Nur das mit den Nerven schien – ihn betreffend – eher ein Gerücht zu sein. Blutdrucksenkend sollte das Streicheln von Katzen sein, hatte sie von jemand anderem gehört. Das mochte so sein. Doch hatte sie weder mit Bluthochdruck zu kämpfen noch schonte Filou ihre Nerven. Vielmehr ließ er keine Situation aus, um Frauchen auf Trab zu halten. Manchmal hatte Walli sogar den Eindruck, dass er sich als geheimer Herr im Haus empfand, so oft, wie er sie an der Nase herumführte. Nicht mit ihr, dachte sie auch jetzt, lächelte aber dabei.

Minki war inzwischen in der Ferne der weißen Landschaft nur noch als winziger schwarzer Punkt erkennbar. Wie Walli ihren Filou kannte, wäre so etwas absolut nichts für ihn. In der Kälte herumzuspazieren. Das war ihm als Teilzeit-Wohnungskatze viel zu unbequem. Behaglich unter dem Heizkörper zu liegen, nach seinem Futter zu schauen und sich wieder schlafen zu legen, das war mehr sein Ding. Doch zugegeben: Binnen kurzer Zeit konnte sich das auch schlagartig ändern. Dann nämlich, wenn er wieder in seinen Geburtsort Großlichten zurückkehrte. Da wurde aus der zuweilen angepassten Stadt- wieder eine Wildkatze. Verlernt hatte der Landkater nichts. Wie eben vorhin. Als er sie gekratzt hatte. Doch das spürte Walli Winzer nicht mehr. Mittlerweile war sie an ihrem Ziel angelangt.

Filou öffnete jetzt langsam seine Äuglein. Mit einem Satz stand er aufrecht in der Box. Vor Aufregung drückte er wie zuvor seinen Rücken gegen die Decke. Er hatte den Weg ins Wochenendhaus nicht vergessen, obwohl er längere Zeit nicht hier gewesen war.

Frauchen hatte die Wochen vor Weihnachten viel zu tun gehabt. Auch an Weihnachtsfeiern teilgenommen, die ihrer Meinung nach viel zu früh angesetzt worden waren. Gut, so fiel es nicht wirklich auf, dass sie sich heuer aus diesem Wiener Weihnachtsrummel raushalten wollte und die letzten beiden Wochen vor dem Heiligen Abend nicht mehr für alle erreichbar sein würde. Ruhe und Stille waren die eigentlichen Gebote der Adventzeit. Besinnung auf das Leben, auf andere und auf sich selbst.

Puh! Jetzt sprach sie schon beinahe wie Lena und ihre Umgebung. Das konnte nur deshalb sein, weil sie eben im Waldviertel angekommen war, wo es augenblicklich langsamer und persönlicher zuging als in der Stadt. Sie sofort vom Alltag wieder runterkam. Auch der frische Schnee stimmte sie merkbar fröhlich.

Selbst Filou war inzwischen gut gelaunt. Er wartete besonnen und wusste, dass er der Erste sein würde, den Frauchen mit ins Haus nehmen würde. Und – er hatte recht!

Walli Winzer zog die Box sanft auf die Fahrerseite und legte erneut die Decke darüber. Den Schlüssel griffbereit, ging sie zur Haustür, öffnete und zog sie schnell wieder hinter sich zu. Im Vorzimmer blieb Walli auf der Fußmatte stehen, entriegelte die Katzenbox und ließ Filou ins Wohnzimmer laufen. Daraus strömte ihr angenehme Wärme entgegen. Walli schloss schnell die Vorzimmertür, damit nicht umgekehrt Kälte ins Haus dringen konnte. Denn die Haustür war noch geöffnet, damit sie all die Taschen mit Weihnachtsgeschenken und anderen Besorgungen im Vorzimmer abstellen konnte. Im Schnee wollte sie diese keinesfalls stehen lassen.

Nachdem Walli ihr Auto neben dem Haus geparkt hatte, war sie richtiggehend froh, wieder ins Warme zu kommen. Sie hatte weder Haube noch Handschuhe übergezogen, was ihr nun rote Ohren und eiskalte Hände eingebracht hatte. Sie rieb sie aneinander und begab sich zum Kachelofen, den Lena schon zwei Tage zuvor für ihre beste Freundin angefacht hatte.

Den Platz auf der Ofenbank musste Walli sich allerdings teilen: Filou saß mit dem Rücken zur wärmenden Wand und starrte behaglich und meditativ vor sich hin. Er blickte kurz zu Walli, um sich danach genüsslich in die davorliegende Decke zu kuscheln.

»Na, du bist mir ein Held! Ich dachte, du wirst gleich eine kleine Runde durch das Haus drehen. Schauen, ob in deinem Revier alles in Ordnung ist. Stattdessen legst du dich gleich aufs Ohr.«

Wie immer ließ Filou Frauchen reden und schlief dabei genüsslich ein.

3. Kapitel

Als Walli Winzer später zu ihrem kürzlich erworbenen Reiterhof fuhr, war das Schneegestöber zu Ende. Sie hatte auf der Fahrt sogar den Eindruck, als würden ein paar Sonnenstrahlen durch die helle Wolkendecke hindurchgucken. Zumindest musste sie ihre Augen ein wenig zusammenkneifen, denn der Schnee blendete richtiggehend. Ihre Sonnenbrille hatte sie im Haus vergessen, was sie spätestens jetzt bereute. Denn sie hasste es, dass sich dadurch Falten um ihre Augen bildeten, was sich im Moment aber kaum verhindern ließ. So klappte sie die Sonnenblende herunter und konnte dadurch zumindest einen Teil des Lichts abwehren.

Lang würde der Weg nicht mehr dauern. Walli Winzer bog in die Zufahrt zum Reitergestüt ein und sah bereits die ersten Pferde, wie sie an der Longe einige Runden um ihre Reitlehrerinnen drehten. Sie schloss daraus, dass der hintere Bereich ausgebucht sein musste. Denn hier vorne waren nur Wiesen, die die Tiere sonst zum Grasen benützten. Der Regelbetrieb spielte sich normalerweise in den Reithallen und auf den Sandplätzen ab.

Walli Winzer fuhr direkt in den Reiterhof hinein, da sie einiges aus dem Auto laden musste. Durch die Sonnenklappe war sie nun aber gehandicapt. Sie saß mit verrenkter Körperhaltung und hoch erhobenem Haupt, was zugegebenermaßen recht ulkig aussah.

Einige Passantinnen amüsierte das, was wiederum Walli zum Lachen brachte. »Ja, so ist das, wenn man aus der Not eine Tugend machen muss.«

»Walli, du bist wieder da!«, rief ihr eine Bekannte zu.

»Vor zwei Stunden bin ich angekommen. In Wien hat es auch schon zu schneien begonnen. Aber hier ist es ja richtig Winter«, freute sie sich.

»Eine ganze Weile. Da gibt’s schon Unterlagen aus den vorherigen Wochen. Auch seit der Früh ist einiges an Frischschnee draufgefallen.«

»Es sieht alles einmalig aus. So habe ich Großlichten noch nie gesehen. Und das, obwohl ich bereits ein paar Jahre hier bin.«

»Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass es je so viel Schnee bei uns gegeben hat. In meiner Kindheit vielleicht. Aber in den letzten Jahren nicht.«

»Man merkt’s. Der Hof ist ja voller Reiterinnen und Reiter.«

»Jede möchte halt mit ihrem Tier durch den Pulverschnee traben. Das geht eben nur heute.«

»Warum denn?«

»Morgen wird es laut Wettervorhersage schon Harsch geben, diesen harten Schnee. Der bremst beim Reiten. Jetzt durch den Pulverschnee zu galoppieren und dabei eine Schneewolke hinter sich herzuziehen, macht Spaß. Und das nicht nur den Pferden.«

»Klar doch«, lachte Walli und öffnete die Heckklappe. »Ich habe übrigens aus Wien einige neue Satteldecken mitgebracht. Ihr könnt gerne einige davon verwenden. Die sind nämlich für alle gedacht.«

Die beiden Reiterinnen zeigten sich interessiert und bedankten sich. Da sie ein wenig ihre Position gewechselt hatte, bemerkte Walli jetzt auch den Christbaum, der seitlich im Hof stand. »Oh, ist der schön!«, freute sie sich fast wie ein Kind. Er war etwa drei Meter hoch und mit einer Lichterkette behangen. Da es sehr hell war, konnte man nur ein paar blitzende Punkte zwischendurch ausmachen. Doch die reichten schon, um auch bei Tag festliche Stimmung hervorzurufen.

Die andere Frau sah Wallis Leuchten in den Augen, weshalb sie ergänzte: »András hat die Tanne heuer aufgestellt. Er hat sie beim Kartenspiel von einem Bauern gewonnen. Sie passt perfekt hierher!« Alle drei bewunderten den Baum.

Plötzlich mischte sich auch eine dunkle Stimme ins Gespräch ein: »Na, auch wieder einmal im Lande?«

»Ah, Harry! Wo kommen Sie denn her? Das hätte ich nicht gedacht, Sie hier anzutreffen. Ich freue mich.« Walli Winzer drehte sich einem Mann mittleren Alters mit graublondem Haarschopf zu.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie schon zwei Wochen vor Weihnachten kommen würden. Das ist ganz etwas Neues bei Ihnen. Während der Vorweihnachtszeit ist doch sonst in Wien besonders viel los.«

»Das stimmt. Aber was glauben Sie, was ich heuer beschlossen habe?« Walli wartete nicht erst ab, ob er richtig raten würde. »Dieser Tretmühle aus dem Weg zu gehen. Meine zweite Geschäftsführerin Silvia wird die Events wahrnehmen. Das ist durchaus ein Vorteil, den man hat, wenn man schon einige Jährchen dabei ist. Aber keine Sorge: Bei den wichtigsten Terminen war ich natürlich dabei. Jetzt beginnen die Christmas-Clubbings und die Betriebsweihnachtsfeiern, die dann immer ins Private münden. Aber dafür bin ich nicht mehr jung genug. Meine Geschäftspartner und ich kennen einander so viele Jahre, in denen wir viel miteinander erlebt haben, und mehr vom selben brauche ich wirklich nicht«, sagte Walli und grinste den Lokaljournalisten Harry Kain kokett an.

Es amüsierte sie, dass sie den einst prominenten Chefredakteur einer großen Wiener Tageszeitung in Verlegenheit bringen konnte. Aber keine Angst: Never ever wäre Harry ihr Typ. Weder damals noch heute. Er sah zwar nicht schlecht aus, aber seine oftmalige Verbohrtheit in gewissen Themenbereichen wäre einer Beziehung mit ihm in jedem Fall hinderlich. Walli musterte ihn genauer. Ja, und da war noch etwas: Ihn regelmäßig an seinen Gang ins Badezimmer erinnern zu müssen, wäre wirklich nicht ihr Ding. So etwas sollte ein Mann selbst wissen. Sie verdrehte die Augen beim Blick auf Harrys Dreitagebart. Aber egal. Er war ein durchaus amüsanter Gesprächspartner, mit dem sie sogar nächtelang am Telefon philosophieren konnte. Und das war in diesem Kaff Großlichten manchmal durchaus eine echte Bereicherung.

»Was gibt es Neues hier im Waldviertel?«, fragte Walli und lenkte damit auf ein neues Thema.

»Ach, alles im gewohnten Bereich. Ein paar Eifersuchtsdramen, einige Grenzstreitigkeiten, Widerstand gegen geplante Bauprojekte und Sorgen wegen der steigenden Holzpreise sind derzeit Gesprächsthemen. Nicht nur an den Stammtischen. Ja, und der Friedl Ambrecht hat endlich sein Lodge-Dorf fertiggestellt.«

»Das war doch auch umstritten?«

»Stimmt. Der jetzt verstreut angelegte Baukomplex mit Holzhäusern dürfte ein Kompromiss gewesen sein, weil Sie, Frau Winzer, damals das riesige Wellnesshotel verhindert hatten. Das sollte doch wegen der schönen Aussicht statt des Reiterhofs gebaut werden. Sie haben ihn dann gekauft und somit fiel das Grundstück nicht an den Immobilienentwickler. Bürgermeister Brunner war damals ganz schön sauer auf Sie.«

Walli Winzer gab sich zugeknöpft. »Sie werden mir doch keine Vorhaltungen machen, dass ich hier einen Vorzeigebetrieb führe, der nicht nur Gäste anlockt, sondern auch Zweithausbesitzer an Großlichten bindet, und es einen Spitzenkoch im Seitentrakt gibt, der das Haubenlokal Zum Grauen Mohn betreibt. Geht’s noch, Harry?« Walli war wirklich erbost über die unüberlegte Bemerkung ihres Gegenübers. Wo er es doch eigentlich besser wissen müsste. »Ich habe den Reiterhof damals nur übernommen, weil der alte Hof auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre. Abgerissen hätte man ihn, Harry! Und ich habe investiert, ohne zu wissen, ob das etwas werden könnte. Sehen Sie sich um: All das gäbe es nicht. Nur tote Liegenschaften wie Immobilien als Firmengebäude, Lagerhallen oder Zweitwohnsitze würden in Großlichten herumstehen. Schauen Sie stattdessen in die lebendigen Gesichter. Die Menschen hier leben in Freude. Es tut sich etwas. Ich beschäftige Mitarbeiter als Pferdepfleger und -versorger, Reitlehrerinnen, Reinigungspersonal, Geschäftsführer. Ich selbst bin für die PR verantwortlich. Also, was wollen Sie noch mehr?«

Harry Kain war sprachlos und sah verdutzt drein. Mit solch heftiger Reaktion hatte er anscheinend nicht gerechnet. Vielleicht reagierte sie auf seine Feststellung deshalb so schroff, weil sie mental noch nicht im Waldviertel angekommen war. Eine Form der Stadthektik haftete ihr noch an, stellte er fest. Harry musste eigentlich klar sein, dass es gut war, so wie es gekommen ist. Sie sich damals durchgesetzt und den Reiterhof erworben hatte.

Aufgeregtes Gekreische einer Gruppe lenkte in diesem Augenblick die Aufmerksamkeit beider um. Ein durchtrainierter Typ mit nacktem Oberkörper wurde von einer Traube Frauen umringt. Er war nur mit einer langen roten Hose bekleidet und versuchte in dem Gewirr, seine Weihnachtsmannmütze aufzusetzen. Eine der Frauen bemühte sich dabei, seinen Bizeps zu berühren. Er lachte. Die Mütze saß inzwischen auf ihrem Platz, weshalb er jetzt belustigt nach der hübschen Frau griff, um sie zu sich zu ziehen. Das Johlen schwoll an, als der fesche Weihnachtsmann sie schließlich hochhob und unter der Aufgebrachtheit der übrigen in den wärmeren Aufenthaltsraum hineintrug.

Walli traute ihren Augen nicht. Wer war denn das? Sie sah dem Treiben vergnügt zu, wusste aber nicht, was sie davon zu halten hatte. Auch einige Männer, die vorbeigegangen waren, verdrehten die Augen und ätzten in die Richtung dieser entschwundenen männlichen Dorfschönheit.

Harry Kain sah Wallis Verwirrung ob der Szene und wusste Rat. »Na, jetzt sind Sie gleich mitten im neuesten Treiben von Großlichten mit dabei! Der Josi Hütter ist im Sommer zum schönsten Mann von Großlichten gekürt worden, und aktuell spielt er auch noch für alle den Weihnachtsmann.«

Darauf musste Walli Winzer loslachen. »Ich kann mir vorstellen, dass so manche Frau einen besonderen Wunsch nicht nur an das Christkind, sondern auch an den Weihnachtsmann hätte!« Sie wischte sich vorsichtig eine Lachträne aus dem Gesicht.

Auch Harry amüsierte die Szene, die sich vor ihnen abspielte. »Was wir in letzter Zeit an öffentlicher Eifersucht erlebt haben, geht über alle Vorstellungskraft. Und das nicht nur in Form von kopfschüttelnden Männern wie eben. Da ging’s manchmal auch handfester zu.«

»Na, ich hoffe nicht auf meinem Reiterhof?« Walli Winzer war wegen des guten Rufs ihres Gestüts besorgt.

»Nein, Ihr ungarischer András wäre als Stallmeister sofort zur Stelle. Nachdem Sie ihn mit der Gesamtverantwortung betraut haben, führt er ihn umsichtig und mit stiller Präsenz. Er sieht und hört alles, macht sich aber nur bemerkbar, wenn man ihn braucht.«

»Na ja, das eben hat er wohl ein bisschen aus den Augen verloren«, zeigte sich Walli bekümmert.

»Offensichtlich haben die Frauen heute das Reiterstüberl als Veranstaltungsort für den fiktiven Weihnachtskalender ausgewählt.«

»Was ist denn das?«

»Das haben sich die Reiterinnen schon im Sommer vom Gewinner des männlichen Schönheitswettbewerbs gewünscht. Das ist natürlich als Spaß gedacht. Da darf die Tagesgewinnerin zehn Minuten allein mit dem schönsten Weihnachtsmann der Umgebung im Stüberl verbringen. Er muss alle Wünsche der Gewinnerin erfüllen und hat darüber Schweigepflicht.«

»Also Harry, was soll denn so etwas? Und das zu Weihnachten?«, war Walli, die sonst für fast alles zu haben war, irritiert. Sie hatte dabei durchaus auch einiges für knisternde Szenen übrig.