Wally, die Zweiflerin - Karl Gutzkow - E-Book

Wally, die Zweiflerin E-Book

Karl Gutzkow

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Beschreibung

Es ist ein wirklich außergewöhnlicher Roman und wohl der wichtigste des Jungen Deutschlands: Doch zunächst wurde er durch Bundestagsbeschluss 1835 verboten und brachte dem Autor sogar eine einmonatige Gefängnisstrafe ein, denn der Inhalt thematisiert Zweifel am religiösen Glauben und sieht ihn ursächlich für den Freitod Wallys. Zum unbestrittenen Kanon der deutschen Literatur gehört dieses Meisterwerk eines Ausnahmekünstlers mit anhaltendem und vielfältigem Einfluss auf den lesenden Menschen und die Literaturgeschichte – bis heute. Spannend und unterhaltend, vielschichtig und tiefgründig, informativ und faszinierend sind die E-Books großer Schriftsteller, Philosophen und Autoren der einzigartigen Reihe "Weltliteratur erleben!".

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Karl Gutzkow

Inhaltsverzeichnis
Wally, die Zweiflerin
Erstes Buch
1
2
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Zweites Buch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Drittes Buch
Wallys Tagebuch
Geständnisse über Religion und Christentum
Wahrheit und Wirklichkeit

Erstes Buch

1

Auf weißem Zelter sprengte im sonnengolddurchwirkten Walde Wally, ein Bild, das die Schönheit Aphroditens übertraf, da sich bei ihm zu jedem klassischen Reize, der nur aus dem cyprischen Meerschaume geflossen sein konnte, noch alle romantischen Zauber gesellten: ja selbst die Draperie der modernsten Zeit fehlte nicht, ein Vorzug, der sich weniger in der Schönheit selbst als in ihrer Atmosphäre kundzugeben pflegt. Welche natürliche und ihr doch so vollkommen gegenwärtige Koketterie auf einem Tiere, von dem sie wahrscheinlich selbst nicht wußte, daß es blind war! Wally gab sich das Ansehen, als wäre sie mit ihrer Situation verschwistert; aber nichts ist so reizend, als wenn durch irgendeine fast gelungene Affektation, durch die ganze Haltung eines innerlich mehr reflektierten wie angebornen Wesens einige kleine Lichtritzen schimmern und für den Mann, welcher sie sehen kann, die versteckten Erleichterungen einer sich einbohrenden Neigung werden. Aber von den zahlreichen Kavalieren, welche Wally umgaben, sahe diese kleinen Lücken der Furcht edler Weiblichkeit niemand. Jene, die Lücken der Furcht, kannte vielleicht der Jockei, der auch wußte, daß die weiße Stute blind war. Aber die übrigen hingen nur wie der Eisenfeilstaub am Magnet, wie die Nachahmung am Genie, wie das Ordinäre am Wunderbaren.

Am Wege schritt, wie es beim Temperamente sich von selbst versteht, im Zweivierteltakte Cäsar, ein Mann, der imstande war, eine solche Gruppe wie die vorbeisprengende im Nu zu übersehen und jede darin waltende Figur so zu isolieren, daß er sie alle verarbeitete und an seiner eigenen Individualität zerrieb. Kennt ihr diese genialen Charaktere, welche durch ihr Schweigen immer mehr ausdrücken, als wenn sie reden, die nur ihr rollendes, siegendes Auge in die Gesellschaft bringen dürfen und jede Persönlichkeit darin absorbieren in eine Huldigung, die ihnen wird ohne ihr Verlangen? Cäsar stand im zweiten Drittel der zwanziger Jahre. Um Nase und Mund schlängelten Furchen, in welche die frühe Saat der Erkenntnis gefallen war, jene Linien, die sich von dem lieblichsten Eindrucke bis zu dämonischer Unheimlichkeit steigern können. Cäsars Bildung war fertig. Was er noch in sich aufnahm, konnte nur dazu dienen, das schon Vorhandene zu befestigen, nicht zu verändern. Cäsar hatte die erste Stufenleiter idealischer Schwärmerei, welche unsre Zeit auf junge Gemüter eindringen läßt, erstiegen. Er hatte einen ganzen Friedhof toter Gedanken, herrlicher Ideen, an die er einst glaubte, hinter sich: er fiel nicht mehr vor sich selbst nieder und ließ seine Vergangenheit die Knie seiner Zukunft umschlingen und sie beten: Heilige Zukunft, glühender Moloch, wann hör' ich auf, mich mir selbst zu opfern? Cäsar begrub keine Toten mehr: die stillen Ideen lagen so weit von ihm, daß seine Bewegungen sie nicht mehr erdrücken konnten. Er war reif, nur noch formell, nur noch Skeptiker: er rechnete mit Begriffsschatten, mit gewesenem Enthusiasmus. Er war durch die Schule hindurch und hätte nur noch handeln können; denn wozu ihn seine toten Ideen machten, er war ein starker Charakter. Unglückliche Jugend! Das Feld der Tätigkeit ist dir verschlossen, im Strome der Begebenheiten kann deine wissensmatte Seele nicht wieder neu geboren werden; du kannst nur lächeln, seufzen, spotten und die Frauen, wenn du liebst, unglücklich machen!

Cäsar, wie er einsam wandelte, fühlte, daß er weinen sollte, und lachte, um die Tränen zu vertreiben.

Da flog Wally mit ihren Begleitern an ihm vorüber. Sie schlug mit ihrer Gerte in die Seiten des schönen, aber blinden Gaules (sie wußte es wahrhaftig nicht!) - ein sonderbarer Glanz klang durch die Luft, und zu Cäsars Füßen lagen fünf kostbare Ringe.

Sie mußten an der Reitgerte gesteckt haben.

Wally sah, was der Unbekannte am Wege aufnahm; sie machte Miene anzuhalten; aber als der Fremde mit der Zurückgabe zögerte, blickte sie bös und trieb ihren Schimmel weiter. Die Kavaliere hatten nichts gesehen.

Cäsar aber, da er die Reiterin sogleich aus den Augen verlor, mußte sich auf alles besinnen. Er gefiel sich darin, an eine alte Sage zu glauben, an die Prinzessin im Walde, und sich selbst mit irgendeinem Zauber in Verbindung zu bringen.

Er steckte die Ringe zu sich und hatte sie wieder vergessen, wie er innerhalb der Stadt war.

2

Ein gewisser Regierungspräsident gab einen beinahe ländlichen Ball. Wally und Cäsar sahen sich hier. Cäsar hatte in einem Anfalle guter Laune die fünf Ringe über seine Handschuhe gezogen. Wally frug ihn, wie er darauf käme?

»Weil meine rechte Hand«, antwortete er, »beim Tanzen immer ungeschickt ist. Die Ringe verhindern sie, von dem glatten Rücken der Tänzerinnen abzugleiten.«

Wally ließ ihn stehen: dieser junge Mann mißfiel ihr. Aber sie fühlte, daß sie sich zerstreuen müsse, und tanzte mit Vorliebe. Sie wurde erhitzt, verfolgte Cäsar und sahe, daß er die Ringe wieder fortgenommen hatte.

Sie wollte sie wiederhaben und rief einem ihrer Employés, einem blondhaarigen Referendär, der eine kleine Schrift über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte. Sie setzte ihm die Lage der Dinge auseinander.

»Ich bin gewohnt«, sagte sie, »für jeden Monat im Jahre einen andern Anbeter zu haben, und ich nehme niemanden an, der sich nicht durch einen Ring in meine Gunst einkauft. An meinem Finger will ich die Ringe nicht: ich trage sie an meiner Reitgerte und mache mir ein Vergnügen daraus, wenn ich von Juli zu Juli ins Bad reise und armen preßhaften Leuten sie alle zwölf nacheinander in die heißen Sprudelbecher werfe.«

Darauf erklärte sie ihm, wie sie fünf davon verloren hätte, und verlangte, daß sie ihr wieder zuhanden, das heißt zur Reitgerte, kämen.

Der junge Mann, welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte, versprach sein möglichstes und redete Cäsar an.

Cäsar betrachtete ihn und besann sich auf den Verfasser der kleinen Broschüre. »Sie verstehen sich darauf«, sagte er dann, »als St. Georg gegen die Ungetüme der Zeit zu kämpfen. Die Ringe der Dame passen zu meinem Schuppenleibe: ich stehe als Lindwurm zu Ihren Diensten!«

»Wie versteh' ich das?« fragte der junge Mann, welcher über das Unzeitgemäße politischer Garantien geschrieben hatte.

Cäsar ließ ihn stehen. Der Bote wagte nicht, unverrichteter Sache zu Wally zurückzugehen; eben tanzte sie, sie hatte seine Abweisung glücklicherweise nicht bemerkt.

Der junge Mann half sich: er wußte, von wem die fünf Ringe kamen: vier von seinen Freunden, die mit ihm teils auf dem Stadtamte fungierten, teils auf das nächste militärische Avancement warteten; einer gehörte ihm, denn Wallys Sonne stand zufällig während dieses Monats in seinem Zeichen. Die Sache wurde unvermeidlich ein Ehrenhandel; aber er war perfid genug, dem Gegner das Spiel fünffach zu erschweren. Cäsar bekam noch an demselben Abend fünf Ausforderungen ins Ohr geflüstert.

Er nickte lächelnd zu jeder; für den folgenden Morgen war alles anberaumt, aber er entfernte sich früh.

Wally tanzte bis in die Nacht. O welch ein Glück, sich mit dem faden Mittelgut in ewig gleichen Kreisen herumzudrehen!

3

Es war schon um die eilfte Vormittagsstunde des folgenden Tages, als Wally unter den Händen ihres Kammermädchens saß und ihr Haar flechten ließ. Sie hatte einen kleinen Tisch vor sich gerückt, worauf die Erzeugnisse der neuesten Literatur lagen. Natürlich kamen sie frisch aus dem Buchladen; anständige Leute lesen nicht aus Leihbibliotheken.

Sie blätterte in dem jüngsten Musenalmanach von Schwab und Chamisso. »Diese guten Waldsänger«, sprach sie vor sich hin, »nehmen sich die Freiheit, sehr ennuyant zu sein. Wenn uns die Reime nicht in einer Art von melodischer Spannung hielten, die Monotonie der Gefühle und Anschauungen wäre tödlich. Ich ziehe Prosa vor. Heines Prosa ist mir lieber als Uhland und sein ganzer Bardenhain.«

Sie griff nach Heines »Salon«, zweiter Band. »Willst du Philosophie studieren, Aurora?« fragte sie ihr Kammermädchen: »Hier sind all die gelehrten, bemoosten Karpfen der deutschen Philosophie mit Frühlingspetersilie und Vanille zubereitet. Man sollte die Bonbons in Aphorismen aus Heines ›Salon‹ einschlagen. Welch gesunkenes Volk müssen die Franzosen sein, daß sie gerad auf der Stufe in den Wissenschaften stehen, wo in Deutschland die Mädchen.«

Einige Schriften vom jungen Deutschland lagen zur Hand, von Wienbarg, Laube, Mundt. »Wienbarg ist zu demokratisch: ich habe nie gewußt, daß ich vom Adel bin«, sagte sie; »aber mit Schrecken denk' ich daran, seit ich diesen Autor lese. Laube scheint den Adel nicht abschaffen, sondern überflügeln zu wollen. Doch bleibt es arg: er ist zudringlich. Er gibt sich in seinen Schriften das Ansehen, als kenne er jede seiner Leserinnen und verlange von ihr eine Hingebung, um die er nicht einmal bittet. Mundt goutier' ich nur halb: denn er wird, je mehr er sich selbst klarzuwerden scheint, für andere immer unverständlicher. Verstehst du, Aurora?«

Aurora hatte etwas in den Mund bekommen und mußte abscheulich husten. Wally lachte.

Unter den Büchern lag zuletzt die neueste Lieferung der »Carlsruher Bilderbibel«, auf welche Wally abonniert hatte.

»Wie sonderbar doch das Christentum auf Velinpapier aussieht!« sagte sie zu sich selbst. »Dienen diese Kupfer zu etwas anderem, als die Aufmerksamkeit noch mehr von dem heiligen Buche abzulenken! Siehe, da steht ein Druckfehler! Ein umgekehrter Buchstabe! Es ist hübsch, in der Bibel Irrtümer zu entdecken.«

Wally sahe nur auf das Äußre, auf den Einband, dann las sie etwas. Sie las einige Verse, ein halbes Kapitel und fragte ihr Mädchen, wann sie zuletzt in der Kirche gewesen wäre?

Aurora war nicht frivol: sie war vor vier Wochen dagewesen.

Wally las, ohne zu hören. Dann fragte sie: »Warum bist du so still?«

Aurora war nicht mehr im Zimmer: Wally blickte sich scheu um und las weiter. Ihr Auge haftete stier auf den Buchstaben: sie schlug eine Seite nach der andern um: dann lehnte sie sich zurück, eine Träne stand in ihrem Auge. Sie sah mit einem flehenden, verzweifelnden Blick auf den kleinen Tisch, der so viel Widersprechendes friedlich umschloß. Sie stützte den Kopf auf die Lehne ihres Sessels; es war Sonntag. Die Glocken läuteten, aus der nahen Kirche brausten die Töne der Orgel herüber. Wally war in Tränen aufgelöst. Kann man dem Himmel ein schöneres Opfer bringen? Diese Tränen flossen aus dem Weihebecken einer unsichtbaren Kirche. Die Gottheit ist nirgends näher, als wo ein Herz an ihr verzweifelt.

Aurora kam zurück. Es war Besuch im Gesellschaftszimmer. Wally hätte absagen müssen; aber sie war willenlos. Sie fand die Ritter von den fünf Ringen, einige von ihnen leicht verwundet.

Wally erschrak, als sie von dem Vorfalle hörte. Cäsar war am Arme blessiert. Aber schon die Nachricht, daß keine Gefahr vorhanden sei, richtete sie auf; und wie in der menschlichen Seele Schmerz und Freude sich ergänzen und das Linderungsmittel des einen Übels auch alle übrigen Sorgen heilt, die mit ihm in keiner Verbindung standen, so wandte sie sich teilnehmend dem Gespräche zu. Es war fade, wie immer; aber verzeihlich der Tageszeit wegen. Man soll vor Tische von keinem Menschen verlangen, daß er geistreich sei.

Wally konnte lachen und lachte übermäßig.

4

Beide sahen sich eine Woche später. Wally hatte nicht das Herz, von dem Vorfalle zu sprechen. Aber es währte nicht lange, so sprachen sie über den Mut.

Sie wollte wissen, ob der Mutige die Gefahr absichtlich verkleinere oder geringer achte, ob der Mut noch während der Gefahr daure oder nur das Vorspiel der Gefahr sei. Cäsar sagte, er habe nie über den Mut nachgedacht, besäße ihn auch nicht hinreichend dafür. Wally brannte der Vorfall auf den Lippen; aber sie hielt an sich und lächelte bloß.

»Ich glaube«, sagte Cäsar, »daß es Menschen gibt, deren Mut darin besteht, daß sie die Gefahr gar nicht sehen. Das sind diejenigen, welche als die vorzugsweise Mutigen überall gefürchtet werden: auf den Universitäten jene unverschämten Knaben, die gegen jedermann die Hand in die Seite stemmen und von Verachtung und Malice übersprudeln; unterm Militär diejenigen, welche ihren Säbel gern so hängen, daß sie ihn hinter sich klirren hören. Man kann aber sagen, daß wenn diese Menschen Einbildungskraft genug hätten, die Gefahr zu sehen, sie die verzagtesten sein würden. Der Besonnene ist von Natur niemals mutig. Er folgt nur den Rücksichten und ist unerschrocken, weil die Sache einmal nicht zu ändern ist.«

Wally fand diese Äußerungen durchaus nicht so liebenswürdig, wie sie gewohnt war, dergleichen von ihren männlichen Umgebungen zu hören. Es war in ihrem innerlichen Urteile etwas, was einen guten Schein hatte. Sie vermißte an Cäsar den Reiz der Natürlichkeit. Seine Reflexion zog an, befriedigte aber das Temperament nicht. Nichtsdestoweniger traf sie sehr gut die Gedankenreihe Cäsars, indem sie fortfuhr: »Ich glaube fast, Sie halten die Tugend für eine Berechnung?«

»Die Tugend nicht«, entgegnete Cäsar; »aber alles, was man gern für Instinkt anzusehen gewohnt ist. Unsre Handlungen sollen berechnet sein, unsre Empfindungen sind es. Ich erinnere Sie nur an das Unbequeme mancher Empfindung, mit der wir gern kokettieren, die uns aber in gewissen Zeiten recht zur Unzeit kömmt.«

»Sie sind ohne Natur«, sagte Wally.

»Ich bin ohne Verstellung«, fiel Cäsar ein.

»Ohne Verstellung? Jeder Satz in Ihren Theorien scheint von Ihren zufälligen Zwecken abhängig zu sein.«

Cäsar mußte lächeln; er hatte etwas gesagt, was er nicht meinte.

»Glauben Sie«, fragte er, »daß es in der Liebe eine Höflichkeit gibt?«

»Das versteh' ich nicht.«

Cäsar blickte finster und wollte abbrechen.

»Was ist Ihnen?« fragte Wally.

»Ich denke, Sie vermeiden, über einen Zustand zu sprechen, den Sie vielleicht nicht zu kennen vorgeben.«

»Halten Sie mich für eine Närrin?« fragte Wally, erst bös, dann aber hellte sich ihr Antlitz zu einer Liebenswürdigkeit auf, die Cäsarn fast einen Augenblick zu verwirren schien.

»Nehmen Sie nur an«, sagte er, »wie unzeitig und unbequem man werden kann, wenn man seinen Leidenschaften immer den natürlichen Raum läßt. Ich verspreche zum Beispiel einer Dame, sie einen Tag um den andern zu besuchen. Was heißt das? Sie ist einen Tag um den andern in der Spannung, wo sie glaubt, beglücken zu können. Ihre Gedankenreihen werden immer einen Tag überschlagen, einen Tag, wo sie nicht untreu, aber ohne Rapport und Illusion ist. Man kann nicht unhöflicher sein als an diesem Tage, der überschlagen werden sollte, der für die Liebe gar nicht da ist, seine Braut zu überraschen.«

Wally lachte laut auf. Jetzt hielt sie Cäsarn für einen Narren und fragte ihn, welche Frau ihm diese Geständnisse gemacht habe.

Cäsar war kein Pedant, er lachte mit, fuhr aber fort: »Ich versichre Sie, es ist nichts abscheulicher als das Ungeschickte und Unbequeme. Der Instinkt mag hier manche üble Empfindung hintertreiben; aber sicher geht allein die Combination der Psychologie. Ich möchte um alles in der Welt zu einer gewissen Zeit, unter gewissen Umständen von der Freundschaft kein Opfer, von der Liebe keine Zärtlichkeit verlangen. Mit unsrer rohen Natürlichkeit sind wir immer gewohnt zu übertreiben; in nichts sind wir aber übertriebener als in unsern Forderungen. Ist es erhört, was der Enthusiasmus nicht alles in den gefühlvollen Beziehungen der Geschlechter oder in der Freundschaft zu entdecken glaubte! Wer kann das alles leisten! Wer kann so unhöflich sein, alle diese Leistungen in Anspruch nehmen? Sagen Sie!«

»Ich habe vergessen, Rumohr zu lesen«, antwortete Wally.

»Rumohr!« sprach Cäsar; »Rumohr hatte vielleicht Anstand, aber nicht Geist und Mut genug, eine ›Schule der Höflichkeit‹ zu schreiben. Rumohr glaubt an seine Vorschriften und scheut sich doch, die meisten davon anders als in einem gewissen Helldunkel zu geben. Rumohr glaubte, er müsse sich immer noch eine Hintertür offenlassen, um nicht für einen Fant zu gelten. Auch ist dieser Mann so sehr in die Klassizität verrannt, daß er alle Tugenden und Untugenden des Altertums aufzählt, aber ein wichtiges, modernes Laster ganz mit Stillschweigen übergeht, ein Laster, wofür die Alten gar keinen Ausdruck hatten. Rumohr konnte davon nicht sprechen, weil er selbst darin ganz verstrickt ist. Dies ist die Langeweile. Aber was Rumohr? Es gibt eine weit tiefere Höflichkeitstheorie, welche auf ästhetischen und moralischen Prinzipien zu gleicher Zeit beruht. Soll ich ihren Grundsatz nennen? Lassen Sie aus einem christlichen Gebote nur einen Buchstaben weg. Raten Sie!«

Wally wurde rot: nicht des Rätsels wegen, sondern des Christentums.

Cäsar ergänzte sich selbst und sagte: »Lebe deinen Nächsten wie dich selbst! Sei Egoist, ohne deinen Nachbar zu verwunden! Wenn ich mich in die innersten Falten Ihrer Seele (Falten! Ihre junge Seele! Aber die Seele ist immer alt, der Teil der jahrtausendjährigen Urseele und Weltseele, der in uns wohnt), wenn ich mich in sie versetze, so bin ich gewiß, immer die Wirkungen zu veranlassen, die ich eine Minute vorher schon bestimmen kann. Sie hören mich nicht mehr. Es ist wahr, ich habe zu laut gesprochen.«