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Mario Frank

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Beschreibung

Walter Ulbricht, 1893 in Leipzig als Spross einer sächsischen Handwerkerfamilie geboren, schloss sich nach einem Zwischenspiel bei der SPD früh der kommunistischen Bewegung an. Er wird Reichstagsabgeordneter der Kommunistischen Partei und geht im Oktober 1933 in die Emigration nach Prag, Paris und Moskau, wo er Herbert Wehner wiedertrifft. Für sein Buch hat Mario Frank erstmals geheime Unterlagen der Kommunistischen Internationale eingesehen, die diese wichtige Lebensphase von Ulbricht erhellen.

Am Tag von Hitlers Selbstmord, dem 30. April 1945, kehrt er als Leiter der "Gruppe Ulbricht" nach Deutschland zurück und beginnt die administrative Arbeit in der sowjetisch besetzten Zone. Im Oktober 1949 wird die DDR gegründet, Ulbricht wird stellvertretender Ministerpräsident, im Juli 1950 Generalsekretär des ZK der SED. Damit schlägt die Stunde des Administrators, der Fünfjahrespläne entwirft, mit dem "planmäßigen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" beginnt und persönlich Todesurteile verhängt. Mario Frank zeigt die Machtkämpfe der SED-Nomenklatura, die Erschütterung des Machtgefüges am 17. Juni 1953, den Eifer und die Machtbesessenheit Ulbrichts, der alle Krisen übersteht und schließlich 1960 Staatsratsvorsitzender wird. Akribisch in der Vorbereitung von Konferenzen und Zusammenkünften, fleißig im Aktenstudium, taktisch geschickt und verschlagen, hochfahrend und katzbuckelnd zugleich erscheint Walter Ulbricht, der vor allem in den sechziger Jahren, der eigenen Bevölkerung verhasst, um Anerkennung nach außen und Zuneigung im Innern rang. Was waren hinter alldem Eifer und der Energie Ulbrichts eigentliche Antriebe, seine Ideen und Ziele? Wollte Ulbricht anfangs die Einheit Deutschlands? Strebte er die Sowjetisierung der DDR an? Wie sollte dieser deutsche Staat überhaupt beschaffen sein? Ulbricht waren, trotz Mauer und Stacheldraht und eines furchtbaren Unrechtssystems, reformerische Ansätze nicht fremd. Nach dem von ihm vorangetriebenen Mauerbau gelang in der DDR ein "Rotes Wirtschaftswunder". Aber Ulbricht war zu sehr dem dogmatischen Denken seiner Herkunft und Prägung verhaftet, um Reformen konsequent durchzuführen.

1971 wurde Walter Ulbricht als SED-Generalsekretär von Erich Honecker abgelöst und in seinen beiden letzten Lebensjahren ins politische Abseits gedrängt. Der nahezu achtzigjährige Staatsratsvorsitzende wurde im Auftrag Erich Mielkes von seinem Fahrer bespitzelt.

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Inhaltsverzeichnis
 
»Der Spitzbart muss weg!«: Juni 1953
 
Kindheit und Jugend: 1893-1918
Ein Arbeiterkind
 
Copyright
»Der Spitzbart muss weg!«: Juni 1953
»Bald gab es Brot und Butter und Schuhe, die Republik gedieh, als der Feind - es war ein 17. Juni - Lüge und Dummheit in verworr’ne Hirne spie. Das Hakenkreuz es grinste frech im Knopfloch der Putschisten. ›Stürzt die Arbeiter - die Bauernmacht‹ So grölten die Faschisten. - Du standest fest - Genosse Ulbricht - Mit Stalingrader Mut. Wir waren stärker und zertraten die ›weißgardistische‹ Brut. -«
Aus dem Gedicht von Horst Salomon»Genosse Walter Ulbricht«

Moskau, Ost-Berlin, April/Mai 1953

Die neue sowjetische Führung - Stalin war im März gestorben - ist tief besorgt über die Entwicklung in der DDR. Es steht schlecht um den SED-Staat. Im Kreml fürchtet man, dass die Lage im sozialistischen Deutschland außer Kontrolle geraten könnte. Der harte, kompromisslose Sozialismuskurs des Statthalters in Ost-Berlin, Walter Ulbricht, hat zu spürbarer Unruhe unter der DDR-Bevölkerung geführt. Der Enteignungsdruck auf Bauern und Selbstständige ist ins Unerträgliche gestiegen. Die Tätigkeit der Kirchen ist noch einmal eingeschränkt worden, sie dürfen seit dem 1. Januar in Schulgebäuden keinen Religionsunterricht mehr erteilen. Tausenden von Gewerbetreibenden wird in der ersten Jahreshälfte die Gewerbegenehmigung entzogen. Die Grenze zur Bundesrepublik ist im letzten Jahr geschlossen worden und der deutsch-deutsche Besucherverkehr durch ein strenges Grenzregime faktisch zum Erliegen gekommen. Trotz der extremen Belastungen, die der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED (ZK) - so lautet Ulbrichts offizieller Titel - der Bevölkerung zumutet, bleibt die DDR-Wirtschaft zunehmend hinter der Entwicklung in der Bundesrepublik und hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Die Preise für wichtige Grundnahrungsmittel müssen erhöht und soziale Vergünstigungen zurückgenommen werden. Anfang April werden allen DDR-Bürgern, die in West-Berlin arbeiten, sowie allen Selbstständigen die Lebensmittelkarten entzogen, die zum Bezug subventionierter Grundnahrungsmittel berechtigen. Die Versorgungslage und die Stimmung in der Bevölkerung werden immer schlechter.
Hoffnungslosigkeit und offener Unmut machen sich breit. Der Flüchtlingsstrom in den Westen schwillt von 182 000 Menschen im Vorjahr auf 311 000 im Jahr 1953 an. Im März erreicht er mit 58 605 registrierten Flüchtlingen seinen Höhepunkt. Besonders schmerzlich für die Machthaber in Ost-Berlin ist, dass in den ersten vier Monaten des Jahres 1953 auch rund 8 000 Mann der kasernierten Volkspolizei sowie über 5 000 SED- und FDJ-Mitglieder dem Arbeiter- und Bauernparadies für immer den Rücken kehren.1 Nie zuvor und nie mehr danach, bis zum Revolutionsjahr 1989, flüchten so viele Menschen aus der DDR.
Die Folge ist eine tief greifende Verstimmung zwischen der Sowjetführung und ihrem Statthalter in Ost-Berlin. Monatelang wird Ulbricht in der sowjetischen Presse nicht mehr erwähnt. Ein »Merkblatt« der Sowjetischen Kontrollkommission2 stoppt das Inkrafttreten eines neuen Strafgesetzbuches in der DDR, welches vom SED-Politbüro am 14. April verabschiedet worden ist. Die sowjetischen Kontrolleure beanstanden die Härte der Strafbestimmungen und die Unbestimmtheit der Tatbestandsmerkmale - also die
Definition dessen, was strafbar ist. Die Kritik der Besatzungsbehörde gipfelt in der Aussage, dass bestimmte Strafnormen »eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit« erzeugen könnten.3 Moskaus Ständiger Vertreter in Ost-Berlin, Wladimir Semjonow4, wird am 20. April zur Berichterstattung nach Moskau gerufen. Die sowjetische Führung beschließt aufgrund der Unruhe unter den DDR-Bürgern mit sofortiger Wirkung ein wirtschaftliches Hilfsprogramm für die DDR. Die Reparationsverpflichtungen der DDR an die UdSSR werden um einige hundert Millionen Mark reduziert. Zudem soll die DDR-Wirtschaft durch die Lieferung von Rohstoffen unterstützt werden.5

Ost-Berlin, 8. Mai 1953

Wilhelm Pieck6, Otto Grotewohl7 und Walter Ulbricht verleihen sich gegenseitig den Karl-Marx-Orden. Diese höchste Auszeichnung der DDR ist zum 135. Geburtstag von Karl Marx neu gestiftet worden und wird an diesem Tag zum ersten Mal verliehen.

Ost-Berlin, Mai/Juni 1953

Ulbricht plant trotz der angespannten Lage, seinen 60. Geburtstag am 30. Juni bombastisch zu feiern. Dazu hat das von ihm geleitete Sekretariat des Zentralkomitees der SED schon Mitte 1952 beschlossen, eine »Kommission zur Vorbereitung des 60. Geburtstages des Genossen Ulbricht« einzusetzen. Sie soll den Geburtstag des Generalsekretärs der SED zu einem großartigen Schauspiel, zu einem Volksfest ausgestalten. Die Kommission, in der Ehefrau Lotte Ulbricht maßgeblich mitwirkt, leistet gute Arbeit. Johannes R. Becher8 verfasst eine »offizielle« Biografie über den Staatsmann Ulbricht. Das Gemälde »Walter Ulbricht im EKO-Stahlwerk« wird geschaffen, ebenso eine Ulbricht-Büste. Je eine Straße in Berlin und Leipzig soll nach dem SED-Chef benannt werden. Im Friedrichstadtpalast in Ost-Berlin wird ein Staatsakt geplant, in dessen Rahmen Ulbricht der Titel »Held der Arbeit« verliehen werden soll. Bücher und Festschriften werden geplant: »Walter Ulbricht - Kämpfer gegen Krieg und Faschismus«, »Walter Ulbricht - Kämpfer für die Deutsche Einheit«. Erich Honecker lässt ein in rotes Kunstleder gebundenes Buch mit eingeprägtem Ulbricht-Kopf über den Generalsekretär und die Jugend herausgeben. Auflage: eine Million. Bei der Ausarbeitung des Konzepts für die Geburtstagsfeier kann die Kommission auf Bewährtes zurückgreifen: Im Dezember 1949 wurde mit ähnlichem Aufwand Stalins 70. Geburtstag gefeiert.9 Man hofft auf viele schöne »individuelle« Geschenke aus allen Teilen der DDR und vor allem auch aus der Bundesrepublik, um nach dem Geburtstag eine Geschenkausstellung aufbauen zu können. Auch ein Film über den SED-Chef wird gedreht. Der Drehbuchautor des Streifens mit dem Titel »Baumeister des Sozialismus« ist prominent; er heißt Stephan Hermlin und ist Nationalpreisträger der DDR. Gleich zu Beginn des Films verkündet der Jubilar, dass ab sofort der Sozialismus in der DDR planmäßig aufgebaut werden soll. Tosender, nicht enden wollender Beifall brandet auf. Ulbricht ist unentwegt fröhlich, gut gelaunt, leutselig, anständig, ein »Arbeiter neuen Typus«, geliebt von der Jugend in einem aufbrechenden Land. Er weiß alles, kann alles, dankt den Bäuerinnen in der LPG »Ernst Thälmann« mit aufmunternden Worten und weist den Traktorfahrern den richtigen Weg. Ulbricht ist Nachfahre des Revolutionärs Thomas Müntzer, Schüler Liebknechts und Stalins, Kampfgenosse Thälmanns. Dabei bleibt er immer Mensch: »Er spielt gern Tennis - es kann aber auch Tischtennis sein«, teilt der Sprecher mit, während Walter und Lotte krampfhaft versuchen, den Ball zu treffen; meistens schlägt Ulbricht hilflos ins Leere. Die DDR, das Werk des »Baumeisters«, ist eine schöne neue Welt, die er aus den Trümmern des Krieges aufgebaut hat. So schön wie in Ost-Berlin haben die deutschen Werktätigen noch nie gewohnt. In Westdeutschland herrscht dagegen das Elend. In der Kruppstraße entsteigen im Schatten verrußter Hochöfen hohlwangige Menschen mit schwarz umrandeten Augen ihren Wellblechhütten. »Wann werden sie sich erheben?«, fragt der Sprecher.
Das Volk soll seinem Führer seine Sympathie und Zuneigung aktiv unter Beweis stellen. Jeder Werktätige und jeder Funktionär ist angehalten, zu Ehren des 60. Geburtstags von Ulbricht Selbstverpflichtungen einzugehen, sprich, besondere Arbeitsleistungen bis zum 30. Juni zu erbringen. Diese Kampagne zu Ehren Ulbrichts wirkt angesichts der schlechten Versorgungslage wie Hohn. Der Hass gegen den Generalsekretär nimmt in der Bevölkerung spürbar zu. Es kommt zu Protestaktionen und Arbeitsniederlegungen.

Moskau, 27. Mai 1953

Die Sowjetführung ist nicht länger bereit, diese Politik ihres Statthalters in Ost-Berlin hinzunehmen. Die Vorbereitungen zu Ulbrichts Geburtstag lösen im ZK der KPdSU Bestürzung aus.10 Wjatscheslaw Molotow11, Außenminister der UdSSR, wird sich später erinnern, dass Ulbricht damals einen allzu starren Kurs verfolgt habe und nicht flexibel genug gewesen sei. Zudem habe er mit lauter Stimme über den »Sozialismus in der DDR« geredet, ohne auf diesen vorbereitet gewesen zu sein.12 Das Präsidium des Ministerrates der UdSSR diskutiert die Ursachen, die zur Massenflucht aus der DDR nach Westdeutschland geführt haben und beschließt Maßnahmen zur Korrektur der Entwicklung in der DDR.

Ost-Berlin, 28. Mai 1953

In Form einer Regierungsverordnung, die sofort in Kraft tritt, werden auf Ulbrichts Initiative hin die Arbeitsnormen der DDR-Arbeiter bis zum 30. Juni, Ulbrichts Geburtstag, um mindestens zehn Prozent erhöht.13

Moskau, 2. bis 4. Juni 1953

Ulbricht, Ministerpräsident Otto Grotewohl und Politbüromitglied Fred Oelßner14, der als Dolmetscher fungiert, werden in die sowjetische Hauptstadt zitiert. Parteiführer Wilhelm Pieck ist schwer erkrankt und hält sich seit Mitte Februar in der Nähe von Moskau in einem Sanatorium auf. In zwei Sitzungen mit Vertretern der sowjetischen Führung werden die deutschen Genossen erbittert kritisiert und attackiert. Malenkow schockiert die deutschen Genossen mit dem Satz: »Wenn wir jetzt nicht korrigieren, kommt eine Katastrophe.«15 Vor allem Lawrenti Pawlowitsch Berija, der mächtige Innenminister und Chef der Organe der Staatssicherheit, erweist sich als entschiedener Gegner Ulbrichts: »Das ist ein Mann, der nichts versteht, der sein Volk nicht liebt.«16 Das unter Berijas entscheidendem Einfluss entstandene Papier »Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik«17 ist in seiner außergewöhnlichen Offenheit und Schärfe eine Ohrfeige für Ulbricht; mehr noch, ein Dokument seines Versagens als Partei- und Staatsführer. Es beginnt mit den Worten: »Infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie ist in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden.« Den DDR-Führern wird vorgeworfen, dass sie seit 1952 »fälschlicherweise« mit dem beschleunigten Aufbau des Kommunismus in der DDR begonnen haben »ohne das Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowohl innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen«. Kritisiert wird vor allem, dass die Bauern überstürzt in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gedrängt sowie mittlere und kleinere Betriebe enteignet worden sind. In Form eines Diktats verlangen die Sowjetführer Konsequenzen aus dieser verfehlten Politik. Eine weitgehende Auflösung der LPGs in der DDR gehört ebenso zu ihren Forderungen wie die Aufhebung aller »Maßnahmen, die die unmittelbaren Interessen der Kirche und der Geistlichkeit einengen«. Recht und Gesetz sollen gestärkt und Bürgerrechte in der DDR künftig sichergestellt werden. Unmittelbar gegen Ulbricht richtet sich der Vorwurf, dass die Arbeit im Politbüro der SED lange nicht funktioniert habe, weil Beschlüsse ohne ausreichende Vorbereitung und Diskussion gefasst worden seien. Am Ende der ersten Sitzung werden Ulbricht und Grotewohl ultimativ aufgefordert, einen tief greifenden Kurswechsel in der DDR vorzubereiten und eine schriftliche Stellungnahme zum sowjetischen Dokument abzugeben.
 
Ulbricht und Grotewohl reagieren sofort auf die Kritik, indem sie von Moskau aus das SED-Politbüro anweisen, den Druck und die Herausgabe aller Broschüren und Bücher einzustellen, die sich auf den »Aufbau des Sozialismus« in der DDR beziehen. Das Papier jedoch, das Ulbricht und Grotewohl in der Nacht ausarbeiten, entspricht in keiner Weise den sowjetischen Vorstellungen. Berija ist darüber so erbost, dass er es Ulbricht über den Tisch weg mit dem Kommentar zuwirft: »Das ist ein schlechter Aufguss unseres Dokuments.«18 Nikita Chruschtschow, Mitglied des Politbüros der KPdSU, wird sich später erinnern, dass Berija Ulbricht und die anderen deutschen Genossen in diesem Moment derart angeschrien habe, dass es ihm peinlich gewesen sei.19 Die Deutschen werden dazu verdonnert, ihr Papier noch einmal selbstkritisch zu überarbeiten.

Ost-Berlin, 5. Juni 1953

Die SED-Führer treffen zusammen mit Wladimir Semjonow - der aufgewertet wurde durch den neuen Titel »Hoher Kommissar« - wieder in Ost-Berlin ein. Semjonows Auftrag lautet, den »Neuen Kurs« in der DDR durchzusetzen. Die sowjetischen Führer haben ihn ausdrücklich angewiesen, »aktiv an den Sitzungen des Politbüros der SED teilzunehmen«.20 Zu den ersten Maßnahmen, die Semjonow durchsetzt, gehört die Einstellung der Geburtstagsvorbereitungen Ulbrichts: »Wir möchten dem Genossen Ulbricht raten, seinen 60. Geburtstag so zu feiern wie der Genosse Lenin seinen 50....Genosse Lenin lud zum Abend ein paar Gäste«, lässt er den SED-Chef süffisant wissen. Die SED bläst sofort alle Vorbereitungen zum geplanten Jubeltag ab. Bereits erstellte Bücher und Festschriften müssen wieder eingestampft werden.21 Der Film kommt als »dokumentarisches Material« ins Archiv; erst Jahrzehnte später, 1989, erblickt er das Licht der jetzt gewandelten Welt. Die Selbstverpflichtungskampagnen werden eingestellt. Das Neue Deutschland erwähnt den Generalsekretär vom 7. bis zum 17. Juni nicht mehr. In der SED kursiert das Gerücht, Ulbricht sei faktisch schon abgesetzt und Rudolf Herrnstadt22, der Chefredakteur des Neuen Deutschland, habe den Auftrag, ein neues Politbüro zu bilden. 23

Ost-Berlin, 6. Juni 1953

Das SED-Politbüro tritt in Anwesenheit Semjonows zu einer Sondersitzung zusammen. Alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros haben eine Abschrift des Dokuments des ZK der KPdSU in den Händen und sind aufgefordert worden, sich verbindlich zu äußern, ob sie dem »Neuen Kurs« zustimmen. Allein schon die Möglichkeit einer Vorbereitung ist ganz außergewöhnlich. Wie nicht anders zu erwarten, erklären alle Anwesenden - einschließlich Ulbricht - am Ende der Sitzung ihre Zustimmung zum »Neuen Kurs«, wie er von der sowjetischen Führung festgelegt worden ist.24
 
Die Sitzung selbst nimmt einen sensationellen Verlauf. Ulbricht zeigt sich zu Beginn ungewöhnlich selbstkritisch: »Ich habe Verantwortung zu tragen und werde meine Arbeit ändern.«25 Doch zur großen Überraschung Semjonows und Ulbrichts beginnt danach eine von allen Politbüromitgliedern getragene Anklage gegen den mächtigsten Mann in ihren Reihen. Fred Oelßner beginnt mit Vorwürfen gegen die Arbeitsweise und den politischen Stil des Sekretariats des Politbüros, wobei sich alle Anwesenden darüber im Klaren sind, dass damit der Führungsstil Ulbrichts gemeint ist. Oelßners Kritik gipfelt in dem Satz, eine »Lockerung der Diktatur ist nötig«.26 Leidenschaftlich werden im Laufe der Sitzung die Diktatur Ulbrichts, seine Methoden zur Erzeugung von Druck und Furcht, die Erziehung zu Unterwürfigkeit und Opportunismus angeprangert. Elli Schmidt, die Vorsitzende des Frauenbundes, kritisiert das Sekretariat des ZK der SED als »überheblich« und bekennt: »Ich bin noch nie so einsam gewesen wie jetzt im Politbüro.«27 Unisono schlagen alle Politbüromitglieder in dieselbe Kerbe, auch solche, die in der Vergangenheit stets zu Ulbricht gestanden haben. Fred Oelßner und Rudolf Herrnstadt monieren mit Blick auf Lotte Ulbricht, dass Frauen von verantwortlichen Genossen nicht im Apparat des Mannes beschäftigt werden sollten. Friedrich Ebert prangert an: »Außer dem Genossen Walter Ulbricht existiert für Presse und Rundfunk kein anderes Mitglied des Politbüros.«28 Alles bricht jetzt auf, was sich in den letzten Jahren unter der Oberfläche an Aggression und Ablehnung gegenüber dem SED-Chef angestaut hat. An diesem Tag wird ausgesprochen, wozu bislang keiner den Mut hatte. Ulbrichts selbstherrlicher Stil, der zu Bürokratisierung und Versteinerung der Partei geführt hat, die Einschüchterung seiner Mitarbeiter, die keinen Mut mehr zur Offenheit haben, werden ihm ebenso vorgeworfen wie die Entfremdung der SED von der Bevölkerung und die fehlende innerparteiliche Auseinandersetzung über ideologische Fragen. Selbst Erich Honecker - Ulbrichts politischer Zögling - bekennt: »Einverstanden. Uns ist der Mut genommen, offen zu sprechen.«29 Rudolf Herrnstadt wird damit beauftragt, ein kurzes Kommuniqué für das Politbüro zu verfassen, in dem die wichtigsten Maßnahmen des »Neuen Kurses« bekannt gegeben werden. Baldmöglichst soll das Zentralkomitee der SED tagen, um den »Neuen Kurs« zu diskutieren und zu begründen. Der vorbereitenden Kommission für diese Tagung gehört neben Herrnstadt auch Ulbricht an.30 Am Ende der Sitzung wendet sich Semjonow an Ulbricht: »Ja, Genosse Ulbricht, meiner Meinung nach ist es jetzt an Ihnen, aus dieser sehr fundierten Kritik des Politbüros ernste Folgen zu ziehen.«31
 
Es scheint, als seien Ulbrichts Tage als SED-Chef gezählt. Doch Rudolf Herrnstadt, der Hauptkritiker Ulbrichts im Politbüro, verfügt nicht über das Machtbewusstsein, um sich gegen den seit Jahrzehnten in Machtkämpfen gestählten Generalsekretär durchsetzen zu können. Herrnstadt ist nicht aus demselben Holz geschnitzt wie der Generalsekretär, ihm unterlaufen in dieser Situation naive und unverzeihliche Fehler. So zum Beispiel, als sich Lotte Ulbricht wenige Tage nach dem Generalangriff auf ihren Mann zu Herrnstadt an den Tisch setzt. Statt am Sturz des SED-Chefs zu arbeiten, gibt Herrnstadt Lotte Ulbricht Ratschläge, wie ihr Mann seine kritische Lage verbessern könnte. Er empfiehlt, Ulbricht solle freiwillig in einer der nächsten Sitzungen Selbstkritik üben, aus der sich eindeutig erkennen lasse, dass er bereit sei, sein diktatorisches Verhalten zu ändern. Lotte Ulbricht pflichtet ihm bei und verspricht: »Du wirst sehen, er wird eine solche Erklärung abgeben. Ich werde alles tun. Du kannst dich auf mich verlassen.«32 Tatsächlich gibt Ulbricht in der nächsten Politbürositzung unaufgefordert eine selbstkritische Erklärung ab. Das veranlasst Herrnstadt - neben anderen Politbüromitgliedern -, Ulbricht zu danken. In seinen Erinnerungen schreibt er: »Wir alle wussten, dass ihm die Abgabe einer solchen Erklärung nicht leicht gefallen war; umso mehr fühlten wir uns ihm verbunden..., wenn Genosse Ulbricht dem Kollektiv entgegenkam, entdeckten wir unsere alte Liebe für ihn, stellten fest, dass wir in Wahrheit seine politisch sichersten Stützen seien... und sahen ein herrliches Arbeiten im Politbüro voraus.«33

Ost-Berlin, 12. Juni 1953

Der »Neue Kurs« wird kommentarlos als »Kommuniqué des Politbüros« in den DDR-Medien veröffentlicht. In der Bevölkerung wirkt das wie eine Bombe. Das Politbüro gesteht öffentlich ein, »dass seitens der SED und der Regierung der DDR in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurde«.34 Doch jetzt soll alles anders werden. Fast alle Maßnahmen, die seit dem Sommer 1952 durchgepeitscht worden sind, um die Wirtschaft anzukurbeln, sollen nun wieder rückgängig gemacht werden. Förderung der Handwerker und Kleinunternehmer statt Enteignung und Zwangskollektivierung, heißt das neue Programm. Zusammenarbeit mit der Intelligenz anstelle ihrer Unterdrückung wird mit dem »Neuen Kurs« angekündigt. Die Enteignungen in der Landwirtschaft sollen gestoppt und bereits kollektivierte Bauernhöfe an ihre alten Eigentümer zurückgegeben werden. Willkürurteile sollen aufgehoben und unrechtmäßig Inhaftierte auf freien Fuß gesetzt werden. In aller Stille werden Parolen, die den Aufbau des Sozialismus propagieren, von Häuser- und Plakatwänden entfernt. Tausende von Fahnen und Bannern müssen heimlich eingemottet werden.
 
Es ist eine Wende um 180 Grad, die die Funktionäre der mittleren und unteren Ebene völlig unvorbereitet trifft. Der kommentarlose Kurswechsel stürzt viele in Orientierungslosigkeit, und die unteren Kader fühlen sich von ihrer Führung allein gelassen. Herrnstadt und Ulbricht haben diese Probleme vorausgesehen, doch Semjonow hat ultimativ auf einer sofortigen Veröffentlichung bestanden, die keine Zeit lässt, den Parteimitgliedern den »Neuen Kurs« zu erläutern. Die vorgetragenen Bedenken Herrnstadts wischt Semjonow mit der Bemerkung vom Tisch: »In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.« Als Herrnstadt später Ulbricht über das Gespräch berichtet, bemerkt der SED-Chef trocken: »Er soll keine Panik machen.«
 
Die lautstärkste Forderung der Arbeiter allerdings wird nicht erfüllt, die Normerhöhungen, die besonders unbeliebt sind, werden im Zuge des »Neuen Kurses« nicht zurückgenommen, sondern propagandistisch zusätzlich forciert. Wie sich bald herausstellen wird, ist das der schwerste Fehler Ulbrichts in diesen Tagen. Er bringt damit endgültig die empörten Arbeiter gegen sich und seine Politik auf. Während den anderen gesellschaftlichen Gruppen im »Neuen Kurs« Zugeständnisse gemacht und Erleichterungen versprochen werden, gehen die Arbeiter, die vor allem die Last der überzogenen Pläne zu tragen haben, leer aus. Dementsprechend fällt ihre Antwort aus: »Den Kapitalisten macht ihr Geschenke, uns beutet ihr aus« und »Die SED ist pleite!«.35 Der Protest der Arbeiter manifestiert sich in ersten Arbeitsniederlegungen.

Ost-Berlin, 15. Juni 1953

Das Sekretariat des ZK der SED tagt. Ein Genosse von der Baustelle »Krankenhaus Friedrichshain« berichtet über die Empörung der Arbeiter wegen der Normerhöhungen und kündigt Streiks an. Ulbricht bleibt stur und unbelehrbar. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch: »Die Normen werden nicht zurückgenommen, es bleibt bei zehn Prozent!«36

Ost-Berlin 16. Juni 1953

Die Tribüne, das Organ des FDGB, veröffentlicht einen Artikel, der ausdrücklich darauf hinweist, dass die Normerhöhungen auch beim »Neuen Kurs« Gültigkeit behalten. Empörte Bauarbeiter marschieren daraufhin von der Stalinallee zum Haus der Ministerien im Zentrum Ost-Berlins. Industrieminister Fritz Selbmann, der sich zufällig dort aufhält, versucht vergeblich, die Demonstranten zu beruhigen. Verzweifelt fordert er am Telefon Ulbrichts Erscheinen, da nur so die Demonstration zu einem Ende gebracht werden könne. Ulbricht lehnt einen Auftritt vor den Streikenden mit dem Hinweis ab, dass die Sitzung des Politbüros Vorrang habe. Als Selbmann den Generalsekretär zum Kommen drängt, antwortet dieser: »Es regnet ja, die gehen jetzt doch auseinander...«37 Doch die Hoffnung, dass die Demonstranten sich verlaufen werden, wenn sie niemand zur Kenntnis nimmt, erfüllt sich nicht. Zunehmend schließen sich weitere Ost-Berliner den empörten Arbeitern an. Schließlich wächst die Menschenmenge vor dem Haus der Ministerien auf 10 000 an, die lautstark fordern: »Nieder mit den Normen!«, »Wir wollen Ulbricht sehen!« und »Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille!«.38 Die Stimmung heizt sich weiter auf. Aus wirtschaftlichen Forderungen werden politische: »Wir fordern freie Wahlen!«, und schließlich skandiert die Menge: »Der Spitzbart muss weg!«39
 
Als die Sitzung des Politbüros gegen Mittag unterbrochen wird, ist die Mehrheit seiner Mitglieder nicht mehr bereit, Ulbrichts Politik mitzutragen. Der Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser40, Rudolf Herrnstadt, Hans Jendretzky, der Berliner SED-Chef, Elli Schmidt, die Vorsitzende des Frauenbundes, und der stellvertretende Ministerpräsident Heinrich Rau treten offen gegen Ulbricht auf und geben ihm die Schuld an der Situation. Einzig Erich Honecker und Hermann Matern41 stehen in Nibelungentreue zum angegriffenen Generalsekretär, auch wenn Honecker von erheblichen Zweifeln geplagt wird: »Alle fallen über Walter her. Er wird wohl unterliegen. Aber das Schlimmste ist, ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.«42
 
Unter dem Druck der Straße entschließt sich das Politbüro endlich doch noch zur Rücknahme der Normerhöhungen und verkündet diesen Beschluss im Radio der DDR. Doch die Maßnahme kommt zu spät. Der damalige SED-Bezirkssekretär in Berlin, Heinz Brandt, schildert die Stimmung: »Die Rufe richteten sich gegen die Normenschinderei, gegen Partei und Regierung, vor allem aber gegen Walter Ulbricht... Meine Mitteilung, dass die Normerhöhung inzwischen vom Politbüro der SED zurückgenommen worden sei, übt keinerlei Wirkung aus: ›Das wollen wir von der Regierung, das wollen wir von Walter Ulbricht selber hören‹, lautet die Antwort. Die Demonstranten ziehen bis vor das Regierungsgebäude und fordern Ulbricht und Grotewohl auf, zu erscheinen und Rede und Antwort zu stehen.«
 
Der Generalsekretär macht an diesem Abend einen weiteren schweren Fehler. Er lädt die wichtigsten Berliner SED-Funktionäre zu einer Abendveranstaltung in den Friedrichstadtpalast ein. Anstatt auf die Ereignisse des Tages einzugehen und Gegenmaßnahmen zu diskutieren, ignoriert er die Brisanz der Situation und die Demonstrationen und gibt allgemeine Erläuterungen zum »Neuen Kurs« ab. Das ist seine typische Verhaltensweise, wenn er persönlich kritisiert wird und unter Druck gerät. Unfähig, sich spontan auf die Realität einzustellen, versucht er, das Problem aus der Welt zu schaffen, indem er es verdrängt und so tut, als sei es nicht existent. In der Vergangenheit hat er mit dieser Vogel-Strauß-Politik immer wieder Erfolg gehabt. Aber diesmal kommt die Kritik nicht nur aus den eigenen Reihen, sondern auch von außen. Durch die Konferenz im Friedrichstadtpalast werden die SED-Funktionäre aus den Betrieben und vom Geschehen abgezogen. Sie verlieren so die Möglichkeit, mäßigenden Einfluss auszuüben. Die Arbeiter bleiben sich selbst überlassen. Die Stimmung kühlt sich auch über Nacht nicht ab. Das Politbüro diskutiert bis zum Morgengrauen über das weitere Vorgehen. Dabei wird mit sowjetischen Vertretern auch diskutiert, ob die Familienangehörigen der SED-Führer evakuiert werden sollen.43

DDR, 17. Juni 1953

Das Neue Deutschland druckt eine Erklärung des Politbüros ab, mit der das Problem der Normerhöhungen entschärft werden soll. Zwar betont die SED-Führungsriege noch einmal, dass die »Erhöhung der Arbeitsproduktivität« der einzig richtige Weg sei, um zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der DDR-Bevölkerung zu kommen. Doch dann folgt der Rückzug der verhassten Maßnahme: »Das Politbüro hält es zugleich für völlig falsch, die Erhöhung der Arbeitsnormen... um 10 Prozent auf administrativem Weg durchzuführen.« Die Erhöhung der Normen könne einzig und allein auf freiwilliger Basis erfolgen, heißt es in der Erklärung weiter, und darum solle die »obligatorische Erhöhung der Arbeitsnormen als unrichtig« aufgehoben werden.44 Doch das Einlenken der SED-Führung erfolgt zu spät. Der Streik greift auf die übrigen Teile der DDR über. Aus der auf Berlin begrenzten Demonstration des Vortages entwickelt sich der Volksaufstand des 17. Juni. Um 10.00 Uhr ist erneut eine Sitzung des Politbüros anberaumt. Als die Mitglieder im ZK ankommen, wird ihnen die Nachricht übermittelt, dass Semjonow das Politbüro telefonisch aufgefordert hat, sich sofort in Karlshorst45 einzufinden. In geschlossener Kolonne und sehr schnell fahren die SED-Führer durch die aufgebrachte Menge. Überall treffen sie auf wütende, erregte Menschen, von denen manche mit erhobenen Fäusten auf die Wagen zugehen. Ulbricht sitzt zusammen mit Herrnstadt in einem Auto - beide sprechen während der Fahrt kein Wort. In Karlshorst wird deutlich, dass es in diesem Moment eine eigenständige Staatsmacht der DDR nicht mehr gibt. Überflüssig und hilflos sitzen die SED-Führer im Zimmer des Hohen Kommissars herum, während die Sowjets die Lage sondieren und Anweisungen aus Moskau einholen. Schließlich wird in einer gemeinsamen Sitzung, an der Semjonow und sein Stellvertreter Pawel Judin46 teilnehmen, die weitere Marschrichtung beschlossen. Die anwesenden Politbüromitglieder sollen sofort zu den Zentren der Unruhen fahren, um dort die »politische Leitung« zu übernehmen. Ulbricht, Grotewohl, Zaisser und Herrnstadt bleiben als Einzige in Karlshorst. Als durch den RIAS47 verbreitet wird, dass es in der DDR keine Regierung mehr gebe, kommentiert Semjonow diese Nachricht gegenüber den vier deutschen Genossen spöttisch: »Na, fast stimmt es doch.« Als Karl Schirdewan48, der im Gebäude des ZK in Berlin geblieben ist, telefonisch über die aktuelle Lage berichtet, quittiert Ulbricht die Nachricht spontan mit einem »Aus«.49
 
Gegen Mittag erreicht der Aufstand seinen Höhepunkt. »Weg mit Ulbricht!«, fordert die Menge, und Tausende singen die dritte Strophe des Deutschlandliedes: »Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland«. Zur gleichen Zeit sind die Anweisungen aus Moskau da. Semjonow informiert die SED-Führer: »Moskau hat die Verhängung des Ausnahmezustandes angeordnet. Jetzt ist der Spuk sehr schnell vorbei. Ein paar Minuten nach 1.00 Uhr ist die ganze Sache erledigt.« In der Tat hat die DDR-Führung mit Hilfe der Sowjets die Initiative in Berlin wieder zurückgewonnen. Ulbricht, Zaisser, Herrnstadt und Semjonow besprechen zusammen die Linie des Leitartikels des Neuen Deutschland für den nächsten Tag, der unter dem Titel »Was ist in Berlin geschehen« erscheinen wird.50 Die Nacht verbringt der SED-Chef auf Anordnung des Hohen Kommissars in einer leer stehenden Villa in Karlshorst. Ulbricht wollte eigentlich sofort nach Berlin-Mitte zurückkehren. Doch Semjonow hat diesen Wunsch zurückgewiesen: »Und wenn Ihnen in Ihren Wohnungen etwas passiert? Sie haben es dann leicht, aber was meine Vorgesetzten mit mir machen, daran denken Sie nicht.« Am nächsten Morgen ist der Generalsekretär jedoch nicht mehr zu halten. Beim Frühstück verkündet er: »Jetzt fahre ich in die Stadt, ins ZK - auch wenn sie mich halten wollen. Unser Platz ist dort. Es war wahrscheinlich überhaupt falsch, dass wir hier geblieben sind.«51
 
Bertolt Brecht schreibt Ulbricht an diesem Tag: »Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken.«52 Ein Ulbricht weniger ergebener DDR-Bürger schmiert an eine Klo-Tür in der Warnow-Werft in Rostock den Spruch: »Wilhelm zur Erholung ging, wohl an das Schwarze Meer, weil Walterchen alleine war, nahm er das Schießgewehr.«53

Ost-Berlin, 20. Juni 1953

Semjonow, der in den letzten Tagen faktisch die Führung von Staat und Partei in Händen gehabt hat, fragt die deutschen Genossen provokant, ob sie nicht meinten, dass ihr Platz jetzt in den Betrieben sei.54 Ulbricht reagiert empört und barsch: »Sie haben uns ja selber verboten, in die Betriebe zu gehen.« Als die SED-Führer nach Hause fahren, ist Ulbricht außer sich: »Jetzt sollen sie mir noch einmal kommen mit Vorschriften über mein Verhalten! Jetzt mache ich das, was ich für richtig halte.«55 In den kommenden Tagen tritt Ulbricht wie andere SED-Spitzenfunktionäre in Betriebsversammlungen von Großbetrieben auf, um verlorenes Terrain in Diskussionen mit der Belegschaft wieder zurückzuerobern. Bei seinem Auftritt in den nach ihm benannten Leuna-Werken erscheinen von 28 000 Arbeitern nur 1300 zur Diskussion, nicht einmal die Hälfte der SED-Mitglieder des Großbetriebes.56 Das Ministerium für Staatssicherheit, wie immer dabei, hält fest: »Im Vordergrund [standen] die Forderung nach Redefreiheit, die sie schriftlich bescheinigt haben wollten, Entlassung der politischen Häftlinge, Trennung der Gewerkschaft von der Partei usw.«57 Im Ost-Berliner VEB Großdrehmaschinen »7. Oktober« wird Ulbricht sogar ausgebuht und ausgepfiffen. Die Arbeiter geben sich nicht mit seiner standardisierten Beschwichtigungsrede zufrieden, sondern verlangen offene und selbstkritische Worte. Ulbricht gibt sich kleinlaut: »Ich bin ein Arbeitersohn, dem die kapitalistische Gesellschaft nur vier Jahre Schule erlaubt hat«, erklärt er entschuldigend, »und ihr müsst es mir nicht übel nehmen, wenn ich auch heute manchmal fehlerhafte Sätze spreche. Aber darauf kommt es gar nicht an, weil ihr nicht verstehen wollt, was ich euch zu sagen habe.« Dass Ulbricht sich von acht Polizisten mit Motorrädern eskortieren lässt, erzürnt die Arbeiter besonders: »Ich muss schon sagen, Genosse Ulbricht, schwer machst du es uns«, ruft ihm ein aufgebrachter Genosse deswegen aus der Menge zu, »wir stehen hier als einfache Genossen zwischen den Kollegen und sollen ihnen Rede und Antwort stehen, dass du hier mit Polizei herkommst.«58 In dieser Versammlung wird Ulbricht nichts geschenkt. Am Schluss lässt er über eine vorbereitete Resolution abstimmen. Jetzt erreicht die Erregung der Versammelten ihren Höhepunkt. »Aha!«, tönt es aus dem Saal. »Ein Hurra für die SED!« - »Es lebe der Führer!« - »Ohne uns!«, schallt es durcheinander. Ulbricht lässt sich nicht beeindrucken und bringt seine Resolution vor, indem er das Protestgejohle überschreit. Die Zählung ergibt 188 Zustimmungen und 500 Ablehnungen. Trotzdem hinterlässt die Versammlung bei Ulbricht einen sehr positiven Eindruck. Im Anschluss daran erzählt er Herrnstadt am Telefon ganz erfüllt von seinem Auftritt und meint, es gebe gar keinen Zweifel, dass die Partei sich durchsetzen könne und werde.59
 
Ost-Berlin, 24. Juni 1953
Marschall Sokolowski60, Generalstabschef der Sowjetischen Armee, der Hohe Kommissar der UdSSR in Deutschland, Semjonow, und dessen Stellvertreter Pawel Judin, die das militärische und politische Krisenmanagement während des Aufstandes und danach geleitet haben, legen ihren Abschlussbericht über das Desaster in Ost-Berlin für die Sowjetführung vor. Sie fordern darin zum einen wirtschaftliche Entlastungen für die DDR-Wirtschaft, damit das Lebensniveau der DDR-Bevölkerung spürbar erhöht werden kann. Daneben üben sie harsche Kritik an der Politik des ZK der SED, das »in der letzten Zeit eine falsche Methode bei der Führung des Staates und der Volkswirtschaft angewendet« hat. Dass Ulbricht, der Generalsekretär des ZK der SED, Konsequenzen zu ziehen hat, steht für die sowjetischen Emissäre außer Frage. Eine ihrer zentralen Forderungen lautet, »Genossen Ulbricht von der Funktion des Stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR zu entbinden, damit er seine Aufmerksamkeit auf die Arbeit des ZK der SED konzentriert«. Und weiter: »Der derzeit existierende Posten des Generalsekretärs des ZK der SED ist zu liquidieren, Posten ›Sekretäre des ZK‹ sind einzuführen.«61

Ost-Berlin, 26. Juni 1953

In dieselbe Kerbe schlägt Rudolf Herrnstadt anlässlich der ersten Sitzung der Kommission des Politbüros, die Vorschläge zur Organisationsveränderung in der Führungsspitze der SED machen soll. Es besteht Einigkeit in der Runde, der auch Ulbricht angehört, dass das Politbüro des ZK der SED umbenannt werden soll in »Präsidium des Zentralkomitees«.62 Der Vorschlag folgt wieder einmal dem Vorbild der Sowjetunion, wo seit Herbst 1952 genau diese Organisationsveränderung gilt. Die weiteren Beschlüsse der Kommission sind sensationell: Das von Ulbricht geleitete Sekretariat des ZK der SED soll in seiner bisherigen Form aufgelöst werden und die Funktion des Generalsekretärs künftig entfallen. Stattdessen soll ein Sekretariat geschaffen werden, das nur aus Angehörigen des Politbüros besteht, um den Dualismus zwischen Politbüro und Sekretariat zu beseitigen. Auch Ulbricht stimmt dem Vorschlag zu: »Ist keine Frage... Aber eine Stelle ist trotzdem notwendig, die für die Durchführung der Beschlüsse sorgt.«63 In der Diskussion lässt sich Herrnstadt zu der Äußerung hinreißen: »Walter, dich muss man bändigen, sonst gibt es ein Unglück.«64 Und dann setzt Ulbrichts Hauptwidersacher zum Dolchstoß an: »Ich habe noch einen weiter gehenden Vorschlag; wäre es nicht besser, wenn du die unmittelbare Anleitung der Parteiorganisation abgibst?« Ulbricht, vor Wut und Erregung knallrot im Gesicht, entgegnet zur Überraschung aller: »Ich hätte diesen Vorschlag selbst gemacht.«65 Die Entscheidung über personelle Konsequenzen dieses Beschlusses wird auf die nächste Sitzung vertagt.66 Nie war die Entmachtung des Generalsekretärs als Primus inter Pares und seine Einreihung ins Glied der anderen SED-Führer greifbarer und akuter als an diesem 26. Juni 1953.

Ost-Berlin, 30. Juni 1953

Walter Ulbricht wird sechzig Jahre alt. Im Glückwunschtelegramm des sowjetischen Zentralkomitees fehlt der übliche Hinweis auf die verschiedenen Funktionen des Generalsekretärs. Immerhin enthält es einen »brüderlichen Gruß«, und Ulbricht wird als einer der »hervorragendsten Organisatoren und Führer« der SED bezeichnet.67

Moskau, Anfang Juli 1953

Berija wird von Chruschtschow, Molotow und Malenkow gestürzt und verhaftet. Sein Versuch, das von ihm geführte Innenministerium und damit auch den sowjetischen Geheimdienst der Kontrolle der Partei zu entziehen und sich zum Nachfolger Stalins und Alleinherrscher in der UdSSR aufzuschwingen, scheitert am Widerstand seiner Rivalen. Die restlichen Sowjetführer hegen nicht zu Unrecht die Befürchtung, dass die von Berija angestrebte Alleinherrschaft sie nicht nur ihre Stellung, sondern auch das Leben kosten könnte, und handeln. Berija wird als »Feind der Partei und des Sowjetvolkes« aller Ämter enthoben und aus der Partei ausgestoßen. Die weiteren Vorwürfe seiner Gegner lauten, dass er im Interesse ausländischen Kapitals den Sowjetstaat habe »unterwühlen« wollen. Er habe den niederträchtigen Versuch unternommen, das von ihm geleitete Innenministerium über die Regierung der Sowjetunion zu stellen. »Verbrecherischer Abenteurer« wird er in der Sowjetpresse bald genannt werden, und »ruchlose Machenschaften« werden dem Mann vorgeworfen, der der größte Gegner Ulbrichts in den vergangenen Wochen gewesen ist. Auch gegen den Aufbau des Sozialismus in Deutschland sei er gewesen, und er habe sich gegen die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ausgesprochen, heißt es jetzt. Seine Kompromissbereitschaft in der Deutschlandpolitik gegenüber dem Westen hätte gar zum Verlust der DDR führen können.68

Ost-Berlin, 3. bis 7. Juli 1953

Ulbricht erhält - vor den anderen Mitgliedern des Politbüros der SED - Kenntnis vom Sturz Berijas und gelangt zur Gewissheit, dass die sowjetische Führung ihn in dieser Situation nicht opfern wird. Der von Berija initiierte »Neue Kurs« wird in Moskau als Fehler eingestuft. Dass er sich hauptsächlich gegen den Generalsekretär der SED richtete, ist jetzt ein Argument für Ulbricht. Hinzu kommt, dass der SED-Chef - nachdem sowjetische Panzer der DDR-Führung die Macht erhalten haben - nicht geopfert werden kann, ohne dass dies als Zeichen der Schwäche der DDR-Führung ausgelegt werden könnte. Notgedrungen entscheiden die Sowjetführer, an ihrem Statthalter in der DDR festzuhalten, dessen politisches Schicksal noch wenige Tage zuvor besiegelt schien.
 
Infolge dieser dramatischen Änderung der Lage in Moskau zeigt der Generalsekretär des ZK der SED plötzlich keinerlei selbstkritische Ansätze mehr. Während die Mehrheit im Politbüro tief schockiert über den Aufstand und seine Ursachen grübelt, tut der SED-Chef so, als sei die Niederschlagung des Aufstandes ein Erfolg, und sträubt sich auf einmal gegen jede kritische Diskussion. Herrnstadt fällt das veränderte Verhalten Ulbrichts sofort auf: »Die Atmosphäre in dieser Sitzung war von Anfang an gespannt, die Haltung des Genossen Ulbricht brüsk, abwartend und auf Angriffe eingestellt. Ich hatte den Eindruck, dass zwischen der 1. und 2. Kommissionssitzung irgendwelche, mir nicht bekannten Dinge vor sich gegangen waren, auf Grund derer Ulbricht sein Verhalten... bereute und für überflüssig hielt.«69 Die zweite Sitzung nimmt einen völlig anderen Verlauf, als es nach den Beschlüssen beim ersten Treffen zu erwarten war. Der sowjetische Vertreter Semjonows, Miroschnitschenko, ergreift die Partei Ulbrichts, ohne dabei dessen Namen zu nennen. Er macht deutlich, dass er von der Idee eines großen Sekretariats nicht viel hält. Ein Sekretariat zur Kontrolle der Durchführung der Beschlüsse des Politbüros sei in jedem Fall notwendig. Dabei genüge es, wenn nur ein Mitglied dieses Sekretariats Mitglied des Politbüros sei, um die Verbindung zu gewährleisten. Obwohl das überhaupt nicht den Intentionen der Ulbricht-Gegner entspricht, stimmen sie notgedrungen den Ausführungen von Miroschnitschenko zu. Wilhelm Zaisser versucht zu retten, was noch zu retten ist, und schlägt vor, die entscheidende Position desjenigen Politbüromitglieds, das auch dem Sekretariat angehören soll, mit Rudolf Herrnstadt zu besetzen. Auf Fragen von Grotewohl, ob Herrnstadt zur Annahme dieses Amtes bereit sei, erklärt dieser, dass er jede Arbeit, die die Partei ihm übertrage, übernehme. Ulbricht kommentiert das erregt mit dem Zuruf: »Dieser Vorschlag ist ganz logisch! Für mich ist er der Punkt auf dem i.«70 Die Entscheidung wird auf die nächste Sitzung vertagt, damit Semjonow teilnehmen kann.
 
Eine dritte Sitzung der Kommission findet nicht mehr statt. Ulbrichts Gegner verspielen ihre Chance, den angeschlagenen Generalsekretär endgültig zu Fall zu bringen. Herrnstadt und Zaisser führen ihre Angriffe nicht entschlossen genug, ihnen fehlt der politische Killerinstinkt. Anstatt auf die Absetzung Ulbrichts zu drängen, diskutieren sie nächtelang, wie Ulbricht im Kollektiv zur Räson gebracht werden kann. Herrnstadt findet selbst auf dem Höhepunkt des Machtkampfes noch Gutes an Ulbricht: »Ich war - wie oft - wieder von ihm begeistert, von seiner Elastizität, der Schnelligkeit seines Denkens und vor allem davon, dass er letzten Endes, wie mir schien, guten Willens war.«71 Ulbricht nutzt die mangelnde Entschlossenheit seiner Gegner, um jetzt zum Gegenangriff auf seine Kritiker im Politbüro überzugehen. Das fehlende taktische Geschick seiner Gegner, denen es nicht gelungen ist, ihn im Politbüro zu isolieren, erlaubt ihm, seine Verbündeten wieder hinter sich zu bringen. Hermann Matern, Fred Oelßner und Erich Honecker sind in der jüngsten Vergangenheit ebenfalls schwer kritisiert worden und fürchten, mit in den Abgrund gerissen zu werden, wenn der Generalsekretär stürzt. Vor diesem Hintergrund fällt die Entscheidung leicht, sich auf die Seite Ulbrichts zu schlagen. Der in der letzten Politbürositzung heftig gescholtene Fred Oelßner übernimmt es, die Gegenoffensive einzuleiten. In der nächsten Politbürositzung bezichtigt er Herrnstadt und Zaisser, eine Spaltung der Partei anzustreben. Das ist der schlimmste Vorwurf, den man einem Parteimitglied nach kommunistischer Ideologie machen kann. Oelßner agitiert, Zaisser und Herrnstadt hätten die durch den 17. Juni entstandene Lage ausnutzen wollen. Zaisser habe Herrnstadt als neuen Ersten Sekretär des Zentralkomitees vorgeschlagen, und Herrnstadt habe dies mit dem größenwahnsinnigen Satz »Der Parteiapparat steht gegen mich, aber die Massen stehen hinter mir!«72 angenommen. Nach diesen Vorwürfen kommt es zu tumultartigen Auseinandersetzungen im Politbüro.
 
In den nächsten Tagen arbeitet Herrnstadt schriftlich eine nie da gewesene, schonungslose Abrechnung mit der Politik der vergangenen Jahre aus. Seine Kritik an der von Ulbricht initiierten Wirtschaftspolitik der Vergangenheit gleicht einem Offenbarungseid: »Insbesondere hat sich die Forcierung des Ausbaus der Schwerindustrie, der Drosselung der Konsumgüterindustrie und die schroffe Einschränkung der Privatinitiative als irrig erwiesen.«73 Noch härter geht er mit dem inneren Zustand der SED ins Gericht: »Der Verlust der Verbindung mit großen Teilen der Werktätigen, der Verlust des Vertrauens eines beträchtlichen Teils der Arbeiterklasse gehört zum Schwersten, was einer marxistisch-leninistischen Partei widerfahren kann.«74 Ohne Ulbrichts Namen zu nennen, verdammt er dessen Führungsstil: »Es verführt zum Persönlichkeitskult, der das Niveau der Parteiarbeit senkt und die jeweilige ›Persönlichkeit‹ in ihrer Entwicklung zurückwirft und verkrüppelt.«75 Herrnstadts Papier gipfelt in den Forderungen »Erneuerung der Partei«, »Erneuerung der Parteispitze«, »Erneuerung des zentralen Parteiapparates«. 76 Als Herrnstadt diese Thesen im Politbüro präsentiert, kommt es erneut zu schweren Auseinandersetzungen. Ulbricht und seine Gefolgsleute verstärken ihren Gegenangriff, indem sie Herrnstadt und Zaisser eine »spalterische Tätigkeit« vorwerfen. Diese seien nicht überzeugt von der Richtigkeit des »Neuen Kurses« und würden daher nicht mehr die Linie der Partei vertreten.77 Ulbricht kann in dieser Sitzung punkten, denn der von Herrnstadt vorgelegte Entwurf wird als unbrauchbar zurückgewiesen.78 Statt seiner wird Anton Ackermann79 beauftragt, die Beschlüsse zum »Neuen Kurs« vorzubereiten, die anlässlich der nächsten Sitzung des Zentralkomitees verabschiedet werden sollen.

Ost-Berlin, 7. Juli 1953

Doch damit ist Ulbricht noch nicht aus dem Schneider. Das Politbüro diskutiert in einer Nachtsitzung erneut die Frage der Macht. Am nächsten Morgen sollen Grotewohl und Ulbricht auf Wunsch der sowjetischen Führung erneut nach Moskau fliegen. Die Diskussion dauert vier oder fünf Stunden. Von 13 anwesenden Politbüromitgliedern sprechen sich nur zwei eindeutig für das Verbleiben von Walter Ulbricht als Generalsekretär aus, Hermann Matern und Erich Honecker. Erich Mückenberger und Fred Oelßner legen sich nicht fest. Die Übrigen sprechen sich klar und vehement dafür aus, dass Ulbricht die Funktion des Generalsekretärs aufgeben soll. Friedrich Ebert kann seine Kritik nur unter Tränen vortragen. Elli Schmidt spricht mit größter Leidenschaft. »Der ganze Geist, der in unserer Partei eingerissen ist, das Schnellfertige, das Unehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und Prahlen - das erst hat uns so weit gebracht, und daran, lieber Walter, hast du die meiste Schuld, und das willst du nicht eingestehen, dass es ohne alledem keinen 17. Juni gegeben hätte... Es geht nicht gerecht zu, Walter. Wer dir zum Munde redet und immer hübsch artig ist, der kann sich viel erlauben. Honecker, zum Beispiel, das liebe Kind. Aber wer dir nicht zum Munde redet, der bekommt keine Hilfe und kann sich totarbeiten, und es wird nicht anerkannt.« Am schärfsten ist der Angriff von Anton Ackermann. »Viele Jahre habe ich dich unterstützt, Walter. Trotz allem, was ich sah. Lange Zeit habe ich geschwiegen, aus Disziplin, aus Hoffnung, aus Angst. Heute liegt das alles hinter mir. Die Partei steht höher, und ich werde die Wahrheit sagen und nur die Wahrheit... Es gibt in diesem Politbüro nur zwei Sorten von Genossen: solche, die es wagen, den Mund aufzumachen, und solche, die den Mund halten und dasselbe denken... Ich bin bereit, vor den Parteitag zu treten, vor dreitausend gewählte Funktionäre mit nur einem Dokument in der Hand,... über die Ehrungen zu deinem 60. Geburtstag. Ich brauche dieses Dokument nur zu verlesen, nichts weiter - an der Reaktion des Parteitages würde kein Zweifel sein.«80 Trotz dieser harten Angriffe notiert sich Grotewohl am Ende der Sitzung: »Ich kann in Moskau keine abschließende Äußerung abgeben.«81

Ost-Berlin, 9. Juli 1953

Nach ihrer Rückkehr aus Moskau berichten Ulbricht und Grotewohl dem Politbüro über den Grund der Reise. Die sowjetischen Genossen haben die Führer aller Bruderparteien eingeladen, um ihnen die Angelegenheit Berija offiziell zu erläutern. Dabei wird mündlich Kritik an der Herrschaft Stalins in den letzten Jahren geübt. Unter seiner Führung hätten nicht immer normale Verhältnisse geherrscht, und die Prinzipien der innerparteilichen Demokratie seien verletzt worden. Das habe den Nährboden für das Hochwachsen einer solchen Figur wie Berija gegeben. Grotewohl verliest in einer Nachtsitzung ein Dokument des Präsidiums des ZK der KPdSU. Es ist ein selbstkritisches Statement über den schlechten inneren Zustand der KPdSU. Herrnstadt und Zaisser fühlen sich bestätigt. Genau das, was sie an Ulbricht kritisiert haben, wird auch in der sowjetischen Bruderpartei kritisiert. Herrnstadt erinnert sich später: »Je weiter er las, desto glücklicher wurde ich. Ebenso Zaisser, Ackermann und viele andere.«82

Ost-Berlin, 14. Juli 1953

Das Politbüro tagt erneut. Diese Sitzung bringt die Wende im Machtkampf um den Generalsekretär der SED. Ulbricht dreht den Spieß um und greift erneut mit grimmiger Entschlossenheit seine beiden Hauptkritiker an. Seine Dramaturgie sieht vor, dass zu Beginn der Sitzung der »Fall Fechner« behandelt wird. Zwar ist der Justizminister der DDR an dem parteiinternen Machtkampf nicht direkt beteiligt gewesen. Doch Max Fechner hat anlässlich des 17. Juni einen schweren Fehler gemacht. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland hat er sich mit dem Satz »Das Streikrecht ist verfassungsmäßig garantiert« hinter die Streikenden gestellt. Die Interpretation der Ereignisse als Streik wird ihm zum Verhängnis. Die Machthaber in Moskau und Ost-Berlin haben den Aufstand zur »faschistischen Provokation« erklärt, von einem Streik kann ihrer Meinung nach keine Rede sein. Ulbricht nutzt das, um Fechner politisch zu entmachten und darüber hinaus sogar ins Gefängnis werfen zu lassen. Das Ganze ist eine unübersehbare Machtdemonstration und Warnung Ulbrichts an seine Gegner. Schockartig wird ihnen eingebläut, wohin ein Angriff auf den Generalsekretär führen kann. Fechner wird an diesem Tag vor das Politbüro geladen, um sich für seine Aussage im Neuen Deutschland zu rechtfertigen. Der in der Sitzung anwesende Vertreter der SKK, Judin, ist über Fechners Aussage so erbost, dass er dem Justizminister »zitternd vor Erregung« droht: »Bei uns in der Sowjetunion gibt man für solche Sachen zwölf Jahre Zuchthaus.« Noch am selben Tag wird Fechner verhaftet und am 26. Juli als »Feind der Partei und des Staates... aus dem ZK der SED und den Reihen der SED« ausgeschlossen. Bis 1955 wird er ohne Anklage in Untersuchungshaft sitzen, um dann in einem Geheimprozess zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt zu werden. Zu seinem Glück wird er davon allerdings nur einen Bruchteil absitzen müssen.83
 
Nach diesem Auftakt der Sitzung wendet sich Ulbricht seinen beiden Hauptgegnern zu und erklärt, dass er das Verhalten der Genossen Zaisser und Herrnstadt vor dem Zentralkomitee zur Anklage bringen wird. Alle Anwesenden spüren, Ulbricht will seine eigene Haut retten, indem er seine Gegner eliminiert. In derselben Sitzung wird auch der Entwurf von Anton Ackermann für die nächste Sitzung des Zentralkomitees von Ulbricht, Matern und Oelßner entrüstet zurückgewiesen. Nunmehr nehmen Ulbricht, Grotewohl und Oelßner die Ausarbeitung in die Hand.84

Ost-Berlin, um den 18. Juli 1953

Wenige Tage später wird der von Oelßner ausgearbeitete Entwurf in Anwesenheit von Semjonow und Judin im Politbüro zur Diskussion gestellt. Die beiden entscheidenden Passagen lauten: »Im Politbüro des ZK machte sich bei einigen Genossen ein Zurückweichen vor der feindlichen Propaganda bemerkbar, die das Hauptfeuer gegen den Kern der Parteiführung richtete. Diese Genossen vertraten eine defätistische, gegen die Einheit der Parteiführung gerichtete Linie... Das Zentralkomitee verurteilt besonders die unrichtige, kapitulantenhafte Linie, die in einer Reihe Aufsätze des Organs des ZK, Neues Deutschland, vertreten wurde, dessen Chefredakteur, Genosse Herrnstadt, eine kapitulantenhafte, im Wesen sozialdemokratische Auffassung zum Ausdruck brachte.«85 Als Grotewohl danach erklärt, die Vorwürfe gegen Herrnstadt und Zaisser seien »in der politischen Grundsätzlichkeit« richtig, sind die Würfel gefallen. Wenn das Zentralkomitee diesen Beschluss verabschiedet, sind Zaisser und Herrnstadt politisch erledigt.

Ost-Berlin, um den 20. Juli 1953

Herrnstadt spürt, dass er die Schlacht verlieren wird, und verzweifelt: »Ich konnte oder wollte nicht glauben, dass sie meine politische Vernichtung vollziehen würden.«86 Fast weinerlich sucht er ausgerechnet bei Ulbricht Hilfe und bittet darum, dass die Beschuldigungen gegen ihn aus dem Entwurf für das nächste Plenum des Zentralkomitees gestrichen werden. Ulbricht ist dieser hilflose Akt der Unterwerfung offensichtlich peinlich, und er schiebt die gegen Herrnstadt und Zaisser inszenierte Kampagne auf sowjetische Stellen. Nur zu willig nimmt der geschlagene Herrnstadt ihm diese Version ab. Zum Abschied gibt sich Herrnstadt noch einmal heroisch: »Wenn wir uns jetzt trennen sollten, bitte ich dich und die Partei zu wissen, dass ich ohne Groll scheide und dass sich die Partei auch weiterhin auf mich verlassen kann.« Ulbricht erwidert kühl: »Ich nehme diese Erklärung zur Kenntnis.«87

Ost-Berlin, 23. Juli 1953

Auf der letzten Politbürositzung vor der entscheidenden Tagung des Zentralkomitees der SED legt Ulbricht in Anwesenheit von Semjonow und Judin seinen Rechenschaftsbericht vor, den er am morgigen Tag vor dem Zentralkomitee verlesen will. Ausdrücklich wird diesmal erklärt, dass nur die ordentlichen Mitglieder des Politbüros stimmberechtigt sind. Regelmäßig haben sonst zuvor auch die Kandidaten des Politbüros - zu denen Herrnstadt gehört - mitgestimmt. Der Rechenschaftsbericht sieht weitere Verschärfungen der Beschuldigungen gegen Zaisser und Herrnstadt vor. Nach erregter Diskussion stimmt Zaisser - der einzige Beschuldigte, der stimmberechtigt ist - wie alle anderen für den Beschluss, der ihn selber als Vertreter des Sozialdemokratismus und Kapitalismus brandmarkt. Danach bricht er in Tränen aus und verlässt den Raum.88 Auch in dieser Situation beugt er sich dem Willen der Partei und ihrem ehernen Gesetz, wonach die Einheit der Partei über alles geht und unantastbar ist.

Ost-Berlin, 24./25. Juli 1953

Am nächsten Tag beginnt die entscheidende ZK-Sitzung. Zur Bestürzung von Zaisser und Herrnstadt verliest Walter Ulbricht neue Vorwürfe gegen sie, die nicht dem Text entsprechen, den er am Vortag im Politbüro hat absegnen lassen. Jetzt verleumdet er seine beiden Gegner sogar als Kapitulanten, die nach dem faschistischen Putschversuch vom 17. Juni versucht hätten, Hand in Hand mit den Verschwörern die Situation auszunutzen. Oelßner gießt anschließend Öl ins Feuer, als er erklärt, dass der von Herrnstadt ausgearbeitete Entschließungsentwurf für das 15. Plenum eine »ideologische Plattform« darstelle und Herrnstadt und Zaisser eine »getarnte fraktionelle Gruppe« gebildet hätten. Ulbricht heizt die Stimmung durch perfide Zwischenrufe weiter auf: »Er hat ja nicht nur mich stürzen wollen; er wollte auch den Bundesvorstand des FDGB abberufen!« Oder: »Er hat ja auch Matern stürzen wollen!«89 Je länger das Plenum und die Sitzung andauern, desto schlimmer werden die Vorwürfe. Ulbricht spinnt einen Faden zwischen der »parteifeindlichen Fraktion« und dem Verräter Berija. Damit geraten Herrnstadt und Zaisser auch noch in den Verdacht, imperialistische Agenten zu sein, die die Absicht hatten, den Kapitalismus in der DDR zu restaurieren und die proletarische Kampfpartei zu liquidieren. Staat und Partei, suggeriert Ulbricht, hätten sich in einer tödlichen Gefahr befunden, weil eine »parteifeindliche Fraktion« einen »innerparteilichen Putsch« unternommen habe. Nur durch das sofortige Dazwischengehen einiger in Klassenkämpfen erprobter Genossen sei der Anschlag der Putschisten im Keim erstickt und die Partei und die DDR gerettet worden.
 
Das Ergebnis dieser perfiden Unterstellungen ist, dass Ulbricht sich auf der ganzen Linie durchsetzt. Das Zentralkomitee ist erschüttert über den vermeintlichen Putschversuch und beschließt, die beiden »Fraktionisten« aus seinen Reihen auszuschließen. Herrnstadt erinnerte sich: »Ich sehe noch die Gesichter der Genossen des ZK vor mir, wie sie auf mich und Genossen Zaisser blickten, als Genosse Ulbricht den Verdacht aussprach, dass wir zur Bande Berijas gehören. Jeder dachte: also solche Verbrecher sind das...«90 Erneut wird deutlich, warum Herrnstadt und Zaisser letztlich keine Gegner für Ulbricht sind und darum in dem Machtkampf keine Chance haben. Sie bringen es - selbst angesichts der augenscheinlich drohenden eigenen Niederlage - nicht über sich, in der für ihr Schicksal entscheidenden ZK-Sitzung offen gegen Ulbricht vorzugehen. »Wirst du sagen, was wirklich war?«, fragte Herrnstadt Zaisser vor seinem Auftritt vor dem Zentralkomitee. »Das kann man nicht machen, das könnte der Sowjetunion schaden«, ist die Antwort des Staatssicherheitsministers.91 Schließlich stimmt Herrnstadt für seinen eigenen Ausschluss aus dem Zentralkomitee, denn der Gedanke, gegen das Plenum zu stimmen, ist für ihn nicht vorstellbar.92

Ost-Berlin, August/September 1953

Ulbricht begnügt sich nicht damit, den Machtkampf zu gewinnen. In den nächsten Monaten stellt er sicher, dass seine unterlegenen Gegner nie wieder eine wesentliche politische Rolle spielen und sich vor allem nie wieder gegen ihn erheben werden. Keiner seiner Kritiker im jüngsten Machtkampf bleibt von Ulbrichts Rache verschont. Zunächst zwingt der SED-Chef seine unterlegenen Gegner, demütigende schriftliche Selbstkritiken abzugeben. Herrnstadts diesbezügliche Erklärung vom 31. August 1953 ist ein Akt der totalen Selbstaufgabe und Unterwerfung: »Ich gebe mir heute Rechenschaft davon, dass diese schweren Vorwürfe berechtigt sind.93...ich bin nicht nur an die Frage des Neuen Kurses von Anfang an falsch herangegangen, ich muss außerdem nach dem 17. Juni unter der Einwirkung der gegnerischen Propaganda gestanden haben, die den Eindruck hervorrufen wollte, als hätten sehr große Massen demonstriert.94...Wenn ich alle meine Fehler zusammennehme, komme ich zu dem Schluss, dass es sich um ein System von Fehlern handelt, dessen Ursache in kleinbürgerlichen Resten liegt. Sie zeigten sich... in persönlichen Eigenschaften wie Selbstherrlichkeit, Besserwisserei, Anmaßung... Wenn ich heute die Zusammenhänge überblicke, so empfinde ich Scham über mein Verhalten.«95 Diese Selbstunterwerfung nützt Herrnstadt nichts. Zusammen mit Wilhelm Zaisser wird er Anfang 1954 wegen »parteifeindlicher fraktioneller Tätigkeit, die die Einheit und Reinheit der Partei bedrohte, aus der Partei ausgeschlossen«.96 Ulbricht begeht darüber hinaus die Gemeinheit, Herrnstadt eine Arbeit als Angestellter des Deutschen Zentralarchivs in der Zweigstelle Merseburg zuweisen zu lassen. Ulbricht weiß, dass Herrnstadt in den Nachkriegsjahren eine schwere Tuberkulose nur knapp überlebt hat. Nach mehreren Operationen ist die Funktionsfähigkeit von Herrnstadts Lungen um 50 Prozent reduziert. Der neue Wohnort im Zentrum der hoch belasteten Emissionen der beiden größten Chemiebetriebe des Landes, Leuna und Buna, ist mit Bedacht gewählt. Auch wenn diese Tyrannisierung seines unterlegenen Gegners nicht zu vergleichen ist mit dem Schicksal Berijas - der am 23. Dezember 1953 in der Sowjetunion zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet wird -, so zeigte sich Ulbricht in seiner Rache doch von seiner dunkelsten Seite. Herrnstadt wird zehn Jahre später im Alter von dreiundsechzig Jahren in Merseburg sterben.
 
Wilhelm Zaisser wird von Ulbricht eine Arbeit im Dietz Verlag sowie am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED zugewiesen, wo er bis zu seinem Tod als Übersetzer aus dem Russischen tätig sein wird. Er wird nur vierundsechzig Jahre alt werden. Natürlich wird auch Zaissers Ehefrau Else für das Verhalten ihres Mannes bestraft und im Oktober 1953 als Volksbildungsministerin abgesetzt. Anton Ackermann erhält am 23. Januar 1954 eine Rüge »wegen zeitweiliger Beteiligung an der Fraktionstätigkeit von Herrnstadt-Zaisser«97. Wie Herrnstadt unterwirft auch er sich im September 1953 mit einer schriftlichen Selbstkritik dem siegreichen Ulbricht. Er bezeichnet es darin als »schwersten meiner Fehler..., dass ich [mich] in dieser äußerst ernsten Situation überhaupt auf die Fragestellung der so genannten ›falschen Arbeitsmethode‹ des Genossen Ulbricht einließ und mich selbst teilweise auf dieses verderbliche Geleise begab«.98 »Der Vorwurf, den mir die Genossen Ulbricht und Oelßner auf dem 15. Plenum des ZK machten, ist infolgedessen vollauf berechtigt. Ich kam zu diesem falschen und schädlichen Verhalten, weil ich zeitweilig selbst auf der Position einer übertriebenen und unzulässigen Kritik an der Partei und einer persönlichen Kritik an dem Genossen Ulbricht stand.«99 Auch ihn verschont seine Selbstkritik nicht vor der Rache Ulbrichts. Auf dem vierten Parteitag der SED im April 1954 wird er nicht mehr ins ZK gewählt und gelangt trotz seiner politischen Rehabilitierung im Juli 1956 nicht mehr zu politischem Einfluss. Am 4. Mai 1973 wird er sich das Leben nehmen. Elli Schmidt schließlich wird im Juli 1953 als Vorsitzende des Deutschen Frauenbundes abgesetzt. Im Januar 1954 mit einer Rüge bedacht, wird auch sie anlässlich des vierten Parteitages der SED nicht mehr in das ZK gewählt.100 Auch ihr hilft ihre demütigende Selbstkritik, die sie am 11. August 1953 abgibt, nichts: »...da ich... gleichzeitig höchst unqualifiziert und grob gegen den Genossen Walter Ulbricht aufgetreten bin, habe ich keineswegs der Einheit der Parteiführung gedient.«101 Immerhin darf Elli Schmidt bis zu ihrer Pensionierung ihren Lebensunterhalt als Direktorin des Deutschen Modeinstituts in Berlin verdienen.
 
»Vorwärts mit Genossen Ulbricht, der uns Freund und Vorbild ist«, singen zur selben Zeit die Jungen Pioniere der DDR. So lautet der Refrain des Liedes der Pionierorganisation »Ernst Thälmann«. Sie verstehen noch nicht, was sie da singen.
Kindheit und Jugend: 1893-1918
»Zwei Klassen, eine ihrem Ende entgegengehende Kapitalistenklasse und eine vor Jugendkraft strotzende, das Proletariat, stehen sich schroff gegenüber.«
Walter Ulbricht, 1913

Ein Arbeiterkind

»Es war eine weltoffene, internationale Atmosphäre, in welcher Walter Ulbricht aufwuchs.« Dieser Satz Johannes R. Bechers, Kulturminister der DDR und Verfasser des Textes der Nationalhymne der DDR »Auferstanden aus Ruinen«, hat mit der Realität nichts zu tun. Becher schrieb ihn 1958, anlässlich des 65. Geburtstages des Staats- und Parteichefs der DDR, als der Personenkult um Ulbricht seinem Höhepunkt entgegenstrebte. Es war Ulbricht nicht an der Wiege gesungen worden, einst die Geschichte Deutschlands entscheidend mitzuprägen, als er am 30. Juni 1893 um 11.30 Uhr in der engen, kleinen, lichtarmen Dachwohnung seiner Eltern in Leipzig zur Welt kam. Das Elternhaus Ulbrichts lag in einem Hinterhaus im »Nauendörfchen«, einem Handwerker- und Arbeiterviertel von zweifelhaftem bis schlechtem Ruf. Die Großeltern waren wie die Eltern Ulbrichts Arbeiter und Handwerker. Der Großvater väterlicherseits hatte als Bergarbeiter gearbeitet.1 Der Großvater mütterlicherseits hatte den Beruf eines Kammmachers ausgeübt. Die Eltern Ernst August und Pauline Ida Ulbricht arbeiteten beide in ihrem erlernten Beruf als Schneider. Während die Mutter überwiegend zu Hause tätig war, hatte der Vater zeitweilig eine Anstellung bei der Leipziger Firma Glubka & Sohn. Ulbrichts Schwester Hilde berichtete über die Arbeit ihres Vaters: »Er hat immer nur die besseren Sachen machen müssen bei der Firma Glubka & Sohn. Die schwarzen Röcke anspruchsvoller Kunden hat er gemacht. Einmal den Rock eines Dirigenten, was besonders schwierig ist, weil der Ärmelausschnitt weiter sein muss.«2 Dass die Arbeit von Ulbrichts Vater geschätzt wurde, belegen auch andere Zeitzeugen: »Herr Schneider Ulbricht war ein guter Schneider, denn mein Mann, der Rauchwarenhändler Martin Marcus und seine Söhne sowie andere verwöhnte Herren ließen bei ihm arbeiten.«3
Die Eltern, Ernst August und Pauline Ida Ulbricht, an ihrem Hochzeitstag 1892
 
1892 hatten Ernst August und Pauline Ida geheiratet. Das Hochzeitsfoto zeigt ein ansehnliches, gepflegtes junges Paar. Er im Anzug , das Hemd mit Stehkragen und Krawatte, sie im festlichen Kleid. Im Jahr nach der Hochzeit kam Walter als erstes ihrer drei Kinder zur Welt.4 Dem Erstgeborenen folgten mit deutlichem Abstand die Geschwister Erich (geb. 1900) und Hildegard (geb. 1901).5 Die Familie war arm wie alle Arbeiterfamilien damals, gehungert wurde jedoch nicht. Das Einkommen der Eltern reichte gerade, um eine fünfköpfige Familie zu ernähren. Alkohol und Zigaretten waren verpönt bei Ulbrichts, nur zu Weihnachten kam eine Flasche Apfelwein auf den Tisch, zu Silvester gab es ein Glas Punsch.6 Insgesamt waren die Lebensumstände der Familie Ulbricht eher kleinbürgerlich als proletarisch. Tochter Hilde beschrieb ihren Vater als naturliebenden Menschen, der alle Bäume und Vögel kannte und jeden Sonntag mit seiner Familie ins Grüne zog. Bei diesen Wanderungen kehrte die Familie dann und wann auch in ein Wirtshaus ein, die Eltern tranken Kaffee, die Kinder Limonade. Die Mutter, die an Gicht litt und darum oft bettlägerig war, starb am 2. Juli 1926. Sie wurde nur achtundfünfzig Jahre alt. Der Vater wurde am Morgen des 4. Dezember 1943 bei einem Luftangriff auf Leipzig schwer verletzt und starb 17 Tage später in einem Leipziger Krankenhaus.
Walter Ulbricht als Sechsjähriger mit seiner Schwester Hilde
Der Arbeiterturner 1908 im Leipziger Arbeiterturnverein»Eiche« (x)
Im Wohnzimmer der Ulbrichts hing kein röhrender Hirsch an der Wand, sondern ein Druck, der den Arbeiterführer August Bebel zeigte. Der Vater sympathisierte mit den Sozialisten und gehörte dem Vorstand der Schneidergewerkschaft von Leipzig an. Während der Geltung von Bismarcks Sozialistengesetz, durch das die Sozialdemokratische Partei verboten wurde, gehörte er in Leipzig als »Vertrauensmann« zur Untergrundorganisation der Sozialisten, die an die Stelle der bisherigen Organisationsform trat. Nach 1917 wurde er Mitglied der USPD und nach 1919 der KPD. Eine nennenswerte Rolle in der Parteigeschichte hat er nicht gespielt. Aber er nahm seinen Sohn Walter zu Wahlveranstaltungen mit. Anfang 1907 etwa besuchten der Vater und sein 13-jähriger Erstgeborener eine politische Veranstaltung in der Leipziger Alberthalle, auf der August Bebel sprach. Dann und wann verteilten Walter und seine Geschwister politische Flugblätter für den Vater. Angeblich blieb Ulbricht ein Streik von 8000 Webern in Crimmitschau in den Jahren 1903/04 im Gedächtnis, bei dem es um Lohnerhöhungen und die Einführung des Zehn-Stunden-Tages ging: »Ich kann mich noch sehr gut an die Gespräche anlässlich des großen Crimmitschauer Weberstreiks entsinnen. Mein Vater nahm damals jede Woche an den Sammlungen teil, die zur Unterstützung der Crimmitschauer Weber veranstaltet wurden. Die Mitteilungen über den Kampf wurden täglich verfolgt, und die solidarische Verbundenheit mit den Crimmitschauer Webern war eine sehr starke, so dass die Notwendigkeit der Solidarität für immer in meinem Gedächtnis
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