Wanderer zwischen den Welten - Caroline Ring - E-Book

Wanderer zwischen den Welten E-Book

Caroline Ring

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Beschreibung

Die Stadt aus der Vogelperspektive Halsbandsittiche im Rheinland, Nilgänse in Frankfurt, Nachtigallen in Berlin: Die Vogelwelt in den Städten verändert sich. Menschen vernichten Lebensräume und schaffen andernorts neue. Wie unter einem Brennglas lässt sich in Städten beobachten, was es bedeutet, dass der Mensch den Lebensraum für andere Organismen formt. Nature Writing im städtischen Lebensraum Caroline Ring bereist das Land auf den Spuren seiner Vögel und erzählt ihre bedeutendsten Geschichten: vom Verschwinden der Spatzen bis zur Rückkehr der Mauersegler. Die Biologin zeigt, wie das Zusammenleben von Mensch und Tier funktioniert – und warum wir einander brauchen. Hochwertige Geschenkausstattung mit von der Autorin gestalteten Illustrationen sowie einer Reisekarte Warum Berlin die Hauptstadt der Nachtigallen ist – Wie Uhus den Dom von Hildesheim für sich eroberten – Als Amseln in Bamberg ihren Siegeszug in die Städte begannen – Ein Grünspecht treibt in Mainz sein Unwesen – Warum eine alte Frau in Weimar ihr Heim mit Mauerseglern teilt – Auf der Suche nach Haubenlerchen in Güstrow – Als Stadttauben-Stalkerin unterwegs in Bochum – Das halbjährliche Spektakel um die Höckerschwäne von Hamburg – Was Aaskrähen in Leipzig über die Geschichte Europas erzählen – Wie Halsbandsittiche in Köln eine neue Heimat fanden – Warum Nilgänse in Frankfurt/Main gejagt werden – Wieso Spatzen aus dem Münchner Zentrum verschwinden – Harte Maßnahmen sollen die Möwen von Kiel in Schach halten – Wie sich Austernfischer in Bremerhaven neue Wohnplätze erschließen

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Die Autorin wurde gefördert durch ein Stipendium der VG Wort im Rahmen des Programms Neustart Kultur.

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2022

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Caroline Ring; Amsel, Haussperling, Rotkehlchen (Erithacus rubecula)

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Notenzeile

Gartenrotschwanz

Auftakt

Nachtigall

Lektionen in Heimlichkeit

Uhu

Der verschwundene Infanterist

Amsel

Weltenwanderer

Grünspecht

Specht and the City

Mauersegler

Diese eine Liebe

Waldrapp

Intermezzo

Haubenlerche

Memento für eine Lerche

Taube

Graues Gewissen

Schwan

Wie man fünfzig Schwäne fängt

Kohlmeise

Intermezzo

Krähe

Eiszeitzeugen

Halsbandsittich

Wildfremd verwachsen

Nilgans

Zierde und Fluch

Spatz

Servus, Spatzl

Kuckuck

Ausklang

Dank

Auswahlbibliografie

Internetquellen (Auswahl)

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Am 10. nachmittags, städt. Anlagen J. Oppel in Frankfurt a. M.: Ueber Vogelstimmen, insbesondere Kukuksruf und Amselschlag, erschienen in Der Zoologische Garten, 1871

Gartenrotschwanz (Phoenicurus phoenicurus)

Auftakt

Intramuralornis

Wenn ich etwas ehrlich und von ganzem Herzen hasse, dann ist es sehr frühes Aufstehen. Wenn mich der Wecker mit seinem Geplärre aus dem Tiefschlaf holt, in nachtschwarzer Dunkelheit. Draußen klappen die Autotüren der Leute, die zur Frühschicht aufbrechen, und ich versuche, mehr tot als lebendig, meine starren Glieder zu sortieren.

Elendig jammernd schlurfe ich ins Bad und frage mich, ob es nicht irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte, eine spätere Bahn, wenigstens zehn Minuten mehr Schlaf. Ich verfluche mein Leben, aber vor allem den gestrigen Abend, an dem ich wieder einmal viel zu spät ins Bett gegangen bin. Wenn Menschen entweder Lerchen oder Eulen sind, gehöre ich eindeutig zu den Letzteren. Aber es muss sein. Und wenn ich ehrlich bin, hasse ich dieses so frühe Aufstehen heute auch nur zehn Minuten lang.

Draußen hat der Mai begonnen, und das heißt: Die Hauptsaison des Vogelgesangs nähert sich ihrem Höhepunkt. Noch im Bad öffne ich das Fenster und werde sofort überwältigt. Zwitschern, Gurren, Krächzen, Trillern, alles durcheinander stürzt auf mich ein. Während sich der Himmel gerade erst blau färbt, sind die Vögel schon längst aktiv. Sie nutzen die klaren Morgenstunden, in denen die kühle Luft ihre Lieder weit trägt, und singen, wie man es zu keiner anderen Tageszeit erlebt. Ihre Lieder bereiten mir ein Bad von Lebendigkeit, in das ich dankbar eintauche.

Ich bin mit meinem Freund Mirko Thüring verabredet, um sieben Uhr am Bahnhof von Trebbin, einem kleinen Ort südlich von Berlin. Wir gehen heute auf Vogelexpedition. In den kommenden Monaten will ich herausfinden, wie Vögel es neben uns Menschen aushalten, obwohl wir doch überall, wo es nur geht, neue Städte errichten oder bestehende erweitern. Mehr als die Hälfte aller Menschen lebt heute weltweit in städtischen Ballungsräumen, und ihre Zahl steigt. Die Vögel leben dort mit uns – weil sie es können, aber auch weil sie es müssen. Wie schaffen sie das?

Damit ich überhaupt erst ein Gespür für die Vogelwelt bekomme, gehe ich raus aus der Stadt, ins Grüne, in die Natur. Im ländlichen Brandenburg wird mir Mirko zeigen, wie man Vögel erkennt, und das nicht unbedingt anhand der Eigenschaften, die für gewöhnlich in den Bestimmungsbüchern stehen. Er weiß, welche Arten wir in den unterschiedlichen Lebensräumen erwarten können, und er kann auf einen Blick seltene Vögel zwischen den häufig vorkommenden erkennen. Mirko ist Ökologe, er arbeitet bei einem Unternehmen, das unter anderem Gutachten für Bauvorhaben erstellt. Sein Spezialgebiet sind neben Lurchen und Echsen vor allem Vögel. Wenn wir uns unterhalten, lerne ich ständig dazu.

Ich bin zwar Biologin, aber was das Erkennen von Vogelarten angeht, habe ich durchaus Nachholbedarf. Doch wie wahrscheinlich alle genieße ich im Frühling das Stimmengewirr in der Luft, das sich jedes Jahr aufs Neue auf magische Weise erhebt und mit jedem Tag vielstimmiger wird. Ich freue mich über die Mauersegler, die im Mai an unserem Haus auftauchen, und bin durchaus in der Lage, Fotos von vermeintlichen Schwalben mit »Das sind doch Mauersegler!« zu kommentieren.

Ich bemerke auch, wie es im Hochsommer ruhiger wird, und träume den Kranichen und Gänsen hinterher, wenn sie im Herbst in großen Formationen über den Himmel in Richtung Süden fliegen. Und ich werde mürbe unter der stillen Leere in der Luft, in der mir die Wintermonate noch trister erscheinen, als sie es ohnehin schon sind.

In meiner wissenschaftlichen Laufbahn habe ich mich vor allem mit Tieren beschäftigt, die mehr als vier Beine haben. Zuletzt mit bestimmten Insekten, genauer: mit ihrer Evolution, noch genauer: mit ihrer genetischen Evolution. Ich habe ihr Erbgut, also ihre DNA, analysiert, weil ich verstehen wollte, wie sie zu einem Teil der biologischen Vielfalt geworden sind, die heute auf unserem Planeten existiert. Wegen dieser Insekten war ich unterwegs zwischen Wüste und Tropen, habe im Labor Proben gewonnen und anschließend Algorithmen über die gesammelten Daten laufen lassen, um den Platz dieser Tiere im Stammbaum des Lebens zu finden.

Heute bin ich Wissenschaftsjournalistin und schreibe über die lebendige Vielfalt um uns herum. Geschichten aus meinem alten Forschungsfeld nehmen zwar noch immer einen besonderen Platz in meinem Herzen ein. Doch reizen mich auch andere Welten, rätselhaft fremde ebenso wie die scheinbar bekannten der Vögel direkt vor der Haustür.

Vögel haben uns Menschen schon immer begleitet. In Städten sind sie die Wildtiere, denen man am häufigsten begegnet. Wie eng manche Vogelarten mit unserem Dasein verbunden sind, zeigt sich in Sprichwörtern und in den Namen, die wir ihnen gegeben haben: Haussperling. Turmfalke. Mauersegler. Stadttauben. Wir wählen lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Wir bezeichnen unsere Kinder als Dreckspatzen und schießen mit Kanonen auf Spatzen. Was in Norddeutschland dem einen sin Uhl ist, ist dem anderen sin Nachtigall. Und in Berlin hört man die Nachtigall sogar trapsen.

Doch die Vogelwelt verändert sich. Seit wenigen Jahren nimmt weltweit die Zahl der Vögel rasant ab. Sie, die doch eigentlich nur ihre Flügel aufspannen müssten, um dorthin zu gelangen, wo es ihnen besser geht, finden solche besseren Orte immer seltener. Das gilt auch für die Nahrung, die sie für sich und ihren Nachwuchs benötigen: Insekten, Amphibien und andere Futtertiere sowie Körner und Samen. Wir Menschen sind gut darin, die Lebensbedingungen der Vögel zu verändern. Wir zerstören ihre Lebensgrundlagen und ihre Nischen. Doch schaffen wir zugleich auch neue.

In den Städten vollzieht sich ein Wandel, den nur Eingeweihte bemerken. Immer mehr Vögel ziehen in unsere Nähe. Die von Menschen geschaffenen Orte werden für sie zu regelrechten Refugien. Warum ist das so? Was passiert in dieser, ihrer Welt?

Mirko und ich haben uns für die Expedition ins Grüne keinen beliebigen Tag ausgesucht. Heute ist in ganz Deutschland Birdrace, also Vogelrennen. Jedes Jahr an diesem Tag bilden Vogelfans überall im Land Teams und begeben sich auf Vogelsuche. Das Team, das die meisten Arten entdeckt, gewinnt. Es winken Ruhm, Ehre und das eigene Vergnügen. Schummeln ist möglich, aber damit verdirbt man sich nur selbst den Spaß.

Vorher plant man – in unserem Fall: Mirko – eine Route, packt Feldstecher ein und genug Essen für einen langen Tag. Außerdem ein Klemmbrett und eine Liste, auf der 268 von den insgesamt 552 Vogelarten notiert sind, denen man in Deutschland begegnen kann. »Schnatterente« lese ich zum Beispiel, als mir Mirko im Zug das Blatt zeigt. In meinem immer noch nicht ganz wachen Kopf erscheint das Bild einer quietschgelben Ente mit rotem Halstuch. »Die sehen wir heute wahrscheinlich auch«, sagt Mirko nur.

Mirko hat lange dunkle Haare und ist im Sommer oft auf Mittelaltermärkten zu finden. Er gehört zu jenen Menschen, die eher anderen zuhören, als von sich selbst zu erzählen. Aber wenn er etwas sagt, dann meint er es auch so. Und heute sagt er: »Hundert Arten will ich schon finden.« Ich schaue ihn verblüfft an. Erst die Schnatterente und jetzt hundert Arten? »Na klar, das sollte möglich sein«, sagt er und grinst.

Am Bahnhof von Trebbin geht es direkt los. Wir sind allein. Kein Mensch ist unterwegs, kein Auto auf den Dorfstraßen zu sehen. »Kranich«, beginnt Mirko. »Elster – Blaumeise – Feldsperling – Hausrotschwanz.« Ich versuche, ihm zu folgen. Mirko wechselt im Minutentakt zwischen Liste, Stift und Fernglas. Eigentlich bräuchte er drei Hände.

»Warte mal«, sage ich schließlich, meine Aufgabe erkennend. Von nun an bin ich die, die das Klemmbrett hält. Die hinhört, wenn Mirko auf schon wieder eine neue Melodie hinweist. Ich schaue durch den Feldstecher in die Richtung, die er mir zeigt, und trage anschließend Kreuze und Uhrzeiten in die Liste ein.

Wir sind mit Fahrrädern unterwegs, um uns schnell zwischen den Landschaften bewegen zu können. Wir fahren durch Wälder, über Wiesen, durch Feuchtgebiete, über geteerte Straßen und Feldwege. Immer wieder halten wir an, und ich notiere: Mehlschwalbe, Rotmilan, Sommergoldhähnchen und Baumpieper. Fischadler, Rohrdommel, Grünschenkel und Schwarzspecht. Kleiber, Bruchwasserläufer und – Schnatterente! Tatsächlich! Bei einem kleinen Flugplatz machen wir Mittagspause und schauen Privatmaschinen beim Starten und Landen zu. »Rohrweihe«, sagt Mirko kauend, mit der einen Hand hält er die Stulle, mit der anderen sich das Fernglas vor die Augen.

Am Ende des Tages sind auf unserer Liste genau 99 Arten angekreuzt. Aber Mirko ist trotzdem zufrieden. Abends schickt er mir eine Tabelle mit den Ergebnissen der anderen Mitglieder unseres Teams. Eine Teilnehmerin war in Berlin unterwegs, alle anderen so wie wir in Brandenburg. Unsere Ergebnisse sind in etwa vergleichbar, bis auf eines. Die Teilnehmerin, die sich den ganzen Tag nur in der Stadt bewegt und nicht wie wir im Naturparadies weiter draußen nach Vögeln gesucht hat, konnte mit Abstand die meisten Arten beobachten.

Unter Vogelexpertinnen und -experten kursiert ein Witz: Wohin schickt man jemanden, der nach Deutschland kommt, um hier die Vogelwelt kennenzulernen? Na klar, nach Berlin. Nicht in den Bayerischen Wald, nicht in den Harz und auch nicht ins Untere Odertal. Nein, direkt rein in den hässlichen grauen Moloch. Es gibt wenige Orte hierzulande, wo man auf so kleiner Fläche so viele verschiedene Vogelarten beobachten kann.

Rund zwei Drittel aller in Deutschland vorkommenden Arten lassen sich in Berlin finden. Großstädte wie Hamburg, München und Köln sind ähnlich artenreich. Zählt man nach und rechnet jene Vögel hinzu, die sich nur zeitweise hier aufhalten, kommen auf jeden Stadtmenschen etwa zwei bis drei Vögel.

Hätte ich also für die Nachhilfe in ornithologischer Artenkunde einfach in Berlin bleiben sollen? Vielleicht. Allerdings ist diese Vielfalt nicht gleichmäßig über die Stadt verteilt. Und manche Arten werden immer zu scheu sein, um menschliche Nähe zu ertragen, sie werden den Sprung in den urbanen Lebensraum einfach nicht schaffen. Man braucht sich nichts vorzumachen: Städte sind nach wie vor weit davon entfernt, Naturparadiese zu sein. Verstädterung ist eigentlich sogar das Schlimmste, was einer Naturlandschaft passieren kann.

Böden werden mit Asphalt versiegelt, Bäume und Büsche müssen Straßen weichen, Wiesen werden zu Bauland umgewidmet. Ganze Landstriche entstehen, die nichts als kargen Felslandschaften ähneln: die Stadtzentren mit ihren Kaufhäusern und Bürotürmen. Sie haben mit der Natur, die sich dort einst befunden hat, nichts mehr gemein.

Doch das Leben bahnt sich seinen Weg. Es dringt zwischen Pflastersteinen empor, krabbelt über Steine und kackt einem auf den Kopf. Vielen der Pflanzen und Tiere, die in einer Region heimisch sind, gelingt es nach einiger Zeit, in die urbanisierten Landstriche zurückzukehren. Studien zeigen, dass in den Städten der Nordhalbkugel über alle Tier- und Pflanzengruppen hinweg mindestens die Hälfte der Arten zu finden ist, die im Umland leben.

Denn Städte bestehen nicht nur aus ihren Zentren. Städte sind auch Parks, Friedhöfe, Dachgärten und Industriebrachen. Städte bilden ein Mosaik aus vielen verschiedenen Landschaftsformen, die ganz anders genutzt werden als in ländlichen Regionen.

Alte Bäume werden in Städten und Siedlungen eher gepflegt als abgeholzt. Grünstreifen an Bahntrassen können ungestört wuchern. Der Asphalt in den Fußgängerzonen lässt Hitzezonen entstehen, dort werden die Temperaturen im Sommer tropisch. Innerstädtische Naturschutzgebiete und Wälder kühlen dagegen die Luft. Manche solcher Lebensräume gibt es im Umland nicht mehr oder hat es nie gegeben. Sie sorgen dafür, dass die Vogelfauna in Städten bunt schillern kann.

»In unserer Zeit sind Städte zu Inseln der Vielfalt geworden«, schreibt der bayerische Zoologe Josef Reichholf, »ein Meer von Monotonie umgibt sie.«[1] Das monotone Meer, das Reichholf meint, sind die hektargroßen Flächen, in denen heute überall in ländlichen Gegenden hocheffizient Monokulturen angebaut werden. Rapsfelder und Fichtenforste sind für Vögel und andere Tiere regelrechte Wüsten, in denen sie weder Futter noch Nistplätze finden. Nicht alles, was grün ist, ist auch gut. Und nicht alles, was brach liegt, ist automatisch schlecht. Die Natur und das wilde Leben, nach denen wir uns sehnen und die wir so gerne suchen, liegen oft gleich um die Ecke.

Und dann sind da noch wir Menschen selbst, jene Tiere, die die Städte überhaupt erst erbaut haben. Ständig hinterlassen wir Müll. Einerseits verschmutzt er Straßen und Parks, andererseits picken Krähen und Tauben Futter aus ihm. In Randbezirken verwandeln wir wilde Brachflächen in lebensfeindliche Schottergärten, gleichzeitig schmücken wir unsere Balkone und Fensterbretter mit insektenfreundlichen Blumen und Pflanzen.

Wir Menschen gestalten unser Umfeld so, wie es uns passt. Mit den Konsequenzen, guten wie schlechten, müssen auch die Vögel leben. Die Vogelwelt verändert sich, in Städten mehr als anderswo. Wie unter dem Brennglas kann man dort beobachten, was es bedeutet, wenn der Mensch seine Umwelt formt.

Viele Städte hierzulande können ihre ganz eigenen Vogelgeschichten erzählen, aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer Traditionen, aufgrund der besonderen klimatischen Bedingungen oder aufgrund uralter naturgeschichtlicher Veränderungen. Die Geschichten von den »Intramuralornis«, den Vögeln zwischen den Mauern, handeln vom Ankommen, Bleiben und Gehen. Sie zeigen, wie Menschen und Vögel nebeneinanderleben, wie sie dabei einander beeinflussen und manchmal auch brauchen.

»Es mag anziehender und schöner sein, von der Vogelwelt des Waldes oder der Seen zu erzählen, als die gefiederten Bewohner der großen Städte dort aufzusuchen, wo wir doch nicht so gern verweilen«[2], schrieb der sächsische Ornithologe Heinrich Frieling 1942. Die kleinen Grünanlagen, die er in der Stadt fand, waren für ihn »Gucklöcher in die Natur«[3].

Frieling verfasste seine Abhandlung über »Großstadtvögel« mitten im Krieg, als viele Städte schon zerstört waren. Ein kleiner Vogel dagegen breitete sich damals so sehr aus, dass er in den Trümmern richtiggehend heimisch wurde: die Haubenlerche. Frieling konnte nicht ahnen, dass diese kleinen Vögel nur siebzig Jahre später in ganz Deutschland so gut wie ausgestorben sein würden, und das, obwohl sie eigentlich noch immer ideale Lebensbedingungen vorfinden könnten.

Frieling konnte auch nicht wissen, dass einmal Papageien als ganz normale Stadtbewohner die Orte entlang des Rheins besiedeln würden. Doch schimpfte er bereits über eine Vogelart, die zu seiner Zeit erst seit rund hundert Jahren die Städte für sich erobert hatte und heute die häufigste Art in Deutschland ist: die Amsel. Und würde Heinrich Frieling noch leben, wäre er vermutlich verblüfft darüber, dass Spatzen mittlerweile in manchen Städten so selten geworden sind, dass sie eigene Schutzmaßnahmen erhalten.

Was steckt also hinter den Statistiken, hinter den Namen und Bestandsentwicklungen? Was bedeutet es für ein Vogelleben, wenn es zwischen Menschen gelebt wird? Kurz nach meiner Expedition in die Wälder und Wiesen von Brandenburg breche ich erneut auf. Ich möchte wissen, wie die Vögel um uns ihren Alltag meistern. Und ich beginne dort, wo es für mich am leichtesten ist, im Vogelparadies Berlin. Dort, wo ich selbst lebe.

Nachtigall (Luscinia megarhynchos)

Lektionen in Heimlichkeit

Berlin, Hauptstadt der Nachtigallen

Berlin schläft nie. Welcher Vogel passt also besser zu dieser Stadt als einer, der vor allem nachts singt? Hätte Berlin einen Wappenvogel, wäre es die Nachtigall. Auf der Tatze des Berliner Bären säße dann ein kleiner brauner Vogel mit weit geöffnetem Schnabel, der dem Vierbeiner unerschrocken ein Lied singt. Berlin ist die Hauptstadt der Nachtigallen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa und vielleicht sogar die ganze Welt.

Zwischen Ende April und Ende Mai kann man vermutlich nirgendwo mehr Nachtigallen singen hören als in Berlin. Zwar besiedeln die Vögel im Frühsommer Landstriche von Vorderasien bis nach Europa. Doch während in vielen Regionen ihre Zahlen schwinden, werden es in Deutschland seit ein paar Jahren immer mehr, auch in Berlin.

Wenige Vögel rühren so sehr an die Gefühle der Menschen wie die Nachtigall. Unverzagt singt sie gegen die Dunkelheit an, um ihre Partnerin zu finden und an sich zu binden. Ihre Lieder sind ausdauernd, selbstbewusst und wagemutig. Nachtigallen klingen, als würden sie niemals so ohne Weiteres einem Konkurrenten das Feld überlassen. Sie geben immer alles. Ihr Gesang im Frühjahr symbolisiert romantische Liebe, Heimlichkeit und Sehnsucht.

Von Persien bis nach Europa bevölkern Nachtigallen Legenden, Gedichte und Dramen. »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, / Was eben dein erschrecktes Ohr zerriß«[4], beruhigt bekanntlich Julia ihren Romeo, der den Anbruch des Tages fürchtet und damit das Ende der heimlichen Zweisamkeit. Shakespeare kannte sicher auch den alten englischen Aberglauben, nach dem die Nachtigall während des Singens ihre Brust an einen Dorn lehnt.

Oscar Wilde ging dieser Verbindung von Liebe und Schmerz in seinem Märchen Die Nachtigall und die Rose nach. In ihm gibt der Vogel sein Leben, damit sich die Liebeshoffnung eines jungen Mannes erfüllen kann. Doch das Happy End bleibt aus, das Opfer war vergebens.

Im Gedicht »Der Spinnerin Nachtlied« des Romantikers Clemens Brentano erinnert sich eine Frau beim Gesang des Vogels an eine innige Liebe, die ihr vor langer Zeit genommen wurde: »Seit du von mir gefahren, / Singt stets die Nachtigall, / Ich denk bei ihrem Schall, / Wie wir zusammen waren.«[5] Und bei Hans Christian Andersen heilt die Nachtigall mit ihrem Lied sogar den todkranken Kaiser von China.

Mitte Mai ist der Gesang dieses geheimnisvollen Vogels in Berlin allgegenwärtig. Nachtigallen singen von Bäumen herunter, aus Büschen heraus, über den Straßenlärm hinweg, in der Abenddämmerung und bis spät in die Nacht, aber auch am Morgen und tagsüber. Es gibt zahllose Anekdoten von ungewöhnlichen Orten, die sich Nachtigallen zu ihrem Singplatz erkoren haben. Zwischen Fernsehturm und Rathaus soll eine ihr Revier markieren, an der Siegessäule, bei der Ampel vor dem Treptower Park. Nichts an diesen Plätzen ist heimlich oder lauschig.

Selbst vor dem Berghain, dem berüchtigten Club, begrüßt eine von ihnen unermüdlich und zu jeder Tages- und Nachtzeit die Feiernden. Das Revier einer Nachtigall ist etwa so groß wie ein Tennisplatz. Betritt man eines, kann man laut und deutlich die Stimme seines Verteidigers hören.

Auch ich bin gesegnet mit meiner ganz persönlichen Nachtigall, die mich in den Schlaf singt. Irgendwo da draußen flötet und gluckert sie glasklar ihre Melodien, die nach Einbruch der Dunkelheit bis an mein Fenster wallen. Sie trillert, pfeift und schäkert, stundenlang. Am liebsten würde ich keinen Augenblick davon verpassen. Wie ist es möglich, dass die Natur etwas so Zauberhaftes hervorgebracht hat wie den Gesang einer Nachtigall? Am Abend öffne ich das Fenster weit, damit ich ihn sofort höre, wenn ich mitten in der Nacht wach werde.

Der Teil von Berlin, in dem ich wohne, liegt im Nordosten. Nicht mehr im Zentrum, aber auch noch nicht am Stadtrand. Ein paar Kilometer weiter beginnt ein großes Hochhausviertel. Meine Gegend besteht aus Mehrfamilienhäusern verschiedener Epochen, jeweils mit Gärten in unterschiedlichem Zustand.

Mein Nachbar zur Linken zieht hinter dem Haus bunte Staudenbeete, der zur Rechten schneidet seinen Rasen mit einer Nagelschere. Ein Haus weiter werden im Garten Gänse und Hühner gehalten. Gleich um die Ecke befindet sich ein Park mit zwei Seen, ein kleines Naturschutzgebiet ist in Laufweite, und auf drei weitere Seen stößt man, wenn man etwas länger spazieren geht.

Dieser Kiez ist einer jener Orte, die Berlin zu dem Vogelparadies machen, das es ist. Den Rhythmus der Nacht geben hier die Autos vor, wenn sie die Hauptstraße entlangfahren, und die Straßenbahnen, wenn sie gemächlich über eine Weiche rumpeln. Manchmal rotiert weit entfernt ein Hubschrauber, oder überdrehte Jugendliche und Betrunkene grölen auf der Straße. Regentropfen plicken auf den Balkon, schlagen auf Autodächer und Regenrinnen. Wind fängt sich in den Baumkronen. Und seit nun schon ein paar Wochen singt hier die Nachtigall.

Als ich der Expertin Kim Mortega Ende Mai selig von meinem Glück erzähle, noch immer eine Nachtigall hinter dem Haus zu haben, klingt sie mehr bedauernd als begeistert. »Eine Nachtigall, die noch in der zweiten Maihälfte nachts singt, hat ziemlich schlechte Karten, im Spätsommer mit Nachwuchs in den Süden fliegen zu können«, sagt sie. Kim ist Forscherin am Berliner Naturkundemuseum. Dort hat sie das Projekt »Forschungsfall Nachtigall« betreut, dessen Daten nun ausgewertet werden. Schon in der Zeit ihrer Diplomarbeit hat Kim Nachtigallen mit der Hand aufgezogen. Sie weiß daher genau, was der Vogel vor meinem Fenster veranstaltet.

Nachtigallen singen im Frühsommer nachts, um eine Partnerin für sich zu gewinnen. Haben sie eine gefunden, hören sie sofort mit dem Gesang in der Dunkelheit auf. Von nun an singen sie nur noch tagsüber, um ihr Revier und damit ihr Nest vor Konkurrenten zu schützen. Schließlich könnte sich ein anderes Männchen nähern und das Weibchen ebenfalls begatten. Den Wettstreit gewinnt, wer vielfältiger und reiner singt.

Gegen Mitte April sind die Nachtigallen auf ihrem Weg aus den Winterquartieren bei uns angekommen. In kleinen Gruppen sind sie, nur von ein paar Vogelfans bemerkt, über uns hinweggeflogen – die Männchen zuerst, zwei Wochen vor den Weibchen, um schon mal ein Revier abzustecken. Jede Nacht, wenn sonst kaum Geräusche stören, singen sie nun. Sie wollen eines der nachfolgenden Weibchen, die gerade irgendwo am Himmel über das Land ziehen, mit ihren Liedern so verzaubern, dass es zum Landeanflug ansetzt.

Mit den Daten ihres Forschungsprojekts möchten Kim Mortega und ihr Team herausfinden, wo sich die Nachtigallen ansiedeln, wie ihre Gesänge aufgebaut sind und ob diese sich durch die Stadtgeräusche verändern.

Außerdem interessieren sich die Forscherinnen für die Einstellung der Menschen zu den Nachtigallen: Welche Erinnerungen verknüpfen wir mit ihrem Gesang? Wie stellen wir uns diese sagenumwobenen und rätselhaften Vögel vor? Die meisten Menschen haben noch nie eine Nachtigall gesehen. Obwohl Nachtigallen in Berlin so häufig vorkommen, obwohl ihr Gesang so charakteristisch ist, sind sie doch völlig unscheinbar.

Nachtigallen gehören zu den KBV, die Abkürzung steht für »Kleine braune Vögel«. Es gibt etliche Arten, die sich nicht anders beschreiben lassen. Ungeübt kann man sie oft erst unterscheiden, wenn sie den Schnabel aufmachen. Nachtigallen sind spatzengroß, am Rücken rostbraun und am Bauch cremefarben. Wenn man genauer hinsieht, fallen einem vielleicht ihre relativ großen Augen auf, die ihnen auch in der Dämmerung und in der Nacht zu guter Sicht verhelfen. Das ist aber auch schon alles. Selbst der Kosmos-Vogelführer konstatiert: »öfter zu hören als zu sehen«[6].

Auch ich selbst habe noch nie eine Nachtigall entdeckt, trotz vieler Versuche. Weil ich das endlich ändern will, verabrede ich mich mit Kim. Sie kennt die Reviere zahlloser Nachtigallen und weiß, wie man die Vögel trotz ihrer Verborgenheit findet.

Kim dirigiert mich zum Volkspark Friedrichshain. Er liegt nicht weit entfernt vom Alexanderplatz. Wir verabreden uns im südlichen Zipfel des Parks, in der Nähe des Märchenbrunnens. Ich erkenne die Forscherin sofort, denn sie hält eine Kamera mit überdimensionalem Objektiv in der Hand, eines von der Sorte, wie sie ausschließlich Paparazzi oder Ornithologen verwenden. Kim ist Anfang vierzig. Ihre langen schwarzen Haare sind zu einem Knoten gebunden, und wenn sie gestikuliert oder auf etwas deutet, bewegt sie die Hände elegant wie eine Balletttänzerin.

Der heimliche Ort, an dem wir an diesem Tag die Nachtigall suchen, ist ein ausladendes Arrangement von allerlei Gestrüpp. Niedrige und hohe Sträucher stehen auf einer Wiese eng zusammen, verwachsene Wacholder und junge Bäume ragen mit ihren Kronen daraus empor. Manche stehen gerade in voller Blüte. Kim zeigt auf einen der maigrünen Äste. »Da war sie eben noch«, sagt sie. Aber jetzt ist der Vogel wieder verschwunden und gibt keinen Mucks von sich. Die erste Lektion bei der Nachtigallensuche lautet also: Hab Geduld.

In Berlin werden keine speziellen Maßnahmen zum Anlocken oder zum Schutz von Nachtigallen getroffen. Dafür gäbe es gar keine Mittel, die Stadt ist von chronischer Geldnot geplagt. Und doch sind die Vögel in großer Zahl hier, nicht nur wegen des vielen Grüns. Städte wie Hamburg, Dortmund oder Stuttgart weisen sogar einen noch höheren Grünflächenanteil auf.

Wahrscheinlich ist eher die Kombination aus viel Grün und wenig Geld für die Nachtigallen ideal. Denn daraus resultieren zahlreiche relativ naturnahe Grünflächen. Brennnesseln wuchern am Wegrand zwischen Büschen empor. Knallerbsensträucher verlieren jegliche Form, falls sie überhaupt je eine hatten. Altes Laub harkt niemand weg. Hainbuchenhecken drücken sich durch Zäune. An den Böschungen der Bahnstrecken türmen sich Brombeeren zu meterhohen Burgen, und zwischen Autospuren sind, als kläglicher Versuch, wenigstens ein bisschen Ordnung ins Chaos zu bringen, in schön regelmäßigen Abständen karge Bäumchen gepflanzt.

Nachtigallen lieben all das.

Chaotischer Wildwuchs mit ein wenig Ordnung, das ist genau die Landschaft, die sie brauchen. Der Baum, der aus dem Gebüsch ragt: Für die Nachtigallen ist dieser erhöhte Platz eine ideale Singwarte. Die wuchernden Sträucher, die so dicht gewachsen sind, dass niemand sie durchdringen kann: geschützte Nistplätze. Büschelweise Unkraut im Unterwuchs: ein Unterschlupf bei Gefahr. Die vielen freien Flächen dazwischen und die Wiesen, auf denen Menschen im Frühsommer ihre Picknickdecken ausbreiten: Grasland, wie die Nachtigallen es in ihrer zweiten Heimat vorfinden.

Nachtigallen verbringen die Hälfte ihres Lebens in Afrika. Gegen August, wenn der Nachwuchs flügge ist, trennen sich die Paare und verlassen die Reviere, die sie bei uns gefunden haben. In kleinen Gruppen ziehen sie meist nachts, um im Schutz der Dunkelheit Greifvögeln zu entgehen. Sie fliegen über Frankreich und Spanien, passieren die Straße von Gibraltar und landen schließlich in einer Landschaft, die von einzeln stehenden Bäumen geprägt ist, von Grasland und wild wuchernden Büschen, um die sich kein Grünflächenamt kümmert – in den Steppen südlich der Sahara. Dort suchen sie sich eine Gegend, die ihnen für die kommenden Monate ausreichend Futter bietet.

Von dem leidenschaftlichen Gesang, für den die Nachtigallen bei uns bekannt sind, hört man in ihren Winterquartieren wenig. Dort üben sie vor allem ihre Strophen, die sie später zum Besten geben. Die jüngeren proben ihr Repertoire, indem sie sich an den älteren orientieren. Wie Menschenkinder, die das Sprechen lernen, brabbeln Vögel zunächst Silben nach, die sie von anderen aufschnappen. Die Altvögel warten derweil darauf, dass es im Norden wieder wärmer wird.

Die Nachtigallen, die man in Berlin singen hört, verbringen ihren Winter an verschiedenen Orten in Ghana, wie Daten zeigen. Mitglieder aus Kims Team haben auch dort die Menschen nach ihren Geschichten über diese Vögel befragt. Aus den zusammengetragenen Anekdoten ergibt sich ein ganz anderes Bild als in Deutschland. Für die Menschen in Ghana symbolisiert eine Nachtigall weniger das Bewahren heimlicher Liebe, sondern eher das Gegenteil, das Fremdgehen.

Im April verlassen die Nachtigallen ihre Winterplätze. Sie fliegen dahin zurück, wo sie hergekommen sind, und das ist wörtlich gemeint. Nachtigallen sind sehr standorttreu. Wo auch immer sie den Winter in ihrer afrikanischen Heimat verbracht haben, im Frühjahr suchen sie wieder ihr ehemaliges Revier auf, oft sogar denselben Ast auf demselben Baum. Wer ein belegtes Revier vorfindet, duelliert sich mit dem Besetzer. Auch sonst sind Nachtigallen treu. Sie mögen den Winter getrennt voneinander verbracht haben, doch zur Paarungszeit finden die Partnerinnen und Partner immer wieder zusammen.

Doch wer kann schon sicher sein, dass der alte Partner stets auch den Weg zurück findet? Kim erzählt mir von einem Nachtigallenpärchen, das sie und ihr Team lange im Treptower Park beobachtet haben. Immer wieder traf es sich in Berlin. Dann, nach neun Jahren, war das Weibchen jedoch einmal vor dem Männchen in der Stadt und nahm sich prompt einen Jüngeren. Schließlich traf ihr alter Gefährte doch noch ein, und zwar, wie könnte es anders sein, im selben Brutgebiet.

Statt ihm nun die kalte Schulter zu zeigen, gab das Weibchen dem Jüngeren den Laufpass. Gemeinsam vertrieb das wieder vereinte Paar den Neuen aus dem Revier und verbrachte den Sommer einmal mehr zusammen.

»Der wird schon wieder auftauchen«, murmelt Kim, während sie mit einem Fernglas konzentriert die Büsche absucht, »der muss ja schließlich sein Revier verteidigen.« Männchen und Weibchen bewachen bei Nachtigallen abwechselnd das Gelege, selbst wenn, wie es häufig vorkommt, die Eier in einem Nest von mehreren Männchen stammen, die das Weibchen begattet haben. Um weitere Rivalen abzuschrecken, kommen die Männchen immer wieder zum Singen heraus.

So verhält sich auch unsere Nachtigall. Schon nach wenigen Minuten verlässt sie ihr Versteck. Kim reicht mir zufrieden das Fernglas und weist mich an: da, nicht ganz so weit oben, über dem Gebüsch, auf dem Ast eines jungen Götterbaums, halb durch die gefiederten Blätter verdeckt. Dort sitzt, ich kann es kaum glauben, ein kleiner rostbrauner Vogel mit aufmerksamen Augen und cremefarbener Brust. Ohne Kim hätte ich die Suche schon wieder aufgegeben. Jetzt öffnet er den Schnabel und beginnt zu singen, jeder einzelne Ton klingt herüber. Die federweiche Kehle vibriert dabei leicht. Ich kann mich von dem Anblick kaum lösen.

Kim fotografiert mit ihrem riesigen Paparazzo-Objektiv. Wir versuchen, dem Vogel ein wenig näher zu kommen, für einen noch besseren Blick. Vorsichtig schleichen wir halb versteckt um das Gebüsch herum. Dieser empfindliche Sänger soll bloß nicht aus dem Takt kommen! Jetzt sehen wir seinen Rücken, noch immer trillert er sein Lied. Manchmal pausiert er und hebt wieder an. Und dann fliegt er plötzlich weg.

Offensichtlich hat er sich bedroht gefühlt. Dabei saß er doch so weit über unseren Köpfen, mehrere Meter entfernt. »Das macht es so schwer, sie zu beobachten«, sagt Kim, geduldserprobt, wie sie ist. Nicht nur, dass Nachtigallen so unscheinbar aussehen. Sie fühlen sich auch ziemlich schnell gestört.

Als Mensch mag man sich noch so harmlos vorkommen, für den Vogel ist man dennoch bereits eine Gefahr. Er wird so lange singen, wie er es gerade noch aushält. Doch wenn es ihm zu heikel wird, verstummt er. Kommt man ihm dann noch näher, fliegt er auf und verschwindet irgendwo im schattigen Unterwuchs. Erst wenn die Gefahr vorüber ist, wird er sich wieder hervorwagen und weitersingen.

Ein so empfindliches Fluchtverhalten bedeutet auch: Wann immer man das Gefühl hat, eine Nachtigall befinde sich in unmittelbarer Nähe, weil ihr Gesang doch so laut ist, dann ist sie in Wirklichkeit überhaupt nicht nah. Die vielen Male, an denen ich auf Spaziergängen angehalten habe, um die Nachtigall zu finden, die doch wirklich gleich da auf einem Zweig sitzen musste – oder dort oben? Nein, ein bisschen weiter rechts –, hatte ich also nie eine Chance, sie wirklich zu entdecken.

Was tun? Sollen wir wieder warten? Kim hat eine bessere Idee. »Es gibt eine ziemlich gute Methode, wenn man eine Nachtigall hervorlocken will«, sagt sie. »Kennst du das?« Sie stellt sich neben den Busch, spitzt die Lippen und pfeift. Vier lang gezogene gleichmäßige Töne. »Füüüüüt füüüüüt füüüüüt füüüüüt«, macht Kim, und es klingt tatsächlich ein bisschen wie der Gesang einer echten Nachtigall.

Dieses einfache Gesangsmuster empfänden Weibchen als besonders attraktiv, sagt Kim. Deshalb höre man es auch so häufig in der Nacht. Zufällig lässt es sich auch noch besonders leicht nachahmen: »Man muss natürlich die richtigen Töne erwischen.« Gelingt es, erkennt die Nachtigall in dem Pfeifen den Gesang eines Rivalen, den sie dann übertrumpfen will. Die zweite Lektion an diesem Tag lautet also: Sei selbst eine Nachtigall.

Der Gesang der Nachtigallen gehört zu den vielfältigsten der Vogelwelt. Das Repertoire umfasst an die zweitausend Strophen. Nur die Männchen singen, die Weibchen wählen anhand der Lieder ihre Partner. Altvögel kombinieren rund zweihundert Strophen frei miteinander. Je sauberer ein Männchen die Strophen seines Repertoires singt, je mehr verschiedene Silben es miteinander kombiniert und je länger die einzelnen Sequenzen dauern, desto anziehender für das Weibchen.

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