WALLHANDRIA - Miriam Schuler - E-Book

WALLHANDRIA E-Book

Miriam Schuler

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Beschreibung

Wallhandria ist ein Roman über verborgene Kräfte, alte Weisheiten und die Frage, wie sehr der Mensch sein Leben wirklich beeinflussen kann. Verkleidet als Fantasiegeschichte, entfaltet sich eine Erzählung, die Themen anspricht, welche aktueller denn je sind. Die tiefgründigen, zeitlosen Weisheiten sind sanft und unübersehbar in die Handlung eingewoben und machen dieses spannende, inspirierende Buch zu etwas Besonderem. Die Geschichte handelt in Wallhandria, einem Land irgendwo in unserem Universum. Dort leben die Hermis, die durch die Königreiche reiten, um ihre einzigartigen Dienste anzubieten. Unter ihnen ist Adhara, eine junge Herma. Unerwartet wird sie in den Königspalast von Jesurien geschickt, um als Doula bei einer Geburt zu unterstützen. Dort trifft sie auf den werdenden Vater, Herzog Nahjyr, und findet sich ungewollt in den intriganten Machtspielen der Königsfamilie wieder. Als wäre das nicht genug, muss sie vor ihrer Abreise dem König noch einen Brief der Weisen Herma, dem Oberhaupt der Hermis, überreichen. Dieser Brief entfacht einen Konflikt zwischen den Hermis und den Jesurien und stürzt ganz Wallhandria ins Chaos. Als Adhara und Herzog Nahjyr sich bald darauf erneut begegnen, entwickeln sie unerwartete Gefühle füreinander. Doch sie stehen auf verschiedenen Seiten des Konflikts, was ihre entstehende Liebe zerbrechlich macht. Die Unruhen im Land und ihre Freundschaft zwingen sie, über sich hinauszuwachsen, alte Überzeugungen zu hinterfragen und ihre Loyalitäten neu zu definieren. Was sie nicht wissen: Die Geschehnisse um sie herum sind auch eine Vorbereitung für ihr neues Schicksal, denn Wallhandria steht vor großen Veränderungen.

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Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Miriam Schuler

WALLHANDRIA

Die Steine der Macht

Spiritueller Roman

Impressum

4. Auflage Juli 2025

© 2025 Copyright by Miriam Schuler

Alle Rechte vorbehalten.

www.wallhandria.com

Verlag: Herlumis Verlag

Illustrationen: Nina Glanzmann

Lektorat und Korrektorat: Fabian Schwitter

KAPITEL

VORWORT

WIE ES ZU DIESEM BUCH KAM

EIN NEUES LEBEN BEGINNT

7 JAHRE SPÄTER

DIE JESURISCHE KÖNIGSFAMILIE

DIE FLUCHT

BESETZT

EIN TRÜGERISCHER ALLTAG

DER RUF DER INNEREN STIMME

DIE HÜTERIN DER SCHATTEN

DIE PROPHEZEIUNG

ÜBER DEN DINGEN STEHEN

ALLES, WAS ES NOCH NICHT GIBT

DIE EINWEIHUNG

DIE AMAZONEN

DIE FELSENSTADT

DAS DORF DER VERLORENEN SEELEN

EINDRINGLINGE

AUF DER SUCHE NACH DEN VERBORGENEN TEMPELN

DIE REBELLEN

DIE MAGIE DER LIEBE

AM ENDE DER WELT

DIE ZUSAMMENKUNFT

NACHTRAG NAHJYR

NACHTRAG ADHARA

INSPIRATION & DANK

NAMENSLEGENDE WALLHANDRIA

WALLHANDRIA UND SEINE REICHE

AUTORIN

VORWORT

Bruno Würtenberger

Autor, Publizist und Bewusstseinsforscher

Eine faszinierende Geschichte, von der nicht genau bekannt ist, ob sie irgendwann irgendwo wirklich geschah oder doch «nur» Fiktion ist. Wallhandria kann sich locker mit den grossen Werken bekannter Mystik-Autoren messen. Spannend von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein Abenteuer, welches man bald selbst zu erleben beginnt, sobald man sich erlaubt, einzutauchen. Die tiefen zeitlosen Weisheiten, welche sanft, aber eindeutig in die Geschichte eingewebt sind, machen dieses Buch zu einem Fantasie-Roman der besonderen Art. Wer will, der kann sich mit Wallhandria wunderbar spannend unterhalten oder aber es als Lehrbuch spiritueller Weisheiten richtiggehend studieren. Der FreeSpirit, welcher durch dieses Buch weht, vermag Jung und Alt in seinen Bann zu ziehen mit der Folge, dass man danach sein eigenes Leben aus einer völlig neuen Perspektive erlebt. Beim Lesen dieser Geschichte geschieht dem Leser unweigerlich eine Transformation, welche den eigenen Zugang zu mystischen Gefilden wiedereröffnet. Wallhandria hat mich sehr bewegt und tief berührt! Tränen des Mitgefühls, der Traurigkeit wie auch der Freude haben mich von Jesurien bis ans «Ende der Welt» begleitet und ich glaube, dass die Geschichte – jetzt in meinem Leben – seine Fortsetzung und Erfüllung findet. Wer dieses Buch versteht, der hat viel vom Leben verstanden.

Bruno Würtenberger

WIE ES ZU DIESEM BUCH KAM

Ich war keine gute Schülerin. Besonders in der Rechtschreibung und beim Vorlesen hatte ich meine Mühe. «Du musst mehr Bücher lesen», hiess es von allen Seiten. Doch ich spielte lieber draussen. Aufsätze schrieb ich jedoch gerne, denn meine Geschichten spielten sich wie Kinofilme in meinem Kopf ab. Aber für gute Noten reichte es dennoch nie, weil es für die vielen Rechtschreibfehler immer noch einen zusätzlichen Abzug gab. Wenn ich deswegen traurig von der Schule kam, versuchte mein Vater, mich jeweils aufzumuntern. Eines Tages sagte er mir ein paar Worte, die sich für immer in mein Herz einbrennen würden: «Miriam, du hast Fantasie. Das ist viel wichtiger als Rechtschreibung. Denn im Gegensatz zur Rechtschreibung kann man Fantasie nicht erlernen. Und weisst du was? Diejenigen, die Bücher schreiben, haben eine Person, die ihnen die Rechtschreibung korrigiert.»

«Wow», dachte ich, «wenn ich will, kann ich ein Buch schreiben!»

Und so vergingen die Jahre, ohne dass ich ernsthaft daran dachte, dies zu tun. Ab und zu kam die Idee eines Buchs zwar wieder ins Bewusstsein. Zwei- oder dreimal hatte ich sogar einen Versuch gestartet. Doch ich schaffte es nie über ein paar Seiten hinaus. Ich stellte fest, dass es einen grossen Unterschied machte, sich Geschichten auszudenken oder diese auch tatsächlich niederzuschreiben. Ich begriff, dass mir die Geduld fehlte, die mit Leichtigkeit kreierten Bilder in meinem Kopf für Aussenstehende zu Papier zu bringen und ausführlich zu beschreiben.

2017 brauchte ich eine Auszeit. Ich war mit meinem Leben unzufrieden und wusste nicht wie weiter. So entschied ich mich für einen Retreat, der 40 Tage Schweigen beinhaltete. Es wurde uns nahegelegt, diese Zeit zu nutzen, um etwas aus uns heraus zu schaffen und kreativ tätig zu sein. Zuerst war ich ratlos. Ich male nicht, bin weder handwerklich versiert noch musikalisch begabt. Was sollte ich nur tun? Dann erinnerte ich mich wieder. Da schlummerte doch noch diese Idee in mir, ein Buch zu schreiben. Und so begann das Abenteuer Wallhandria auf Papier Gestalt anzunehmen, ohne konkreten Plan, wohin die Geschichte führen sollte. Hätte ich damals gewusst, dass ich nach dem Retreat noch über vier Jahre weiterschreiben würde, ich hätte wohl nie begonnen. Denn so viel Geduld habe ich nun wirklich nicht.

EIN NEUES LEBEN BEGINNT

SONNEN-TEMPEL

MITTELREICH

«Wir lehren hier nicht die Religion, sondern die universellen Gesetzte und die Lehren des Hermes.»

Weise Herma Libra

Oberhaupt des Sonnen-Tempels

Der Nebel verdeckte die Sicht auf das jesurische Meer, das gerade eben noch in weiter Ferne zu sehen war. Er bäumte sich urplötzlich in die Höhe und erschien Adhara wie eine Mauer. Sie musste an die Geschichte von Avalon denken. So stellte sie sich den schützenden Nebel des Tempels vor. Avalon war Adharas Lieblingsgeschichte, und das schon sehr lädierte Buch war der einzige Gegenstand, den sie je besessen hatte. Es war ein Geschenk ihrer Vorgängerin Ava gewesen. Sie hatte es Adhara bei ihrer Abreise in die Hände gelegt und gesagt: «Hier, das lass ich dir für die einsamen Stunden da. Aber achte darauf, dass er es nicht sieht. Er mag es nicht, wenn seine Haushälterin solche Dinge liest.» Damals konnte Adhara mit Avas Worten nicht viel anfangen. Der Alte war ihr nett erschienen, und für ihn zu arbeiten, war ein grosses Privileg. Doch schon bald hatte sie merken müssen, dass nichts so war, wie es schien. Und so war Avas Buch zu Adharas Flucht aus dem Alltag geworden. Jeden Abend hatte sie sich in diese Welt hineingeträumt. Eine Welt, die sie nach ihren Wünschen gestalten konnte. Und jetzt? Jetzt stand sie wahrhaftig im grossen Garten einer Tempelanlage, die Avalon hätte sein können, und wartete auf den Bescheid, ob sie aufgenommen werden würde. Oder war dies vielleicht nur wieder einer ihrer Tagträume? Eine Windböe traf ihr Gesicht mit eisiger Kälte und bestätigte Adhara die Echtheit dieses Ortes. Erleichtert schloss sie die Augen. Die Luft roch klar und frisch. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, um sich zu beruhigen. Ein paar trompetenartige Rufe rissen sie jedoch aus ihrer Ruhe und lenkten ihre Aufmerksamkeit nach oben. Der Wind peitschte ihre Haare wild in alle Richtungen, sodass sie sie festhalten musste, um ungehindert sehen zu können. Eine Schar Kraniche flog gerade Richtung Norden und machte lautstark auf sich aufmerksam. Ein Zeichen, dass der Frühling vor der Tür stand. Hier oben war es viel kälter und windiger als in Adharas Heimat Netarien. Trotz der wenigen Kleidung, die sie anhatte, machte ihr der bissig-kalte Wind nichts aus. Sie genoss die Wucht, mit der er an ihrem Gesicht vorbeizog, und stellte sich vor, wie er all ihre bedrückenden Gefühle und wirren Gedanken forttrug: die Erinnerung an den Alten und ihre Flucht vor ihm, den Schock, dass ihre Eltern nicht zu ihr gestanden hatten, sowie den Schmerz, dass sie ihre Familie wohl nie wieder sehen würde. Ihre Zweifel und Ängste waren immer noch da, aber dieser Ort faszinierte sie. Tief in ihr drinnen fühlte sie, dass sie das Richtige getan hatte. Einige Mädchen und Jungen huschten schweigend an ihr vorbei und verschwanden in der grossen Holzpyramide, welche in der Mitte des prächtigen Gartens stand. Der Geruch von geräuchertem Salbei zog an ihr vorbei. Was sie wohl dort drinnen machten? Falls Adhara bleiben durfte, würde sie es bald erfahren. Doch was war, wenn sie abgewiesen wurde? Dieser Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Sie wusste nicht, was sie dann tun sollte. Ihr bliebe nichts anderes übrig, als weitere Nächte draussen in der Kälte zu verbringen. Um sich von diesen beklemmenden Gedanken zu lösen, ging sie ihre Ankunft im Tempel in Gedanken durch.

Sie stand lange unter dem Tor des Vorhofs und starrte auf die Eingangstür des Hauptgebäudes, die sich auf der anderen Seite des Platzes befand. Jetzt, wo sie endlich da war, traute sie sich nicht zu klopfen. Als jedoch ein paar Menschen über den Vorhof liefen und sie neugierig anstarrten, kamen ihre Beine endlich in Bewegung.

Die grosse, schwere Holztür quietschte beim Öffnen, und eine nette Dame bat sie herein. Nachdem sie ihr Anliegen mit unsicherer Stimme vorgetragen hatte, erklärte ihr die Frau, dass der Entscheid über eine Aufnahme im Tempel allein beim Tempeloberhaupt, der Weisen Herma Libra, liege. Sie würde gerne nachfragen, ob sie Zeit hätte, Adhara zu empfangen. Nach einem nachdenklichen Blick rief die Dame einen jungen Mann herbei, der sich in der Nähe gerade um ein paar Pflanzen kümmerte. Er war nur wenig älter als Adhara. Sein selbstbewusstes Auftreten liess ihn jedoch viel reifer wirken. «Adhara, das ist Nathanael», erklärte die Frau. Und zum Jungen gerichtet sagte sie: «Nathanael, bitte leiste Adhara Gesellschaft, bis ich wieder zurück bin.» – «Natürlich, Herma Anele», gab dieser respektvoll zurück. Anele musterte die beiden einen Augenblick, dann schritt sie eilig davon.

Nathanael drehte sich zu Adhara, lächelte sie an und neigte den Kopf leicht nach vorne: «Herzlich willkommen im Sonnen-Tempel!» Adhara tat es ihm gleich, bekam aber keinen Laut heraus. Sie hatte ihr ganzes bisheriges Leben in einem kleinen Dorf verbracht, in welchem sie nicht nur alle Dorfbewohner:innen kannte, sondern auch deren Tiere. Nur selten verirrten Fremde sich in ihr Dorf. Deswegen war sie es nicht gewohnt, mit fremden Menschen zu sprechen. Sie hatte es kaum geschafft, ihr Anliegen der netten Dame Anele vorzutragen. Nathanael liess sich von ihrem Schweigen jedoch nicht verunsichern. «Komm, ich zeig dir den Innenhof. Es ist ein besonders schöner», erklärte er freundlich und forderte sie auf, ihm zu folgen.

Nach einem kurzen Korridor betraten die beiden den Innenhof und Adharas Lippen formten ein andächtiges «wow». Es war, als hätte sie eine andere Welt betreten. Die Luft war ungewöhnlich warm und feucht, ähnlich wie an einem warmen Tag im Wald nach einem Regenschauer. In der Mitte stand ein wunderschöner, mysteriöser Baum. Auf der Seite plätscherte Wasser in einem imposanten Brunnen. Überdacht war der Innenhof mit einer Glaskuppel, welche mit farbenfrohen Ornamenten verziert war. Adharas Augen klebten an der eindrucksvollen Decke, bis ihr Nacken das Hochschauen unerträglich machte. Sie hatte noch nie so etwas Grosses und Schönes, von Menschenhand Gemachtes gesehen. Auch ein Brunnen im Inneren des Hauses war ihr völlig neu. So etwas wäre in ihrer regenarmen Heimat undenkbar gewesen. Das Wasser des Brunnens floss von einem oberen Becken in ein unteres. Von dort fiel es auf der einen Seite zu Boden, wo es von einem kleinen rauschenden Bächlein fortgetragen wurde.

«Das obere Becken ist zum Wasser schöpfen und muss immer sauber bleiben», erklärte Nathanael. «Das zweite Becken hier unten ist für das Waschen der Hände und des Gesichtes. Gäste reisen meist von weit her an und schätzen diese kleine Erfrischung, bevor sie empfangen werden.» Vorsichtig streckte Adhara ihre Hände Richtung Waschbecken. «Nur zu!», ermutigte Nathanael sie.

Es war tatsächlich eine belebende Wohltat das frische, kalte Bergwasser in den Händen zu spüren und sich das Gesicht damit zu waschen. Mit den nassen Händen versuchte sie ihre struppige Frisur etwas glatt zu streichen. Sie hoffte, dass ihre Haare nicht allzu zerzaust aussahen. Die letzten Tage hatte sie im Wald geschlafen und machte wohl auch mit dieser wohltuenden Erfrischung keinen angemessenen Eindruck, um dem Oberhaupt des Tempels gegenüberzutreten. Doch sie hatte keine Zeit, sich lange den Kopf darüber zu zerbrechen. Denn der Brunnen war nicht das Einzige, was sie in den Bann zog. Fasziniert betrachtete sie den seltsamen Baum in der Mitte des Innenhofs und ging langsam auf ihn zu. Der Stamm reichte weit in die Höhe, die Äste hingen weich und beweglich herunter, ähnlich wie bei einer Trauerweide. Die Blätter waren klein und herzförmig und glichen denen einer Linde.

Als Nathanael Adharas staunende Augen sah, meinte er begeistert: «Du solltest den Baum in der Nacht sehen! Die Blätter leuchten, wenn sie sich bewegen!» Sie schaute ihn ungläubig an. «Du musst mir nicht glauben. Du kannst es heute Abend mit eigenen Augen sehen», erwiderte er ihren ungläubigen Blick. «Aber keine Angst, es ist keine Magie, sondern ein erklärbarer biochemischer Vorgang. Etwas Ähnliches gibt es im jesurischen Meer. Wenn du dort in der Nacht Steine am richtigen Ort ins Wasser wirfst, dann leuchtet das Wasser. Das wird Plankton genannt.»

«Ja, sowas hab ich schon mal gehört», bestätigte Adhara, die vor Staunen ihre Scheu vergessen hatte.

«Oh, sie kann ja sprechen!», kommentierte Nathanael amüsiert und fuhr mit seinen Erklärungen fort, ohne eine Reaktion von ihr abzuwarten. «Hier ist es dasselbe. Die Blätter enthalten etwas, das dem Plankton im Wasser sehr ähnlich ist und durch die Bewegung aktiviert wird.»

Während Adhara Nathanael gespannt zuhörte, lief sie langsam um den Baum herum, um ihn genaustens in Augenschein zu nehmen. Sie nahm einen einzigartigen, unvergleichbaren, dezent lieblichen Duft wahr, der eine angenehme Ruhe und Gelassenheit in ihr auslöste. «Ich hab noch nie von einem Baum gehört, der leuchtet!», meinte sie fasziniert.

«Er ist auch der Einzige seiner Art in ganz Wallhandria», erklärte er ihr. «Deswegen steht er unter unserem Schutz. Dieser Herlumis ist der Grund, wieso der Sonnen-Tempel hier gebaut wurde.»

«Herlumis?»

«So heisst die Baumart. ‹Her› kommt von Hermes und ‹Lumis› steht für Licht. In der Sprache des Volkes wurde der Baum auch Hermeslicht genannt.»

«Was ist mit den anderen passiert?»

«Das Bewusstsein der Menschen ist nach dem Grossen Krieg stark gefallen. Sie wurden gierig. Jeder beanspruchte den Saft des Baums für sich. Weisst du, in allen Zeiten haben wir in Wallhandria den Saft des Herlumis angezapft. Er schmeckt nicht nur ausserordentlich gut und erfrischend, er ist auch ein Heilmittel. Früher setzten die Menschen den Saft sehr gezielt und nur in kleinen Mengen ein. Doch nach dem Grossen Krieg erlagen sie immer mehr ihrer Gier. Sie hörten nicht mehr auf die Hüter:innen des Waldes und zapften jeden Herlumis an, den sie finden konnten. Sie liessen die Bäume regelrecht ausbluten, ohne über die Folgen nachzudenken. So lange bis kein Herlumis mehr übrig war.»

Adhara gab ein bedrücktes «Oh» von sich.

«Ja, das ist in der Tat eine Tragödie», bestätigte Nathanael. «Wir versuchen schon lange neue Herlumis zu ziehen, aber die Samen sind sehr fragil und wir finden einfach nicht heraus, warum sie nicht wachsen wollen. Es ist uns leider bis heute nicht gelungen, einen neuen Baum zu ziehen. Unsere Ur-Grossmutter Lumis hier wird wohl unser einziger Herlumis bleiben. Wir können nur hoffen, dass sie noch lange durchhält.» Gerne hätte Adhara noch mehr erfahren. Nathanael war ein guter Erzähler und der Baum äusserst faszinierend. Doch Anele war zurück.

«Die Weise Herma erwartet dich in ihrem Arbeitszimmer», verkündete sie lächelnd.

Adhara neigte zum Abschied den Kopf leicht Richtung Nathanael und murmelte ein leises: «Danke.»

«Es war mir ein Vergnügen!», erwiderte er strahlend und sah ihr direkt in die Augen. Adhara schaute verlegen weg. Sie war es nicht gewohnt, dass sie jemand so offen wahrnahm. «Und wenn du mehr über den Herlumis erfahren willst», ergänzte er, «dann kannst du mich jederzeit in der Baumschule besuchen. Die findest du gleich hinter den Stallungen im Wald.» Dann drehte Nathanael sich um und verschwand im Korridor, woher sie gekommen waren.

«So, und wir gehen die Wendeltreppe dort drüben hoch», erklärte Anele Adhara. «Das Arbeitszimmer der Weisen Herma befindet sich im obersten Stock.»

Etwas atemlos brachte Adhara die letzten Stufen der Wendeltreppe hinter sich. Während Anele zielstrebig vorauslief, blieb Adhara, oben angekommen, wie angewurzelt stehen. Durch die offenen Gänge zur Mitte hin präsentierte sich ein beeindruckender Blick auf den Innenhof und auf die farbenfrohe Mosaikdecke.

«Komm!», rief ihr Anele zu. «Wir dürfen die Weise Herma nicht warten lassen.» Und so eilte Adhara ihr hinterher.

Anele klopfte an eine Tür und öffnete sie sogleich. Dahinter erhob sich eine Frau von einem runden Tisch und kam auf die beiden zu. Im ersten Moment strahlte sie eine gewisse Härte und Unnahbarkeit aus. Als sie jedoch Adhara erblickte, schenkte sie ihr ein warmherziges Lächeln, was alle Härte von ihr abfallen liess. Adhara war von ihrer Anmut gleichzeitig beeindruckt und eingeschüchtert. «Ich bin die Weise Herma», erklärte die Frau. «Komm herein, und setze dich.» Verunsichert schaute Adhara zu Anele, die ihr aufmunternd zunickte. Als Adhara sich an den runden Tisch gesetzt hatte, hörte sie wie die Tür wieder ins Schloss fiel. Ein Blick nach hinten bestätigte ihr, dass Anele das Zimmer verlassen hatte und sie nun mit der Weisen Herma allein war. Adhara wurde nervös. Konnte sie das Tempeloberhaupt überzeugen, dass sie hierbleiben durfte?

«Wir lehren hier nicht die Religion, sondern die universellen Gesetzte und die Lehren des Hermes», war eines der ersten Dinge, welche die Weise Herma Adhara erklärte. «Verstehst du den Unterschied?» Adhara hatte keine Ahnung. Trotzdem nickte sie aus Angst, wegen ihrer Unwissenheit abgewiesen zu werden. «Deswegen nennen wir uns auch nicht Priester:innen, sondern Hermes-Anhänger:innen oder Hermis», fuhr die Weise Herma weiter. «Haben deine Eltern dich die Religion gelehrt?»

Adhara schüttelte den Kopf. Sie hatte weder von den Lehren des Hermes noch von der Religion eine Ahnung. Doch sie wollte eine Herma werden. Vielleicht war das ihr Schicksal, vielleicht hatte sie aber auch einfach keine andere Wahl. Dieses Gespräch musste unbedingt zu einer Aufnahme führen. Deswegen musste sie etwas sagen und nicht nur stumm dasitzen: «Aber ich weiss», erklärte sie, «dass eine Frau Herma und ein Mann Hermo genannt wird.» Sogleich ärgerte sie sich über diese dumme Aussage und darüber, dass ihr nichts Intelligenteres eingefallen war. Denn das wusste nun wirklich jedes Kind.

«So ist es», bestätigte die Weise Herma und schenkte ihr ein warmes Lächeln. «Hat dein Dorf auch Hermis, die ihre Dienste zur Verfügung stellen?»

«Ja, ein Hermo besucht jeweils die alten Menschen im Dorf. Aber ich habe nie mit ihm gesprochen.»

Die Weise Herma murmelte darauf ein schwer interpretierbares «m-hm» und nickte. «Weisst du, es gibt verschiedene Wege, die ein:e Hermi beschreiten kann. Einer ist Heiler:in. Die Hermis, die diesen Weg wählen, reisen in ganz Wallhandria herum und stellen ihre Heilfähigkeiten in den Dienst der Menschen. Der Hermo, den du gesehen hast, ist so ein Heiler.»

«Und was sind die anderen Wege?», fragte Adhara. Eher, um eine Frage zu stellen und ihr Interesse zu bekunden, als dass sie die Antwort interessiert hätte.

«Es gibt Orakel, Künstler:innen, Hand- und Naturwerker:innen, Wissenschaftler:innen, Lehrer:innen und Redner:innen. Aber zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Alles zu seiner Zeit.»

«Adhara!?»

Eine durch den Wind verzerrte Stimme riss Adhara aus ihren Erinnerungen. Sie drehte sich in die Richtung, aus welcher der Ruf gekommen war, und sah eine Frau auf sie zukommen. Sie hatte langes, gerades, schwarzes Haar, das von weissen Strähnen durchzogen war. Die Frau war eingepackt in einen für Hermes-Anhänger:innen typischen Kapuzenmantel. Die Kapuze hielt sie mit beiden Händen fest, während der Wind ihre Haare nach hinten schlug und versuchte, mit der Kapuze das Gleiche zu tun.

«Da bist du ja! Ich hab dich schon überall gesucht», meinte die Frau.

«Das tut mir leid», erwiderte Adhara verlegen und schaute zu Boden. «Die Weise Herma meinte, es wäre in Ordnung, wenn ich im Garten warten würde.»

«Das muss dir nicht leidtun», erklärte die Frau aufrichtig. Als Adhara nicht hochschaute, schob sie ihr zwei Finger unter das Kinn und hob es sanft an. «Ich hätte ja die Weise Herma fragen können, wo du bist.» Adhara blickte in tiefgraue strahlende Augen und vielleicht das liebevollste Gesicht, das ihr je in ihrem Leben begegnet war. «Ich bin Ashera. Willkommen im Sonnen-Tempel.»

«Danke», murmelte Adhara scheu.

«Die Weise Herma hat mich gebeten, dir alles zu zeigen. Sie hat mir auch von deiner Flucht erzählt. Du musst völlig erschöpft und durchfroren sein. Das ist ein beträchtliches Stück, das du da zu Fuss hinter dich gebracht hast. Wir werden zuerst in die Küche gehen und dir etwas Warmes zu Essen besorgen. Danach kannst du dich ausruhen.»

«Erlaubt mir die Weise Herma zu bleiben?», fragte Adhara gebannt.

«Das tut sie», bestätigte Ashera und legte ihre Hände auf Adharas Rücken, um sie so zum Hauptgebäude zurückzuführen. «Libra, wie wir sie nennen, hat mich gebeten, alles für deinen Unterricht zu besorgen. Morgen werden wir die nötigen Sachen zusammensuchen. Hat dir Libra erklärt, dass ich für alle auszubildenden Hermis und ihr Wohlbefinden zuständig bin?» Adhara nickte, obwohl die Weise Herma ihr dies nicht erzählt hatte. «Du kannst zu jeder Tages- und Nachtzeit an meine Tür klopfen, wenn du etwas brauchst oder dir etwas auf dem Herzen liegt.» Ashera blieb stehen und schaute ihr tief in die Augen. «Ich hab auch mitten in der Nacht ein offenes Ohr.» Adhara mochte Ashera. Sie war liebenswert und herzlich. Ihr ganzes Wesen strahlte Anmut und Güte aus.

Die Küche war einfach eingerichtet und hatte mehrere lange Holztische und Bänke. Wahrscheinlich war es eng, wenn alle Bewohner:innen auf einmal hier waren, aber allein am Ende des langen Tischs kam Adhara sich verloren vor. Ashera durchstöberte die Essenskammer und machte ihr am Ende einen Teller Suppe und etwas Gemüse warm. Währenddessen verharrten Adharas Augen auf dem Kuchen, der auf dem Tresen stand. Sein süsslicher Duft machte das Warten auf Essen unerträglich. Als Ashera Adharas grosse Augen sah, sagte sie verständnisvoll: «Ich lege dir ein grosses Stück für morgen auf die Seite, aber heute würden wir deinen Magen damit überfordern.» Adhara nickte enttäuscht. Sie hätte Bauchschmerzen für ein Stück Kuchen in Kauf genommen. Doch die Enttäuschung war bald vergessen. Denn auf dem Weg hierhin hatte sie nur Beeren und Blätter gegessen. Dagegen war dieses einfache, aber warme Essen wie ein Festmahl.

Als Adhara fertig gegessen hatte, streckte Ashera ihr einen Mantel entgegen: «Wir müssen ein gutes Stück laufen bis zu deiner Unterkunft.» Adhara schaute sie verwundert an und Ashera erklärte: «Die wenigsten Hermis wohnen hier im Hauptgebäude. Wir haben verschiedene Lebensgemeinschaften rund um den Sonnen-Tempel. Du wirst sie mögen. Wir nennen sie Weiler. Sie bestehen aus verschiedenen kleinen Wohnhäusern und einem Gemeinschaftsraum mit Küche.» Auf dem Weg zu Adharas neuer Wohngemeinschaft erzählte Ashera weiter: «Die Weiler sind alle einzigartig. Die einen sind für ein sehr naturverbundenes Leben gemacht, andere bieten wiederum mehr Annehmlichkeiten. Wir haben zum Beispiel einen Weiler, der aus Baumhütten besteht und eine andere Gemeinschaft wohnt wiederum in Höhlen. Weisst du, jede Gemeinschaft kann selbst entscheiden, wie sie leben möchte. Und bei Bedarf können auch neue Gemeinschaften geschaffen werden. Da wo du wohnen wirst, sind beispielsweise alle Dächer pyramidenförmig.»

«Warum? Ich meine, was ist die Absicht hinter den pyramidenförmigen Dächern?»

«Das ist eine sehr gute Frage, Adhara. Neben den persönlichen Aufgaben eines Hermis hat jede Lebensgemeinschaft noch einen eigenen Schwerpunkt. Die einen schauen zum Beispiel zum Wald, die anderen zu den Wildtieren, andere wiederum kümmern sich hauptsächlich um unsere Nutztiere und einige sind vor allem im Anbau von Essen tätig. Meistens ist die Wohnsituation auf diesen gemeinschaftlichen Schwerpunkt ausgerichtet. Deine Gemeinschaft beschäftigt sich stark mit der geistigen Welt. Und dabei hilft die Energieform der Pyramide.»

«Und wenn ich da nicht hinpasse? Ich habe keine speziellen Fähigkeiten!», erklärte Adhara aufgewühlt und den Tränen nahe. Dieser Tag war ein einziges Auf und Ab und sie war mit ihren Nerven am Ende.

«Mach dir darüber keine Sorgen.» Ashera strich sanft über Adharas Rücken. «Die Weise Herma hat sich das gründlich überlegt. Sie ist sehr gut darin, das Potenzial der Menschen zu erkennen. Abgesehen davon ist es egal, wo du wohnst. Es werden überall verschiedene Fähigkeiten gebraucht. Ich bin sicher, wir finden etwas, das du gut kannst und gerne tust.»

Adharas Weiler war mitten im Wald. Einige der kleinen Holzhütten mit Pyramidendächern konnten sie bereits auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum sehen. Andere waren wohl versteckt und versunken im Meer der Bäume. Deswegen war es schwer einzuschätzen, wie viele Häuser es insgesamt waren. Der Mittelpunkt des Weilers bildete eine Lichtung mit einem grossen Gemeinschaftshaus und einer Feuerstelle im Freien. Im Haus erkundigte sich Ashera nach Zaza. Eine hagere, nicht allzu grosse Frau mit langen Filzlocken erschien und begrüsste die beiden herzlich. Zaza zeigte Adhara alles Nötige im Gemeinschaftshaus und führte sie und Ashera dann einen kleinen Trampelpfad entlang zu Adharas Zimmer. Es war ebenfalls ein kleines, einfaches Häuschen, das lediglich aus einem Raum und einem Pyramidendach bestand. Doch Adhara fand es wunderschön.

«Wie viele schlafen hier drin?», fragte sie neugierig. «Nur du. Das ist dein eigenes Zimmer», erklärte Zaza.

Adhara bekam grosse, ungläubige Augen. Beim Alten hatte sie zwar auch ein eigenes Zimmer gehabt, aber das hier war etwas ganz Anderes. Hier konnte sie jederzeit das Haus verlassen, ohne unter Kontrolle zu stehen.

«Die Hermi-Ausbildung beinhaltet sehr viel Selbststudium», erklärte Ashera ihr. «Deswegen legen wir Wert darauf, dass unsere Hermi-Adepten, wie wir unsere Hermis in Ausbildung nennen, ihren eigenen Raum haben.»

Adhara verstand nicht wirklich, was Ashera damit meinte. Wie sollte sie denn etwas lernen, wenn sie allein war? Sie brauchte doch Lehrer:innen, die ihr sagten, was richtig und was falsch war. Aber sie fragte nicht nach. Die Weise Herma hatte beim Aufnahmegespräch schon versucht, ihr zu erklären, was im Tempel gelehrt wurde. Trotzdem konnte sie sich keine Vorstellung davon machen.

Zaza und Ashera liessen Adhara allein in ihrem kleinen Pyramiden-Zimmer-Haus zurück, damit sie sich etwas erholen konnte. Doch trotz Müdigkeit fand Adhara keine Ruhe. In der stillen Einsamkeit überkam sie die Panik. Sie fühlte sich sehr dumm und unwürdig. Was wusste sie schon über diesen Ort. Die Hermis bildeten sich in verschiedenen Gebieten aus und einige boten ihre Dienste dem Volk an. Sie reisten in ganz Wallhandria herum und trugen dabei beeindruckende Kapuzenmäntel. Im Gegensatz zu den wenigen Pferden aus ihrem Dorf waren die Pferde der Hermis immer wohl genährt und kräftig. Ja, das war alles, was sie über diesen Ort und dessen Menschen wusste. Ah, und wenn irgendwo ein Kind mit speziellen Fähigkeiten lebte, wurde dieses hierhergebracht, um seine Fähigkeiten auszubilden. Wie konnte sie nur so eingebildet sein und hierherkommen? Schliesslich besass sie nicht nur keine besondere Gabe, sie wusste auch überhaupt nichts über Hermes oder seine Lehren. Dazu kam, dass sie mit ihren bereits fünfzehn Jahren eigentlich zu alt war, um noch in der Tempelschule aufgenommen zu werden. Dies hatte jedenfalls die Weise Herma Libra ihr gegenüber erwähnt. Sie würde also nicht nur mit dem Schulstoff hinterher sein, ihre Schulkameraden waren alle auch noch mit übersinnlichen Fähigkeiten gesegnet. Da würde sie wohl nicht lange mithalten können.

Diese Einsicht schockte Adhara so sehr, dass sie ernsthaft überlegte wegzurennen. Aber die Erinnerung an die letzten ungemütlichen Nächte draussen in der Kälte und der Dunkelheit bewegten sie erstmal hierzubleiben und das warme, weiche Bett zu geniessen. Samt Kleidung kuschelte sie sich unter die warmen Decken und lauschte, was der Wald zu erzählen hatte. Der Wind tanzte mit den Bäumen und ein paar Vögel plauderten miteinander. Als Ashera mit einem Schlafanzug zurückkam, schlief Adhara bereits tief und fest.

7 JAHRE SPÄTER

SONNEN-TEMPEL

MITTELREICH

«Haben sie uns denn nicht immer gepredigt, dass es wichtiger ist, es zu versuchen, als es zu schaffen?»

Nubi

Junge Herma

Adhara blickte in Richtung Süden auf das jesurische Meer. Von hier aus hatte sie einen besonders guten Blick auf das Südreich. Sie war immer wieder fasziniert vom Anblick von so viel Wasser. Wahrscheinlich rührte das daher, dass Netarien, wo sie aufgewachsen war, eine sehr regen- und wasserarme Region gewesen war. Sie sass auf einem Stein unter einer alten Eiche am Rande des grossen Tempelgartens. Dies war ihr Lieblingsplatz und der Ort, den sie aufsuchte, wenn sie eine Entscheidung treffen musste, Kummer hatte oder einfach Ruhe suchte.

Die Stadt Jesurien war wegen des anliegenden Meeres und der waldlosen Landschaft um die Stadt herum leicht zu erkennen. Adhara versuchte auch die anderen Städte im Süden auszumachen. Hoderien im Südwesten und Netarien im Südosten lagen zwar etwas näher beim Tempel, ihre Lage konnte jedoch wegen der hügligen Waldlandschaft des Mittelreiches nur erahnt werden. Im Norden verdeckten die Niederberge den Blick auf die beiden Reiche Geburien und Hesarien. Das Einzige, was die Niederberge vom Norden preisgaben, waren die ewig schneebedeckten Berggipfel der Hochberge, die hinter den nördlichen Königreichen in unermessliche Höhen ragten und als unüberwindbar galten. Als Adhara vor sieben Jahren im Tempel angekommen war, war sie der festen Überzeugung gewesen, dass es möglich sein müsste, vom Dach des Hauptgebäudes über die Niederberge hinaus in die beiden Nordreiche zu sehen. Denn neben dem netarischen Königspalast hatte sie noch nie in ihrem Leben ein so grosses Gebäude gesehen wie das Hauptgebäude des Sonnen-Tempels. Heute musste sie über ihre damalige Naivität schmunzeln. So vieles hatte sich verändert. Sie war nicht mehr das schüchterne, unwissende Mädchen von damals. Nein, sie war zu einer selbstbewussten, jungen Herma gereift.

Im Tempel ging es heute besonders hektisch zu. Während die Königreiche das Ende des Grossen Krieges, das mehr als 1000 Jahre zurücklag, mit viel Trubel und Heiterkeit feierten, gedachten die Hermis des grossen Verlusts, den das Ende dieses Krieges mit sich gebracht hatte, den Verlust ihres Meisters Hermes. Hermes war der grösste Weise, den Wallhandria je gesehen hatte. Gemäss Legende wurde er mit dem Ende des Krieges vertrieben. Er soll in die Hochberge gegangen und angeblich nie wieder gesehen worden sein. Vor diesem schrecklichen Krieg war das Wissen über die universellen Gesetze für alle zugänglich gewesen. Es waren die goldenen Jahre, Wallhandria noch ein geeintes Land und Hermes dessen Weiser Vater gewesen. Der alte Hermes-Tempel, sein damaliger Wirkungsort, stand nicht weit vom Sonnen-Tempel entfernt. Es waren zwar nur noch einige Ruinen übrig, trotzdem wurde der Ort immer noch für spezielle Feierlichkeiten oder Zusammenkünfte genutzt. So auch für die bevorstehende Gedenkfeier der Hermis.

Die Teilnahme war eine unausgesprochene Pflicht und eine Ehrensache für alle Tempelbewohner:innen. Alle, die sich von der Arbeit losreissen konnten, würden zum alten Hermes-Tempel reisen und der dreitägigen Andachtsfeier beiwohnen. Adhara ging eigentlich immer gerne hin. Doch seit sie im letzten Jahr zur Heilerin geweiht worden war, genoss sie jede Minute, die sie im Sonnen-Tempel verbringen konnte, da sie seither viel unterwegs war und die ganze Verantwortung für ihr Tun allein tragen musste. Das war nicht immer leicht. Sie vermisste die unbeschwerte Zeit als Herma-Adeptin. In der Hoffnung auf ein paar ruhige Tage im Tempel, meldete sie sich freiwillig für die Tempelwache. Sie würde mit ein paar wenigen anderen im Sonnen-Tempel zurückbleiben für allfällige Notfälle. Denn abgesehen davon würden die Hermis an diesen Tagen keine Arbeiten verrichten oder Dienste anbieten. Dies war auch nicht nötig, denn ganz Wallhandria feierte und die Menschen taten nur die Dinge, die sie wirklich nicht verschieben konnten.

Sich für die Tempelwache zu melden, war die Idee von Adharas bester Freundin Nubi gewesen. Die beiden Freundinnen wohnten im gleichen Weiler. Doch seit der Weihung zur Herma sahen sie sich nur noch selten. Adhara war als Heilerin gezwungenermassen viel unterwegs, während Nubi den Weg der Wissenschaft ging. Ihr Reich war vor allem die Bibliothek. Die beiden hofften, wenn sie von der Gedenkfeier fernbleiben konnten, endlich wieder einmal mehr Zeit miteinander verbringen zu können. Adhara hatte Nubis Vorhaben zuerst nur zugestimmt, damit Nubi Ruhe gab. Sie glaubte nicht ernsthaft, dass sie für die Tempelwache ausgewählt würde. Schliesslich war sie erst knapp ein Jahr eine geweihte Heilerin. Normalerweise waren die Tempelwachen den erfahrenen Hermis vorbehalten. Als die Wahl wider Erwarten auf sie fiel, beschlich sie ein schlechtes Gewissen. Auch wenn sie sich von Nubi hatte drängen lassen, hatte sie dies nur getan, weil ihr die Aussicht auf ein paar freie Tage durchaus gefallen hatte. Nun, wo sie diese bekam, schämte sie sich für ihren Egoismus. Hermes hätte ihren Respekt und ihre Teilnahme an der Gedenkfeier verdient. Es war nicht selten, dass Adhara sich von Nubi in eine unangenehme Situation drängen liess. Nubi hatte ein fotografisches Gedächtnis und immer viele Ideen, die sie auch gewillt war umzusetzen. Und auch wenn Adhara nicht wollte, landete sie immer irgendwie mittendrin.

In Adharas Augen war Nubi einer der cleversten Menschen. Deswegen war es für sie keine Überraschung, dass Nubi sich für den Weg der Wissenschaft entschieden hatte. Im Gegensatz zu Nubi hatte Adhara grosse Mühe gehabt, sich für einen Weg zu entscheiden. Alle, abgesehen von ihr, schienen ihre Berufung zu kennen. Adhara war zwar überall gut, jedoch nirgends hervorragend. Schliesslich hatte sie sich für den Weg der Heilerin entschieden. Nicht weil sie besonders begabt gewesen wäre oder weil sie sich dazu berufen gefühlt hätte, sondern weil sie so die Möglichkeit hatte, ganz Wallhandria zu bereisen. Es war mehr dieser Aspekt, den sie am Weg der Heilerin faszinierte, als das Heilen selbst. Abgesehen davon hatten die Hermis einen konstanten Mangel an Heiler:innen. Sie waren um alle froh, die sich auf diesen Weg begaben. Und sie war ja auch nicht verpflichtet, ihr Leben lang Heilerin zu bleiben. Den Hermis war es durchaus erlaubt, ihren Pfad zu wechseln. Und das hatte Adhara auch vor, sobald sie Wallhandria gesehen und ihre Berufung gefunden haben würde.

Da Nubi keine Heilerin war, konnte sie sich nicht für die Tempelwache melden. Die Bibliothek war für die Dauer der Gedenktage geschlossen und alle anderen Tätigkeiten konnten ebenfalls warten. Somit gab es für sie keinen Grund, im Tempel zurückzubleiben. Adhara und Nubi grübelten lange, um eine Möglichkeit zu finden, wie auch Nubi für die Gedenktage im Tempel bleiben könnte. Ohne Erfolg. Doch dann bot das Leben selbst eine ideale Gelegenheit. Jedenfalls war Nubi dieser Meinung. Adhara fand ihren Plan nicht ganz so überzeugend. Schon länger sollten in der Bibliothek ein paar neue Bücherregale eingebaut werden. Die Bretter waren zugeschnitten und standen bereit, doch die zuständige Person war schwer krank geworden und konnte die Arbeit nicht fertigstellen. Der Stillstand dieser kleinen Baustelle war für die Bibliotheksmitarbeiter:innen, wie auch die Nutzer:innen mühsam, aber nicht weiter tragisch. Nubi las an einem Nachmittag ein Buch über Tischlerei und war danach der festen Überzeugung, diese Arbeit selbst verrichten zu können.

Selbstbewusst meinte sie: «Ich habe mir den Plan des Handwerkers angeschaut. Er ist leicht zu verstehen.» Adhara schaute Nubi belustigt an. Doch Nubi blieb ernst. «Es ist alles bereits zugeschnitten. Ich muss nur noch die Bretter richtig zusammensetzen und die Nägel am richtigen Ort einschlagen. Das schaff ich schon.»

«Und wenn du es doch nicht schaffst?», wendete Adhara nun ebenfalls ernst ein.

«Dann habe ich es versucht und bin eben gescheitert», erklärte Nubi unbekümmert. «Es gibt gewiss schlimmere Vorwürfe als diesen.» Adhara zog skpetisch ihre Augenbrauen hoch. «Adhara! Haben sie uns denn nicht immer gepredigt, dass es wichtiger ist, es zu versuchen, als es zu schaffen?», erinnerte Nubi Adhara an eine der wichtigsten Leitsätze im Tempel.

Natürlich kannte Adhara diesen Leitsatz. Ebenso wusste sie, dass dieser im Sonnen-Tempel gelebt wurde. Doch trotz all der Jahre im Tempel und der Hermi-Ausbildung schaffte sie es nicht immer, auch so zu fühlen. Dazu kam, dass Nubis Vorhaben nicht selten ausuferten. Sie liebte ihre Freundin zwar für ihre Unbekümmertheit und ihren Mut, doch am Ende war es immer Adhara, die Nubi aus dem Schlamassel half. Und auch wenn sie jedes Mal schwor, dass sie es das nächste Mal nicht mehr tun würde, tat sie es doch immer wieder. Deswegen musterte Adhara Nubi mit einem prüfenden Blick. Sie wollte das grösstmögliche Chaos abschätzen, das Nubi mit ihrem neusten Vorhaben anrichten könnte.

«Adhara, sei nicht so pessimistisch! Es ist nur ein Bücherregal!», beendete Nubi die Unterhaltung.

An Nubis Tonfall wusste Adhara, dass sie keine Widerrede duldete und es sinnlos war, noch irgendetwas zu sagen. Überzeugt, nicht scheitern zu können, verfolgte Nubi ihren Plan zielstrebig. Zu Adharas Erstaunen schaffte sie es nicht nur, ihre Vorgesetzte davon zu überzeugen, dass sie die Regale zusammenbauen konnte, sondern auch, dass der beste Zeitpunkt während der Gedenktage war. Nubi erzählte Adhara später, dass ihre Herma, wie sie ihre direkte Vorgesetzte nannte, nach einem langen, prüfenden Blick und intensivem Stirnrunzeln schmunzelnd zugestimmt hatte. Ihre Herma hatte wohl geahnt, dass da noch etwas Anderes dahintersteckte, hatte sich aber entschieden, diesem Etwas nicht auf den Grund zu gehen und Nubi ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen.

Für Nubi war das Leben schon immer ein Abenteuer gewesen. Sie war viel sorgloser und verspielter als Adhara. Auch wenn die beiden Freundinnen die letzten Jahre die gleiche Ausbildung genossen und in den gleichen Lebensumständen gelebt hatten, ihre ersten fünfzehn Lebensjahre hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während Nubi im Schutz des Sonnen-Tempels behütet als Tochter einer Herma aufgewachsen war, hatte Adhara sich in ihrer Kindheit mehr geduldet als geliebt gefühlt. Sie hatte sich durch diese Jahre manövriert, indem sie ein artiges, fleissiges und unauffälliges Kind gewesen war. Auch heute noch verfiel sie ab und zu in dieses alte Muster. Doch mittlerweile war sie so glücklich, wie sie es sich als Kind nicht einmal zu erträumen gewagt hatte. Und das hatte sie mehrheitlich der Ausbildung im Sonnen-Tempel und den Lehren des Hermes zu verdanken. Deswegen wäre ihre Teilnahme an der Gedenkfeier mehr als angebracht gewesen.

Bei der Gedenkfeier wurde Hermes dafür gedankt, dass er das Wissen über die universellen Gesetze zu den Menschen gebracht und damit die Basis jeder modernen Entwicklung in Wallhandria gelegt hatte. Leider hatten die Menschen ausserhalb der Hermi-Gemeinschaft dies gänzlich vergessen und aufgehört, Hermes als Vater des fortschrittlichen Wallhandria zu sehen. Dadurch war viel Wissen verloren gegangen. Heute wurde seine Lehre nur noch im Sonnen-Tempel weitergegeben. Die Hermis waren sich im Klaren, dass sie bloss noch einen Bruchteil des Wissens besassen und hüteten es mit viel Sorgfalt. Adhara fand dieses bisschen Wissen schon sehr beeindruckend. Manchmal versuchte sie sich vorzustellen, was denn verloren gegangen sein konnte. Doch sie kam zum Schluss, dass ihr das Vorstellungsvermögen fehlte, um so fantastisch zu denken. Für sie war das wenige, übriggebliebene Wissen schon schwer greifbar.

Eine tiefe Dankbarkeit stieg in ihr hoch. Eine Dankbarkeit gegenüber Hermes, der Weisen Herma Libra, dem Tempel und dessen Bewohner:innen sowie gegenüber dem Wissen selbst. Ihre heutige Lebenseinstellung hatte so gar nichts mehr mit dem zu tun, was sie als Kind mitbekommen hatte. In dieser Hinsicht war sie keine aus dem Volk mehr und sie war froh darüber. Denn mit dem Wissen über die universellen Gesetze war das Leben so viel schöner und unbefangener. Heute konnte sie mit diesen Prinzipien arbeiten, anstatt gegen sie anzukämpfen. Das Volk hatte davon leider keine Ahnung mehr. Sie kämpften an allen Fronten und wanderten durch die dunklen Wirren des Lebens ohne Hoffnung auf Besserung. Jedenfalls hatte Adhara diesen Eindruck bei ihrer leiblichen Familie.

Sie war in Netarien auf die Welt gekommen. Das Südostreich war bekannt für seine charmante Hauptstadt. Sie war unumstritten die schönste in ganz Wallhandria. Das lag daran, dass sie ein Ballungszentrum für Künstler:innen war. Jedes Haus stellte ein Kunstwerk für sich dar. Um sich gegenseitig zu übertreffen, wurde nirgends an Farben, Formen, Skulpturen, Blumen und Kunst jeglicher Art gespart. Es gab wohl keinen leeren Flecken in der ganzen Stadt, der nicht künstlerisch genutzt wurde. Die Häuser strahlten in allen möglichen Regenbogenfarben und Formen. In den Vorgärten zeigten die Bewohner:innen ihre selbstgemachte Kunst, die auch gleich vor Ort gekauft werden konnte. Deswegen glich Netarien mehr einem grossen farbenfrohen Kunstmarkt als einer Stadt. Der schönste Ort war jedoch entlang des grossen Flusses Netar, der mitten durch die Stadt floss. Eingebettet in einen kleinen Wald mit vielen verschiedenen Spazierwegen war er bei frisch verliebten Paaren sehr beliebt. Der Höhepunkt eines solchen Spaziergangs bestand darin, ein Ruderboot zu leihen. Damit liessen sich die Verliebten flussabwärts treiben, was als äusserst romantisch galt. Überall ragten Stege ins Wasser, an welchen Boote für gutes Geld geliehen werden konnten. Der Park entlang der Netar war auch Adharas Lieblingsort in der Stadt gewesen. Als Kind hatte sie ihn einmal mit ihrer Familie besucht und war seither fasziniert von ihm. Ihre Eltern hatten sich zwar kein Ruderboot leisten können, doch sie und ihre Geschwister hatten einen Riesenspass gehabt, den Booten nachzurennen und den Insassen so lange zuzuwinken, bis

diese zurück gewunken hatten. Wenn sie heute als Herma nach Netarien reiste, besuchte sie den Park bei jeder Gelegenheit. Mittlerweile hätte sie sich ihren Kindheitswunsch, einmal mit dem Ruderboot den Fluss hinunterzufahren, erfüllen können. Trotzdem machte sie es nie. Sie kam sich albern vor, ein Boot zu leihen, um dann allein zwischen all den verliebten Paaren auf dem Wasser zu treiben. Deswegen setzte sie sich lieber auf eine Bank und schaute zu.

Die Netar machte die Stadt grün und fruchtbar. Der restliche Teil des Königreichs war hingegen sehr trocken. Abgesehen von einigen wenigen kleinen Siedlungen, die eine meist schwer zugängliche Wasserquelle hatten, war das Land unbewohnbar. In diesen Siedlungen wohnten hauptsächlich arme Familien, die sich das Stadtleben nicht leisten konnten. Das Leben dort war hart und Wassermangel ein Alltagsproblem. Adhara stammte aus einer dieser armen Siedlungen. Sie war sogar für die ärmlichen Verhältnisse des Dorfes sehr bescheiden aufgewachsen. Ihr Dorf hatte jedoch mehr Glück als andere Dörfer. Denn es gab einen älteren Herrn, der sich als Patron des Dorfes hervortat. Er hatte in der Stadt gut Geld verdient und war aus unbekannten Gründen irgendwann in Adharas Dorf gezogen. Er kümmerte sich um die Dorfbewohner:innen, indem er ihnen Geld lieh oder gar schenkte, wenn diese in Not waren. Deswegen wurde er von den Dorfbewohner:innen liebevoll Dorf-Vater genannt. Adhara mochte ihn. Sie brachte ihm jahrein jahraus jede Woche Eier, die er grosszügigerweise von ihrer Familie kaufte, um ihnen so ein kleines Einkommen zu verschaffen. Für die Lieferung wurde sie jeweils zusätzlich mit einem frisch gebackenen Keks belohnt.

Als sie 14 Jahre alt war, bot der Dorf-Vater ihr an, bei ihm als Haushälterin zu arbeiten. Seine aktuelle Haushälterin Ava hatte geheiratet und würde demnächst in die Stadt ziehen. Alle Dorfbewohner:innen beglückwünschten Adhara und ihre Familie für diese begehrte Arbeit. Dabei betonten sie immer wieder, wie glücklich ihre Familie sich schätzen konnte, dass der Dorf-Vater Adhara ausgewählt hatte. Ein paar Tage später zog sie bereits bei ihm ein und sorgte für ihn.

Am Anfang war alles in Ordnung. Adhara mochte ihre Arbeit und erhielt viel Lob für ihren Fleiss. Doch nach ein paar Wochen fing der Dorf-Vater an, sich merkwürdig zu verhalten. Er starrte sie immer öfter und viel zu lange an. Ebenfalls berührte er sie bei jeder Gelegenheit. Zum Beispiel musste er immer gerade etwas aus den Küchenschränken holen, wenn sie am Kochen war. Und immer genau aus dem Schrank, vor dem sie ihre Arbeit verrichtete. Auch berührte er sie immer häufiger, wenn er mit ihr sprach. Und dann waren da noch seine Blicke. Wenn er glaubte, sie würde es nicht merken, beobachtete er sie. Zuerst spielte Adhara diese Begebenheiten runter. Sie redete sich ein, dass sie überreagierte und die Sachlage falsch interpretierte. Um etwas Abstand zu gewinnen, fing sie an, ihn heimlich «der Alte» zu nennen. Auch versuchte sie ihm aus dem Weg zu gehen, doch dies erwies sich als schwierig.

Die Blicke und Berührungen wurden immer häufiger und offensichtlicher. Adhara liess einiges über sich ergehen, da sie sich nicht getraute, sich zu wehren. Er würde ihr wahrscheinlich sowieso nur sagen, dass sie dies falsch interpretierte und alles runterspielen. Denn abgesehen von gelegentlichen, scheinbar zufälligen Berührungen, die ihr unangenehm waren, und Beobachten war ja nichts passiert. Doch eines Tages küsste der Alte sie.

Sie war gerade am Kochen, als sie plötzlich sein dekadentes Vanilleparfüm wahrnahm. Ihr ganzer Körper verspannte sich und sie fragte sich, wieso er nicht merkte, dass ihr das äusserst unangenehm war, wenn er ihr so nahekam. Als nächstes spürte Adhara seine Hand auf ihren Schultern und sie drehte intuitiv den Kopf in seine Richtung. Da packte er ihren Nacken mit beiden Händen und schob gierig seine Zunge in ihren Mund. Adhara stiess in angewidert von sich. Sie brauchte ihre ganze Kraft dafür und es dauerte einen Moment, bevor sie sich von ihm lösen konnte. Panisch rannte sie weg. Der Alte griff zwar nach ihr, doch sie war schneller und konnte ihm entkommen.

Ohne recht zu verstehen, was gerade passiert war, rannte sie nach Hause zu ihren Eltern. «Kind, was ist denn los?», fragte ihr Vater besorgt, als sie ihm in der Küche in die Arme rannte. Überall da, wo der Alte sie gerade angefasst hatte, fühlte sie sich schmutzig. In der Hoffnung dieses Gefühl loszubekommen, löste sie sich aus der Umarmung und begann ihren Mund und ihre Zunge am Wasserbecken zu waschen. « Was ist passiert, Adhara?», fragte ihre Mutter, die in der Zwischenzeit auch dazugekommen war und ihr beruhigend über den Rücken strich. Als Adhara realisierte, dass sich das Schmutzgefühl nicht abwaschen liess, erhob sie sich und erzählte ihren Eltern, was geschehen war. Erst jetzt flossen die ersten Tränen.

«Du kannst heute hier bleiben», war die eher trockene Antwort ihres Vaters, als sie ihre Schilderungen beendet hatte.

«Heute?», fragte sie verdutzt.

«Ja, heute. Ich werde mit ihm reden. Ich bin sicher, dass sich alles klären lässt.»

Adhara blickte hilfesuchend zu ihrer Mutter. Diese schaute sie mit wässrigen Augen an, schwieg jedoch. «Dada, er hat mir seine Zunge in den Hals gesteckt!», sagte sie entsetzt. «Was will sich da klären lassen?»

«Adhara, du bist kein Kind mehr. Andere in deinem Alter heiraten.»

«Du willst, dass ich ihn heirate?»

«Das hab ich nicht gesagt.»

«Aber ich soll mich von ihm anfassen lassen?!»

Ihr Vater schaute zu Boden, um sich zu sammeln. Dann atmete er tief durch und meinte: «Wie gesagt, das lässt sich sicher alles klären. Wenn du dich entschuldigst, dann nimmt er dich vielleicht zurück.»

Das war der Moment, in dem Adharas Welt zusammenbrach. Voller Empörung und Verzweiflung rannte sie aus dem Haus und die Strasse entlang. Sie rannte und rannte, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen. Sie konzentrierte sich nur auf ihre Schritte und darauf, so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Schneller als gewöhnlich fehlte ihr die Luft. Auf ihrer Brust lastete ein fürchterlicher Druck und sie redete sich ein, dass er vom zu schnellen Rennen kam. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dies der Schmerz über den Verrat ihrer Eltern war. Als sie es nicht mehr aushielt, stoppte sie abrupt. Panisch und schwer atmend drehte sie sich um. Doch niemand folgte ihr. Niemand versuchte sie aufzuhalten. Adhara wusste nicht, ob sie froh darüber sein oder sich empören sollte. Sie musterte ihr Dorf. Alles schien wie immer. Hatte sie überreagiert? Sollte sie zurückkehren? Dieser Gedanke verstärkte den Druck auf ihrer Brust so sehr, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Nein! Sie konnte nicht zurückgehen und so tun, als wäre nichts gewesen. Sie würde nie mehr in dieses Dorf und zu ihren Eltern zurückkehren.

Diese Erkenntnis warf Adhara aus dem Fluchtmodus heraus und hinein in den nächsten Schock. Erst jetzt begann sie das Ausmass des gerade Geschehenen und dessen Folgen zu erfassen. Sofort füllten sich ihre Augen mit Tränen. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden gelegt, zusammengerollt und geweint. Doch sie konnte nicht zusammenbrechen, nicht hier und nicht jetzt. Entschlossen lief sie weiter die Strasse entlang, trotz Tränen, Schmerz und Schock. Sie lief, bis sie an die grosse Rundstrasse kam. Hier musste sie sich entscheiden, links Richtung Jesurien ins Südreich oder rechts Richtung Hesarien ins Nordostreich. Sie kannte in beiden Orten niemanden. Sie kannte überhaupt niemanden ausserhalb ihres Dorfes.

Voller Verzweiflung setzte sie sich etwas abseits der Rundstrasse unter eine Zeder. Nun war sie definitiv am Ende ihrer Kräfte. Sie konnte ihre Trauer, das Entsetzen und die Verzweiflung nicht mehr länger unterdrücken und fing bitterlich an zu weinen. Sie weinte so heftig, dass es ihren ganzen Körper schüttelte und sie fast keine Luft mehr bekam. Für einen Moment fühlte es sich an, als ob sie in ihrer Trauer und in ihrem Leid ertrinken und es sie gleichzeitig in tausend Stücke zerreissen würde. Panisch holte sie Luft. Es fühlte sich an, als ob sie nach einem viel zu tiefen Taucher in der letzten Sekunde wieder an die Wasseroberfläche zurückkehrte. Sie zwang sich zu ein paar weiteren tiefen Atemzügen, was ihr Nervensystem etwas beruhigte. Der Druck auf der Brust liess nach und ihre Tränen wurden stetig weniger. Stück für Stück nahm sie sich und ihre Umwelt wieder war.

Nachdem sie eine Weile ruhig dagesessen hatte, entschloss sie sich dazu, sich auf die Strasse zu stellen und zu warten, bis sie jemand in die eine oder andere Richtung mitnahm. Heute schien zwar nicht viel los zu sein, doch früher oder später würde bestimmt jemand vorbeikommen. Schliesslich war die Rundstrasse die Hauptverbindungsstrasse des ganzen Landes.

Auf dem Weg dorthin hörte Adhara von der Seite her ein Rascheln. Reflexartig versteckte sie sich hinter dem nächsten Baum. So viel zur Umsetzung meines Plans, dachte sie ärgerlich. Vorsichtig schaute sie hinter dem Baum hervor und erblickte einen Reiter gehüllt in einen Kapuzenmantel. Die Gestalt kam von einem Nebentrampelpfad und lenkte ihr Pferd gerade auf die Rundstrasse. Adhara erkannte die Züge einer Frau unter der Kapuze. Und obwohl sie sich sicher war, dass die Reiterin sie nicht sehen konnte, liess sie das Gefühl nicht los, dass die Frau sie einen kurzen Augenblick aufmunternd anlächelte. Ihr Lächeln war voller Güte und Liebe. Dieser flüchtige Moment gab ihr wieder Hoffnung.

Als die Frau an ihr vorbeigezogen war, bemerkte Adhara einen eingestickten Hermesstab auf dem Mantelrücken. «Eine Herma!», schoss es Adhara durch den Kopf. Das brachte sie auf eine Idee. Sie würde dorthin gehen, woher diese Herma wohl gerade hergekommen war, zum Sonnen-Tempel. Gemäss Erzählungen lag dieser in der Mitte des Mittelreichs auf einer Hochebene. Wenn die Hermis in die Dörfer kamen, um den Menschen zu helfen, dann würden sie bestimmt auch denen helfen, die zu ihnen kamen.

Ein flüchtiger Moment, der Adharas Leben eine drastische, unvorhersehbare Wende gegeben hatte. Die Zeiten waren auch hier im Tempel nicht immer leicht. Doch die Hermis begegneten ihr immer mit viel Liebe, Respekt und Verständnis. Etwas das sie bis dahin nicht gekannt hatte. Ebenfalls sah und lernte Adhara hier Dinge, von denen sie nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Zuallerletzt war der Alte, der Bruch mit ihrer Familie und die daraus resultierende Flucht ein Segen.

Vor einiger Zeit hatte ihr Vater sie sogar besucht. Kurz zuvor hatte sie begonnen, häufiger allein zu reisen, um ihre Dienste dem Volk zu bringen. Ihr Heimatdorf hatte sie dabei gemieden. Trotzdem musste sie jemand erkannt und ihrer Familie erzählt haben, dass sie nun eine Herma war.

Das Gespräch mit ihrem Vater war kein Vater-Tochter Gespräch, wie sie es sich immer in ihren Träumen ausgemalt hatte. Ihr Vater hatte sich zwar für das Geschehene entschuldigt, war ihr aber mit einer unterwürfigen Demut begegnet. Für ihn war sie eine unantastbare Herma und nicht mehr seine Tochter. Das schmerzte Adhara sehr. Vor ihr war nicht Dada, den sie so vergöttert hatte, sondern ein gebrochener alter Mann, der sich nicht getraute, sich ihr zu nähern. Doch auch wenn die Begegnung distanziert und schmerzhaft war, half sie ihr, mit der Vergangenheit in Frieden zu kommen. Sie fand die Reaktion ihrer Eltern von damals zwar immer noch nicht in Ordnung, aber mit dem Blick einer Herma und der Unterstützung ihrer Hermi-Familie konnte sie mehr Verständnis für das Handeln ihrer Familie aufbringen. Weder ihr Vater noch ihre Mutter hatten die Bildung bekommen, die sie geniessen durfte. Sie hatten nicht von all den fantastischen Dingen über das Bewusstsein der Menschen gehört und was sie alles damit erschaffen konnten. Ihre Eltern hatten das bestmögliche Leben für sie gewollt. Und in ihrer Weltvorstellung war Haushälterin beim Alten oder gar eine Heirat mit ihm das Bestmögliche. Adhara dachte immer, ihre Eltern hätten ihr einfach nicht mehr zugetraut. Doch durch das Gespräch mit ihrem Vater begriff sie, wie klein die Welt ihrer Eltern war. Das Problem bestand nicht darin, dass ihre Eltern ihr nichts zutrauten, sondern dass sie aus ihrem eigenen begrenzten Denken handelten.

Diese Erkenntnis gab Adhara Seelenfrieden, wenn es um ihre Eltern ging. Auch hatte sie dadurch mehr Verständnis für die verschiedenen Sichtweisen der Leute. Denn sie begegnete auch auf ihren Reisen immer wieder Menschen, die sich selbst begrenzten und neue Möglichkeiten als unmöglich abtaten, einfach weil sie nicht aus ihren Gewohnheiten herauswollten. Doch es gab noch einen weiteren Faktor, der ihr half ins Reine zu kommen mit ihrer Vergangenheit. Seit einer besonderen Begegnung mit einem alten sterbenden Mann, sah sie vieles nicht mehr ganz so dramatisch. Sie hatte ihn im Übergang ins Jenseits begleitet und am Sterbebett war etwas passiert, was Adhara bis heute nicht einordnen konnte. Ihr schien, dass seit diesen Geschehnissen ein Teil der Weisheit und Gelassenheit dieses alten Mannes in ihr wohnte.

Sie begegnete ihm auf einer ihrer ersten Reisen allein. Sie hatte immer mal wieder Menschen auf ihrem Pferd Suhs mitgenommen, die lange Strecken zu Fuss laufen mussten. Denn sie empfand es als ein grosses Privileg, ein eigenes Pferd zu besitzen. Sie würde nie vergessen, wie ihre Füsse und Beine jeweils geschmerzt hatten, wenn sie als Kind weite Strecken zu Fuss hatte hinter sich bringen müssen.

Eines Tages nahm sie einen alten Mann namens Annar mit. Er war überzeugt, dass er bald sterben würde. Weil er sehr langsam vorankam, machte er sich grosse Sorgen, es nicht mehr rechtzeitig nach Hause zu seiner Familie zu schaffen. Adhara bot ihm an, ihn nach Hause zu bringen. Doch Annar wollte ihr nicht verraten, wo sein Dorf lag, und stellte Adhara auf eine grosse Geduldsprobe. Am Abend vor dem Feuer öffnete er sich endlich.

«Mein Dorf liegt in den Vorläufern der Hochberge in einem geheimen Tal. Niemand in Wallhandria hat Kenntnis davon.»

«Warum haltet ihr es geheim?», wollte Adhara wissen.

«Es besteht aus Menschen, die aus verschiedenen Gründen aus ihren Gemeinschaften verstossen wurden. Wir haben dort eine neue und sichere Heimat gefunden und wünschen keinen Kontakt zur Aussenwelt. Deswegen nennen wir unser Dorf auch das Dorf der verlorenen Seelen. Es gibt nur ein paar Wenige, wie mich, die ab und zu in Wallhandria reisen. Aber wir haben geschworen, dass wir die Existenz dieses Dorfes keinem verraten. … Wenn du mich dahinbringst und wieder gehst, breche ich nicht nur meinen Eid, ich bringe das ganze Dorf in Gefahr, verstehst du?»

«Ja, ich verstehe. … Wir können uns auch hier eine schöne Bleibe suchen und es dir gemütlich machen», schlug Adhara vor. «Ich werde auf jeden Fall bei dir bleiben bis zum grossen Übergang.»

«Ich kann nicht hierbleiben», erwiderte der alte Mann. «Ich bin im Besitz von etwas, das unbedingt zurück ins Dorf muss.»

«Gibt es denn niemanden hier, zu dem ich dich bringen kann und der von diesem Dorf Kenntnis hat?»

«Nein.»

«Mmh. … Dann sind wir tatsächlich in einer Zwickmühle. Hier sterben oder mir vertrauen», fasste Adhara Annars Möglichkeiten zusammen.

«Oder ich laufe den Rest.»

«Ich glaube, du hast dir schon selbst bewiesen, dass dies in deinem Zustand keine gute Wahl ist.»

Der alte Mann nickte und schaute nachdenklich ins Feuer. «Vielleicht muss es so sein», erklärte er nach einem Moment der Stille. «Weisst du, ich glaube nicht an Zufälle. Vielleicht ist es dir bestimmt, das Dorf kennenzulernen. Lass mich darüber schlafen.»

Am nächsten Morgen erklärte sich Annar tatsächlich bereit, zusammen mit Adhara in dieses mysteriöse Dorf zu reiten. Der Weg dorthin war sehr abenteuerlich mit einem versteckten Durchgang in ein geheimnisvolles Tal, das, gemäss Annar, auch das Vergessene Tal genannt wurde.

«Ich wusste nicht, dass es hier oben noch so warm und fruchtbar sein kann!», bemerkte Adhara erstaunt, als sie das Vergessene Tal betraten. «Ich kann die Erde, die Blumen und die Pflanzen regelrecht riechen.»

«Die Lage dieses Tals ist so einzigartig, dass es ein ganz eigenes, für Wallhandria ungewöhnliches Klima aufweist. Dadurch findest du hier Pflanzen und Tiere, die es sonst nirgends in Wallhandria gibt», erklärte Annar ihr.

«Und die alte Brücke, die wir überquerten?», fragte Adhara neugierig nach.

«Die steht noch von früheren Zivilisationen.»

«Wow, davon habe ich schon gelesen. Aber ich hatte keine Ahnung, dass es noch Überbleibsel davon gibt. Wie spannend.»

«Adhara, egal wie faszinierend das für dich sein mag. Du darfst niemandem davon erzählen.»

«Ich weiss. … Das ist echt schade. Das hier ist ein wahres Paradies.»

«Und das wird es auch bleiben, solange wir es geheim halten.»

«Ja», stimmte Adhara Annar zu, «wir Menschen können sehr besitzergreifend und zerstörerisch sein.»

Annars Ankunft im Dorf mit einer Fremden stellte sich als wenig spektakulär heraus, was Adhara überraschte. Schliesslich war es gemäss Annar ein grosses Risiko für das Dorf, sie hierher mitzunehmen. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte behauptet, dass der eine oder andere sogar von ihrem Kommen Kenntnis hatte. Aber vielleicht lag es einfach daran, dass Annar im Dorf sehr angesehen war und die Bewohner:innen auf seine Menschenkenntnisse vertrauten.

Die Menschen aus dem Dorf zeigten sich Adhara gegenüber offen und aufgeschlossen. Sie waren neugierig und wollten allerhand über Wallhandria wissen. Einige kannten sich in Wallhandria gut aus, weil sie eine Zeitlang dort gelebt hatten. Andere hatten das Dorf und dieses Tal noch nie verlassen. Adhara versuchte alle Fragen so gut wie möglich zu beantworten.

Während ihres Aufenthalts behandelte sie einige Dorfbewohner:innen und begleitete Annar durch seinen Sterbeprozess. Sie stellte jedoch schnell fest, dass er sie eigentlich gar nicht brauchte. Annar wusste ganz genau, wie er bewusst und friedlich gehen konnte und hatte kein bisschen Angst vor dem Sterben. Auch war mit dem Überbringen des geheimnisvollen Gegenstandes, der für ihn so wichtig gewesen war, nichts mehr offen oder unfertig in seinem Leben. Adhara hatte ehrlich gesagt noch nie einen Menschen gesehen, der dem Tod so klar in die Augen sah – nicht einmal bei den ganz grossen Hermis im Sonnen-Tempel. Trotzdem wollte Annar Adhara um sich haben. Sie war sogar eine der Wenigen im Dorf, die ihn uneingeschränkt besuchen durfte. Bei diesen Besuchen bemerkte Adhara, dass sie sich danach immer ungewöhnlich lebendig fühlte. Annar hingegen verlor mit jedem ihrer Besuche etwas mehr an Lebenskraft. Da Annar bereits nicht mehr sprechen konnte, hatte Adhara keine Möglichkeit, ihn nach der Ursache zu fragen. Doch sie spürte deutlich, dass er ihr seine Lebenskraft übertrug. Sie verstand nur nicht, wieso.

Bei Annars Tod waren Adhara und der Dorfälteste anwesend. Sein Name war Aralim und Annar sein Onkel. Adhara und Aralim waren sich mehrmals in Annars Zimmer begegnet, hatten bislang jedoch kaum miteinander gesprochen. Aber auch ohne Worte war eine tiefe Verbundenheit zwischen den beiden entstanden.

«Er war eine sehr grosse Seele, nicht wahr?», sagte Adhara, nachdem Annar von ihnen gegangen war.

«Er war es und ist es auch jetzt noch», antwortete Aralim. «Einfach in einem anderen Seinszustand.» Adhara nickte zustimmend. «Und er sieht grosses Potenzial in dir», ergänzte Aralim.

«Wie kommst du darauf?»

«Er hat dir das grösste Geschenk gemacht, das dir eine Seele machen kann.»

«Wie meinst du das?», fragte Adhara verunsichert. Konnte Aralim vielleicht spüren, was zwischen Annar und ihr passiert war?

«Du weisst genau, was ich meine – ein Geschenk, das physisch nicht fassbar ist.»

«Mmh. … Nicht nur physisch», gab Adhara nun zu. «Ich weiss, dass etwas mit mir geschehen ist. Jedes Mal, wenn ich bei ihm war. Ich verstehe nur nicht, was.»

«Wenn eine Seele sehr weit entwickelt ist», erklärte Aralim, «hat sie die Fähigkeit, gewisse Lebenserfahrungen oder Fähigkeiten vor ihrem Tod auf andere Menschen zu übertragen. Dies wird aber nur in sehr seltenen Fällen gemacht.»

«Du glaubst also, er hat mir etwas von seinen Fähigkeiten geschenkt?» Aralim lächelte zustimmend. «Was denkst du, hat er mir genau geschenkt?»

«Ich weiss es nicht», erwiderte Aralim. «Aber was es auch immer ist, du wirst es irgendwann in deinem Leben brauchen. Ansonsten hätte er es nicht gemacht. Wie du sicher weisst, sind die Schleier vor dem Tod sehr dünn. Ich nehme an, dass er etwas wahrgenommen hat, was weder du noch ich wissen. Aber ich bin mir sicher, du wirst es irgendwann erfahren.»

Die Begegnung mit Annar und den Bewohner:innen des Dorfes berührte Adhara sehr. Im Gegensatz zu den meisten Menschen die Adhara kannte, verstanden fast alle Bewohner:innen dieses Dorfes den Schmerz, von geliebten Menschen verstossen zu werden, aus eigener Erfahrung. Vielleicht fühlte sie sich deswegen so stark mit ihnen verbunden. Sie bat den Dorfältesten um Erlaubnis, regelmässig ihre Dienste im Dorf anbieten zu dürfen und Aralim gewährte ihr ihren Wunsch.

«Da bist du ja!», ertönte eine Stimme neben Adhara.

Adhara zuckte vor Schreck zusammen. Sie war so sehr in ihren Gedanken vertieft, dass sie Asheras Kommen gar nicht gehört hatte. War ihr Plan, durch die Tempelwache ein paar ruhige Tage zu haben, bereits gescheitert? Hatte die Weise Herma vielleicht entschieden, dass sie doch an der Gedenkfeier teilnehmen musste? Sie fühlte sich ertappt und erwiderte etwas zu harsch: «Was ist denn so dringend, dass es nicht warten kann?»

«Im Südreich werden deine Dienste verlangt. Albali, die Tochter des Königs von Jesurien, liegt in den Wehen und es wird eine Doula gebraucht.»